Angesichts der vorangegangenen Untersuchung bestätigt sich in Bezug auf die Flucht zunächst die Feststellung Wendebourgs, dass „die Stellungnahmen zum praktischen Verhalten in der Verfolgung [nicht] einhellig [...] sind.“1
So hat sich gezeigt, dass Tertullians Position zur Frage der Erlaubtheit einer Flucht vor der Verfolgung keineswegs alternativlos war. Vielmehr, so scheint es, wurden in seinem unmittelbaren zeitlichen Umfeld ganz gegensätzliche Stellungnahmen abgegeben. Festzuhalten ist zunächst aber vor allem, dass das Martyrium Polycarpi, Clemens und Origenes die Frage nach der Erlaubtheit der Flucht vor Verfolgung im Gegensatz zu Tertullian differenziert beantworten.2 Weder wird diese Möglichkeit von vornherein verworfen, noch wird sie gänzlich und für alle Fälle befürwortet. Diese Ambivalenz ist bei allen untersuchten Texten Ausdruck des Bestrebens, die Hochachtung vor dem Martyrium einerseits mit der allzu menschlichen, aber auch theologisch-praktisch zu rechtfertigenden Erhaltung des eigenen Lebens und Dienstes andererseits übereinzubringen.3 Gerade im Hinblick auf die Kleriker bedeutete dies für die Theologen, das Fluchtwort Mt 10,23a und das Lebensbeispiel Jesu, der sich selbst vor Verfolgung zurückgezogen hatte, mit dem Vorbild bzw. Ideal des guten Hirten (Joh 10,12) in Einklang zu bringen. Am Beispiel Jesu selbst fanden sie eine im Hinblick auf die Christen aller Stände schlüssige Lösung: Je nach Situation könne es geboten sein (Polykarp) – man könnte auch sagen, es könne ‚vernünftig‘ (Clemens/Origenes) sein –, der Verfolgung auszuweichen, z.B. wenn man noch eine Aufgabe zu erfüllen hat, wenn man keine Gewalt provozieren und die Gruppe schützen will, wenn man im Moment zu schwach und noch nicht bereit und reif ist, das Martyrium zu erleiden, oder auch, weil man die Heiden vor (zusätzlichen) Sünden bewahren soll. Wesentlich sei dabei immer, den Glauben bzw. Christus nicht zu verleugnen. Die Flucht ist in diesem Sinne also unter Umständen wirklich eine legitime Alternative zu Martyrium oder Apostasie. Andererseits zeigt Jesu Beispiel auch, dass es einen Moment im Leben – Origenes spricht vom καιρός – geben kann, in der das Sterben für den Glauben Gottes Wille ist. Dann gelte es, so das Martyrium Polycarpi und besonders Origenes, dies zu erkennen und anzunehmen, wie es auch Bischof Polykarp dann in seiner spezifischen Situation tat.4
←523 | 524→Für Tertullian hingegen verbietet sich eine solche Argumentation von vornherein. Denn er bringt in der praemunitio seines Fluchttraktats eine kategorische und prinzipielle Feststellung, die solche Differenzierung unmöglich macht: Unter Rekurs auf den Willen Gottes, der die Verfolgungen planmäßig und mit dem Ziel der probatio bzw. reprobatio der Gläubigen herbeiführe, macht der Karthager deutlich, dass jedwedes Ausweichen – sei es durch Flucht oder Freikauf – bedeuten würde, sich gegen Gott zu stellen, und damit der Apostasie gleichzusetzen wäre.5 Ebenso wird die Verfolgung, darauf aufbauend, gleich zu Beginn der argumentatio als bonum qualifiziert, das man nicht meiden dürfe.6 Damit verbunden habe jeder Christ die Pflicht, die Verfolgung und auch das Martyrium anzunehmen. Bähnk charakterisiert die Essenz der tertullianischen Position im Hinblick auf die Flucht in Bezug zum Martyrium wie folgt: „Der Schwerpunkt seiner Martyrologie liegt vielmehr auf der menschlichen Pflicht und Leistung, die in Entsprechung zu dem fordernden Gotteswillen zu erfüllen ist. In Bezug auf die Praxis der verfolgten Gemeinde zieht dies zweierlei nach sich: zum einen die Absage an jede Flucht vor der Verfolgung, die innerhalb dieses theologischen Konzeptes nicht begründbar ist, zum anderen, daß Tertullian dem Drängen nach dem Martyrium keine Absage erteilt“7. Letztere Beobachtung muss zumindest etwas relativiert werden: Wie herausgestellt werden konnte, versucht Tertullian in de fuga sogar, seinen Mitchristen durch konkrete Anweisungen dazu zu raten, die Heiden nicht erst auf sich aufmerksam werden zu lassen.8 Die Verfolgungen und damit notwendig verbunden – soweit beobachtet Bähnk richtig – das Martyrium sollen, so kann man schließen, nicht mutwillig provoziert werden. Verfolgung bedeute nicht ohne Ausnahme immer das Martyrium: Schließlich könne Gott, wenn er wollte, dass ein verfolgter Christ überlebe, auch dafür sorgen.9 Jeder Christ aber hat im Verständnis des Karthagers insofern die Pflicht zum Martyrium, dass er es anzunehmen hat, wenn es ihn trifft. Insofern ist die Flucht für ihn keine legitime Alternative: Jede Flucht, ja schon jeder Freikauf – und sogar allein der Gedanke daran – kommt der Apostasie gleich und wird verworfen.10
Nicht unwesentlich für Tertullians rigorose Position ist sein Kontakt zum Montanismus. Die von ihm zitierten Sprüche des Parakleten und der Verweis auf die biblische Zusage, der Paraklet werde im Prozess und im Leiden beistehen, dienen ihm als Autorität und Vergewisserung seiner bereits in früheren Schriften geäußerten ←524 | 525→Abneigung gegen die Flucht. War die Flucht als Konzession an die menschliche Schwäche in ad uxorem – schon deutlich gegenüber der Standhaftigkeit und dem Martyrium abgewertet – noch zugestanden, kann der Karthager, durch die Offenbarungen und die Disziplin des Parakleten bestärkt, jeden Verweis auf Schwäche oder Furcht abweisen. Sein montanistisch inspirierter und begründeter ethischer Rigorismus verneint jede Fluchtmöglichkeit. Denn das Zeugnis des Parakleten, das er – vermittelt durch die montanistische Bewegung in Karthago – kennengelernt hatte, war eindeutig: Unter der Führung des Parakleten werde schier Unerträgliches tragbar; die im Laufe der Argumentation geforderte Standhaftigkeit und die vollkommene Überantwortung an Gott werden durch ihn erst möglich, wie die enumeratio in fug. 14,3 eindringlich mahnt. Gerade die Untersuchung der Textstellen, in denen besonders das Charakteristikum der Standhaftigkeit herausgestellt und eingefordert wird, hat jedoch gezeigt, dass die Gedanken nicht so sehr ‚montanistisch‘ denn biblisch und bisweilen stoisch fundiert und mit über Seneca vermittelten Topoi ausgeschmückt und verständlich gemacht sind. Der Rekurs auf den Parakleten ist gleichsam Krönung und Höhepunkt der Schrift und bildet für den Karthager den Grund der unumstößlichen Gewissheit, mit seiner Position den Willen Gottes für die Christen in der Verfolgung expliziert zu haben.
Waren die Positionen des Martyrium Polycarpi, von Clemens und Origenes aufgrund des unterschiedlichen Grundansatzes einerseits differenzierter, ausgeglichener und gleichsam lebensnaher, so waren sie andererseits und vor allem am Leben Jesu selbst orientiert. Tertullian hat angesichts seiner von vornherein entschiedenen Position alle Mühe, zu rechtfertigen, weshalb Jesus selbst sich zurückgezogen hat und weshalb Paulus aus Damaskus geflohen ist, um dann festzustellen, Jesus habe sein Wirken auf Erden vollenden müssen11 und die Flucht des Paulus sei noch unter die Gültigkeit des Fluchtgebots gefallen.12 Den Christen seiner Tage gestand Tertullian solches aber nicht zu: Mit allerlei klassisch-rhetorischer Technik sucht er zu beweisen, das Fluchtgebot gelte nicht mehr, und weitere Stellen, die der Rechtfertigung dienen könnten, seien anders zu interpretieren.13
Wahre imitatio Christi bedeute aber, wie die betrachteten Stellungnahmen der Zeitgenossen es betonen, nicht nur mit Christus zu leiden und in den Tod zu gehen, ←525 | 526→sondern auch wie er in bestimmten Momenten der Verfolgung zu weichen: sei es aus Klugheit, aus Unreife oder um Gewalt – auch gegenüber der Gemeinschaft – zu vermeiden. Nicht zuletzt solle dadurch verhindert werden, dass die Verfolger noch größere Schuld auf sich laden, wenn sich die Christen ihrer Gewalt aussetzen.
Ein nicht unwesentlicher Unterschied ist die bloße Form, in der die Erwägungen zur Frage der Flucht daherkommen. Tertullian widmet der Thematik einen ganzen Traktat, der rhetorisch-stilistisch durchkomponiert ist und auch theologisch geschliffen sowie persuasiv seine Positionen vermittelt. Dagegen ist die Frage für die anderen betrachteten Theologen bzw. Schriften gleichsam ein ‚Nebenkriegsschauplatz‘ im Zuge allgemeiner martyriumstheologischer bzw. exegetischer Reflexion. Vielleicht zeigt dieses inadäquate Verhältnis seinerseits, dass die vernunftorientierte, kairologische Position des Martyrium Polycarpi, des Clemens und des Origenes die gängige, allgemein akzeptierte und praktizierte war, während Tertullian möglicherweise gerade deshalb zur rhetorisch angereicherten Abhandlung greifen muss, um seine nicht zum ‚Mainstream‘ gehörenden Positionen argumentativ überzeugend einbringen zu können. Dieser formale Unterschied führt jedoch dazu, dass die grundsätzliche Reflexion über die Frage nach Herkunft und Ziel der Verfolgung und die Eindeutigkeit rechten christlichen Handels im Angesicht tobender Verfolgung bei den übrigen Autoren in gewisser Weise defizitär bleiben muss. Wendebourg konstatiert „[e]in Konglomerat von Begründungen, unausgeglichen und z.T. so mühsam und gewunden, daß sie kaum die Verlegenheit der Autoren verbergen. Man hätte einräumen müssen, daß die Rechtfertigung der Flucht ein anderes Verhältnis zum eigenen Leben einschloß als die vorherrschende Bewertung des Märtyrertodes, was die Flucht nicht nur faktisch, sondern auch ethisch und theologisch als normale Reaktion der Christen zur Zeit der Verfolgung zu sehen erlaubt hätte.“14
Tertullian liefert dagegen eine ausgereifte, monothematische Gesamtantwort, die aufgrund ihres rigorosen Ansatzes und ihrer grundsätzlichen Begründung unter Rekurs auf den Willen Gottes in sich überzeugt und aufgrund der geführten Untersuchung eben nicht nur „Scheingründe für seine strenge Auffassung geltend“15 macht, wenn auch deutlich wurde, dass manches Argument durchaus auf wackligen Füßen steht. Der Maßstab jedoch muss zunächst einmal die werkimmanente argumentative Linie sein: Innerhalb der Argumentation Tertullians und angesichts seiner praemunitio nämlich erweist sich jedes Argument für sich als folgerichtig.
Der vorliegende Kommentar hat gezeigt, dass der Traktat de fuga in persecutione eine zu Unrecht bisher wenig beachtete, ja bisweilen verkannte Schrift des karthagischen Theologen ist. Wie in zahlreichen seiner Werke verbindet sich hier in besonderer Weise verdichtet die klassisch-rhetorische Tradition mit christlicher Theologie und Schriftauslegung. Es sind in de fuga insbesondere die Mittel ←526 | 527→klassischer Rhetorik, die der geschulte Redner Tertullian gebraucht, um für seine Position Überzeugungsarbeit zu leisten. Darüber hinaus ist die Schrift auch ein Dokument der persönlichen Entwicklung des Tertullian, besonders seiner durch den Kontakt zum Montanismus erfolgten Selbstvergewisserung. Die von ihm zitierten montanistischen ‚Sprüche‘ sind ihm Bestätigung und göttliche Legitimation zugleich, dass er sich mit seiner rigorosen und kompromisslosen Haltung auf dem rechten Weg befindet.
Gleichzeitig ist die Schrift ein historisches Dokument aus der Verfolgungszeit. Es zeigt, welche geradezu existentiellen Fragen die christlichen Gemeinden der ersten drei nachchristlichen Jahrhunderte umtrieben und wie sehr die Suche nach dem rechten, von Gott gewollten Verhalten in der Verfolgung Relevanz besaß angesichts des widersprüchlichen biblischen Befundes und der zeitlos aktuellen Dialektik zwischen Erhalt bzw. Verlust des irdischen und Gewinn bzw. Verlust des ewigen Lebens. Die immer wieder eingebrachten Einwände des fiktiven Diskussionspartners machen diese Dialektik geradezu augenscheinlich. Gesucht wurde ein legitimer Weg zwischen den Extrempositionen Martyrium und Apostasie.
Doch auch über die frühe Kirche hinaus gewann und gewinnt die zugrundeliegende Problemstellung immer wieder neu an Gewicht.16 Gerade unsere Zeit beweist eindringlich, wie aktuell die von Tertullian verhandelte Problemstellung ist. In den Regionen des Nahen und Mittleren Ostens sind Christen ins Fadenkreuz des islamistischen Terrors, in nach dem Sturz der diktatorischen Regime wieder aufkeimende und nun offen ausgetragene alte Rivalitäten und ethnische Konflikte, ja zwischen die Fronten blutiger Bürgerkriege geraten.17 Christen sind ganz konkret vor die Frage gestellt, ob sie in ihrem angestammten Land bleiben oder fliehen sollen. Tausende haben sich auf den gefährlichen Weg aus ihrer Heimat begeben.18 Bischöfe fragen etwa in Syrien nach dem rechten Verhalten im Sinne des Herrn.19 Tertullians Antwort ist zweifelsohne eine den konkreten soziohistorischen Bedingungen seiner Gemeinde und seiner persönlichen, montanistisch inspirierten Haltung geschuldete, die Grundfrage jedoch, auf welche sie zu antworten sucht, bleibt eine zeitlose.
1Wendebourg, Das Martyrium in der Alten Kirche als ethisches Problem, 307.
2Vgl. ebd., 308f.
3Vgl. ebd.
4Auch Cyprians Verhalten lässt sich derart deuten; vgl. Cypr. epist. 81,1 (Diercks 629); dazu Dorbath, Die Logik der Christenverfolgungen, 270f. So gilt mit Kötting, Darf ein Bischof in der Verfolgung die Flucht ergreifen?, 225, „daß die Frage nach der Erlaubtheit der Flucht eines Bischofs in Zeiten der Bedrängnis nicht mit einem glatten ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ zu beantworten ist“.
5Vgl. fug. 1,2–3,4.
6Vgl. fug. 4,1–4.
7Bähnk, Von der Notwendigkeit des Leidens, 291.
8Vgl. fug. 3,4; fug. 14,1f.
9Vgl. fug. 5,3; fug. 7,3; fug. 8,4. So beobachtet auch Wendebourg, Das Martyrium in der Alten Kirche als ethisches Problem, 308, Anm. 90.
10Vgl. fug. 5,3.
11Vgl. fug. 8,1.
12Vgl. fug. 6,11.
13Ähnlich geht Tertullian auch in de pudicitia mit für seine Argumentation kritischen Schriftstellen um; vgl. z.B. Tert. pudic. 6,18 (Munier 174): zeitliche Grenze der Gültigkeit alttestamentlicher Aussagen; Tert. pudic. 7,1–7 (Munier 174.176): Die Parabel vom verlorenen Schaf beziehe sich auf verlorene Heiden, nicht auf Christen der Gegenwart; Tert. pudic. 7,17–19 (Munier 180.182): Die Parabel vom verlorenen Schaf treffe nicht auf Ehebrecher zu; Tert. pudic. 8,1–9,22 (Munier 182.184.186): Der jüngere Sohn aus der Parabel vom verlorenen Sohn dürfe nicht das Vorbild der Christen sein. Vgl. zu dieser Auslegungsmethode im Lichte klassischer Rhetorik insgesamt auch Sider, Ancient Rhetoric and the Art of Tertullian, 91–95. Tertullians Exegese in de pudicitia untersucht Vine, Two Treatises on Penance.
14Wendebourg, Das Martyrium in der Alten Kirche als ethisches Problem, 309.
15Kihn, Patrologie, 251.
16Vgl. exemplarisch Ballor/Zuidema, Flight from persecution and the honour of God in the theology of Peter Martyr Vermigli; Kodalle, Dietrich Bonhoeffer, 93.
17Vgl. Oehring, Hoffen auf ein Wunder, 22–31.
18Vgl. Winkler, Vertreibung, Flucht und Zerstörung; Knapp, Die letzten Christen; Dörig, Die Flucht religiöser Minderheiten aus dem Irak und die Haltung Europas, 7–15.
19Vgl. Arnold, Die syrischen Kirchenführer zwischen allen Stühlen, 76.