„Unser herre sprach, er si ein túr des schafstalles. Welich ist diser schafstal, dis schafhus, do Cristus ein minnencliche túre ist? Das ist daz vetterliche hertze; in dem und von dem ist rechte Cristus ein minnencliche túre, die uns das minnenkliche hertze hat recht entslossen und ufgeton daz allen menschen fúr beslossen was. In diseme schafhus ist ein versammenunge aller heiligen. Der scheffer daz ist daz ewige Wort; die túr daz ist Cristus menscheit; die schaf dis huses daz nemen wir nu das das sint die menschlichen selen; alleine ouch engelsche nature hoerent in disen stal; und in dis minnenkliche hus hat das ewige wort allen vernúnftigen creaturen weg gegeben und ist der gerechte guote scheffer dis huses. Aber der hostarius, der torwerter dis huses, daz ist der heilge geist, wanne sancte Ambrosius und och Jheronimus sprach das alle worheit die verstanden wurt und gesprochen, daz kummet alles von dem heilgen geiste. ... O wie minneklichen und lieplichen er diese túre entslússet, dis vetterliche hertze, und on underlos uftuot allen den verborgenen schatz und die heimelicheit und den richtuom des huses.“690

„Unser Herr (Jesus Christus) sprach, er sei die Tür des Schafstalles. Welches ist nun dieser Schafstall, dessen liebevolle Tür Christus ist? Das ist das väterliche Herz; an dem und von dem ist Christus so recht eine liebevolle Tür, die uns das liebevolle Herz des Vaters recht aufgeschlossen und aufgetan hat, das allen Menschen zuvor verschlossen war. In diesem Schafstall sind alle Heiligen versammelt. Der Schäfer ist das ewige Wort; die Tür ist Christi Menschheit; unter den Schafen verstehen wir nun die menschlichen Seelen; aber auch Engel gehören in diesen Stall; und in dieses liebenswerte Haus hat das ewige Wort allen vernünftigen Wesen einen Weg gegeben, und er selbst ist der gerechte, gute Schäfer dieses Hauses. Der Türhüter dieses Hauses ist der Heilige Geist, denn wie Sankt Ambrosius und auch Sankt Hieronymus sagen, alle Wahrheit, die verstanden und gesprochen wird, kommt vom Heiligen Geist. ... O wie liebevoll und lieblich schließt er diese Tür auf, das väterliche Herz, und uns ohne Unterlass Zugang zu dem verborgenen Schatz, der Freude und dem Reichtum dieses Hauses gewährt.“

Gott-Vater ruft den Menschen durch die Gottheit (das „ewige Wort“) und die Menschheit (die „Tür“) des Sohnes in sein göttliches Herz, in seinen göttlichen Grund. Der Heilige Geist besitzt dabei als Türwächter den Schlüssel zur Tür, d.h. zur menschlichen Natur Christi. Durch den Heiligen Geist kann der Mensch mit Hilfe seines Verstandes, zumal alle Wahrheit vom Heiligen Geist kommt, zur Einsicht kommen, dass Jesus Christus die Tür zum Vater ist. Über die menschliche Natur Christi gelangt der Mensch sodann zur göttlichen Natur Christi. In Christus hört er das ewige Wort des Vaters, d.h. Gott selbst. Dieses Wort, die Gottheit Christi, öffnet nun den Zugang zum göttlichen Grund, zur Einheit mit Gott im Herzen des Vaters.691

„Diser torwerter heischet us die eigenen schaf, heischet sú ouch der scheffer und leit sú, der do ist das ewige wort des vatters, der heischet und leit sú nemmelichen us, und er get in vor und sú volgent ime noch. Diser scheffer der leit und heischet die eigenen schaf: war? Dar er wonet; er gat in vor das sú ime volgent: war? In das schafhus, des vatters hertze, do ist sin wonunge, sin sin, sin rasten.“692

„Dieser Torwächter [der Heilige Geist] ruft die eigenen Schafe heraus, und auch der Schäfer, der das Wort des ewigen Vaters ist, ruft sie bei ihrem Namen und leitet sie nach draußen; und er geht ihnen voran und sie folgen ihm nach. Dieser Schäfer leitet und ruft die eigenen Schafe: Wohin? Dahin, wo er wohnt; er geht ihnen voran, dass sie ihm folgen: Wohin? In den Schafstall, in das Herz des Vaters; da ist seine Wohnung, sein Aufenthalt, sein Rasten.“

Der Vater ruft also den Menschen durch die menschliche und göttliche Natur des Sohnes und durch den Heiligen Geist in sein göttliches, einfaches Sein. Zuvor aber müssen alle, die dorthin gelangen wollen, eins mit dem menschgewordenen Christus werden; sie „muessent gan durch die túre die Cristus ist nach siner menscheit“693 („müssen gehen durch die Tür, die Christus in seiner menschlichen Natur ist“).

Der Heilige Geist bewirkt im Menschen eine unstillbare Sehnsucht nach Gemeinschaft mit Gott. Diese Sehnsucht erfüllt sich, wenn der Mensch dem Vorbild des irdischen Jesus Christus nachfolgt „in wúrklicher wise und in gebruchlicher wise“694 („in wirkender und genießender Weise“). Wer sich, wie Christus, Gott in allen Dingen überlässt und Gottes Heiligen Geist in sich wirken lässt695, in dem erweckt der Heilige Geist sein „wor goetlich leben“696 („wahres göttliches Leben“), und so wird im Menschen ganz „sicher ... geborn Cristus“697 („sicher ... Christus geboren“), seine göttliche Natur. Durch die Kraft des Heiligen Geistes kann der Mensch den Verlust der irdischen Gestalt Christi, d.h. alle menschlichen Vorstellungen und Gedanken über ihn, überwinden und zur Einheit mit der Göttlichkeit Christi „durchbrechen“. Durch das Wirken des Heiligen Geistes wird im Menschen zunächst der irdische Jesus „geboren“, sofern er sich von Jesu Vorbild leiten lässt; dieser irdische Jesus muss aber im Menschen wieder sterben, damit dieser wieder in der Göttlichkeit Christi auferstehen kann698 und Christus selbst im Seelengrund geboren wird:

„Als er die geminten sele alsus vor im sicht in verloeschem antlit ungetroest von allen dingen, und ir des geistes gebrist und stat also geneiget, denne zuohant so bút er ir sin gúldin zepter und stat uf von sime trone, nach reden ze sprechende und nút nach wesende, und git ir sinen gotlichen umbevang und hebt si uf úber alle ir krankheit in dem goetlichen umbevang. ... Er git ir sinen einbornen sun, und in dem aller suessesten kusse in gússet er ir alzemole die oberste sueskeit des heiligen geistes. Er mit teilt ir sin kúnigrich, das ... Got in ime si von gnaden, das er ist und hat von naturen.“699

„Sobald (der himmlische Vater) die geliebte Seele (des Menschen) vor sich sieht mit bleichem Antlitz, ohne Trost, und ihr der Geist gebricht und sie umzusinken droht, dann bietet er ihr sogleich sein goldenes Zepter an und steht von seinem Thron auf – ich spreche in einem Gleichnis und nicht wie es in Wirklichkeit ist – und umfängt sie mit göttlicher Umarmung und erhebt sie über all ihre Krankheiten in dieser göttlichen Umarmung. ... Er gibt ihr seinen eingeborenen Sohn, und in dem allersüßesten Kuss gießt er ihr sogleich die höchste Süßigkeit des Heiligen Geistes ein. Er teilt ihr sein Königreich mit, dass ... Gott in ihr sei aus Gnade, (all das) was er ist und hat von Natur.“

Die göttliche Liebe, die den Menschen in dieser Vereinigung umfängt, strömt wiederum durch diesen Menschen aus in die Welt, so wie der Heilige Geist als Liebe zwischen Vater und Sohn der Schöpfung zuteil wird:

„Alsus wirt dise mosse úberflússig, das alle die welt hin ab wirt gerichtet. Und enweren dise lúte nút in der cristenheit, die welt entstuende nút ein stunde; wan ire werk sint verre mere und besser wan alle die werk sin die alle die welt iemer gewúrken mag.“700

„Und so wird dieses Maß [der Liebe] so überfließend, dass alle Welt davon bereichert wird.701 Und gäbe es diese Leute nicht in der Christenheit, so stünde die Welt nicht eine Stunde lang; denn ihre Werke sind weit zahlreicher und besser als alle Werke, die die ganze Welt je zustande bringen kann.“

1. Das Wirken des Heiligen Geistes im Menschen702

In einer Pfingstpredigt703 geht Tauler auf die Frage ein, was der Mensch eigentlich tun muss, damit er den Heiligen Geist empfangen kann. Seine Antwort lautet: Der Heilige Geist selbst muss den Menschen darauf vorbereiten. D.h. die Befähigung des Menschen, den Heiligen Geist in sich wirken zu lassen, ist einzig und allein das Werk Gottes, d.h. des Heiligen Geistes:

„Er muos die stat selber bereiten zuo im selber und muos sich selber och enphahen in dem menschen.“704

„Er muss die Stätte sich selber bereiten und muss sich selber auch empfangen in dem Menschen.“

Worin besteht das Wirken des Heiligen Geistes im Menschen?

„Der heilig geist hat zwei werk in dem menschen. Das ein ist: er itelt. Das ander: das er fúllet das ital als verre und als vil als er ital vindet.“705

„Der Heilige Geist wirkt zwei Werke im Menschen. Das eine ist: er leert. Das andere: dass er füllt, was leer ist, soweit und so viel er es leer findet.“

1.1. Der Heilige Geist „itelt“ („leert“) und „fúllet das ital“ („füllt das Leere“)

Die „italkeit“706 („Entleerung“) des Menschen ist für Tauler die „groste bereitunge den heiligen geist ze enphahende“707 („die wichtigste Vorbereitung, den Heiligen Geist zu empfangen“). Der Prediger vergleicht den Menschen mit einem Fass, das mit Wein gefüllt werden soll: Wenn in ein Fass neuer Wein hinein soll, dann muss zunächst das Wasser hinaus, weil zwei stoffliche Dinge nicht gleichzeitig den selben Ort einnehmen können.708 Dasselbe gilt für den Menschen:

„Wan recht als verre und als vil der mensche geitelt ist, als vil und als vil me ist er enphengklich ... . Sol Got in, so muos von not die creature us.”709

„Denn ganz so weit und so viel der Mensch geleert ist, so viel mehr ist er empfänglich ... . Soll Gott hinein, so muss notwendigerweise das Geschöpfliche (aus dem Menschen) hinaus.“

Das Streben der nach außen, auf die Schöpfung gerichteten Kräfte der menschlichen Seele – die „tierliche viheliche sele“710 („tierische, viehische Seele“) – soll den Menschen nicht mehr beherrschen. Stattdessen soll nun zunächst die „vernúnftige sele in dem menschen geoffent werden“711 („vernünftige Seele im Menschen geöffnet werden“), d.h. mit Hilfe der Vernunft werden die niederen Kräfte in Ordnung gebracht.712

Sind die niederen Kräfte korrigiert, erkennt sich die menschliche Seele als ein „vernúnftige bilde des us dem si geflossen ist“713 („vernünftiges Bild dessen, aus dem sie ausgeflossen ist“)714; sie erkennt genauer ihr „selbes wesen und alle ir krefte“715 („eigenes Wesen und alle ihre Kräfte“). Der Mensch gelangt zu der Erkenntnis, dass er aus Gott stammt. Es handelt sich hier um eine reine Vernunfterkenntnis, durch die er allerdings die Wahrheit noch lange nicht besitzt, d.h. der Mensch weiß, dass es Gott gibt, aber wer Gott in seinem reinen Sein ist, weiß er deshalb noch lange nicht.716

Dass aber der Mensch mit Hilfe seiner Vernunft überhaupt die niederen Kräfte „übersteigen“ kann, geschieht im Heiligen Geist. Was der Mensch jedoch hierbei tun kann, ist, sich dem Heiligen Geist zu überlassen: Er soll allen Eigenwillen aufgeben, indem er sich immer wieder vergewissert, was Gott will; er soll leer werden und sich Gott in allen äußeren und inneren Geschehnissen überlassen.717 Aber selbst damit ist es noch nicht getan. Tauler spricht sogar davon, der Mensch müsse das Lassen-wollen lassen:

„Also muos sich der mensche lossen vahen und italen und bereiten und al lossen und des selben lossendes also gar und ze mole us gon und lossen und dannan ab von allem dem nút enthalten denne vallen in sin luter nicht.“718

„Also muss sich der Menschen fangen, leeren und bereiten lassen und alles lassen und selbst dieses Lassen gänzlich aufgeben und lassen und alles für nichts halten (und) fallen in sein lauteres Nichts.“

In diesen für den Prediger wahren Armen im Geiste719 – das sind die, die in vollkommener Gelassenheit leben – kann nun der Heilige Geist sein „anderes Werk“ wirken:

„So wenne dise bereitunge in dem menschen geschicht, denne ze hant so wúrket der heilig geist das ander werk in dem bereiteten menschen: er fúllet al zemole alle die enphenglicheit.“720

„Wenn diese Vorbereitung in dem Menschen geschieht, dann wirkt sogleich der Heilige Geist das andere Werk im vorbereiteten Menschen: Er füllt (ihn) sogleich nach (seiner) ganzen Empfänglichkeit.“

Das Tun des Menschen hierbei besteht wiederum darin, dem Wirken des Heiligen Geistes in sich Raum zu geben721 und ihm kein Hindernis entgegenzustellen:

„Alsus vil ist dins tuondes her zuo das du sins werkes in dir bekomen lossest und in ungehindert lossest.“722

„Alles, was du zu tun hast, ist, dass du sein Werk in dich kommen und ungehindert lässt.“

Tauler fordert vom Menschen deshalb ein dem Heiligen Geist, d.h. gottgemäßes Leben. Er legt Wert darauf, dass das äußere Tun und das gesamte Verhalten wohl geordnet sind durch Abgeschiedenheit723 und Stille.724 Das äußere Tun, z.B. die aktive Nächstenliebe, darf dabei keinesfalls als Hindernis angesehen werden; der Mensch soll sich nicht rein passiv verhalten. Die passiv empfangende Haltung gegenüber Gott hat vielmehr den Dienst am Nächsten zur Folge; die Gottesliebe zeigt sich in der Nächstenliebe.725

„Ouch súllent ir nu nút gedencken, ob ri des heiligen geistes alsus warten súllent, daz úch denne uwer ussewendigen guoten werg des heiligen geistes súllent hindern, als werg der gehorsamkeit, singen und lesen und dienst den swestern und minne werg; nein liebes kint, nút also, das man alle ding muesse begeben und warten also. Ein mensche der got gerne minnete und meinde, der sol alle ding von minnen tuon Gotte zuo lobe in rechter ordenunge, die uf vallent wie es Got ime fueget, in minnen und in senftmuetiger guetlicheit und in fridelicher gelossenheit, dir und dinen nehsten in friden zu blibende; die werg hinderent dich nút, sunder die unordenunge in den wercken hinderent dich.“726

„Auch sollt ihr nicht denken, wenn ihr auf den Heiligen Geist warten wollt, dass dann euere äußeren, guten Werke das (Wirken) des Heiligen Geistes behindern könnten, (also) das Werk des Gehorsams, das Singen (beim Chorgebet), das Lesen (der Heiligen Schrift) und den Dienst an den Schwestern und die Werke der Liebe; nein, liebes Kind, nicht (so ist es) also, dass man alle Dinge aufgeben muss, (um nur) zu warten. Ein Mensch, der Gott gerne liebt und nach ihm verlangt, der soll alle Dinge aus Liebe tun, zum Lobe Gottes in rechter Ordnung, wie sie ihm zufallen, wie es Gott (in) ihm fügt, in Liebe und in sanftmütiger Güte und in friedlicher Gelassenheit, zu deinem und deinem Nächsten Frieden. Die Werke hindern dich nicht, sondern die Unordnung in den Werken hindern dich.“

Diese Unordnung – hervorgerufen durch die Unordnung im Gebrauch der äußeren und inneren Kräfte – soll überwunden werden, indem alles Tun auf Gott bezogen wird und der Mensch dabei auf sich selbst achtet:

„Meine Got luterlichen in allen dinen werken und anders nút. Zuo dem andern mole nim din selbes dicke war und huete dins gemuetes und la dozuo kein unordenunge kummen und huete diner worten und diner wandelungen von ussen.“727

„Habe Gott in lauterer Weise im Sinn, in allen deinen Werken und nichts anderes. Zum anderen nimm dein Selbst oft wahr und hüte dein Gemüt und lass dorthin keine Unordnung kommen und hüte dich mit deinen Worten und in deinem äußeren Verhalten.“

Dann wirkt der Heilige Geist im Menschen „grosse ding in dem ingekerten menschen, noch denne das der mensche zuomole nút do von weis“728 („große Dinge in dem [nach innen] gekehrten Menschen, dessen ungeachtet der Mensch nichts davon weiß“). Fassen wir mit Taulers Worten zusammen:

„Kinder, wellent ir iemer túrre werden und zuo úwerme besten kummen, so behaltent diese zwei púntelin: das eine daz ir úch italent und lidig machent aller geschaffener dinge und uwer selbes, und haltent uwern ussern und indewendigen menschen in ordenunge, als daz der heilige geist sins werkes von úch ungehindert blibe. Das ander ist das ir ufvalle, wo sú her kumment, es si indewendig oder ussewendig, waz daz si, daz von Gotte sundern mittel nement und nút anders, wan daz dich Got domitte bereiten wil zuo im selber und zuo sinen grossen goben, die úbernatúrlich und wunderlich sint, zuo den du niemer kummen kundest denne mit lidende und an wurkende ussewendig von dem viende oder von den ruschenden menschen.“729

„Kinder, wollt ihr jemals vollkommen werden und zu euerem Besten kommen, so behaltet (euch) diese zwei Punkte: Der eine ist, dass ihr euch leert und frei macht von allen geschaffenen Dingen und eueres Selbst, und haltet eueren äußeren und inneren Menschen in Ordnung, damit das Werk des Heiligen Geistes in euch ungehindert bleibt. Der andere ist, dass ihr das, was euch geschieht, woher es auch kommt, es sei innerlich oder äußerlich, was es auch sei, von Gott unmittelbar (ohne Widerstreben) annehmt und nichts anderes, denn Gott will dich damit für sich vorbereiten und für seine großen Gaben, die übernatürlich und wunderbar sind, zu denen du aber niemals kommen könntest, außer durch Leiden und äußere Einwirkungen durch den Feind oder durch zänkische Menschen.“

Der Mensch soll loslassen, um sich Gott und den Menschen in allen Dingen, in Freude und Leid, zu überlassen.

1.2. Der Heilige Geist straft

Nach einer Predigt vom vierten Sonntag nach Ostern730 besteht das Wirken des Heiligen Geistes darin, die Welt zu strafen: „Und also der heilige geist kummet, so sol er die welt stroffen“731 („Und wenn der Heilige Geist kommt, so wird er die Welt strafen“). Hinter diesem Bestrafen verbirgt sich die Erkenntnis darüber, wie weit der Mensch von den Dingen der Welt erfüllt ist. Diese Erkenntnis ist ein Geschenk des Heiligen Geistes:

„Waz und wie sol er stroffen? Daz ist: er sol klerlichen zuo erkennende geben und melden obe die welte in dem menschen si bedecket und verborgen, daz sol er bestroffen und schelten.“732

„Was und wie soll er strafen? Das ist: Er soll klar zu erkennen geben und melden, ob die Welt im Menschen sei, verdeckt und verborgen; das soll er bestrafen und schelten.“

Was ist die „Welt“ im Menschen?

„Das ist die wise, die wúrkunge, die inbildunge der welte, smacken in liebe, in leide, in minnen, in vorhten, in trurikeit, in froeiden, in begerungen, in jomer, in sorgveltekeit.“733

„Das ist die Weise, die Wirkung, die Einprägung der Welt, das Schmecken der Liebe, des Leidens, der Zuneigung, der Traurigkeit, der Freude, des Begehrens, des Jammers (und) der Kümmernis.“

Der Heilige Geist bestraft vor allem die Besessenheit von der Welt.734 Solange diese Besessenheit des Menschen von allem Weltlichen unbestraft bleibt, herrscht die Welt in ihm, und das ist ein sicheres Zeichen, dass der Mensch den Heiligen Geist nicht in sich hat einkehren lassen.735

Das Wirken des Heiligen Geistes erfährt der Mensch wiederum darin,

„daz wir niemer enkein raste gewinnent die wile wir diese boese schedeliche besitzunge in uns vindent.“736

„dass wir niemals Ruhe finden, derweil wir diesen bösen, schädlichen Besitz in uns finden.“

Es erfüllt ihn große Furcht, großer Schmerz und ein innerer Vorwurf des Gewissens, und deshalb findet er auch keine vollkommene Ruhe in sich.737 Denn der Heilige Geist hat im Menschen einen Liebesbrand und eine Liebesqual entfacht, wodurch eine große Sehnsucht nach Gott geweckt wird, was aber gleichzeitig zu einem großen inneren Leiden und zu einem Überdruss an allem Geschöpflichen führt.738

Schließlich bestraft der Heilige Geist die Sünde739:

„Daz du sinem willen und sinen manungen widerstest so dicke und so vil, da du so dicke und so vil mitte súndest.“740

„Dass du seinem Willen und seinen Mahnungen so sehr und so viel widerstehst, da du so sehr und so viel damit sündigst.“

Dieses Gebrechen und andere erkennt der Mensch mit Hilfe des Heiligen Geistes. Doch die Erkenntnis darüber führt zu einer höllischen Pein, die nur die erfahren, die sich vom Heiligen Geist erfüllen lassen.741

Sodann verurteilt und bestraft der Heilige Geist die Gerechtigkeit742: „O kinder, wie ist unser gerechtekeit so ein snoede ding vor Gott“743 („O Kinder, was ist unsere Gerechtigkeit für ein schnödes Ding vor Gott“). Durch den Heiligen Geist erkennt der Mensch, dass er sich weder Gott noch den Mitmenschen überlassen will. Dieser ungelassene Mensch744 vertraut sich nur selbst. Gottes Mahnungen beachtet er nicht. Wenn er aber den Heiligen Geist zur Wirkung kommen lässt, „bekennet der mensche sine gebresten klerlich und lert gelossenheit und demutikeit und alle ding“745 („erkennt der Mensch seine Gebrechen deutlich und lernt Gelassenheit, Demut und alle [notwendigen] Dinge“).

Der Heilige Geist straft auch das Urteilen, d.h. das bösartige Verurteilen anderer Menschen, ohne dabei die eigenen Gebrechen vor Augen zu haben.746 Diese Form des Urteilens wird aus Hochmut und Selbstgefälligkeit geboren und ist ein verborgener, feindlicher Same, durch den eine grosse, starke Mauer zwischen Gott und Mensch errichtet wird; in diesem Verurteilen ist der Heilige Geist nicht am Werk.747 Doch mit Hilfe des Heiligen Geistes vermag es der Mensch, dieses verborgene Übel aufzudecken.

2. Die sieben Gaben des Heiligen Geistes

Wer sich dem Wirken des Heiligen Geistes überlässt, wird von seinen sieben Gaben erfüllt.748 Die Fülle der Gaben ist jedoch abhängig von der Bereitschaft des Menschen, dem Heiligen Geist in seinem Grund Raum zu überlassen. Dabei aber sind dem Menschen – so paradox das klingen mag – diese Gaben selbst behilflich; sie sind wirksame Hilfen Gottes für den Weg des Menschen zurück zu Gott:

„Der goben drige bereitent den menschen zuo dem ersten zuo hoher und zu worer vollekommenheit, mere die andern viere die vollebringent den menschen, und wurt der mensche mit dem vollemaht, indewendig und ussewendig, zuo dem hoehsten, lutersten, verklaresten ende der woren vollekomenheit.“749

„Drei der Gaben bereiten den Menschen zuerst zu hoher und wahrer Vollkommenheit vor; die anderen vier vollenden in höherem Grade den Menschen, und der Mensch wird innerlich und äußerlich zum höchsten, lautersten und verklärtesten Ziel der wahren Vollkommenheit geführt.“

Die sieben Gaben des Heiligen Geistes sind: die göttliche Furcht, die sanftmütige Milde oder Sanftmut, das Wissen oder die Wissenschaft („Kunst“), die göttliche Stärke, der gute Rat, das Erkenntnisvermögen und die verkostende Weisheit.750

Die göttliche Furcht, die Sanftmut und das Wissen bereiten den Menschen auf die höchste Vollkommenheit vor751; die Stärke, der Rat, das Erkenntnisvermögen und die verkostende Weisheit vollenden den Menschen, innerlich und äußerlich, in der wahren Vollkommenheit.752

Tauler unterteilt die sieben Gaben auch in wirkende – Sanftmut, Wissen –, in das Leiden erhebende Gaben – Rat und Stärke –, in die der Beschauung zugewandten – Furcht – und in die beiden oberen Gaben – Erkenntnisvermögen und verkostende Weisheit.753

Die erste Gabe des Heiligen Geistes ist die göttliche Furcht754: Sie ist für Tauler der Beginn aller Weisheit755 und sicherer und zuverlässiger Anfang756, um zur höchsten Vollkommenheit zu gelangen. In ihr verbirgt sich die Haltung, sich Gott zu überlassen: „Du muost dich Gotte zuomole ergeben“757 („Du musst dich Gott gänzlich übergeben“). Sie ist wie eine starke Mauer, die den Menschen vor Gebrechen, Hindernissen und schädlichen Fallstricken bewahrt, indem der Mensch durch sie erkennt, wovor er fliehen muss758: Das ist die Welt, der böse Feind (d.h. der Satan), der Mensch selber, und vor allem flieht er vor den

„wegen und wisen und werken do der mensche sinen geistlichen friden verlieren mag und innerliche raste, do Gottes stat inne ist in der worheit.“759

„Wegen und Weisen und Werken, in denen der Mensch seinen geistlichen Frieden verlieren mag und die innere Ruhe, in der Gott seine Wohnstatt in Wahrheit inne hat.“

Die göttliche Furcht nimmt dem Menschen „eigenwilligkeit und lert fliehen und sich in allen dingen lossen in aller ungeordenter angenomenheit und guot dunklicheit“760 („Eigenwilligkeit und lehrt fliehen und sich in allen Dingen zu lassen in aller ungeordneten Anmaßung und großem Dünkel“). Dadurch stärkt und behütet sie gleichzeitig auch all das, was der Heilige Geist im Menschen bereits erwirkt hat.761 Das bedeutet: Die göttliche Furcht ermöglicht zum Einen die angemessene Disposition für das Wirken Gottes im Heiligen Geist, und sie bewahrt zum Anderen das Erreichte. Sie ist also nicht als Furcht vor Gott zu verstehen, sondern als Furcht vor den Dingen, die den Weg zu Gott behindern können:

„Also git der heilige geist allen den sinen minnecliche vorhte, domitte sú behuet werdent vor den hindernissen die sú von ime gehindern múgent.“762

„So gibt der Heilige Geist all den Seinen diese liebliche Furcht, damit sie behütet werden vor den Hindernissen, die sie von ihm fernhalten könnten.“

Die zweite Gabe des Heiligen Geistes ist die sanftmütige Milde763: Sie führt den Menschen in eine höhere Zurüstung in der Empfänglichkeit des Heiligen Geistes.764 Die göttliche Furcht kann im Menschen eine ungeordnete Traurigkeit und Angst hervorrufen: die Angst, niemals zu Gott gelangen zu können aufgrund der erkannten Hindernisse. Dadurch kann aber ebenfalls die Gottesbeziehung gestört werden.765 Was bleibt, ist die Scham über das eigene Versagen und die Angst vor der Strafe Gottes. Solchen Ängsten soll der Geist der sanftmütigen Milde entgegenwirken:

„Das richtet ime diese miltekeit uf und setzet den menschen in ein goetteliche vertragsamkeit von innen und ussen in allen dingen, und benimmet ime unwertsamkeit und hertmuetikeit und alle bitterkeit in ime selber.“766

„(In dieser Angst) richtet (ihn) diese Milde auf und versetzt den Menschen in einen göttlichen Frieden, innerlich und äußerlich in allen Dingen, und nimmt ihm (das Gefühl) der Geringschätzung, Härte und Bitterkeit in ihm selbst.“

Der Geist der Milde richtet also den Menschen wieder auf, indem er dazu verhilft, nicht zu hart mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Doch dieses Aufrichten hat auch Auswirkungen auf den Umgang mit den Mitmenschen: Denn diese erfahrene göttliche Milde

„machet in suessemuetig gegen sime nehsten in allen Dingen, in worten und in werken, und machet in fridesam und guetlich in siner uswendiger wandelunge und gesast.“767

„macht ihn sanftmütig gegenüber seinem Nächsten in allen Dingen, in Worten und in Werken und macht ihn friedlich und gütig in seinem äußerlichen Wandel und (macht ihn) besonnen.“

Das Wissen – die Kunst768 –, die dritte Gabe, will den Menschen kundig769 machen und den menschlichen Geist noch höher führen über alle Leiblichkeit und alle Dinge hinaus in den hohen Adel des heiligen Geistes770, in dem der Leib „in sinre wúrdekeit blibe“771 („in seiner Würde bleibt“) und sich in Tugenden, im Dienst am Nächsten und im geduldigen Leiden übt.772

Mit dieser Gabe treibt der Heilige Geist den Menschen an, zu erfahren, wie er innerlich dem Willen Gottes gemäß leben773, d.h. wie er Gottes Willen erkennen kann. Tauler versteht darunter die Gabe der Unterscheidung: „Die kunst git ime underscheide waz do des menschen fúrgang si“774 („Die Kunst gibt ihm Unterscheidung, was da für des Menschen Fortschritt [nötig] sei“).

Während die Furcht und die sanftmütige Milde das äußere Leben zur rechten Disposition führen, bewirkt das Wissen eine Neuausrichtung des inneren Menschen. Durch das Wissen soll der Mensch gelehrt werden, „wie er indewendig warnemen sol der manunge, der warnunge des heiligen geistes“775 („wie er innerlich die Mahnungen und Warnungen des Heiligen Geistes wahrnehmen kann“):

„Daz sint warnungen: ‚huete dich do, daz mag dir dannan von kummen, und sprich des nút, entuo des nút, engang dar nút!‘; so manet er: ‚halte dich also, wúrcke do und lo dich do und vertrag das!‘ “776

„Das sind Warnungen: ‚Hüte dich davor, das mag dir daraus entstehen, und sprich das nicht, tue dies nicht, geh nicht dahin!‘; so mahnt er: ‚Halte dich so, wirke dort und sei dort geduldig und vertrage das!‘ “

Diese innerlichen Warnungen und Mahnungen betreffen das äußere Leben. D.h. Leiblichkeit und Geistigkeit des Menschen sind nicht als etwas zu Trennendes zu betrachten. Leib und Geist sind gemeinsam, aber als je eigenständiges Glied zur Einung mit Gott bestimmt:

„Ein iekliches wil er haben in daz sine, und hernach so wil er sú dan in tusentvaltiger hoher wúrdikeit vereinen sunder alle vorhte.“777

„Ein jegliches (Geist und Leib) soll in dem Ihren bleiben, und danach will er es dann in tausendfältiger hoher Würde vereinigen, ohne alle Furcht.“

Die göttliche Stärke ist die vierte Gabe des Heiligen Geistes778, durch die der ganze Mensch – also nicht nur Leib oder Geist – über alle menschliche Art, über alle Schwächen und über alle Furcht hinaus geführt wird. Die Stärke ist die Kraft, die es den Märtyrern möglich machte, den Tod zu erleiden.779 Die göttliche Stärke macht den Menschen „so grosmuetig daz er gerne aller menschen werg wúrkete und alle ding litte“780 („so großmütig, dass er gerne das Werk aller Menschen täte und alle Dinge litte“).

Die Stärke wird für den Menschen als Trost und Freude spürbar:

„Wenne der heilige geist kummet in den menschen, so bringet er alle wege mit ime grosse minne und lieht und smag und trost, wanne er heisset der troester.“781

„Wenn der Heilige Geist in den Menschen kommt, so bringt er allewege mit sich große Liebe und Licht und Geschmack und Trost, denn er heißt der Tröster.“

Der weise Mensch reagiert auf diesen Trost derart, dass er sich auf den Ursprung dieses Trostes hin ausrichtet und diesen sucht, während der törichte Mensch allein den Trost erfahren möchte.782 Der Weise

„tringet durch alle goben und genade in verklerte lúterunge, und ensiht weder uf dis weder uf das, danne blos auf Got on allen zuoval.“783

„dringt durch alle Gaben und Gnaden in die verklärte Läuterung, und er sieht weder auf dies noch auf das, als allein auf Gott, ohne (darauf zu achten, was ihm) zufällt.“

Der Trost ermutigt also den Menschen, sich noch mehr Gottes Willen zu überlassen und sich in den Dienst am Nächsten stellen zu lassen. Voraussetzung aber ist die völlige Hingabe an Gott im gleichmütigen Umgang mit dem Geschenk des göttlichen Trostes; dann „vermag der mensche wunderliche ding“784 („vermag der Mensch wunderliche Dinge zu tun“).

Die Stärke sichert also die Verbundenheit des Menschen zur Schöpfung und zum Mitmenschen; sie gibt die Kraft zum Dienst und zur Hingabe an den Nächsten: Die Gabe des Wissens führt den Menschen „aus der Welt“ in ein innerliches, geistliches Leben, um nach dem Willen Gottes zu fragen und ein auf Gott hin ausgerichtetes Leben zu führen; die Stärke führt ihn wieder zu den Mitmenschen in die Welt zurück. Auf diese Weise ist inneres und äußeres Leben kein Widerspruch.785

Der fünften Gabe – des göttlichen Rates – bedarf der Mensch besonders786, denn Gott nimmt dem Menschen wieder alle Gaben, die er ihm bisher durch den Heiligen Geist geschenkt hat. Der Mensch wird ganz auf sich selbst gestellt und auf die eigenen Kräfte verwiesen, um zu erkennen, wer er wirklich ist und wie er sich in dieser schwierigen Situation verhält787:

„Hie wurt er rechte zuo grunde gelossen, das er enweis von Gotte noch von genoden noch von troste noch von allem dem das er ie gewan oder ie einig guot mensche, das wurt ime hie zuomole verborgen und benomen.“788

„Hier wird er recht sich selbst überlassen (grundlos gelassen), dass er nichts mehr weiß von Gott, (weder) von Gnaden noch von Trost noch vom allem, was er oder irgendein guter Mensch je gewann; das wird ihm hier alles verborgen und genommen.“

In dieser Situation – bei der „Arbeit der Nacht“789 – hilft ihm der Rat, sich so zu verhalten, wie Gott dies von ihm fordert790, d.h. er lernt zu leiden an der scheinbaren Sinnlosigkeit:

„Úbermitz diser goben so lert der mensche gelossenheit und sterben und sich ergeben den gruwelichen verborgenen urteiln Gottes und den wewen des berobendes des edeln lutern guotes an dem alle sin heil, froeide und trost gelit.“791

„Mittels dieser Gabe lernt der Mensch Gelassenheit, Sterben und Ergebenheit in die grauenhaften, verborgenen Urteile Gottes und in den Schmerz über die Beraubung des edlen, lauteren Gutes, an dem all sein Heil, seine Freude und sein Trost liegt.“

Der Mensch muss die scheinbare Verlassenheit von Gott ertragen. Und das „Gottes enberen und darben, das ist verre úber alle ding“792 („Entbehren Gottes und das Darben geht weit über alle Dinge“); das Leiden der Märtyrer sei nichts dagegen, da diese den göttlichen Trost in sich verspürt hätten.793 Schließlich kehren auch alte – längst überwunden geglaubte – Gebrechen zurück und zahlreiche Versuchungen setzen dem Menschen schwer zu.794 Durch dieses Leiden soll der Mensch lernen, sich ganz Gott zu überlassen. Der Mensch erkennt, dass er seine Schwächen nicht aus eigener Kraft beseitigen kann. Er erfährt, dass er allein von Gott abhängig ist795:

„Do wurt der mensche berobet sin selbes in rechter worer gelossenheit und versincket in den grunt des goettelichen willen, nút in diseme armute und blosheit zuo stande ein wochen oder ein manot, mere, obe Got, wil tusent jor oder eweklichen.“796

„Da wird der Mensch seines Selbst beraubt in rechter, wahrer Gelassenheit und versinkt in den Grund des göttlichen Willens, nicht (nur) in dieser Armut und Bloßheit zu stehen eine Woche oder einen Monat, sondern, wenn Gott will, tausend Jahre und ewiglich.“

Wenn der Mensch all diese Entbehrungen annimmt und sich dabei dem göttlichen Rat überlässt, überwindet er alle Dinge und kehrt in den Ursprung, in den Grund und in Gottes Willen zurück.797

Mit den ersten drei Gaben des Heiligen Geistes wird „man wol ein heilig gut mensche“798 („man wohl ein heiliger, guter Mensch“), aber mit der Stärke und dem Rat wird man „zuomole himmelsch und goettelich“799 („ganz himmlisch und göttlich“).

Wie ist diese Göttlichkeit des Menschen zu verstehen? Der Mensch setzt, so Tauler, „in dieser gelossenheit … sinen fus in das ewige leben“800 („in dieser Gelassenheit … seinen Fuß in das ewige Leben“).

Zur weiteren Klärung helfen uns Aussagen aus einer Predigt vom zweiten Sonntag nach Dreifaltigkeit801: Tauler spricht in dieser Predigt über drei Festmähler. In seinen drei Auslegungen entspricht das dritte Festmahl dem ewigen Leben: „das ist die wore wirtschaft“802 („das ist das wahre Festmahl“). Die beiden ersten Festmähler sind wichtige Voraussetzungen für das ewige Leben: Das ist zum einen die heilige Eucharistie803, zum anderen „das aller luterste, blosseste, bevintlicheste bekennen und gewar werden des inwendigen grundes do das rich Gotz ist“804 („das aller lauterste, bloßeste, empfindende Erkennen und Gewahrwerden des inneren Grundes, wo das Reich Gottes ist“). Tauler betont: Wer das ewige Leben in Gott erlangen will, der muss die heilige Eucharistie empfangen und sich in der Einkehr in den Grund üben.805 Das heißt: Dem wahren Festmahl – dem ewigen Leben – dienen alle Formen geistlichen Lebens. Wer also die Eucharistie empfängt und in seinen Grund einkehrt, der kann einen Vorgeschmack auf das ewige Gastmahl erhalten. Tauler betont: „Wele menschen dis nút in einer wise einen fúrsmak enhaben etwas, die ensúllent des niemer gebruchen“806 („Welcher Mensch nicht in irgendeiner Weise einen Vorgeschmack [des himmlischen Festmahles] hat, der wird dieses niemals genießen“).

Der Mensch ist göttlich bzw. himmlisch, weil er einen Vorgeschmack auf das ewige Leben erhalten hat. Er hat – wie Tauler sagt – bereits „einen Fuß“ ins ewige Leben gesetzt. Die Göttlichkeit ergibt sich also aus dem bereits in diesem Leben erhaltenen Anteil am zukünftigen göttlichen ewigen Leben, zu dem jeder Mensch berufen ist, weil er seinen Ursprung in Gott hat.

Der Mensch erhält diesen Vorgeschmack, weil er sich – selbst in der von Gott gewollten Verlassenheit und Entbehrung – ganz Gott überlassen konnte. Deshalb wird dieser Mensch niemals wieder dieselbe Pein erdulden, was jedoch nicht bedeutet, der Mensch sei von allem Leid befreit.

„Noch denne das alle pine und alles daz liden aller der welte uf sú viele, sú entachtetent es nút noch enschat in zuomole nút, wan es ist irme gemuete weide, und ein himmelrich hant sú in allen dingen, und in dem ist ir wandelunge und ir wonunge.“807

„Wenn auch alle Pein und alles Leid der Welt auf sie fiele, sie achteten es nicht, noch schadete es ihnen, denn es ist ihrem Gemüte eine Freude, und ein Himmelreich haben sie in allen Dingen, und in dem ist ihr Wandel und ihre Wohnung.“

Mit Hilfe der göttlichen Stärke und des göttlichen Rates werden diese Menschen durch die Gottverlassenheit hindurch in besonderer Weise mit Gott verbunden. Deshalb haeben das Leiden und das zeitliche und irdische Sein für sie einen neuen, nicht ausschließlichen Stellenwert erhalten, so dass ihnen das Leiden und auch die Dinge in „dieser Welt“ nichts mehr anhaben bzw. sie behindern können. Sie bleiben stets in einem gleichbleibenden inneren Frieden, der allerdings von Gott stammt.

Mit den zuletzt genannten Gaben hat der Mensch aber den höchsten Grad der Einung mit Gott noch nicht erreicht. Diese erlangt er durch die sechste und siebte Gabe des Heiligen Geistes, die oberen Gaben808: „Verstentnisse“ („Erkenntnisvermögen“) und „smackende wisheit“ („verkostende Weisheit“)809:

„Dise zwo goben die fuerent den menschen rechte alzuomole in den grunt, úber menschliche wise in daz goetteliche abgrunde, do Got sich selber bekennet und verstat sich selber und smacket sin selbes wisheit und wesenlicheit.“810

„Diese zwei Gaben führen den Menschen so recht ganz in den Grund, über alle menschliche Weise in den göttlichen Abgrund, wo Gott sich selbst erkennt und sich selbst versteht und seine Weisheit und Wesenheit verkostet.“

Der Mensch wird durch die oberen Gaben in die innertrinitarische Liebesgemeinschaft des einen Gottes aufgenommen. Ob und wie das verstandesmäßig zu verstehen ist, dazu betont Tauler – nicht nur an dieser Stelle:

„Von diseme mag man also wenig gesprechen wie es do get, als man von goettelicheme wesen gesprechen mag noch ouch verstan, wan es ist allen geschaffenen verstentnissen, engelen und menschen, zuo hoch von naturen und ouch von genaden.“811

„Von diesem kann man so wenig sprechen, wie es dort (zu)geht, so wenig man vom göttlichen Wesen sprechen noch auch verstehen vermag, denn es ist allen geschaffenen Erkenntnisvermögen, von Engeln und Menschen, zu hoch von Natur und auch von Gnaden her.“

Der Mensch soll über diese Vereinigung nicht sprechen, sondern er soll sie erfahren812, wobei dieses Erfahren ein Erfahren jenseits des natürlichen Intellekts ist und von dorther als ein Nicht-Erfahren bezeichnet werden kann813:

„In dem abgrunde verlúret sich der geist so tief und in so grundeloser wisen das er von ime selber nút enweis.“814

„In dem Abgrund verliert sich der (menschliche) Geist so tief und in so grundlosen Weisen, dass er von sich selbst nichts mehr weiß.“

Worte, Weisen, Empfindungen, Fühlen, Erkenntnis und Liebe gehen dem Menschen verloren, denn es ist alles wie der „luter blos einvaltig Got, ein unsprechenliches abgrunde, ein wesen, ein geist“815 („lautere, reine, einfache Gott, ein unaussprechlicher Abgrund, ein Wesen, ein Geist“).

Doch ist diese Einung mit dem einen Gott in drei Personen einzig und allein ein Gnadengeschehen, das von Gott gewährt wird:

„Von genaden git Got dem geiste daz er ist von naturen, und hat dem geiste do geeiniget das namelose formelose wiselose wesen.“816

„Von Gnaden gibt Gott dem (menschlichen) Geist das, was (Gott) von Natur ist, und (so) hat (er) den (menschlichen Geist) in (sein) namenloses, formloses, weiseloses Wesen vereinigt.“

Der Mensch ist derart von Gott erfüllt, dass er sich selbst vergisst und nur noch ganz in und aus Gott lebt:

„Do muos Got in dem geiste alle sine werg wúrken, bekennen, minnen, loben und gebruchen.“817

„Da muss Gott in dem (menschlichen) Geist alle dessen Werke wirken, erkennen, lieben, loben und genießen.“

Der Geist des Menschen ist frei für Gott, aber „in einer gotlidender wisen“818 („in einer an Gott leidenden Weise“). Denn Gott allein verfügt über den Menschen.

Fassen wir zusammen: Gott ermöglicht dem Menschen durch den Heiligen Geist in den göttlichen Ursprung – die trinitarische Liebesgemeinschaft des einen Gottes – zurückzukehren: Dass der Mensch nach Gott sucht und Gott finden kann, ist einzig und allein ein Werk der Gnade Gottes.

Der Heilige Geist macht dem Menschen die Abkehr von allen Hindernissen möglich, weil sie in ihm als solche erst erkannt werden; der Geist Gottes gibt dem Menschen darüber hinaus die nötige Kraft, wirklich alle Hindernisse loslassen zu können. Er schenkt dem Menschen dafür u.a. seine sieben Gaben.

Auch wenn Gottes Geist immer schon im Menschen wirkt, so kommt es dennoch auch auf die Bereitschaft des Menschen an, diesen zur Wirkung kommen zu lassen. Die Kraft des Heiligen Geistes kommt zu seiner vollkommenen Wirksamkeit, wenn der Mensch dem Beispiel des irdischen Jesus von Nazareth nachfolgt: Er ist das sichtbare Vorbild für den Menschen und wichtig für die Selbsterkenntnis. Denn mit diesem Vorbild kann sich der Mensch vergleichen. Jesus von Nazareth zeigt aber zugleich einen konkreten Weg, auf dem der Mensch zu Gott gelangt, wenn er dem irdischen Vorbild Jesu nacheifert. Doch diese äußere Nachfolge genügt nicht, denn nur wenn Gott selbst den ganzen Menschen mit seinem Heiligen Geist erfüllt – dem Geist Jesu Christi – kann dieser in den göttlichen Ursprung gelangen.

Der Mensch bedarf also des sichtbaren Vorbildes Jesu von Nazareth und seines Heiligen Geistes. Durch das Wirken des Heiligen Geistes wird wiederum die Gottheit Christi – der auferstandene und im Himmel erhöhte Christus – im Menschen geboren. Der Mensch wird eins mit dem „Sohnsein“ Gottes und damit „Sohn“ Gottes aus Gnade.

Die Vereinigung des Menschen mit Gott hat aber keinesfalls den Untergang der individuellen Person zur Folge bzw. führt zur Abkehr vom weltlichen Leben. Im Gegenteil. Die Vereinigung in Gott führt zu einer größeren Verbundenheit mit der Schöpfung und den Menschen; denn Gott wirkt nun in und durch den Menschen in der Welt. Der mit Gott vereinigte Mensch lässt sich von Gott vollkommen in Dienst nehmen für das Heil und die Rettung der gesamten Schöpfung. Ort und Ziel der bei Tauler beschriebenen Einung Gottes mit dem Menschen ist das Diesseits – diese Welt mit allen ihren Geschöpfen – und nicht das Jenseits.819 Das Reich Gottes ist in dieser – auch sündigen – Welt zu finden, und der sündige Mensch ist dazu gerufen in dieser Welt in und aus Gott heraus zu leben – aus dem Vater, der den Menschen ruft und den Weg der Selbsterkenntnis vorgibt; durch den Sohn Jesus Christus, der den Weg zu Gott und die Möglichkeit des „Sohnseins“ – als Teilhabe am Sohnsein Christi – sichtbar macht; und im Heiligen Geist, der dem Menschen die notwendige Kraft Jesu Christi gibt, damit er den Weg auch gehen und in Gott einkehren kann.

„Dis sint edele menschen und sint nútzelich aller der heiligen cristenheit, unde allen menschen sint sú besserlichen und Gotte loebelich und allen menschen troestlich; sú wonent in Gotte und Got wonet in in.“820

„Dies sind edle Menschen und sie sind der ganzen Christenheit nützlich; und allen Menschen dienen sie zur Besserung und Gott zum Lob und allen Menschen zum Trost; sie wohnen in Gott und Gott wohnt in ihnen.“

Gott setzt im Menschen – aufgrund seines eigenen dynamischen trinitarischen Wesens – ein dynamisches und lebendiges Geschehen in Bewegung. Der Mensch wird eins mit dem innertrinitarischen Leben Gottes und hat dadurch zugleich Anteil am göttlichen Heilswerk in der Schöpfung. Der Mensch wird „gotvar, gotlich, gottig“821 („gottfarben, göttlich, gottig“), sofern Gott sich in ihm selbst liebt und er selbst „alle ir werk in in“822 („alle ihre Werke in ihnen“) wirkt.823 Somit ist es Gott selbst, der durch den Menschen in der Welt weiterhin sein Heil wirkt.824 Die Werke dieser mit Gott vereinten Menschen sind deshalb

„verre mere und besser wan alle die werk sin die alle die welt iemer gewúrken mag. Wan Gott wúrkt alles des menschen werk, und dar umbe gant ire werk úber aller menschen werk als vil als Got besser ist wan die creaturen.“825

„weit mehr und besser als all die Werke, die jemals in der Welt gewirkt worden sind. Denn Gott wirkt all des Menschen Werk, und darum gehen ihre Werke über aller Menschen Werke hinaus, da Gott besser ist als die Geschöpfe.“

Der Mensch lebt in der Ewigkeit (im Himmel) und wirkt gleichzeitig in der Zeit (auf der Erde). Wie der irdische Christus ist er mit seinem Innersten, dem Grund, eins mit Gottes Sein, gleichzeitig aber wirkend und leidend in der Welt.826 Der Mensch findet somit, wenn er dem Vorbild von Vater, Sohn und Geist folgt, in seinem Grund der Seele nicht nur Gott, sondern auch sich selbst: seine wahre Bestimmung, seine wahre Identität, sein wahres Selbst.

Rückkehr zu bzw. Einheit mit Gott bedeutet also, dass der Mensch eins mit dem innertriniarischen Leben in Gott wird. Die Einheit hat jedoch gleichzeitig die Beauftragung zur Folge, den trinitarischen Gott durch das eigene Leben ungehindert in der Schöpfung wirken zu lassen. Damit wird der Mensch auch eins mit dem gesamten Heilswerk Gottes und seinem Erlösungswillen, der sich in der Inkarnation Jesu Christi offenbart hat, und sich nun – ganz im Sinne von der allgemeinen Menschwerdung Christi Meister Eckharts, für den die Geburt des Sohnes ein überzeitliches Geschehen, ein gegenwärtiges „Nun“ ist827 – durch den mit Gott vereinten Menschen in der Geschichte der Schöpfung weiterhin ereignet und sich fortsetzt.828

IV. Weitere Hilfen für den Menschen

Eine große Hilfe für den Menschen zurück auf seinem Weg in den göttlichen Ursprung sieht Tauler in den Engeln und in der Jungfrau Maria sowie in den Sakramenten der Kirche.

1. Die Engel und die Gottesmutter Maria

Das Wirken der Engel829 besteht für Tauler hauptsächlich darin,

„das si alwegent uns schowent und ansehent in dem spiegel der gotheit, foermlich und weselichen und wúrklichen mit underscheide. Und sie hant ein sunderlich underscheidenlich wúrken in uns …, und sie habent ein mitwúrken mit Gotte in uns.“830

„dass sie uns allzeit schauen und ansehen in dem Spiegel der Gottheit, nach Form und Wesen, (in unserem) Wirken mit Unterscheidung. Und sie haben ein besonders unterschiedliches Wirken in uns …, und sie haben ein Mitwirken mit Gott in uns.“

Es gibt neun Engelchöre, die aus jeweils drei Hierarchien mit jeweils drei Chören bestehen. Die drei Engelhierarchien haben jeweils „ein sunderliche wúrklicheit und ein sunderlich underscheidenlich angesicht zu den drin stetten die in dem menschen sint“831 („eine besondere Wirksamkeit und eine besondere unterschiedliche Beziehung zu den drei Stätten, die im Menschen sind“).

Die erste Hierarchie mit ihren drei Chören – den Engeln, den Erzengeln und Virtutes – verhilft dem äußeren Menschen zu einem wahrhaftigen Leben in den natürlichen und sittlichen Tugenden und zu einem würdigen Empfang der heiligen Eucharistie, mit dem Ziel, die göttlichen Tugenden – Glaube, Hoffnung und Liebe – zu erwerben.832 Die zweite Hierarchie – die Gewaltigen („potestates“), Fürsten („principatus“) und Herren („dominaciones“) – hilft dem vernünftigen, zweiten Menschen.833 Mit deren Hilfe gelingt es den Menschen, dass sie

„als gewaltig werdent ir selbes innewendig und uswendig irre sinne und sinnelicher uswúrkunge an allen dingen und irs innewendigen menschen, irre gedenke und meinunge in worten und werken.“834

„Herr ihrer selbst werden, innerlich und äußerlich, ihrer Sinne und sinnlichen Tätig-keiten in allen Dingen und ihres inneren Menschen, ihrer Gedanken und Absichten in Worten und Werken.“

Darüber hinaus vermögen sie es mit Hilfe ihrer nun geordneten Vernunft, Versuchungen als solche zu erkennen und sich nicht von ihnen vereinnahmen zu lassen.835 Die dritte Hierarchie schließlich – die Throne, die Cherubim und Seraphim – „wúrket und sicht in den allerinnerlichesten menschen, in den gotbildigen, gotformigen menschen“836 („wirkt und sieht in den allerinnerlichsten Menschen, in den nach Gott gebildeten, gottförmigen Menschen“). Sie wirkt im Grund des Menschen, damit ihn Gottes Glanz erleuchte und Gottes Liebe ihn entzünde.837 Der göttliche Glanz und die göttliche Liebe strahlen nun wiederum aus auf den äußeren und vernünftigen Menschen, und somit auch auf die übrige Welt.838

Für die Rückkehr des Menschen in den göttlichen Ursprung durch die Menschwerdung Christi nimmt auch Maria als Vorbild für den Menschen eine wichtige Rolle ein839, denn sie ist das „edel bilde das der vatter nach im gebilt hatte“840 („edle Bild, das der Vater nach [seinem Ebenbild] geschaffen hatte“). Maria ist also – wie der irdische Jesus – der Prototyp des mit Gott vereinten Menschen; sie entspricht also dem Menschen, wie er sein sollte, was aber „verlorn was in dem paradyse“841 („verloren ging in dem Paradiese“). In Maria vollzog der Vater die gleiche Geburt des Sohnes, die schon in ihm stattfand, und Maria zeigt durch ihr Beispiel, dass diese Geburt auch in jedem anderen Menschen stattfinden soll:

„Wan die selbe geburt die ist ir geburt, die der himelsche vatter eweklichen geborn hat: die hat och si geborn und leitet uns, das wir úber gan und werden von der min- neklichen geburt erfúllet.“842

„Denn dieselbe Geburt, die der himmlische Vater geboren hat, ist auch ihre Geburt: Die hat auch sie geboren, und sie leitet uns an, über uns zu gehen und von der lieblichen Geburt erfüllt zu werden.“

Somit hat Gott auch einen Menschen selbst erwählt, durch welchen die Menschheit wieder in den göttlichen Ursprung zurückgeführt werden soll.843 Tauler stellt vor allem Marias Gehorsam als wichtigste Haltung heraus: Auch darin „han wir ein volkomen bilde an der goetlichen jungfrowen Marien“844 („haben wir ein vollkommenes Vorbild in der göttlichen Jungfrau Maria“).