8 Das Integral positiver Funktionen

In diesem Kapitel seien (E, Illustration, µ) ein beliebiger Maßraum und Illustration die Familien der einfachen bzw. messbaren Funktionen. Die positiven (d. h. „≥ 0”) Elemente dieser Mengen bezeichnen wir mit Illustrationund Illustration. Wir wollen, dass das Integral die „Fläche unter einer Kurve“ beschreibt.

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Abb. 8.1. Das Integral einer positiven Treppenfunktion.

Daher (vgl. Abbildung 8.1) ist folgende Definition naheliegend.

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Problem: Ist das so definierte Integral wohldefiniert?

8.1 Lemma. Es seien Illustration zwei Standarddarstellungen von Illustration. Danngilt

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Beweis. Wegen Illustration gilt

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und, da ym = zn wenn Illustration,

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Jede positive Funktion in Illustration besitzt eine Standarddarstellung; daher ist folgende Definition sinnvoll.

 

8.2 Definition. Es sei Illustration in Standarddarstellung. Dann heißt

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das (µ-)Integral von f.

 

Tatsächlich hat Iµ bereits die wesentlichen Eigenschaften, die wir von einem Integral erwarten.

 

8.3 Lemma. Es seien Illustration. Dann gilt

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Beweis. Die Eigenschaften a), b) sind klar.

c) Wenn Illustration, Illustration Standarddarstellungen sind, dann ist

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auch eine Standarddarstellung (Beispiel 7.9.b). Dann gilt aber

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d) Für fg gilt Illustration und nach Teil c) ist dann

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Allgemeine Illustrationu lassen sich mit Hilfe des Sombrero-Lemma 7.11 durch aufsteigende Folgen von Illustration-Funktionen approximieren. Insbesondere gibt es positive einfache Funktionen unterhalb einer positiven messbaren Funktion.

8.4 Definition. Das (µ-)Integral von Illustration ist gegeben durch

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(8.1)

Wenn wir die Integrationsvariable hervorheben wollen, dann schreiben wir auch

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Beachte: (8.1) ist stets wohldefiniert, da wir Werte in [0, ∞] zulassen.

8.5 Lemma. Das Integral ∫ ... dµ aus Definition 8.4 setzt Iµ(∙) fort:

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Beweis. Sei Illustration. Dann ist g:= ff zulässig im Supremum in (8.1), d. h.

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Umgekehrt gilt: Illustration , d. h.

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Der folgende Satz ist der erste in einer Reihe von sogenannten Konvergenzsätzen, die die Vertauschung von Integration und Grenzwerten behandeln.

 

8.6 Satz (Beppo Levi, BL). Es sei Illustration eine aufsteigende Folge positiver messbarer Funktionen

0 ≤ u1u2u3 ≤ ... ≤ un ≤ un+1 ≤ ...

Dann ist Illustration positiv und messbar und es gilt

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(8.2)

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  • unun+1 bedeutet,dass un(x) ≤ un+1, (x) für alle xE.
  • unu ist kurz für Illustration un.
  • unu, dann gilt u = limn un = supn un (aufsteigender Limes).

Beweis. In Korollar 7.13 sahen wir, dass Illustration.

1°) Behauptung: Illustration. Wenn uw, dann gilt für jede einfache Funktion f mit fu auch fw. Daher ist

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2°) Behauptung: supnun ≤ ∫ supn un . Nach 1°) ist das Integral monoton. Daher folgt

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3°) Behauptung: Illustration. Wähle Illustration mit fu und ein festes Illustration.

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Für alle einfachen Funktionen der Form Illustration gilt nun

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Die rechte Seite hängt nicht von n ab. Nach Konstruktion gilt BnE. Wenn wir auf der linken Seite n → ∞ streben lassen, finden wir µ(BnAm) → µ(Am) und daher gilt

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Da die rechte Seite nicht von α abhängt, folgt die Behauptung für α → 1.

4°) Bilde in der Aussage von 3° das Supremum über alle Illustration mit fu. Dann folgt

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und der Satz ist gezeigt.

Hier ist noch ein wichtiger Spezialfall von Satz 8.6.

8.7 Korollar. Sei Illustration. Dann gilt für jede Folge Illustration mit fnu

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(8.3)

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Oft wird (8.3) als Definition von ∫ u dµ verwendet. Dann hat man aber das Problem der Wohldefiniertheit: Ist das Integral unabhängig von der approximierenden Folge Illustration? Unsere Definition (8.1) liefert das „kostenlos“. Trotzdem ist (8.3) wichtig, da es zeigt, dass das Supremum ein Limes ist, und insbesondere u ↦ ∫ u dµ linear ist.

8.8 Lemma. Es seien Illustration. Dann gilt

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Beweis. Das folgt aus Lemma 8.3, Korollar 8.7 und dem Sombrero-Lemma 7.11. D

Die folgende Version des Satzes von Beppo Levi für Reihen ist oft hilfreich.

 

8.9 Lemma. Für jede Folge Illustration ist Illustration und es gilt

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Beweis. [Illustration] Hinweis: Illustration für N → ∞.

 

8.10 Beispiel. a) Auf einem beliebigen Messraum (E, Illustration) betrachten wir Illustration für ein festes yE. Dann gilt für alle Illustration

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(8.4)

Denn: Für Illustration in Standarddarstellung ist

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An der mit (*) gekennzeichneten Stelle verwenden wir, dass Illustration , d. h. wir finden ein n0 mit Illustration. Aufgrund des Sombrero-Lemmas (Satz 7.11) gibt es eine Folge Illustration , und für diese gilt

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b) Es seien (Illustration) und Illustration mit α ≥ 0. Wir wissen bereits, dass

Somit finden wir

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c) Insbesondere zeigt b), dass Illustration

Der folgende Konvergenzsatz für positive messbare Funktionen wird „Lemma von Fatou“ genannt. Er wird häufig verwendet, um die Endlichkeit gewisser Integralausdrücke zu zeigen.

8.11 Satz (Fatou). Es sei Illustration eine Folge positiver messbarer Funktionen. Dann ist Illustration und es gilt

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(8.5)

Beweis. Nach Definition ist Illustration Illustration. Korollar 7.13 zeigt, dass diese Funktion messbar ist. Wegen infn≥m unu (m → ∞) gilt

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Im Beweis von Satz 8.11 wird die Positivität der un verwendet, um ∫ infn≥m un > – ∞ sicherzustellen. Das Lemma von Fatou gilt also auch für alle Folgen Illustration, die die Bedingung un ≥ –w für alle Illustration und eine messbare Funktion w ≥ 0 mit ∫ w dµ < ∞ erfüllen.

Aufgaben

  1. Der Satz von Beppo Levi (Satz 8.6) gilt für eine „wachsende Folge positiver Funktionen“. Zeigen Sie, dass die Aussage im Allgemeinen für „eine Folge wachsender positiver Funktionen“ falsch ist.
  2. Auf einem Maßraum (E, Illustration, µ) seien Illustration eine Folge positiver messbarer Funktionen. Zeigen Sie, dass
    Illustration
    äquivalent zum Satz von Beppo Levi (Satz 8.6) ist.
  3. Auf einem Maßraum (E, Illustration, µ) sei Illustration. Zeigen Sie, dass Illustration, ein Maß ist.

    Hinweis: Verwenden Sie Aufgabe 8.2.

  4. (Fatou) Es sei (A, Illustration, µ) ein Maßraum und Illustration. Wenn unu für alle Illustration und ein Illustration mit ∫ u dµ < ∞ gilt, dann gilt auch
    Illustration
  5. (Fatou für Maße) Es sei (A, Illustration, µ) ein endlicher Maßraum und Illustration. In Aufgabe 2.9 wurde der limes inferior und limes superior von Mengen eingeführt. Zeigen Sie:
    • (a) Illustration
    • (b) Illustration
    • (c) Zeigen Sie, dass die Endlichkeit des Maßes für Teil (b) wesentlich ist.
    • (d) Illustration
  6. Es sei (E, Illustration) ein Messraum und µ1, µ2 .... abzählbar viele Maße. Zeigen Sie:
    • (a) Für jede Folge (ci)i ⊂ [0, ∞] ist Illustration ein Maß auf (E, Illustration).
    • (b) Für jede Funktion Illustration gilt Illustration.
    • (c) Für jede Doppelfolge Illustration gilt Illustration.

    Hinweis: Teil (c) kann elementar oder mit Hilfe des Zählmaßes und von Teil (b) bewiesen werden.

  7. (Kerne) Es seien (E, Illustration, µ) ein Maßraum und (F, ℱ) ein Messraum. Ein (Maβ-)Kern oder Übergangskern ist eine Abbildung N: E × ℱ → [0, ∞], so dass
    QN(x, Q) ein Maß auf (F, ℱ) ist für jedes feste x ∈ E;
    xN(x, Q) eine messbare Funktion auf E ist für jedes feste Q ∈ ℱ.
    • (a) Zeigen Sie, dass ℱ ∋ QµN(Q):= ∫ N(x, Q) µ(dx) ein Maß auf (F, ℱ) ist.
    • (b) Für fM+(ℱ) definieren wir Nf(x):= ∫ f(y) N(x,dy). Zeigen Sie, dass fNf additiv, positiv homogen und Illustration-messbar ist.
    • (c) Es sei µN das in Teil (a) definierte Maß auf (F, ℱ). Zeigen Sie, dass ∫ f d(µN) = ∫ Nf dµ für Illustration gilt.

    Hinweis: Betrachten Sie zunächst messbare Treppenfunktionen und verwenden Sie dann das Sombrero-Lemma.

  8. Ein Maßraum (E, Illustration, µ) heißt σ-endlich, wenn es eine Folge Illustration mit µ(Ai) < ∞ gibt.
    • (a) Wenn (E, Illustration, µ) σ-endlich ist, dann gibt es eine strikt positive messbare Funktion f > 0 mit ∫ f dµ < ∞.
    • (b) Zeigen Sie die sog. Markovsche Ungleichung: Für Illustration gilt Illustration.
    • (c) Verwenden Sie Teil (b), um die Umkehrungvon (a) zu zeigen: Wenn es ein Illustration mit f > 0 und ∫ f dµ < ∞ gibt, dann ist (E, Illustration, µ) σ-endlich.

    Hinweis: Betrachten Sie Funktionen der Art Illustration bzw. die Mengen Ai:- {f ≥ 1/i}.