Kapitel 4
IN DIESEM KAPITEL
Epidemiologen müssen wissen, wie groß eine Bevölkerung ist
Geburten, Todesfälle und Wanderung ändern die Bevölkerungsgröße
Männlein, Weiblein, alt oder jung? Die Bevölkerungsstruktur
Bevölkerungsentwicklung, gesellschaftliche Situation und Gesundheit beeinflussen sich
Bevölkerungsexplosion auf unserem Planeten. »Die Deutschen sterben aus«. Wenn es um Bevölkerungszahlen geht, jagen sich dramatische – und widersprüchliche – Schlagzeilen. Das ist einerseits nachvollziehbar: Die Größe der Bevölkerung, weltweit oder in Deutschland, hat Auswirkungen auf die gesellschaftliche, wirtschaftliche und natürlich auch gesundheitliche Situation der Menschen. Andererseits sollten wir keine falsche Panik schüren, sondern bei den Tatsachen bleiben. Die sind spannend genug.
Für uns Epidemiologen steht die Bevölkerung im Mittelpunkt. Wir befassen uns bekanntlich mit der Verteilung von Expositionen und Krankheiten oder Todesfällen (auf Epidemiologisch »Outcomes«) in Bevölkerungen oder Untergruppen von Bevölkerungen. Wir müssen also auch etwas über die Bevölkerungen in Erfahrung bringen, in denen sich diese Outcomes ereignen. Um die erforderlichen Daten zu erhalten, bedienen wir uns bevölkerungswissenschaftlicher (demografischer) Methoden und Begriffe. Einige davon lernen Sie in diesem Kapitel kennen.
Aus der Einführung dieses Buches wissen Sie, dass »Bevölkerung« in der Epidemiologie zwei unterschiedliche Bedeutungen haben kann:
Wenn Epidemiologen abschätzen wollen, welche Krankheiten und Expositionen für eine Bevölkerung von Bedeutung sind, benötigen sie grundlegende Informationen:
Die meisten der genannten Informationen oder »Kennziffern« zu Bevölkerungen tragen die Bevölkerungswissenschaftler (Demografen) zusammen.
»Wie viele sind wir?« Es gibt kaum eine grundlegendere Frage. Ob Sie in der Kneipe eine Runde schmeißen wollen, den Lotto-Jackpot mit anderen Mitgliedern einer Tippgemeinschaft teilen müssen oder beabsichtigen, ein sinkendes Kreuzfahrtschiff mithilfe des letzten Rettungsboots zu verlassen – die Zahl der Menschen in der jeweils beteiligten »Bevölkerung« (Ihre Trinkkumpane, Ihre Tippgemeinschaft oder Ihre Mitreisenden) ist mit entscheidend für den Ausgang.
Die Bevölkerung von Deutschland umfasste Ende des Jahres 2015 rund 82,2 Millionen Menschen. Trotz Zuwanderung beginnt sie zu schrumpfen. Mehr dazu erfahren Sie weiter hinten in diesem Kapitel im Abschnitt »Die demografische Formel«.
In der Gesundheitsberichterstattung setzen Epidemiologen die Zahl der Erkrankungen oder Todesfälle ins Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung. Die Bevölkerung der Stadt oder des Landes, in dem sich die Fälle ereignet haben, ist dann der Nenner oder »Denominator« eines Bruches (im Zähler stehen dagegen die Fälle). Daher heißt die Bezugsbevölkerung auch Denominatorbevölkerung.
Schon mal zu Semesterbeginn morgens mit der Bielefelder Stadtbahn vom Hauptbahnhof zur Uni gefahren? Falls ja, wissen Sie, was eine hohe Bevölkerungsdichte ist: Auf jedem Quadratmeter drängen sich gefühlte drei Personen, von denen meist eine auf Ihrem Fuß steht. Weitere mögliche gesundheitliche Beeinträchtigungen einer so hohen Bevölkerungsdichte ergeben sich aus der leichteren Übertragung von ansteckenden Krankheiten wie beispielsweise grippalen Infekten.
Demografen geben die Bevölkerungsdichte als Zahl der Personen pro Quadratkilometer an. Deutschland ist ein dicht besiedeltes Land, dennoch ist die Bevölkerungsdichte gering im Vergleich zur Bielefelder Stadtbahn: Landesweit leben im Schnitt 227 Menschen auf einem Quadratkilometer.
Innerhalb von Deutschland gibt es große Unterschiede in der Bevölkerungsdichte zwischen städtischen und ländlichen Regionen (siehe Tabelle 4.1). Das hat gesundheitliche Folgen: Wenn Sie in Berlin einen Unfall erleiden, finden Sie einen Arzt oder ein Krankenhaus buchstäblich um die nächste Ecke. Anders in Mecklenburg-Vorpommern: Eine geringere Bevölkerungsdichte bedeutet längere Wege zum Arzt.
Tabelle 4.1: Bevölkerungsdichten im internationalen Vergleich, Zahlen für 2014
Gebiet |
Personen pro Quadratkilometer |
Deutschland (insgesamt) |
227 |
Berlin Friedrichshain-Kreuzberg |
13.554 |
Mecklenburg-Vorpommern |
69 |
Kenia (insgesamt) |
79 |
Kibera (Slum in Nairobi, Kenia, Jahr 2009) |
112.000 |
In afrikanischen Entwicklungsländern hat die Bevölkerungsdichte noch größere Auswirkungen auf die Gesundheit, wie das Beispiel Kenias zeigt. Auf dem Land ist die Bevölkerungsdichte gering, die Entfernungen zu den wenigen Gesundheitseinrichtungen sind sehr groß. In vielen Großstädten dagegen entstehen extrem dicht besiedelte Slums, in denen die Menschen unter katastrophalen hygienischen Bedingungen leben. Beide Situationen erschweren die gesundheitliche Versorgung.
Wie viele Kinder kommen jedes Jahr zur Welt? Diese Frage ist weniger trivial, als es zunächst den Anschein hat. Denn leider gibt es manchmal Fehlgeburten und Totgeburten. Sollen die zu den Geburten zählen? Um wiederholbare Ergebnisse zu erzielen, benutzen Demografen und Epidemiologen eine einheitliche Definition für Geburten:
In der Fachsprache der Demografen zählen Geburten (und Sterbefälle) zur sogenannten natürlichen Bevölkerungsbewegung. Was sich hier bewegt, ist die Zahl der Menschen. Wenn sich die Menschen selbst bewegen, heißt das »Wanderung« oder »Migration«.
Wissenschaftler sind stolz auf ihre eindrucksvollen Wortneuschöpfungen. Unsere Kollegen, die Demografen, sprechen beispielsweise von der »reproduktiven Leistung« oder »Fertilität« einer Gesellschaft (Mütter wissen, dass diese vorgeblich gesamtgesellschaftliche Leistung vor allem ihnen Opfer abverlangt). Ein häufig benutztes Maß der Fertilität ist die Gesamtfruchtbarkeitsrate.
Einfacher gesagt: Die Gesamtfruchtbarkeitsrate gibt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau an. Damit eine Kindergeneration gleich groß ausfällt wie ihre Elterngeneration, sind in den Industrienationen 2,1 Kinder je Frau erforderlich. Zwei Kinder pro Frau reichen nicht aus, weil geringfügig mehr Jungen als Mädchen geboren werden und einige wenige Kinder sterben.
In Deutschland beträgt die Gesamtfruchtbarkeitsrate knapp 1,5 Kinder je Frau. Damit pflanzt sich eine Elterngeneration nur zu zwei Dritteln fort. In ost- und südeuropäischen Ländern liegen die Gesamtfruchtbarkeitsraten ähnlich oder sogar noch niedriger. Anders in Skandinavien, dort beträgt sie immerhin fast 2,0. In den westafrikanischen Ländern liegt sie sogar zwischen fünf und sieben Kindern je Frau.
Die rohe Geburtenrate ist ebenfalls ein Maß der Fertilität. Sie beschreibt die Zahl der Lebendgeborenen pro 1.000 Personen der Bevölkerung innerhalb eines Jahres. Damit setzen Sie die Zahl der Geburten also ins Verhältnis zur Größe der Bevölkerung – mehr über diesen Ansatz erfahren Sie in Kapitel 5.
Sie ahnen es schon: In der Epidemiologie und der Demografie geht nicht einmal das Sterben ohne Formalitäten. Wir müssen auch Sterbefälle definieren, bevor wir sie zählen können.
Demografen sprechen von einem Geburtenüberschuss, wenn die Zahl der Geburten eines Jahres die Zahl der Sterbefälle übersteigt, und im umgekehrten Fall von einem Sterbeüberschuss.
Ganz ähnlich wie bei den Geburten können Sie auch die Todesfälle innerhalb eines Jahres ins Verhältnis zur Größe der Bevölkerung setzen. Sie erhalten damit die Sterberate (Mortalitätsrate). Ausführliche Informationen dazu finden Sie in Kapitel 5.
Wenn Sie das schöne Bielefeld verlassen und nach Australien auswandern (oder als Australier, nach kühlem Regen lechzend, aus Ihrem staubtrockenen Land zu uns nach Bielefeld zuwandern), bezeichnen die Bevölkerungsstatistiker das als Außenwanderung oder internationale Migration. Ziehen Sie hingegen aus Bielefeld ins benachbarte Paderborn, so heißt das Binnenwanderung. Die Wanderungsstatistik erfasst beide Formen der räumlichen Bevölkerungsbewegung – vorausgesetzt, die Zu- oder Abwanderer melden sich ordnungsgemäß bei den zuständigen Einwohnermeldeämtern an oder ab (weitere Details hierzu finden Sie in Kapitel 24).
Verliert oder gewinnt Deutschland durch die internationale Migration an Bevölkerung? Um diese Frage zu beantworten, berechnen Sie den Wanderungssaldo.
Die Wanderungssalden der internationalen Migration schwanken in Deutschland stark. Zwischen 1955 und 2015 bewegten sie sich im Bereich von etwa −250.000 bis +1.140.000. Die Wanderungssalden hängen zum einen von der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in den Herkunftsländern der Zuwanderer ab. Zum anderem spielen die aktuelle Gesetzeslage in Deutschland sowie die Attraktivität unseres Landes in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht eine wichtige Rolle.
Tabelle 4.2 zeigt Ihnen große Zuwanderungsbewegungen nach Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Nicht alle Menschen sind geblieben: Viele Arbeitsmigranten sind nach einigen Jahren in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt und bei Weitem nicht alle Asylsuchenden erhalten Asyl. Dennoch: Deutschland ist ein Zuwanderungsland, und das ist gut so. Zuwanderung fordert aber allen Beteiligten – Zugewanderten und nicht Zugewanderten – aktive Leistungen ab, damit die Integration gelingt.
Tabelle 4.2: Große Zuwanderungsbewegungen nach Deutschland seit 1945 (Zahlen gerundet)
Bevölkerungsgruppe |
Wann? |
Wie viele? |
Flüchtlinge aus ehemals deutsch besiedelten Gebieten in Osteuropa |
1945 bis 1950 |
12 Millionen |
Arbeitsmigranten aus Italien, der Türkei und anderen Mittelmeerländern |
1955 bis 1973 |
4 Millionen |
Asylsuchende |
1990 bis 2015 |
3,7 Millionen |
Aussiedler und Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, Polen und Rumänien |
1988 bis heute |
3,1 Millionen |
Die Demografen fassen alle Einflussfaktoren der Bevölkerungsentwicklung in einer Formel zusammen. Sie heißt Grundgleichung der Bevölkerungsdynamik oder einfach »demografische Formel«. Die zukünftige Bevölkerungsgröße (B1) ergibt sich aus der Bevölkerungszahl zum Ausgangszeitpunkt (B0) plus der Zahl Geburten (G) minus der Sterbefälle (S) plus der Zuzüge (Z) minus der Fortzüge (F) innerhalb eines Zeitraums:
Hier ein Beispiel (wir haben die Zahlen leicht gerundet): Wenn Sie die Bevölkerungszahl von Deutschland zum 31.12.2014 kennen (B0 = 81.197.500), addieren Sie die Geburten im Jahr 2015 (G = 737.575), ziehen die Sterbefälle ab (S = 925.200), addieren die Zuzüge (Z = 2.136.954) und ziehen die Fortzüge ab (F = 997.552). Sie erhalten so die Bevölkerungszahl zum 31.12.2015 (B1 = 82.149.277).
Dabei stellen Sie fest: Die Bevölkerung von Deutschland wuchs 2015 bei einem positiven Wanderungssaldo von 1.139.402 Menschen (2.136.954 Zuzüge minus 997.552 Fortzüge). Die Zuwanderung nach Deutschland gleicht den Sterbeüberschuss von 187.625 (925.200 Todesfälle minus 737.575 Geburten) also aus und führt sogar zu einem Bevölkerungswachstum.
Die für die demografische Formel erforderlichen Bevölkerungszahlen erhalten die Epidemiologen aus der Bevölkerungsstatistik. Sie gehört zu den wichtigsten Arbeitsgebieten der amtlichen Statistik. Informationen über die Bevölkerungsstruktur und -entwicklung helfen Managern und Politikern, Entscheidungen im Gesundheitswesen, in der Bildungspolitik sowie in der Arbeits- und Wirtschaftspolitik zu treffen.
Die Frage »Wie viele sind wir?« bewegt Regierungen seit dem Altertum. »Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste …« So steht es in der Weihnachtsgeschichte (Lukas 2, 1-2). Tatsächlich gab es in China schon früher Volkszählungen.
Bei einer Volkszählung (auch »Zensus« genannt) erfassen die Bevölkerungsstatistiker alle in einem Land lebenden Personen und befragen sie nach ihrem Alter, Geschlecht und weiteren Angaben. Nach einer Volkszählung schreiben die statistischen Ämter den Bevölkerungsstand bis zum nächsten Zensus jährlich fort.
Die statistischen Ämter erhalten die für die Fortschreibungen erforderlichen Daten zu Geburten, Sterbefällen und Eheschließungen sowie zu Wanderungsbewegungen von den Standesämtern und den Einwohnermeldeämtern. Ergänzt werden diese Informationen durch den jährlich stattfindenden Mikrozensus. Dazu besuchen Interviewer 1 Prozent aller Privathaushalte und erheben aktuelle Daten zu Bevölkerungsstruktur und wirtschaftlicher Lage (siehe Kapitel 24).
Die letzte Volkszählung fand im Jahr 2011 statt. Die Bevölkerungsstatistiker haben erstmals ein neues, registerbasiertes und stichprobengestütztes Verfahren angewandt. Eine Befragung aller Einwohner wie bei früheren Volkszählungen ist bei diesem Verfahren nicht erforderlich. Mehrere Tausend Interviewer haben etwa 10 Prozent der Bevölkerung (etwa 7,9 Millionen Menschen) befragt. Der Schwerpunkt der Befragungen lag in Gemeinden ab 10.000 Einwohnern, weil dort die Melderegister häufiger ungenau sind. Die nächste Volkszählung ist für das Jahr 2021 geplant.
Wenn Sie eine Bevölkerung nach Alter und Geschlecht gliedern, können Sie Alterungsprozesse und Folgen dramatischer Ereignisse wie beispielsweise Kriege erkennen. Besonders gut sichtbar werden sie in einer grafischen Darstellung. Dazu erstellen Demografen eine Bevölkerungspyramide, auch Alterspyramide genannt (obwohl sie häufig gar nicht pyramidenförmig ist).
Für die Darstellung von Bevölkerungspyramiden gibt es verbindliche Vorgaben. Die männliche Bevölkerung steht auf der linken Seite, die weibliche Bevölkerung auf der rechten. Die jüngste Altersgruppe bildet die Basis der Pyramide, die höchste Altersgruppe deren Spitze. Die Pyramiden können entweder die Größe der einzelnen Altersjahre oder von Fünf-Jahres-Altersgruppen zeigen.
Bevölkerungspyramiden bilden die Veränderungen der Bevölkerungszahlen durch Geburten, Sterblichkeit und Wanderung in den vergangenen Jahrzehnten ab. Es gibt mehrere ideal-typische Formen von Bevölkerungspyramiden (siehe Abbildung 4.1).
Abbildung 4.1: Idealtypische Formen der Bevölkerungspyramide (weiß: Männer, grau: Frauen)
In der Realität finden Sie diese Idealtypen nur selten, denn die Pyramiden werden durch Ereignisse wie Kriege oder Katastrophen deformiert. In den Abbildungen 4.2 und 4.3 zeigen wir Ihnen die Bevölkerungspyramiden von Indien und Deutschland. Anhand der Form können Sie die Besonderheiten der jeweiligen Bevölkerungsentwicklung ableiten.
Abbildung 4.2: Bevölkerungspyramide, Indien 2009
Die indische Bevölkerungspyramide (Abbildung 4.2) weist eine nahezu idealtypische Dreiecksform auf. Indien hat also eine schnell wachsende, junge Bevölkerung. Ganz anders sieht die deutsche Bevölkerungspyramide aus (Abbildung 4.3). Sie befindet sich im Übergang von der Glockenform zur Urnenform und zeigt damit an, dass die Bevölkerung altert. Einige weitere Details:
Abbildung 4.3: Bevölkerungspyramide, Deutschland 2009
Die Lebenserwartung ist der Zeitraum in Jahren, den ein Mensch ab seiner Geburt bis zum Tod durchschnittlich leben würde, wenn sich die gegenwärtigen Sterberisiken nicht ändern. In Deutschland lag die Lebenserwartung im Jahre 2015 für die weibliche Bevölkerung bei der Geburt bei 83 Jahren und für die männliche Bevölkerung bei 78 Jahren. Frauen haben (vermutlich aufgrund ihrer gesünderen Lebensweise) eine fünf Jahre höhere Lebenserwartung.
Die Lebenserwartung in Deutschland ist im letzten Jahrhundert um rund 30 Jahre gestiegen. Ursachen sind der Rückgang der Säuglingssterblichkeit und die heute bessere Überlebensprognose bei Erkrankungen im höheren Alter – mehr zu diesem Thema erfahren Sie in Kapitel 1.
Weltweit die höchste Lebenserwartung haben die Menschen in Japan (Frauen 87 Jahre und Männer 80 Jahre). In Simbabwe, einem einstmals blühenden Land im südlichen Afrika, betrug um die Jahrtausendwende die Lebenserwartung von Frauen 37 Jahre, die von Männern 38 Jahre. Eine Ursache war die AIDS-Epidemie, die dort Frauen noch stärker traf als Männer. Daher war die Lebenserwartung der Frauen niedriger als die der Männer, anders als in fast allen anderen Ländern. Weitere Ursachen waren die große Armut und politische Unterdrückung.
Als Grundlage der Berechnung von Lebenserwartungen verwenden die Demografen sogenannte Sterbetafeln.
Die Bevölkerungsentwicklung ist nicht nur für Demografen interessant: Sie hat Auswirkungen auf die gesellschaftliche und damit auf die gesundheitliche Situation (so erklärt sich, warum auch Epidemiologen Demografie betreiben). Umgekehrt beeinflusst auch die gesellschaftliche Situation die Bevölkerungsentwicklung. Wir zeigen Ihnen diese Wechselwirkungen anhand der Beispiele Alterung, Migration und der Folgen der deutschen Wiedervereinigung.
Von 2003 bis 2011 sank die Bevölkerungsanzahl in Deutschland, weil die Zuwanderung aus dem Ausland das Defizit bei den Geburten (weniger Geborene als Gestorbene) nicht ausgleichen konnte. Durch die hohe Zuwanderung steigt die Bevölkerungszahl seit 2011 leicht an. Gleichzeitig altert die Bevölkerung. Politiker und Gesundheitsplaner fragen sich natürlich, was das für Auswirkungen hat. Wie sich Bevölkerungsgröße und Bevölkerungsstruktur in den Jahren bis 2060 voraussichtlich entwickeln, hat das Statistische Bundesamt gemeinsam mit den Statistischen Landesämtern in der »13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung« abgeschätzt.
Nach den mittleren Varianten der Vorausberechnung wird die Bevölkerungszahl zwischen 2013 und 2060 um 14 bis 19 Prozent zurückgehen. Was sind die Folgen?
Durch die Alterung nehmen chronische Krankheiten und Pflegebedürftigkeit zu. Über 80 Prozent der Pflegebedürftigen gehören zur Gruppe der älteren Menschen. Schon im Jahr 2030 wird die Zahl der Pflegebedürftigen bei etwa 3,5 Millionen liegen. Der stark steigende Altenquotient lässt erkennen, dass zukünftig die wirtschaftlich aktiven Menschen für eine vergleichsweise immer größere Zahl alter Menschen sorgen müssen.
Deutschland ist ein Zuwanderungsland, auch wenn das die Politik viele Jahre lang nicht wahrhaben wollte. Das zeigt Ihnen Tabelle 4.2 weiter vorn in diesem Kapitel.
Ende 2015 lebten rund 9,1 Millionen ausländische Staatsangehörige in Deutschland. Aber nicht alle Menschen mit »Migrationshintergrund« sind Ausländer: Es gibt viele Zuwanderer sowie Kinder von Migranten mit deutschem Pass. In Deutschland haben 17,1 Millionen Menschen und somit etwas mehr als ein Fünftel (21 Prozent) der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Dieser Teil der Bevölkerung ist im Durchschnitt wesentlich jünger als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, der Männeranteil ist etwas höher. Zu den häufigsten Herkunftsländern der Menschen mit Migrationshintergrund zählen die Türkei, die Russische Föderation, Polen und Italien.
Menschen mit Migrationshintergrund haben ein höheres gesundheitliches Risiko als die Mehrheitsbevölkerung. Ihr gesellschaftlicher Status ist häufig niedrig, sie verdienen und wohnen schlechter, arbeiten an gefährlichen Arbeitsplätzen und sind häufiger arbeitslos. Der Anteil rauchender Männer und der Anteil von Kindern mit Übergewicht ist höher. Zuwanderer aus ärmeren Ländern leiden häufiger an Tuberkulose, die Säuglingssterblichkeit in kürzlich zugewanderten Familien ist höher.
Wir Epidemiologen kritisieren, dass es zur Gesundheit von Zuwanderern in Deutschland immer noch zu wenige brauchbare Daten gibt. Das macht es uns schwer, besondere Risiken zu erkennen, denen Zuwanderer ausgesetzt sind, und wirksame Maßnahmen zur Erhaltung oder Verbesserung ihrer Gesundheit zu entwickeln.
Gesellschaftliche Umbrüche können dramatische Veränderungen in der Bevölkerungsentwicklung nach sich ziehen. Das zeigen die Geburtenzahlen in Ostdeutschland nach der Wende 1989 besonders eindringlich.
Zur Vorgeschichte: Nach Ende des Zweiten Weltkriegs stieg die durchschnittliche Kinderzahl in beiden Teilen von Deutschland auf 2,5 Kinder pro Frau an. Mitte der 1960er-Jahre kam der »Pillenknick«: Wirksame und leicht zugängliche Verhütungsmittel sowie ein Wandel im Rollenbild der Frauen ließen die Gesamtfruchtbarkeitsrate zunächst im Westen auf etwa 1,3 sinken. Die DDR zog nach. Kurz vor der Wiedervereinigung betrug die Gesamtfruchtbarkeitsrate in beiden Ländern wieder rund 1,5.
Im Zeitraum von der Wende bis Ende 1994 sank die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau in den neuen Bundesländern von 1,5 auf 0,8. Das ist der stärkste je zu Friedenszeiten beobachtete Rückgang (im Laufe der folgenden Jahre stieg die durchschnittliche Kinderzahl wieder auf etwa 1,3 an). Der Geburtenausfall, der sich daraus ergibt, wird in der nächsten Generation zu einem weiteren Geburtenausfall führen, da ja weniger Frauen geboren wurden, die nun Kinder bekommen könnten. Hinzu kommt eine Abwanderung von Frauen in den Westen.
Das Gebiet der ehemaligen DDR hat seit 1948 massive Abwanderungen erlebt, Zuzüge fanden kaum statt. Seit der Wende sind über 1,5 Millionen Menschen in den Westen verzogen. Konkret bedeutet das:
Es wanderten vor allem junge, gut ausgebildete Menschen ab, darunter besonders viele Frauen. Ältere und Pflegebedürftige sowie niedrig Qualifizierte blieben zurück, was zu hohen Arbeitslosen- und Sozialhilfequoten beiträgt. So kommt es regional zu einem relativen Mangel an jungen Frauen im Alter von 18 bis 29 Jahren. Im ehemaligen Landkreis Uecker-Randow im südöstlichen Mecklenburg-Vorpommern kamen rechnerisch nur noch 74 junge Frauen auf 100 junge Männer. Das kann nicht gut für die Gesundheit sein.
Die Folgen des Bevölkerungsrückgangs sind für die Menschen in schrumpfenden Städten und Kreisen deutlich spürbar. Die Kommunen nehmen weniger Steuern ein und können daher weniger Leistungen bieten. Manche kommunalen Aufgaben wie die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung lassen sich nicht einfach proportional zu einem Bevölkerungsrückgang abbauen, ihre Qualität droht zu leiden. Auch Ärzte wandern ab, die gesundheitliche Versorgung in ländlichen Gebieten der neuen Länder ist immer schwieriger aufrechtzuerhalten.
Die Gesundheit der Menschen hängt nicht nur von individuellen Verhaltensweisen ab. Vielmehr spielen auch gesellschaftliche Faktoren eine große Rolle. Einer dieser gesellschaftlichen Faktoren ist die Bevölkerungsentwicklung (weitere Faktoren lernen Sie in Kapitel 20 kennen, dem Kapitel zur Sozialepidemiologie). In einer alternden Gesellschaft steigt die Prävalenz von Demenzerkrankungen und von Pflegebedürftigen. In einer schrumpfenden Gesellschaft vergrößern sich regionale Ungleichheiten, die sich auf die Gesundheit auswirken können. Epidemiologen benötigen zuverlässige Bevölkerungszahlen und demografische Grundkenntnisse, um solche Prozesse verstehen zu können.