Kapitel 13
IN DIESEM KAPITEL
Expositionen und Outcomes mit zusammengefassten Daten untersuchen
Vergleiche von mehreren Bevölkerungen oder mehreren Zeitpunkten
Vorschnelle Deutung: ökologischer Trugschluss
Ökologische Studien – zu Unrecht verschmäht
Sind die Menschen umso gesünder, je mehr Geld ein Staat für ihre Gesundheit ausgibt? Ist der durchschnittliche Blutdruck in der Bevölkerung umso höher, je mehr Kochsalz im Land verbraucht wird? Um diese und vergleichbare Fragestellungen zu bearbeiten, führen Epidemiologen sogenannte ökologische Studien durch.
Anders als bei den bisher beschriebenen Studientypen erheben sie Informationen zur Exposition und zum Outcome nicht für jede einzelne Person einer Bevölkerung. Stattdessen arbeiten sie mit Durchschnittswerten für die Exposition und den Outcome aus verschiedenen Bevölkerungen (Epidemiologen sprechen von aggregierten Daten). Das vereinfacht einerseits zwar die Datenerhebung. Andererseits kann dieses Studiendesign aber auch zu Fehlschlüssen verleiten.
In den Kapiteln 9 bis 12 lernen Sie verschiedene Studientypen kennen, mit denen Epidemiologen Zusammenhänge zwischen Expositionen (zum Beispiel Rauchen) und Outcomes (zum Beispiel Lungenkrebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen) untersuchen.
In Kohortenstudien beobachten Epidemiologen jeweils eine große Zahl von Rauchern und Nichtrauchern über einen gewissen Zeitraum und beobachten bei jedem Einzelnen, ob Lungenkrebs auftritt oder nicht. So können sie die Inzidenz von Lungenkrebs in der exponierten und der nicht exponierten Gruppe berechnen und vergleichen.
In Fall-Kontroll-Studien fragen Epidemiologen Erkrankte und nicht Erkrankte nach zurückliegenden Expositionen und ermitteln, in welcher Gruppe der Anteil der Exponierten höher ist. Daraus erschließen sie, ob die Exposition ein Risikofaktor für die Erkrankung ist. Die Beobachtungseinheit sind in beiden Studientypen die einzelnen Teilnehmer (wobei sie natürlich viele Teilnehmer beobachten oder befragen müssen).
Manchmal können Epidemiologen ihre Analyse aber nicht mit Daten durchführen, die sie bei vielen einzelnen Teilnehmern erhoben haben. Mögliche Gründe sind, dass gar keine Daten auf individueller Ebene zur Verfügung stehen oder dass der finanzielle oder zeitliche Rahmen der Studie knapp ist. Dann prüfen sie, ob zusammengefasste (aggregierte) Daten wie Bevölkerungsmittelwerte erhältlich sind und ob deren Analyse die gewünschten Erkenntnisse bringt.
Dazu ein Beispiel. Abbildung 13.1 zeigt für sieben Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten die durchschnittliche Zahl gerauchter Zigaretten pro Person und Jahr und die Sterblichkeit (Mortalität) an Schlaganfall (genauer: Schlaganfall und anderen Gefäßerkrankungen im Gehirn). Die Daten stammen aus der European Health For All Database (HFA-DB) der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
In diesem sogenannten Streudiagramm stehen die Punkte nicht für einzelne Individuen, sondern für Länder. Hier untersuchen die Epidemiologen, ob ein Zusammenhang zwischen der mittleren Zahl gerauchter Zigaretten und der durchschnittlichen Schlaganfallsterblichkeit besteht. Sie nennen eine solche Analyse mit aggregierten Daten eine ökologische Studie.
Abbildung 13.1: Jährliche mittlere Zahl gerauchter Zigaretten pro Person und altersstandardisierte Sterberate an Schlaganfall, Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, 2000
In Abbildung 13.1 können Sie sehen, dass die Sterblichkeit an Schlaganfall in Ländern mit einem hohen jährlichen Pro-Kopf-Konsum an Zigaretten hoch und in Ländern mit einem niedrigen jährlichen Pro-Kopf-Konsum niedriger ist. Das heißt, die Sterblichkeit steigt mit zunehmendem Zigarettenkonsum. Auf gut Epidemiologisch besteht zwischen beiden Faktoren eine positive Korrelation.
Diese Stärke einer statistischen Beziehung zwischen zwei (oder mehr) Variablen geben Epidemiologen mit dem Korrelationskoeffizienten an, den sie mit dem Buchstaben r abkürzen. Der Korrelationskoeffizient liegt immer zwischen -1,0 und +1,0. Ist er positiv, so ist auch der Zusammenhang positiv (»je höher die Exposition …, desto höher der Outcome …«). Dabei ist die Beziehung umso stärker, je näher der Wert an 1,0 liegt.
Bei negativen Werten ist der Zusammenhang umgekehrt (»je höher die Exposition …, desto niedriger der Outcome …« oder »je niedriger … desto höher«). Diese gegenläufige Beziehung ist umso stärker, je näher der Korrelationskoeffizient an -1,0 liegt.
Da Epidemiologen im Rahmen ökologischer Studien oft Korrelationen berechnen, sprechen sie bei diesem Studiendesign auch von »Korrelationsstudien«.
Der Korrelationskoeffizient beträgt in unserem Beispiel r=0,73, was auf einen starken Zusammenhang zwischen Zigarettenkonsum und Schlaganfallsterblichkeit hindeutet.
In den 1960er- und 1970er-Jahren war weit weniger über den Zusammenhang von Rauchen und Gefäßerkrankungen bekannt als heute. Ökologische Studien wie die in Abbildung 13.1 halfen damals, Hypothesen über einen möglichen ursächlichen Zusammenhang zwischen beiden Faktoren aufzustellen.
Auch heute nutzen Epidemiologen ökologische Studien gerne, um Hypothesen zu neuen Sachverhalten zu formulieren. Ökologische Studien gehen daher oftmals Studien mit Individualdaten, zum Beispiel Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien, voraus.
Oft kommt für Epidemiologen auch gar kein anderer Studientyp als eine ökologische Studie infrage. Für bestimmte Expositionen und Outcomes (zum Beispiel für »Rauchen und Lungenkrebs«) können sie Daten einer ausreichend großen Zahl von Menschen in Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien erheben und auswerten. Andere Expositionen hingegen können sie auf individueller Ebene nur mit viel Mühe oder gar nicht mit der notwendigen Genauigkeit messen. Das gilt beispielsweise für Umweltbelastungen wie Luftverschmutzung. Deren Messung erfordert eine Messstation, die Werte für einen Stadtteil liefern kann. Aber natürlich kann nicht jeder einzelne Bewohner eine solche Station mit sich herumtragen.
Die Übertragungswahrscheinlichkeit einer ansteckenden Krankheit beispielsweise hängt nicht nur von den einzelnen Menschen ab, sondern auch von Eigenschaften der Umwelt (etwa der Hygiene) und der Bevölkerung (etwa der Impfabdeckung) – mehr dazu erfahren Sie in den Kapiteln 18 und 19). Infektionsepidemiologen nutzen ökologische Studien, um solche Faktoren zu untersuchen.
Mit einer Studie wie in Abbildung 13.1 untersuchen Epidemiologen den Zusammenhang zwischen Exposition und Outcome für unterschiedliche Bevölkerungen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Mit ökologischen Studien dieser Art haben Epidemiologen am häufigsten zu tun.
Manchmal geht es Epidemiologen aber nicht um den Vergleich unterschiedlicher Länder, sondern sie interessieren sich für ein und dasselbe Land zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Sie untersuchen dann mit einem ökologischen Studienansatz, ob sich der Zusammenhang zwischen Exposition und Outcome im Laufe der Zeit verändert. Statt den Zusammenhang von Rauchen und Schlaganfall für verschiedene Länder zu betrachten, erstellen sie ein Streudiagramm, das den Zusammenhang von Rauchen und Schlaganfall in einem Land über eine Reihe von Jahren hinweg zeigt.
Epidemiologen ziehen für ökologische Studien in der Regel Daten aus Datenbanken oder anderen vorhandenen Datenquellen heran (Beispiele finden Sie in Kapitel 24). Dadurch sind ökologische Studien im Vergleich zu Studien, bei denen sie Individualdaten erheben, kostengünstig und in einem kurzen Zeitraum durchführbar.
Epidemiologen nutzen zwei unterschiedliche Arten von Daten. Das sind zum einen Daten, die als Durchschnittswerte für große Gruppen von Menschen vorliegen. Das ist in Abbildung 13.1 der Fall: Sie zeigt die Durchschnittswerte des Zigarettenkonsums und der Sterblichkeit an Schlaganfall jeweils für die gesamte Bevölkerung der abgebildeten Länder. Andere Beispiele für zusammengefasste oder »aggregierte« Individualdaten sind:
Mit genügend Mühe, Zeit und finanziellen Mitteln könnten Epidemiologen die entsprechenden Daten auch bei einer großen Zahl von Menschen auf individueller Ebene erheben.
Manche andere Expositionen haben aber keine Entsprechung auf individueller Ebene oder lassen sich nur sehr ungenau für einzelne Individuen bestimmen. Ökologische Studien sind dann häufig die einzige praktikable Möglichkeit, sie in eine Studie einzubeziehen. Das betrifft zum Beispiel:
Auch diese Daten sind für Epidemiologen sehr hilfreich. Sie können zum Beispiel die durchschnittliche Sterblichkeit in Abhängigkeit von den Gesundheitsausgaben pro Kopf der Bevölkerung für unterschiedliche Länder untersuchen. Oder sie vergleichen den Zusammenhang der jährlichen Feinstaubbelastung und die Häufigkeit von Asthmaanfällen in Bielefeld im Zeitraum von 2010 bis 2016.
In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ist die Sterblichkeit heute sehr hoch. Liegt das vielleicht am niedrigen Konsum von frischem Obst und Gemüse? Um das zu überprüfen, ziehen Sie die European Health For All Database heran. Sie untersuchen den Zusammenhang zwischen dem Verbrauch an Obst und Gemüse und der Sterblichkeit an Schlaganfall. Sie ermitteln die Durchschnittswerte für einige Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten aus der Datenbank und erstellen ein Streudiagramm (siehe Abbildung 13.2).
Abbildung 13.2: Konsum von Obst und Gemüse und altersstandardisierte Sterblichkeit an Schlaganfall, Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, 2002
Der Abbildung können Sie entnehmen, dass mit steigendem Konsum von Obst und Gemüse die Sterblichkeit an Schlaganfall sinkt. Der Korrelationskoeffizient von r = –0,59 weist auf einen moderaten bis starken Zusammenhang hin.
Dieses Ergebnis erscheint zunächst plausibel, denn die positive Wirkung von Obst und Gemüse auf die Gesundheit ist bekannt. Doch ist der Zusammenhang zwischen beiden Faktoren tatsächlich so stark und – noch wichtiger – wirklich vorhanden? Wo könnten Probleme in Ihrer Analyse liegen?
Wenn Sie sich die Daten für die Russische Föderation anschauen, stellen Sie fest, dass der durchschnittliche Konsum von Obst und Gemüse mit ungefähr 140 Kilogramm pro Person und Jahr vergleichweise niedrig ist. Gleichzeitig hat das Land die höchste Schlaganfallsterblichkeit. Auch das klingt so weit plausibel.
Was Ihnen fehlt, sind Informationen über die einzelnen Menschen. Deren Konsum ist meist sehr unterschiedlich hoch. Es gibt Menschen, die sehr viel mehr, und Menschen, die sehr viel weniger Obst und Gemüse essen als der Durchschnitt. Da Ihnen darüber hinaus nur die krankheitsspezifische Sterblichkeit für die Gesamtbevölkerung zur Verfügung steht, wissen Sie nicht, wie viel Obst und Gemüse die Verstorbenen konsumiert haben. Wenn Sie aus Abbildung 13.2 schließen, dass ein hoher Verbrauch von Obst und Gemüse vor dem Tod durch Schlaganfall und vergleichbaren Erkrankungen schützt, erliegen Sie womöglich einem Trugschluss.
Tatsächlich könnte es sein, dass es in jeder der einbezogenen Bevölkerungen Menschen gibt, die kein Obst und Gemüse essen, deren Sterblichkeit aber trotzdem sehr niedrig ist. Oder es könnte umgekehrt sein, dass die Verstorbenen besonders viel Obst und Gemüse gegessen haben.
Die Gefahr eines ökologischen Trugschlusses besteht in nahezu allen ökologischen Studien. Epidemiologen müssen ihre Ergebnisse vor dem Hintergrund dieser Einschränkungen kritisch diskutieren und ihre Befunde nach Möglichkeit durch weitere Studien untermauern.
Wenn Epidemiologen ökologische Studien durchführen, ziehen sie oft Daten aus verschiedenen Quellen heran. In unserem Beispiel des Zusammenhangs zwischen Obst- und Gemüsekonsum und Sterblichkeit stammen zwar alle Daten aus der European Health For All Database. Deren Datengrundlage sind aber amtliche Statistiken aus den einzelnen Ländern. Die Qualität der Daten ist schwer zu beurteilen. Es kann sein, dass sich die Daten in einigen Ländern nicht auf die gesamte Bevölkerung, sondern – mangels einer flächendeckenden Erfassung – nur auf bestimmte Untergruppen beziehen. Dann wären die Daten weder repräsentativ für das betreffende Land noch zwischen den Ländern vergleichbar. Das wiederum kann zu Verzerrungen führen.
Epidemiologen müssen daher neben der Möglichkeit eines ökologischen Trugschlusses – ebenso wie bei anderen Studientypen – auch die Qualität ihrer Daten bei der Interpretation ihrer Ergebnisse berücksichtigen.
Ökologische Studien haben bei vielen Wissenschaftlern keinen besonders guten Ruf. Ihrer Meinung nach ist dieses Studiendesign nur dazu geeignet, Hypothesen zu erzeugen. Im Jahr 2005 griff ein Leitartikel im angesehenen »International Journal of Epidemiology« diese Vorbehalte mit der provokanten Frage auf: »Führen echte Epidemiologen keine ökologischen Studien durch?«.
Der Autor des Leitartikels kritisiert, dass Epidemiologen im Unterricht die Fall-Kontroll- und Kohortenstudien in den Vordergrund stellen und ökologische Studien stiefmütterlich behandeln. Er weist die negative Meinung der Kritiker zurück und merkt an, dass ökologische Studien besonders geeignet sind, um die Auswirkungen gesundheitspolitischer Maßnahmen auf die Gesundheit der Bevölkerung zu untersuchen. Dieses Potenzial ökologischer Studien nutzen die Epidemiologen bislang nur unzureichend.
Wir teilen diese Meinung. Wir möchten die Frage, ob echte Epidemiologen keine ökologischen Studien durchführen, mit einem lauten »Doch, das tun sie!« beantworten. Oder wenigstens mit einem: »Sie sollten es zumindest«.