Es nicht einfach, Johannes Taulers Predigten einer bestimmten Predigtgattung eindeutig zuzuordnen.1 Sie sind eher eine Mischform aus Homilie und Sermo (thematische Predigt).
„Während die Homilie bezüglich Inhalt und Anordnung der einzelnen Predigt-Teile vollumfänglich an die Gedankenfolge der jeweils gewählten Perikope oder Epistel anknüpft, schöpft die thematische Predigt nur das ihrem Thema zugrunde gelegte Textwort aus der Hl. Schrift (oder Liturgie). Bis ins 12. Jahrhundert waren als Predigtformen die Homilie ... sowie die Heiligenpredigt vorherrschend. Intention der Homilie war, die christliche Lehre darzustellen und sie gleichzeitig zu festigen; zur doctrina christiana und ihrer aedificatio kamen oft auch noch Ermahnungen und Trostworte. Ziel der Heiligenpredigt war, anhand des vorbildlichen Lebens eines Heiligen zu einem eigenen tugendhaften Leben zu bewegen. ... In der Zeit der Väter bleibt die Homilie als Predigtform vorherrschend und wird reich ausgelegt. Allmählich entstand jedoch eine zweite Form der Predigt, um gegen Irrlehren vorzugehen sowie gegen üble Gewohnheiten der Christen. Diese zweite Predigtform zeigt mit ihrem freieren Aufbau als die Homilie erste Ansätze der thematischen Predigt. ... Erst vom 13. Jahrhundert an gibt es durch den Einfluss der Scholastik allmählich eine Verschiebung zugunsten der thematischen Predigt. Die Scholastik gestaltet für die thematische Predigt eine klare, wohlgeordnete Struktur.“2
Eine thematische Predigt (Sermo) beginnt mit dem „Thema“ (Eingang), damit ist der Text aus der hl. Schrift oder der Liturgie gemeint. Es folgt die Einleitung in das Predigtthema (Exordium, Prothema), die oft mit einer Ermahnung oder einem Gebet endet. Anschließend wird im Hauptteil das Thema in verschiedenen Punkten entfaltet (Tractatio [propositio et divisio]) und in weiteren Subdivisionen erläutert und vertieft (Divisio [prosecutio partium divisionis]). Eine Ermahnung (Admonitio) schließt den Hauptteil ab. Die Schlussbitte (epilogus) mit einem Amen beendet die thematische Predigt.3 Taulers Predigten bestehen formal aus
„bestimmten Redeabschnitten, wie sie aus der schriftlichen Überlieferung ersichtlich sind, aus der Erklärung und Auslegung des biblischen Wortsinns. Insofern gehören Taulers Predigten zur Gattung der aus der Patristik überkommenen Homilie, der Wort-für-Wort-Erklärung des durch die Liturgie vorgegebenen Bibeltextes. Grundsätzlich freilich beachtet Tauler nebst der Worterklärung die Aufbauregeln des sermo, der eigentlichen Themapredigt.“4
Tauler hält sich aber nicht grundsätzlich an die Aufbauregeln einer Predigt. Er neigt oftmals zu „Improvisationen und spontanen Einschüben, die eine stringente Argumentation und konsequente Durchführung vorgegebener Dispositionspunkte in den meisten Fällen unterlaufen.“5 Zwar kündigt Tauler ein Leitthema an, doch wird dieses „schwer erkennbar durchgeführt ..., nicht zuletzt weil der Prediger sich gerne im allegorischen Irrgarten verliert.“6
„Taulers Predigten lassen noch stärker als Meister Eckharts Predigten einen strengen, konsequent durchgeführten Aufbau vermissen. Am Anfang ... scheint es so, als ob er einen bestimmten äußeren Aufbau anstrebe, aber schon bald nach dem Beginn seiner Rede hat er sich weit vom angeschlagenen Thema entfernt.“7
Der Grund hierfür liegt darin, dass Tauler die Situation seiner Zuhörer im Blick hat.8 Wenn man Taulers Predigten liest, hat man oft den Eindruck, dass er ein Leitthema vor Augen hat, dieses dann jedoch auf seine Predigtgemeinde hin spontan neu entfaltet. Dabei aber achtet er weniger auf den formal korrekten Predigtaufbau. Doch diese Abstimmung seiner Predigten auf seine Zuhörer erklärt seine Popularität bei den Menschen. Mit Theisen können wir sagen, dass in Taulers Predigten, anders als bei Meister Eckhart, die Kommunikation ihren „Schwerpunkt in den Zuhörern“9 hat und nicht im auszulegenden Predigttext, „oder noch kürzer: Eckhart spricht über etwas, Tauler zu jemanden.“ 10 Auffällig ist, dass Tauler in seiner Predigt direkt auf das Thema zu sprechen kommt: Seine Predigteinleitungen (Exordium) erweisen sich „gewöhnlich als recht kurz und bündig.“11 Der Prediger fasst zunächst den durch das liturgische Jahr vorgegebenen lateinischen biblischen Text in deutscher Übertragung, vermutlich eine Stegreifübersetzung, paraphrasierend zusammen und geht dann ohne Umschweife zum Hauptthema über, zu dem, was ihm der Bibeltext oder das liturgische Festgeheimnis eingibt. Im Haupteil der Predigt, in der Tractatio, beleuchtet Tauler dann zumeist aus anthropologischer Perspektive die Wege des Menschen zur Einung mit Gott.12 Das Ende der Predigt erfolgt schließlich sehr plötzlich, ohne zusammenfassende Conclusio oder Admonitio, mit einer kurzen, auf den Hauptpunkt der Predigt bezogenen Formel:
„Nach einer zumeist sehr präzisen Wunschäußerung für den geistlichen Fortschritt der Zuhörenden ... lautet die geraffte Schlusswendung fast immer: ´Dass uns allen dies geschehe, dazu verhelfe uns Gott´.“13
Typisch ist für Tauler auch seine persönliche, beinahe vertrauliche Anrede, die auf Ordensschwestern, Beginen und auf eine weitgehend weibliche Predigtgemeinde schließen lässt:
„Inzitativ wirft Tauler in seinen Redeablauf die Formel ein: Liebes kint (liebes Kind, liebe Tochter), Lieben kint (liebe Kinder, liebe Töchter); manchmal auch einfach kint, kinder, ab und zu spezifischer: Nu min vil lieben swesteren (Nun meine viellieben Schwestern).“14
Tauler versucht einen Raum der gegenseitigen geistigen Verbundenheit zu schaffen, um die Aufmerksamkeit der Zuhörerrinnen umso besser auf seine mystische Lebenslehre zu lenken. Er predigt dabei weniger eine hohe Theologie, sondern will seine Hörer aufrütteln und ermahnen, damit sie zu Gott umkehren:
„Ermahnung und Ermunterung, häufig verbunden mit Tadel und Kritik (exhortatio), sollen der vorgebrachten mystischen Lebenslehre Nachdruck verleihen und zur Wirksamkeit verhelfen.“15
Johannes Tauler ist zutiefst davon überzeugt, dass Gott ununterbrochen jeden einzelnen Menschen in seine Gemeinschaft ruft. Dazu aber ist von Seiten des Menschen eine Umkehr notwendig.
1 Vgl. auch Ruh 1996, 487. 512 – 515.
2 Mösch 2006, 28. Vgl. Steer 1987, 320.
3 Vgl. Mösch 2006, 33. Vgl. Hansen 1972. 30ff.
4 Gnädinger 1993, 106. Vgl. Mösch 2006, 35f.; Ruh 1996, 490; Hansen 1972; Korn 1927.
5 Ruh 1996, 490.
6 Ruh 1996, 490. Vgl. Theisen 2000, 420f.
7 Weithase 1957, 65.
8 Vgl. Theisen 2000, 421: „Tauler ... hält seine Predigt innerhalb des liturgischen Erwartungshorizontes seiner Zuhörer(innen).“
9 Theisen 2000, 421.
10 Theisen 2000, 421.
11 Gnädinger 1993, 107.
12 Vgl. Gnädinger 1993, 107f.
13 Gnädinger 1993, 109.
14 Gnädinger 1993, 107.
15 Gnädinger 1993, 108.