7 Messbare Funktionen

In diesem Kapitel ist (E, Illustration) ein beliebiger Messraum. Im Gegensatz zum vorangehenden Kapitel betrachten wir nun messbare Abbildungen mit Werten in Illustration.

 

7.1 Definition. Eine messbare Abbildung u: (E, Illustration) → (Illustration,heißt messbare (reelle) Funktion.

 

Die Klasse der messbaren Funktionen ist für die Integrationstheorie von fundamentaler Bedeutung. Zur Erinnerung:

Illustration

Meist werden wir Illustration wählen; die Mengen [a, ∞) können auch durch (b, ∞), (–∞, c), (–∞, d] für b, c, dIllustration oder ∈ ℚ ersetzt werden, vgl. Bemerkung 2.9.

Bezeichnung. Für u, υ: EIllustration und BIllustration schreiben wir:

7.2 Lemma (Messbarkeitskriterium). Eine Funktion u: (E, Illustration) → (Illustration) ist genau dann Illustration-messbar, wenn eine der folgenden Bedingungen gilt:

Wir werden oft in Illustration [–∞, mit den „Werten“ ±∞ rechnen. Dazu erweitern wir die üblichen Rechenregeln.

Tab. 7.1. Rechenregeln in Illustration mit x, yIllustration und a, b ∈ (0, ∞).

Illustration
Illustration
  • Übliche Konvention: Illustration.
  • Besondere Konvention in der Maβtheorie: 0 · (±∞) = 0 (ist sonst nicht üblich).
  • Nicht definiert sind: ∞ – ∞ und Illustration.
  • Illustration ist kein Körper.

7.3 Definition. Die Borel σ-Algebra Illustration auf Illustration ist definiert durch

Illustration

Die Definition der Borel-Mengen in Illustration ist im folgenden Sinn verträglich mit den Borel-Mengen in IR [Illustration]:

 

7.4 Lemma. Es gilt Illustration, d.h. Illustration ist die Spur-σ-Algebra (vgl. Beispiel 2.3f) bezüglich Illustration.

 

Da [–∞, a) und (b, ∞] offene Umgebungen (bezüglich der Zweipunktkompaktifizierung [–∞, ∞] von Illustration) der Elemente ±∞ sind, gilt auch

Illustration

Diese Bemerkung ist für uns nicht so wichtig, wichtiger ist vielmehr die folgende Aussage.

7.5 Lemma. Die Borelmengen Illustration werden von allen Intervallen [a, ∞], aIllustration oder a ∈ ℚ, (bzw. von (a, ∞], [–∞, a), [–∞, a], aIllustration oder a ∈ ℚ) erzeugt.

 

Beweis. Setze Σ:= σ ([a, ∞]: a ∈ ℚ). Es seien a, b ∈ ℚ und BIllustration. Dann gilt

Illustration

Damit ist Illustration gezeigt. Die anderen Fälle behandelt man entsprechend.

 

7.6 Definition. Illustration bzw. Illustration bezeichnet die Menge aller messbaren Funktionen u: Illustration bzw. Illustration.

 

7.7 Beispiel. a) Illustration ist genau dann messbar, wenn AIllustration (d. h. wenn A messbar ist).

Illustration

Abb. 7.1. Links: Messbarkeit der Funktion Illustration. Rechts: Messbarkeit einer Treppenfunktion (mit N = 3 Stufen).

Illustration

b) Es seien A1, ... ,ANIllustration disjunkte Mengen, y1, ... yNIllustration. Dann ist

Illustration

Denn: Offensichtlich ist g(x) = 0 für Illustration. Wenn wir y0:= 0 setzen, gilt Illustration und daher ist Illustration (vgl. Abb. 7.1).

7.8 Definition. Eine einfache Funktion auf (E, Illustration) ist eine Treppenfunktion der Form

Illustration

(7.1)

Gilt sogar

Illustration

(7.2)

dann heißt (7.2) Standarddarstellung; Illustration bezeichnet die Familie der einfachen Funktionen.

Illustration

Die Darstellungen (7.1) und (7.2) sind nicht eindeutig.

7.9 Beispiel. a) Jede messbare Funktion h ∈ Illustration mit endlicher Wertemenge h(E) = {y1, ..., ym} ist eine einfache Funktion. Da die Mengen

Illustration

disjunkt sind, ist nämlich Illustration eine Standarddarstellung.

Folgerung: Jedes h ∈ Illustration besitzt eine Standarddarstellung.

b) Es gilt f, g ∈ Illustrationf ± g, f · gIllustration.

Für die Standarddarstellungen Illustration

Illustration

Beachte: (AmBn)n,m ist die gemeinsame Verfeinerung der Partitionen (Am)m und (Bn)n. Auf jeder der Mengen AmBn sind f und g konstant.

c) Illustration (vgl. Definition 7.10 und Abbildung 7.2).

Illustration

Abb.7.2. Positiv- und Negativteil einer Funktion u: E → IR. Offenbar gilt u = u+uund |u| = u+ + u.

7.10 Definition. Es sei u: Illustration. Dann heißt

Illustration

 

Offenbar ist jede einfache Funktion auch messbar. Wir zeigen nun, dass jede Funktion Illustrationu durch einfache Illustration-messbare Funktionen approximiert werden kann.

 

7.11 Satz (Sombrero-Lemma). Jede Illustration-messbare Funktion u:: E → [0, ∞] ist aufsteigender Limes einer Folge Illustration fn ≥ 0, d. h.

Illustration

Beweis. Setze Illustration wobei

Illustration

Offensichtlich (vgl. Abb. 7.3) gilt dann

Illustration
Illustration

Abb. 7.3. Der Wertebereich der Funktion u wird in horizontale Stufen zerlegt.

7.12 Korollar. Für jede Illustration-messbaren Funktion u: EIllustration existiert eine Folge Illustration, so dass |fn| ≤ |u| und u = limn fn.

Beweis. Für messbare Funktionen gilt {u+ > λ} = {u > λ} (für λ ≥ 0) bzw. [u+ > λ} = E (für λ < 0). Das zeigt, dass u± positive messbare Funktionen sind. Die Behauptung des Korollars folgt nun, indem wir Satz 7.11 auf u± anwenden.

Die folgenden Korollare zeigen grundlegende Eigenschaften messbarer Funktionen.

 

7.13 Korollar. Es sei Illustration eine Folge messbarer Funktionen. Dann gilt

Illustration

und, wenn der Limes existiert, limn→∞ unIllustration.

Illustration
  • ▶ supn un ist die punktweise definierte Funktion supn un(x) Vx ∈ E (analog: inf usw.).
  • ▶ Zur Erinnerung: Der Limes inferior und superior sind folgendermaßen definiert:
    Illustration

Beweis von Korollar 7.13. 1°) Behauptung: supn unIllustration. Das folgt aus der Gleichheit Illustration die man folgendermaßen beweist:

Illustration

2°) Es ist –unIllustration, da {–un > λ} = {un < –λ} ∈ Illustration.

3°) 1° und 2° zeigen infn un = - supn(–un) ∈ Illustration. Wegen der Definition von lim inf und lim sup ist dann

Illustration

4°) Wenn limn un existiert, dann gilt Illustration.

7.14 Korollar. u, υ: EIllustration-messbar. Dann sind

Illustration

messbar – sofern diese Ausdrücke definiert5 sind.

Beweis. Nach Satz 7.11 gibt es Illustration. Nun gilt

Illustration

und für n → ∞ sind die Grenzwerte u ± v, u v, u v v, uv nach Korollar 7.13 messbar.6

 

7.15 Korollar. Es ist uIllustration genau dann, wenn Illustration.

7.16 Korollar. Wenn u, vIllustration, dann sind folgende Mengen messbar:

Illustration

Beweis. Es gilt

Illustration

Daher sind auch {u = v} = {uv} ∩ {uv} und {uv} = {u = v}c messbar. Den Fall [u < v} erledigt man ganz ähnlich.

Am Ende dieses Kapitels zeigen wir noch ein Resultat, das für die Wahrscheinlichkeitstheorie wichtig sein wird.

7.17 ♦ Lemma (Faktorisierungslemma). Es sei Illustration messbar. Dann

Illustration

Beweis. „⇐“: Nach Definition ist T σ(T)-messbar. Also ist auch die Komposition

Illustration

„⇒“: Es sei u σ(T)-messbar. Wir müssen ein geeignetes w finden.

Aufgaben

  1. Auf Illustration sei die Funktion Illustration , und das Lebesgue-Maß λE:- λ(E ∩.) gegeben.
    • (a) Zeigen Sie, dass Q eine Illustration-messbare Abbildung ist (vgl. Aufgabe 2.4).
    • (b) Bestimmen Sie das Bildmaß νQ-1 für E = [0, 1], v = λE und Illustration.
  2. Gegeben sei der Messraum (Illustration). Finden Sie σ(u) für
    • (a) Illustration;
    • (b) Illustration;
    • (c) Illustration;
    • (d) Illustration, u(x, y) = x2 + y2.
  3. Beweisen Sie, dass jede lineare Abbildung Illustration Borel-messbar ist. Gilt das auch, wenn wir Illustration und Illustration vervollständigen?
  4. Beweisen Sie, dass Illustration aus Definition 7.3 eine σ-Algebra ist, und zeigen Sie Lemma 7.4.
    • (a) Es sei Illustration Borel-messbar. Zeigen Sie: |u|, u+, u- sind messbar. Gilt die Umkehrung?
    • (b) Es sei Illustration differenzierbar. Sind dann u und u′ messbar?
  5. Es sei (fi)i∈I (I beliebig) eine Familie von Abbildungen von einer gemeinsamen Menge E nach Illustration. Zeigen Sie
    • (a) {supi fi > λ} = Ui {fi > λ};
    • (b) {supi fi < λ} ⊂ ∩i {fi < λ};
    • (c) {supi fiλ} ⊃ Ui {fi ≥ λ };
    • (d) {supi fi ≤ λ} = ∩i{fi ≤ λ};
    • (e) {infi fi > λ} ⊂ ∩i {fi > λ};
    • (f) {infi fi < λ} = Ui {fi < λ};
    • (g) (infi fi ≥ λ} = ∩i {fi ≥ λ};
    • (h) {infi fi ≤ λ} ⊃ ∪i {fi ≤ λ}.
  6. Zeigen Sie, dass die Konvergenz im Sombrero-Lemma (Satz 7.11) sogar gleichmäßig ist, falls die Funktion u beschränkt ist, d. h. |u(x)| ≤ c für alle x und eine Konstante c ≥ 0.
  7. Zeigen Sie, dass im Beweis des Faktorisierungslemmas (Lemma 7.17) im Allgemeinen nicht mit limn wn (an Stelle von lim infwn) gearbeitet werden kann.

    Hinweis: Finden Sie eine Folge von Funktionen (wn)n und eine Abbildung T, so dass (wnT)n konvergiert und (wn)n divergiert.

  8. Zeigen Sie, dass jede monotone Funktion Illustration Borel-messbar ist. Wann gilt Illustration?
  9. Zeigen Sie, dass jede linksseitig (oder rechtsseitig) stetige Funktion Illustration IR Borel-messbar ist.
  10. Auf E sei eine σ-Algebra Illustration gegeben, Illustration. Definiere Illustration. Dann gilt Illustration.
  11. Es sei (Ω, Illustration) ein Messraum und Illustration eine Abbildung, so dass Illustration messbar ist und t ↦ X(t, w) linksseitig (oder rechtsseitig) stetig ist. Zeigen Sie, dass auch die folgenden Funktionen messbar sind:
    Illustration

    Hinweis: Approximieren Sie t ↦ X(t,w) durch Treppenfunktionen.

  12. Es sei (E, Illustration,µ) ein Maßraum und (Illustration) seine Vervollständigung (Aufgabe 3.7). Zeigen Sie, dass eine Funktion Illustration genau dann Illustration-messbar ist, wenn es zwei Illustration. messbare Funktionen Illustration mitIllustration und µ{fg} = 0 gibt.

    Hinweis: Verwenden Sie zunächst Treppenfunktionen und dann das Sombrero-Lemma.