6 Messbare Abbildungen

In diesem Kapitel seien (E, Illustration) und (E′, Illustration) zwei Messräume und T: EE′ eine Abbildung. Wir interessieren uns dafür, wann T mit den σ-Algebren Illustration und Illustration verträglich ist — so wie eine stetige Abbildung mit den Topologien verträglich ist: „Urbilder offener Mengen sind offen.“ Dieser Frage sind wir bereits im Beweis von Satz 4.7 in folgender Form begegnet

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6.1 Definition. Eine Abbildung T: EE′ heißt Illustration-messbar (kurz: messbar), wenn

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(6.1)

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  • ► Alternative Notation für (6.1): (Illustration). Dabei ist Illustration) eine symbolische Kurzschreibweise.
  • T: Illustration ist eine weitere Bezeichnung für „T ist Illustration-messbar.“

Mit Hilfe von Definition 6.1 können wir das Problem von Satz 3.7 so formulieren: Für die Abbildungen

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gilt

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Die Messbarkeit von τx haben wir in Satz 4.7 ad hoc bewiesen, indem wir uns auf den Erzeuger Illustration der σ-Algebra zurückgezogen haben. Das geht jedoch immer.

 

6.2 Lemma. Es sei Illustration. Dann ist T: E → E′ genau dann Illustration-messbar, wenn

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(6.2)

Beweis. Da Illustration gilt (6.1)⇒(6.2). Umgekehrt gelte nun (6.2). Definiere

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Wegen (6.2) ist Illustration; außerdem ist Σ′ eine σ-Algebra. Illustration Somit findet man

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Der Begriff der messbaren Abbildung ähnelt dem der stetigen Abbildung. Zur Erinnerung:

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In allgemeinen topologischen Räumen (E, Illustration), (E′, Illustration) verwendet man die letzte Äquivalenz als Definition für die (globale) Stetigkeit einer Funktion.

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(6.3)

 

Wiederum ist Illustration symbolisch zu verstehen.

 

6.3 Beispiel. Jede stetige Abbildung Illustration ist Borel- Illustration messbar. Denn: Illustration für die offenen Mengen Illustration des Illustration. Dann gilt

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Achtung: Stetige Funktionen sind Borel-messbar. Umgekehrt folgt aus der Messbarkeit nicht die Stetigkeit. Hier ist ein typisches Gegenbeispiel: Die Funktion Illustration ist messbar aber nicht stetig! Die Messbarkeit folgt aus

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6.4 Satz. Es seien (En, Illustration), n = 1, 2, 3, Messräume und S, T messbare Abbildungen

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Dann ist auch die Komposition S ∘ T: (E1, Illustration)(E3, Illustration) messbar.

Beweis. Für alle AIllustration gilt Illustration.

 

Oft kennen wir für eine Abbildung T: EE′ die σ-Algebra Illustration in E′ und suchen eine σ-Algebra Illustration in E, so dass T messbar wird. Derartige Fragestellungen finden wir typischerweise in der Wahrscheinlichkeitstheorie.

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Illustration entspricht dem (real existierenden) Raum der Beobachtungen mit einer (wenigstens theoretisch) beobachtbaren Wahrscheinlichkeitsverteilung µ. Der W-Raum (Ω, Illustration) ist dann ein mathematisches Modell und Illustration ist eine Abbildung zwischen Modell und Realität.

Damit wir mit X und (Ω, Illustration) arbeiten können, müssen wirfolgende Fragen klären: Mit welchem Illustration wird X messbar? Wie bildet X die Maße Illustrationund µ ineinander ab?

6.5 Lemma (und Definition). Es seien (Ti)i∈I beliebig viele Abbildungen Ti: EEi und (Ei, Illustration), iI, Messräume. Dann ist

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die kleinste σ-Algebra in E, die alle Ti gleichzeitig messbar macht. σ(Ti: i ∈ I) heißt die von den (Ti)i∈I erzeugte σ-Algebra.

Beweis. Für jedes i ∈ I ist Ti: E → Ei genau dann Illustration-messbar, wenn Illustration. Also ist

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Die Minimalität folgt aus der Definition von σ( ...).

Messbare Abbildungen transportieren insbesondere Maße von (E, Illustration) nach (E′, Illustration).

6.6 Satz (Bildmaß). Es sei T: (E, Illustration) → (E′, Illustration) messbar und ν ein Maß auf (E, Illustration). Dann definiert

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(6.4)

ein Maß auf (E′,Illustration).

 

Beweis. (Illustration) ist eine σ-Algebra, d. h. (6.4) wohldefiniert.

(M1) Wir haben Illustration.

(M2) Für Illustration disjunkt sind die Illustration auch disjunkt3. Da ν ein Maß ist, gilt

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6.7 Definition. Das Maß ν′ aus Satz 6.6 heißt Bildmaß (image measure, push-forward) von ν unter T. Übliche Bezeichnungen: T(ν) oder Illustration oder ν ∘ T—1.

 

6.8 Beispiel. a) Für alle Illustration gilt Illustration.

b) Es sei (Ω, Illustration, ℙ) ein W-Raum. Dann heißt

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Wir haben hier die in der Wahrscheinlichkeitstheorie üblichen Bezeichnungen

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verwendet.

c) Konkretes Beispiel: Zweimaliges Würfeln (z. B. beim Monopoly)

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Die Verteilung von ξ (das Bildmaß unter ξ) ist in Tabelle 6.1 angegeben.

Tab. 6.1. Wahrscheinlichkeitsverteilung beim zweimaligen Würfeln

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Für Illustration ist jede Abbildung Illustration messbar, da ξ–1(B) ∈ Illustration stets gilt.

6.9 Satz. Es sei T ∈ O(d) eine orthogonale Matrix, d. h. TIllustration. Dann gilt T(λd) = λd.

 

Beweis. Jede Abbildung T ∈ O(d) ist wegen

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(Lipschitz-)stetig und somit Borel-messbar. Daher ist das Bildmaß

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wohldefiniert und es gilt

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Aus Satz 4.7.b) folgt dann µ(B) = κλd(B) für alle BIllustration. Wir müssen noch die Konstante κ bestimmen. Setze B = B1(0). Da T ∈ O(d), folgt

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Weil 0 < λd(B1(0)) < ∞ ist, ergibt sich durch Division, dass κ = 1.

6.10 Satz. Für S ∈ GL(Illustration)gilt S(λd) = |det S–1| · λd = |det S|–1λd.

Beweis. Lineare Abbildungen (in endlich-dimensionalen Räumen) sind stetig, also messbar (Beispiel 6.3). Wie im Beweis von Satz 6.9 sieht man für B ∈ Illustration

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und wegen Satz 4.7 gilt dann schon

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Nun ist S–1 [0,1)d ein Spat (Parallelepiped) mit Kanten

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dessen Volumen4 bekanntlich |det S–1 ist.

6.11 Korollar. Das Lebesgue—Maβ λd ist invariant unter Bewegungen.

 

Beweis. Eine Bewegung ist eine Komposition aus Verschiebungen τx und T ∈ Illustration mit det T = ±1. Die Behauptung folgt also aus Satz 6.10.

Aufgaben

  1. Es sei (E, Illustration) ein Messraum, B ⊂ E, A, A1, A2, ...Illustration disjunkt. Welche der folgenden Abbildungen sind messbar? (a) Illustration; (b) Illustration; (c) Illustration; (d) Illustration.
  2. Es sei E = ℤ = {0, ±1, ±2, ... }. Zeigen Sie:
    • (a) Illustration ist eine σ-Algebra.
    • (b) T: ℤ → ℤ, T(n):= n + 2 ist Illustration-messbar und bijektiv, aber T–1 ist nicht messbar.
  3. Es sei E eine Menge und (Ei, Illustration) Messräume, (I beliebig, iI) und Ti: E → Ei Abbildungen.
    • (a) Zeigen Sie: Eine Abbildung f von einem Messraum (F, ℱ) nach (E, σ(Ti: i ∈ I)) ist genau dann messbar, wenn alle Abbildungen Ti ∘ f Illustration-messbar sind.
    • (b) Es gilt σ(Ti: i ∈ I) = UK⊂I, #K ≤ #ℕ σ(Tk: k ∈ K).
    • (c) Folgern Sie aus (a): Eine Funktion f: ℝn → ℝm, x ↦ (f1(x), ..., fm(x)) ist genau dann messbar, wenn alle Koordinatenabbildungen fi: Illustration, i = 1, 2, ..., m messbar sind.
  4. Es seien (E, Illustration) und (E′, Illustration) Messräume und T: E → E′ eine Abbildung. Zeigen Sie:
    • (a) Illustration;
    • (b) T ist genau dann messbar, wenn σ(T)Illustration;
    • (c) T messbar, ν endliches Maß auf (E, Illustration) ⇒ ν ∘ T–1 endliches Maß auf (E′, Illustration). Gilt das auch für σ-endliche Maße?
  5. Es sei (E, Illustration) ein Messraum. A ∈ Illustration heißtA tom, wenn Illustrationoder B = A. Zeigen Sie: Messbare Funktionen sind konstant auf Atomen.
  6. Es sei T: EY eine Abbildung und Illustration. Zeigen Sie, dass Illustration.