Kapitel 19
IN DIESEM KAPITEL
Warum Epidemiologen Krankheitsausbrüche untersuchen
Deskriptive Untersuchung: einen Ausbruch beschreiben
Eine Falldefinition entwickeln
Analytische Untersuchung: eine Fall-Kontroll-Studie durchführen
Ein Ausbruch von Gehirnhautentzündung in Afrika
Wenn Sie als Epidemiologe in einem deutschen Gesundheitsamt arbeiten, werden Sie immer wieder Krankheitsausbrüche untersuchen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es sich nicht um spektakuläre Epidemien von SARS, Ebola oder Vogelgrippe handelt – zum Glück! Das Tagesgeschäft bestimmen meist Ausbrüche von Durchfallerkrankungen, häufig übertragen durch Speisen aus Großküchen, in denen ein Hygienemangel auftrat. Um die Sache spannender zu machen, zeigen wir Ihnen die Arbeit der Infektionsepidemiologen an einem exotischeren Beispiel – anhand der Untersuchung eines Krankheitsausbruchs in Tansania, einem ostafrikanischen Land.
Lassen Sie sich von der Exotik des Beispiels in diesem Kapitel nicht täuschen: Die Methoden, mit denen die Epidemiologen den Ausbruch in Tansania untersuchten, sind die gleichen wie in Deutschland. Einen ersten Einblick, wie Epidemiologen bei einem Krankheitsausbruch vorgehen, bekommen Sie in Kapitel 2. Fachbegriffe der Infektionsepidemiologie erläutern wir in Kapitel 18. Über das Design der Fall-Kontroll-Studie finden Sie mehr in Kapitel 11. Im Kapitel, das Sie gerade lesen, zeigen wir Ihnen, wie Sie all dieses Wissen praktisch anwenden können.
Ganz nebenbei erfahren Sie, dass die Begeisterung der Menschen in Tansania für Fußball der unseren nicht nachsteht – und dass Fußball schauen dort mit höheren Gesundheitsrisiken verbunden sein kann als hier bei uns.
Epidemiologen sprechen von einem Ausbruch oder einer Epidemie, wenn Fälle einer Erkrankung innerhalb eines definierten Zeitraums und einer definierten Region gehäuft (also in größerer Zahl als gewöhnlich) auftreten. Epidemiologen untersuchen einen Ausbruchsverdacht, um folgende Ziele zu erreichen:
Nicht immer gelingt es den Epidemiologen, schon während des Ausbruchs aktiv zu werden. Aber auch im Nachhinein können sie durch die Ausbruchsuntersuchung noch wertvolle Erkenntnisse gewinnen, etwa zu bislang unbekannten Übertragungswegen einer Krankheit.
Zu Beginn einer Untersuchung eines Ausbruchs besteht meist ein Anfangsverdacht: Ärzte beobachten mehr Fälle einer Erkrankung als gewöhnlich oder ein Labor meldet auffallend viele Diagnosen eines bestimmten Krankheitserregers. Wenn es sich um eine meldepflichtige Erkrankung handelt, müssen die Ärzte oder das Labor das zuständige Gesundheitsamt informieren.
Wenn ein Anfangsverdacht besteht, möchten Sie herausfinden, ob wirklich eine Krankheitshäufung vorliegt. Dazu vergleichen Sie die aktuellen Fallzahlen mit den gemeldeten Zahlen aus der gleichen Region in der Vorwoche (steigen die Fallzahlen an?) und im Vorjahr (ist der Anstieg jahreszeitlich bedingt und somit zu erwarten?).
Gleichzeitig möchten Sie natürlich die Diagnose sichern. Handelt es sich wirklich um die vermutete Erkrankung und haben alle Verdachtsfälle tatsächlich die gleiche Krankheit? Dabei helfen Ihnen die Laborärzte.
Wenn – wie in den allermeisten Fällen – eine bekannte Krankheit den Ausbruch hervorruft, suchen Sie in der Literatur nach Berichten über ähnliche Ausbrüche. Was waren typische Symptome der Krankheit? Welcher Anteil der Bevölkerung erkrankte? Wie hoch war die Sterblichkeit? Welche Übertragungswege waren bedeutsam? Welche Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie zeigten Erfolg?
Ganz selten einmal haben es Epidemiologen mit einer neuen Krankheit zu tun. Das Labor findet vielleicht nicht gleich einen Erreger, wie das beim Ausbruch von SARS im Jahr 2003 der Fall war. (SARS ist die Abkürzung für »schweres akutes respiratorisches Syndrom«, eine Viruserkrankung mit grippeähnlichen Symptomen und Lungenentzündung.) In einer solchen Situation holen sich die Epidemiologen Rat beim Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin oder bei internationalen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Nur selten können die Epidemiologen von allen Menschen in einer Bevölkerung Laborproben abnehmen, um so die Fälle der Erkrankung zu finden (obwohl ein solches Vorgehen natürlich die höchste Treffsicherheit hätte). Stattdessen befragen sie die Bevölkerung systematisch. Dazu setzen sie eine Falldefinition ein, um Verdachtsfälle oder wahrscheinliche Fälle der Krankheit möglichst eindeutig von Gesunden oder Kranken mit anderen Krankheiten zu unterscheiden.
Eine Falldefinition enthält zumindest das erste Element der folgenden Liste, und wenn passend auch noch weitere:
Eine gute Falldefinition soll zwei Eigenschaften haben:
Epidemiologen empfinden die Entwicklung einer Falldefinition als einen Balanceakt zwischen hoher Sensitivität und hoher Spezifität. Natürlich wollen sie alle Fälle finden – dazu muss die Sensitivität hoch sein. Dann registrieren sie aber möglicherweise auch Fälle anderer Krankheiten fälschlich als die gesuchte. Um das zu vermeiden, muss die Spezifität hoch sein. Das heißt, andere Krankheiten werden nicht fälschlich als die Krankheit erkannt, die sie eigentlich suchen. Darunter leidet aber meist die Sensitivität, sodass die Epidemiologen dann einen Teil der Fälle der gesuchten Krankheit übersehen.
In der Praxis lösen die Epidemiologen das Problem der konkurrierenden Sensitivität und Spezifität, indem sie zwei oder drei Kategorien (und damit zwei oder drei Falldefinitionen) bilden und nacheinander anwenden:
Das zeigen wir Ihnen am Beispiel von SARS. Als SARS um die Jahreswende 2002/2003 erstmals epidemisch auftrat, kannten die Ärzte den Erreger noch nicht. Daher gab es auch noch keine Labortests für die Erkrankung.
Die Epidemiologen, die den Ausbruch untersuchten, konnten daher nur Verdachtsfälle und wahrscheinliche Fälle definieren. Wie sie dabei vorgingen, zeigt Tabelle 19.1.
Tabelle 19.1: Vorläufige Falldefinition für das schwere akute respiratorische Syndrom (SARS) vom 18. März 2003
Verdachtsfall: |
Wahrscheinlicher Fall: |
Erkrankungsbeginn nach dem 1. Februar 2003 und |
Kriterien für einen SARS-Verdachtsfall und mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt: |
Sie können die räumliche und zeitliche Eingrenzung erkennen. Außerdem sehen Sie, dass die Epidemiologen Symptome wie Kopfschmerzen und Appetitverlust weggelassen haben. Sie treten zwar bei SARS-Patienten auf, sind aber so unspezifisch, dass sie nicht zum Auffinden von Fällen beitragen. Vielmehr bestünde dann die Gefahr, dass jede Erkältungskrankheit als SARS klassifiziert wird.
Um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten, versuchen die Epidemiologen, möglichst alle Fälle eines Ausbruchs zu erfassen. Dazu nutzen sie, einzeln oder zusammen:
Wenn es sich um meldepflichtige Krankheiten handelt, erhalten die Epidemiologen erste Informationen über Fälle aus den zuständigen Gesundheitsämtern. Sind die Fallmeldungen (wie so oft) nicht vollständig oder ist die untersuchte Krankheit nicht meldepflichtig, müssen die Epidemiologen aktiv nach Fällen suchen.
Bei einer aktiven Fallsuche gehen die Epidemiologen (oder ihre Interviewer, die sie zu diesem Zweck ausgebildet haben) von Haustür zu Haustür. Sie fragen, ob sich im betreffenden Haushalt Krankheits- oder Todesfälle ereignet haben. Anhand der Falldefinition entscheiden sie, ob es sich um Fälle der untersuchten Krankheit handelt. Dann setzen sie einen Fragebogen ein, um Informationen zu Person, Ort und Zeit sowie zu möglichen Risikofaktoren zu erheben.
Mit den Ergebnissen der aktiven Fallsuche und der Befragung (oder, falls vorhanden, mit Meldedaten) beantworten die Epidemiologen die drei epidemiologischen Fragen:
Das ist der beschreibende (deskriptive) Teil jeder Ausbruchsuntersuchung. Basierend auf dessen Ergebnissen stellen die Epidemiologen nun eine oder mehrere Hypothesen zum Übertragungsweg der Erkrankung auf.
Das bei einem Krankheitsausbruch am häufigsten eingesetzte Design, um Hypothesen zu Übertragungswegen zu testen, ist die Fall-Kontroll-Studie (seltener eine Kohortenstudie). In einer Fall-Kontroll-Studie vergleichen die Epidemiologen den Expositionsstatus unter den Fällen einer Krankheit mit dem Expositionsstatus gesunder Kontrollen. Daraus berechnen sie, eine wievielmal so hohe Erkrankungschance Exponierte im Vergleich zu Nichtexponierten haben (für Details siehe Kapitel 11). Wichtig ist, die Fälle, die Kontrollen und deren jeweiligen Expositionsstatus korrekt zu ermitteln. Daher müssen sie vorab überlegen:
Bei der Analyse einer Fall-Kontroll-Studie schließen die Epidemiologen auf die Chance der Exponierten zu erkranken. Mehr darüber erfahren Sie in Kapitel 11. Auf den nächsten Seiten illustrieren wir die Ausbruchsuntersuchung einschließlich der Fall-Kontroll-Studie an einem praktischen Beispiel.
Gehirnhautentzündung – Mediziner bezeichnen sie als Meningitis – ist eine schwere Erkrankung mit hohem Fieber, starken Kopfschmerzen und Nackensteife. Es gibt verschiedene Formen von Meningitis, die durch Viren oder Bakterien hervorgerufen werden. Eine bakterielle Meningitis kann besonders aggressiv verlaufen: Bevor es Antibiotika gab, lag die Letalität (Sterblichkeit unter den Erkrankten) bei bis zu 70 Prozent. Selbst heute sterben bei Ausbrüchen in ärmeren Ländern noch zehn Prozent der Erkrankten. Wenn sich in einer Gemeinde ein Ausbruch ereignet, kann die Inzidenzrate bei bis zu einem Fall pro 1.000 Einwohner oder sogar höher liegen.
Auch Tansania ist seit Jahren von bakterieller Meningitis betroffen. Besonders im Süden des Landes kommt es zu Ausbrüchen. Warum?
Zwischen dem 30. März und dem 5. Mai 1998 ereignete sich ein Ausbruch von Meningitis in Mchanje, einem kleinen Dorf mit 531 Einwohnern im Südosten von Tansania an der Grenze zu Mosambik. Zwei Tage zuvor, am 28. März, hatte im Dorf eine öffentliche Videovorführung stattgefunden.
Wie die Epidemiologen später bei der Untersuchung des Ausbruchs rekonstruierten, hatten an der Videoveranstaltung in Mchanje zwei Besucher aus Mosambik teilgenommen. An den Tagen danach überschlugen sich die Ereignisse:
Die Nachricht verbreitete sich, dass sich in Mchanje ein schwerer Ausbruch von Meningitis ereignet hatte. Epidemiologen führten eine Untersuchung durch, um mehr über den Verlauf und den Übertragungsweg des Erregers zu erfahren.
Zunächst ermittelten die Epidemiologen alle Meningitisfälle in Mchanje. Dazu analysierten sie die Krankenakten und befragten mithilfe der Falldefinition für Meningitis der Weltgesundheitsorganisation alle Haushalte. Bei dieser aktiven Fallsuche fanden sie weitere Fälle, die nicht zum Gesundheitsposten gekommen waren. Die Ergebnisse der deskriptiven Untersuchung:
Die Epidemiologen vermuteten aufgrund der ersten Informationen, dass dieser besonders heftige Ausbruch auf eine Übertragung während der Videoshow zurückging und formulierten eine entsprechende Hypothese.
Mithilfe der schließenden (analytischen) Untersuchung testen die Epidemiologen ihre Hypothesen zum Übertragungsweg. Meist führen sie dazu eine Fall-Kontroll-Studie durch. Wichtig ist, die Fälle, die Kontrollen und deren jeweiligen Expositionsstatus korrekt zu ermitteln.
Fälle sind alle Menschen, die während des Ausbruchs in Mchanje lebten und die untersuchte Krankheit hatten – hier also Meningitis. Die 85 Fälle in diesem Ausbruch hatten die Epidemiologen ja bereits gefunden.
Die Kontrollen dürfen nicht an der untersuchten Krankheit gelitten haben. Sie sollen aber aus der gleichen Bevölkerung stammen wie die Fälle. Daher wählten die Epidemiologen per Zufall 35 Haushalte im Dorf aus und rekrutierten alle Haushaltsmitglieder, die während des Ausbruchs keine Meningitis bekommen hatten (zusammen 108 Personen).
Die Epidemiologen befragten die 85 Fälle (oder deren Angehörige, wenn die Fälle verstorben waren) und stellten die gleichen Fragen auch den 108 Kontrollen (im Fall von Kindern deren Eltern). Sie erhoben mittels eines Fragebogens alle Expositionen, die nach dem bisherigen Wissen über Meningitis und den ersten Erkenntnissen zu dem Ausbruch in Mchanje für eine Übertragung der Krankheit bedeutsam sein könnten:
Die Epidemiologen fanden heraus, dass die Häuser in Mchanje alle sehr ähnlich sind, dass vor dem Ausbruch keine weiteren Besucher aus Mosambik ins Dorf gekommen waren und dass keine weiteren öffentlichen Veranstaltungen stattgefunden hatten. Die Frage zum Besuch der Videoshow hingegen zeigte ein auffälliges Ergebnis, das Sie in der Vier-Felder-Tafel (siehe Tabelle 19.2) finden. Schon auf den ersten Blick erkennen Sie, dass die Mehrheit der Fälle, aber nur ein viel kleinerer Teil der Kontrollen die Videoveranstaltung besucht hat.
Die Odds Ratio, berechnet als (51 × 83)/(25 × 34), beträgt 5,0. Besucher der Videoshow haben also eine fünfmal so hohe Chance wie die an jenem Tag Daheimgebliebenen, an Meningitis zu erkranken. Das 95 %-Konfidenzintervall (2,5 – 9,8) enthält nicht die 1, somit ist die Odds Ratio statistisch signifikant unterschiedlich von 1.
Tabelle 19.2: Besuch der Videoshow und Erkrankung an Meningitis, Mchanje
Auslöser der Epidemie in Mchanje war offenbar die Videoshow. Ist dieses Ergebnis plausibel? Sie können das überprüfen. Da die Videoshow nur einmal stattfand, der Ausbruch aber einen Monat anhielt, müssen weitere Ansteckungen in den Haushalten stattgefunden haben (sogenannte »sekundäre« Fälle). Logischerweise sollte deren Chance, die Videoshow besucht zu haben, nur geringfügig erhöht sein. Mit anderen Worten: Bei ihnen sollte die Odds Ratio für den Besuch der Videoshow ungefähr 1 sein.
Nun müssen Sie noch eine zeitliche Grenze zwischen primären und sekundären Fällen festlegen. Sie ergibt sich aus der Inkubationszeit von drei bis sieben Tagen. Die Vier-Felder-Tafel (siehe Tabelle 19.3) zeigt Ihnen das Ergebnis der Analyse des Risikos einer Teilnahme an der Videoshow, stratifiziert nach Erkrankungsbeginn (primäre und sekundäre Fälle).
Tabelle 19.3: Chance, nach Besuch der Videoshow an Meningitis zu erkranken, stratifiziert nach Zeitraum des Krankheitsbeginns
Krankheitsbeginn |
Anzahl Fälle |
Odds Ratio |
95 %-Konfidenzintervall |
Tag 1 – 7 (primäre Fälle) |
29 |
10,3 |
3,4 – 31,1 |
Tag 8 – 31 (sekundäre Fälle) |
56 |
1,7 |
0,9 – 3,2 |
Gesamt |
85 |
5,0 |
2,5 – 9,8 |
Bei den zuerst erkrankten (primären) Fällen beträgt die Odds Ratio über 10. Zu Beginn des Ausbruchs hatten Besucher der Videoshow also eine viel höhere Chance zu erkranken als Daheimgebliebene. Nach der ersten Woche dagegen ist die Odds Ratio für eine Erkrankung nach dem Besuch der Videoshow nur wenig größer als 1, und das Konfidenzintervall enthält die 1. Bei den späteren (sekundären und folgenden) Fällen besteht also kein Zusammenhang mehr zwischen Videoshow und Erkrankung; sie haben sich offenbar später zu Hause bei den primären Fällen angesteckt.
Die primären Fälle haben sich offenbar während der Videoshow beim Indexfall (oder den Indexfällen) aus Mosambik infiziert. An der Vorführung nahmen sie ja vor allem wegen der gezeigten Fußballspiele teil. Trägt Fußball also zur Verbreitung von Seuchen bei? Schon in Kapitel 18 ging es ja um drohende Masernausbrüche während der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland.
Der Fußballsport selbst ist natürlich kein Risikofaktor für die Übertragung von Infektionskrankheiten – es sind die Menschenmengen, die sich im Stadion oder um den Bildschirm drängen. In Mchanje waren es rund 200 Personen, die mehrere Stunden in einem Raum von 6 mal 12 Metern lachten, schrien, niesten und so den Meningitis-Erreger verbreiteten. Die Belüftung war schlecht, denn es handelte sich um einen fensterlosen Lagerraum für Cashewnüsse (die gedeihen im Süden von Tansania vortrefflich). Den hatten die Veranstalter natürlich mit Absicht gewählt, denn so konnte niemand zuschauen, ohne Eintritt zu bezahlen.