Ob ein sexueller Missbrauch zu Beeinträchtigungen beim Opfer führt, ist von vielen Faktoren abhängig, dies wurde bereits vielfach ausgeführt. Der Schwerpunkt des vorhergehenden Kapitels liegt dabei auf jenen Faktoren, die direkt an der Entstehung von Folgeproblemen beteiligt sind, wie bestimmte Aspekte des Missbrauchs, Eigenschaften des Opfers und Faktoren des sozialen Umfelds. Dieses Kapitel befasst sich demgegenüber schwerpunktmäßig mit Faktoren und Prozessen, die das Opfer dabei unterstützen, es aber auch behindern können, die Erlebnisse eines sexuellen Missbrauchs positiv zu bewältigen. Obwohl es nicht immer möglich ist, Entstehungsbedingungen und Bewältigungsprozesse klar voneinander abzugrenzen, und obwohl durchaus Überschneidungen dieser beiden Bereiche existieren, fokussiert dieses Kapitel verstärkt jene Prozesse, die zeitlich den Missbrauchserlebnissen folgen.
In den letzten beiden Jahrzehnten wurde der Erkenntnisstand, welche Faktoren den Verlauf der psychischen Gesundheit nach einem sexuellen Missbrauch beeinflussen, deutlich erweitert. Die umfangreichen und vielfältigen Forschungsbemühungen waren primär von der Motivation getragen, auf der Basis dieser Erkenntnisse zielführende präventive und therapeutische Strategien zu entwickeln (Walsh, Fortier & Dilillo, 2010). Wie in den anderen Bereichen dieses Forschungsfeldes wurden die Studien zu den Bewältigungsstrategien großteils an erwachsenen Opfern durchgeführt. Untersuchungen von kindlichen Opfern fanden zwar statt, sind aber im Vergleich selten. Die Studien an erwachsenen Opfern fokussieren einerseits aktuelle Bewältigungsstrategien, andererseits werden auch retrospektiv bis in die Kindheit zurückreichende Strategien untersucht. Daher ist es wichtig, bei der Interpretation der Erkenntnisse, wie kindliche Opfer ihre Missbrauchserlebnisse bewerten und wie sie das Erlebte und dessen Folgen bewältigen, immer auch eine mögliche Verzerrung der Daten zu bedenken, die aufgrund des lange zurückliegenden Zeitraumes und möglicher retrospektiver Einflüsse entstehen können.
Bewältigungsstrategien beziehen sich auf unterschiedliche kognitiv-emotionale Prozesse und Verhaltensweisen, die das Ziel haben, mit den Herausforderungen zurechtzukommen, die sich aus einer belastenden oder bedrohlichen Situation ergeben. Missbrauchsopfer setzen im Verlauf die unterschiedlichsten Strategien ein, um ihre Erlebnisse des sexuellen Missbrauchs zu bewältigen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass besser angepasste Opfer zumeist nur ein oder zwei Strategien ein|177|setzen, während schlechter angepasste Opfer auf deutlich mehr und unterschiedlichste Strategien zurückgreifen. Möglicherweise gelingt es manchen Opfern bereits von Beginn an, jene Strategien zu finden, durch welche sich effektiv Auffälligkeiten und Belastungen reduzieren lassen, während andere Opfer vergeblich verschiedenste Strategien ausprobieren. Diese Strategien sind möglicherweise mit Effekten verbunden, die sich gegenseitig aufheben, wodurch es den Betroffenen nicht gelingt, sich besser an die Belastung oder Bedrohung anpassen zu können (Oaksford & Frude, 2003).
Eine generelle Einschätzung, wie funktional die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien von Missbrauchsopfern tatsächlich sind, wird nicht zielführend sein. Nur unter Berücksichtigung des zeitlichen Rahmens und der jeweils damit verbundenen Rahmenbedingungen wird sich der Effekt einer Strategie sinnvoll beurteilen lassen. Eine Strategie, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem Missbrauch dem Opfer bei der Bewältigung der Erlebnisse hilft, kann sich langfristig durchaus als dysfunktional erweisen. Auch umgekehrt kann eine Strategie bei hinreichender zeitlicher Distanz zu den Missbrauchserlebnissen erfolgreich sein, direkt im Anschluss an den sexuellen Missbrauch das Opfer jedoch überfordern und zu einer Verschlechterung des Zustandes beitragen. DiPalma (1994) konnte wirksame Bewältigungsstrategien in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Missbrauch isolieren. Hier erwiesen sich Versuche des Opfers, den Missbrauch zu beenden, Vermeidung, psychische Flucht und Kompensation als effektiv. Demgegenüber erwiesen sich die Strategien, Vergangenes hinter sich zu lassen, Vergangenes neu zu beurteilen sowie sich über sich selbst klar zu werden, und weitere kognitive Strategien als effektiv bei erwachsenen Opfern. Insgesamt weisen die Daten darauf hin, dass direkt im Anschluss an den Missbrauch die Opfer bevorzugt vermeidende Strategien einsetzen, sie im Langzeitverlauf hingegen auch auf kognitive Strategien zurückgreifen, die eine Auseinandersetzung mit den Missbrauchserlebnissen beinhalten. Auch scheint es geschlechtsspezifische Unterschiede in der Bevorzugung bestimmter Bewältigungsstrategien zu geben. So konnten Sigmon, Greene, Rohan und Nichols (1997) feststellen, dass weibliche Opfer eher emotionsfokussiertes Coping einsetzen, während bei männlichen Opfern häufiger die Strategie der Akzeptanz zu finden war.
Im Verlauf der Zeit hat es einige Versuche gegeben, die Vielzahl an Strategien, die Opfer zur Bewältigung ihres Missbrauchs einsetzen, zu systematisieren. Diese Systematiken weisen jedoch einen sehr unterschiedlichen Differenzierungsgrad auf. Perrott, Morris, Martin und Romans (1998) ordneten die Bewältigungsstrategien weiblicher Opfer folgenden sechs Kategorien zu: bewusstes Unterdrücken, Reframing, Durcharbeiten des Missbrauchs, Suche nach Unterstützung, Sprechen über den Missbrauch (als Erwachsene) und alleiniges Bewältigen. Demgegenüber wurden von Himelein und McElrath (1996) die Kategorien Offenlegung, Minimierung, Reframing sowie Verhindern von Rumination über Vergangenes als effektive Bewältigungsstrategien vorgeschlagen.
|178|Eine interessante Zusammenschau relevanter protektiver Faktoren liefern Reviews von Walsh et al. (2010) und Domhardt et al. (2015). Diese Analysen unterstreichen die Bedeutsamkeit individueller, familiärer und sozialer Faktoren und konnten aus vorliegenden Studienergebnissen eine Vielzahl an Variablen isolieren, die Missbrauchsopfer in der Bewältigung ihrer Erlebnisse unterstützen und die Anpassung und das Ausmaß an Folgeproblemen positiv beeinflussen (siehe Tabelle 4.1). Domhardt et al. (2015) schreiben dem Faktor Erfolg in Schule und Ausbildung die größte protektive Wirkung zu. Ein hohes Engagement und Erfolge in der schulischen Ausbildung, eine positive Einstellung gegenüber der Schule und das Generieren von Plänen in diesem Bereich sehen sie als hocheffektiv an, um die negativen Auswirkungen eines sexuellen Missbrauchs sowohl im Hinblick auf Initialaffekte als auch auf Langzeitfolgen zu reduzieren. Demgegenüber betrachten Walsh et al. (2010) vor allem kognitive Strategien, die den Fokus auf die Auseinandersetzung mit dem sexuellen Missbrauch legen, sowie den Bereich der sozialen Unterstützung als jene Faktoren, die den größten Effekt auf die Folgeprobleme nach einem sexuellen Missbrauch haben.
Tabelle 4.1: Protektive Faktoren bei Opfern eines sexuellen Missbrauchs (Domhardt et al., 2015; Walsh et al., 2010)
Innerpsychische Faktoren |
Verhalten |
Familiäre Faktoren |
Soziale Faktoren |
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|179|Abweichend von der Systematik aus Tabelle 4.1 lassen sich die genannten Faktoren und Prozesse stringenter in drei Bereiche differenzieren. Zum einen geht es um die Frage, wie ein Opfer im Verlauf seine Missbrauchserlebnisse bewertet, welche Bedeutung es diesen Erlebnissen und den damit zusammenhängenden Folgen beimisst und welche psychischen Variablen das Opfer bei seiner Bewältigung unterstützen (siehe Kapitel 4.1). Zum anderen ist relevant, welche konkreten Strategien ein Opfer einsetzt, um die Erlebnisse und dessen Folgen zu verarbeiten (siehe Kapitel 4.2). Drittens gilt es zu diskutieren, welche Prozesse nach dem sexuellen Missbrauch im Umfeld des Opfers stattfinden und welche Faktoren aus diesem Bereich das Opfer in seiner Bewältigung beeinflussen (siehe Kapitel 4.3).
Kognitiv-emotionale Prozesse sind nicht nur für den Entstehungszusammenhang psychischer Beeinträchtigungen relevant, sie beeinflussen auch deren weiteren Verlauf. Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass die Entwicklung von Beeinträchtigungen beim Opfer wesentlich davon beeinflusst wird, wie das Opfer den Missbrauch bewertet. Die generellen Erkenntnisse zum Verlauf nach Traumatisierungen weisen darauf hin, dass ein höheres Ausmaß an negativen Reaktionen auf das Trauma mit umfangreicheren Beeinträchtigungen in Zusammenhang steht. Solche negativen Reaktionen können ein höheres Ausmaß an erlebter Bedrohung und Gefahr, an erlebtem Leiden und Beeinträchtigungen sein, aber auch ein erhöhtes Ausmaß an erlebter Hilflosigkeit, Furcht, Scham und Erniedrigung. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse wurden spezifische kognitive Verarbeitungsmechanismen auf ihre Brauchbarkeit untersucht. Es wurde geprüft, inwieweit diese Mechanismen Opfer eines sexuellen Missbrauchs dabei unterstützen, das Erlebte positiv zu bewältigen, bzw. inwieweit sie möglicherweise einer positiven Bewältigung entgegenstehen.
Das Alter und der Entwicklungsstand des Opfers sind in diesem Zusammenhang besonders bedeutsam. Es wurde bereits diskutiert, dass jüngere Opfer ein geringeres Ausmaß an Beeinträchtigungen aufweisen als ältere Opfer (siehe Kapitel 3.3.2.2). Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass jüngere Opfer aufgrund ihrer Unwissenheit und Naivität in sexuellen Dingen die Missbrauchserlebnisse anders bewerten, weil sie nicht oder nur ansatzweise in der Lage sind, die Unangemessenheit der Handlungen des Täters zu erkennen. Erst im Verlauf, vor allem ab der Latenzzeit, verfügen Kinder über ein entsprechendes Wissen, um Missbrauchserlebnisse neu zu bewerten. Durch die Erweiterung ihrer kognitiven Fähigkeiten, ein zunehmendes sexuelles Wissen, aber auch Wissen über damit zusammenhängende Regeln und Normen wird eine Neubewertung der Missbrauchserlebnisse |180|angestoßen. So werden Opfer mit zunehmendem Alter sukzessive das gesamte Ausmaß der sexuellen Bedeutung von Missbrauchshandlungen, aber auch deren zwischenmenschliche Zusammenhänge erkennen können. Auf dieser Grundlage werden Opfer ihre Erlebnisse mit Blick auf die Konsequenzen für die eigene Entwicklung, für familiäre Beziehungen und auch weitergehende interpersonelle Beziehungen neu bewerten.
Viele Opfer eines sexuellen Missbrauchs entwickeln auf der Basis ihrer Erlebnisse dysfunktionale Bewertungen und bauen auf dieser Grundlage umfassendere und auch stabile kognitive Schemata auf. Diese Bewertungen und Schemata sind dafür verantwortlich, dass Betroffene sich selbst und das eigene Erleben grundsätzlich negativ bewerten und darüber hinaus auch negative Bewertungen anderer Personen und der eigenen Zukunft vornehmen. Diese dysfunktionalen Bewertungen hindern Betroffene daran, Nähe zuzulassen, stabile und befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, sich von Vergangenem zu lösen und Pläne für das zukünftige Leben zu entwickeln (Harding, Burns & Jackson, 2012; Messman-Moore & Coates, 2007). Vielfach konnte die Bedeutung dysfunktionaler Bewertungen und Schemata als Mediator für den Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und dem Ausmaß an Beeinträchtigungen nachgewiesen werden (z. B. Carr & Francis, 2010; Cukor & McGinn, 2006; Estévez et al., 2017; Estévez, Ozerinjauregi, Herrero-Fernández & Jauregui, 2019). Diese Zusammenhänge sind ausführlich im traumatogenen Modell mit seinen unterschiedlichen Dynamiken beschrieben (siehe Kapitel 3.1.2).
Dysfunktionale Bewertungen betreffen unterschiedlichste Aspekte und Lebensbereiche. Viele Opfer eines sexuellen Missbrauchs befürchten, durch den Missbrauch körperlich geschädigt zu sein, dass Funktionen des Körpers, besonders ihrer Geschlechtsorgane, beeinträchtigt oder sie generell „beschädigt“ oder kontaminiert wären. Es ist unklar, ob diese Wahrnehmungen der Opfer im Verhältnis zu den tatsächlich erlittenen Schädigungen stehen oder mehr als Zeichen irrationaler Ängste zu sehen sind. Unabhängig davon haben diese Bewertungen jedoch einen deutlichen Einfluss auf das Ausmaß der Symptomatik. Besonders zeigt sich ihr Effekt im Bereich sexueller Dysfunktionen und Somatisierungsstörungen (Spaccarelli, 1995; Spaccarelli & Fuchs, 2005). Die Wahrnehmung einer körperlichen Schädigung steht zudem in einem engen Zusammenhang mit der Einschätzung, anders zu sein, sich von anderen Menschen zu unterscheiden, und generell negativen Selbstbewertungen.
Derartige negative Zuschreibungen hinsichtlich der eigenen Person – wie beispielsweise „ich bin anders als alle anderen“ oder „mir kann man nicht vertrauen“ |181|– verstärken das Ausmaß an Beeinträchtigungen (Kolko, Brown & Berliner, 2002; Mannarino & Cohen, 1996). Besonders die Zuschreibung von Schuld und Verantwortung für den sexuellen Missbrauch (z. B. „ich hätte etwas tun sollen, dass es nicht passiert“) hat negative Folgen für den weiteren Verlauf. Zum einen dürfte diese Zuschreibung Opfer daran hindern, einen sexuellen Missbrauch offenzulegen, zum anderen auch die Auseinandersetzung mit dem Erlebten erschweren. Feiring et al. (1996) untersuchten den Prozess der Offenlegung eines Missbrauchs und konnten bei Opfern, welche die Ursachen für den Missbrauch intern attribuieren, im Vergleich zu jenen, welche die Verantwortung dem Täter oder anderen externen Umständen zuschreiben, deutlich mehr traumarelevante Symptome, wie Intrusionen, Vermeidung und Hyperarousal, depressive Symptome und einen geringeren Selbstwert, finden. Wolfe, Sas und Wekerle (1994) kamen zu vergleichbaren Ergebnissen. Auch in der Entwicklung von sexuellen Dysfunktionen dürfte der Zuschreibung von Verantwortung für den Missbrauch und missbrauchsbezogenen Schamgefühlen eine bedeutsame Rolle zukommen (Feiring, Simon & Cleland, 2009). Interessante Erkenntnisse in diesem Zusammenhang erbringt die Studie von Scarpa, Wilson, Wells, Patriquin und Tanaka (2009). Hier zeigte sich, dass ein hohes Ausmaß an Grübeln über den Missbrauch und dessen Folgen und damit zusammenhängende Selbstbestrafungen mit einer deutlich stärker ausgeprägten traumabezogenen Symptomatik in Zusammenhang stand.
Bei Verbrechensopfern jeglicher Art ist eine veränderte Sichtweise auf die Welt sehr verbreitet. Von dieser Veränderung sind auch Opfer eines sexuellen Missbrauchs betroffen. Missbrauchsopfer schätzen andere Personen und deren Absichten häufig negativ ein, sie fühlen sich häufig bedroht und verraten (siehe Kapitel 3.1.2). Negative auf den Täter bezogene Attributionen (z. B. „ihm war egal, wie es mir geht“) und der Verlust an Vertrauen dürften sukzessive vom Täter auf andere Personen und auf die allgemeine Weltsicht generalisieren. Wenn ein Opfer seine Missbrauchserlebnisse wiedererinnert, werden diese Wiedererinnerungen anhand jenes Bias abgerufen, der das Denken des Opfers beherrscht. Dieses Bias ist geprägt von den Bewertungen, die das Opfer gegenüber dem Missbrauch vorgenommen hat, was wiederum zur Folge hat, dass bevorzugt jene Aspekte des Missbrauchs erinnert werden, die konsistent mit den jeweiligen Bewertungen sind, und jene Aspekte, die den Bewertungen widersprechen, eher ausgeblendet werden. Die Konsequenz daraus ist, dass sich die Betroffenen in weiterer Folge immer stärker in ihren Bewertungen bestätigt fühlen. Dominieren Bewertungen, die von Gefahr und Verrat geprägt sind, werden sich das Misstrauen gegenüber anderen Personen und das Gefühl der Bedrohung zunehmend verstärken. Tatsächlich zeigen Betroffene bei Vorliegen von derartigen negativen Bewertungen auch ein höheres Ausmaß an Beeinträchtigungen und eine schlechtere Anpassung (Kolko et al., 2002; Mannarino & Cohen, 1996).
Innerpsychische Resilienzfaktoren können bei einem sexuellen Missbrauch – in gleicher Weise wie bei anderen Lebensereignissen oder Belastungen – ihre protektive Wirkung entfalten und Betroffene dabei unterstützen, das Erlebte in positiver Form zu bewältigen. Kein Opfer wird von einem sexuellen Missbrauch unberührt bleiben. Opfer werden diese Erlebnisse zumeist als traumatisierend erleben und mit negativen Emotionen darauf reagieren. Es darf aber nicht vergessen werden, dass ein Missbrauch beim Opfer durchaus auch positive Gefühle auslösen kann. Da viele Opfer von den Emotionen, die sie während des Missbrauchs oder in dessen Folge erleben, überwältigt werden, kommt der Fähigkeit des Opfers zur Emotionsregulation eine zentrale Bedeutung in der Verarbeitung dieser Erlebnisse zu. Darüber hinaus muss das Opfer auch im weiteren Verlauf bei erforderlichen Anpassungsleistungen über ausreichend Kompetenzen verfügen, auftretende Emotionen zu regulieren. Die selbstständige Regulation von Affekten gehört zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben, die Kinder zu bewältigen haben. Kompetenzen in der Emotionsregulation sind wichtig für funktionierende zwischenmenschliche Beziehungen und tragen wesentlich zur psychischen Gesundheit bei. Sie gelten nicht nur als zentraler Resilienzfaktor für die Phase der Kindheit, auch im Erwachsenenalter trägt die emotionale Stabilität wesentlich zur Resilienz einer Person bei. Bei kindlichen Missbrauchsopfern können ausgeprägte Fähigkeiten zur Emotionsregulation die negativen Auswirkungen eines sexuellen Missbrauchs deutlich reduzieren. Dieser Effekt konnte sowohl bei Vorschulkindern als auch bei älteren Kindern nachgewiesen werden und er zeigt sich gleichermaßen bei internalisierenden und externalisierenden Störungen. In der Altersgruppe der Vorschulkinder war jedoch der Effekt im Bereich der internalisierenden Störungen größer (Alink, Cicchetti, Kim & Rogosch, 2009; Kim & Cicchetti, 2010; Langevin, Hébert & Cossette, 2015).
Im Verlauf der Jahre wurden unterschiedliche Resilienzkonzepte entwickelt, die sich alle im Kern ähneln. Am bekanntesten ist wohl der „sense of coherence“, ein von Aaron Antonovsky entwickeltes Konzept (McCubbin, 1998). Der Kohärenzsinn beschreibt unterschiedliche Formen kognitiver und emotionaler Reaktionsmuster, die Menschen bei der Bewältigung von Krisensituationen, Belastungen und Herausforderungen unterstützen. Er besteht aus den Faktoren Verstehbarkeit – sowohl der eigenen Person als auch der Umwelt –, dem Gefühl der Bedeutung oder Sinnhaftigkeit von Ereignissen und der Überzeugung, dass Herausforderungen handhabbar und zu bewältigen sind.
Tlapek et al. (2017) untersuchten bei Missbrauchsopfern die Auswirkungen von Resilienz in einer Konzeption, die etwas vom Kohärenzsinn abweicht – bestehend aus den Dimensionen Sinnhaftigkeit, Beharrlichkeit, Unabhängigkeit, Gelassenheit, Authentizität (Wagnild, 2011). Diese Resilienzfaktoren erwiesen sich als wirksam und zeigten vor allem in den Bereichen Depression, Posttraumatische Belas|183|tungsstörungen und Reviktimisierungen einen positiven Effekt. Als unwirksam erwiesen sich diese Faktoren hingegen im Bereich des Substanzmissbrauchs, was darauf hindeutet, dass sich die Wirkung von Resilienz durchaus differenziell entfalten kann und nicht von einem allgemein positiven Effekt auszugehen ist. Bogar und Hulse-Killacky (2006) konnten interpersonelle Kompetenz, ein gewisses Ausmaß an Spiritualität, die Fähigkeit zur Selbstachtung und eine positive Einstellung gegenüber sich selbst als relevante Resilienzfaktoren bei Missbrauchsopfern isolieren. Dem sexuellen Missbrauch Sinn und Bedeutung zuschreiben zu können, scheint Betroffene in besonderer Weise bei der Bewältigung von Missbrauchserlebnissen zu unterstützen. Opfer, denen es gelingt, ihrem sexuellen Missbrauch einen Sinn zu geben, zeigten ein geringeres Ausmaß an Beeinträchtigung und waren besser sozial angepasst. Wenn die Suche nach Bedeutung und Sinn jedoch nicht erfolgreich ist, aber dennoch fortgesetzt wird, zeigt sich der gegenteilige Effekt (O’Dougherty Wright, Crawford & Sebastian, 2007; Silver, Boon & Stones, 1983).
Auch Valentine und Feinauer (1993) betrachten Selbstvertrauen und eine positive Selbstbewertung als potenzielle Schutzfaktoren. Zusätzlich konnten sie positive Effekte von internen Kontrollüberzeugungen, der Wahrnehmung von Selbstkontrolle in der Missbrauchssituation bei gleichzeitiger externer Zuschreibung von Verantwortung und Schuld für den Missbrauch, nachweisen. Selbst wenn interne Kontrollüberzeugungen so ausgeprägt sind, dass sie ein unrealistisches Maß an Optimismus annehmen, lässt sich ein Zusammenhang mit einer besseren Anpassung und einer geringeren Auffälligkeit nachweisen (Himelein & McElrath, 1996). Diese Kombination von Überzeugungen und Zuschreibungen unterstützt Opfer darin, eine insgesamt positive Einstellung gegenüber sich selbst und den eigenen Handlungsmöglichkeiten zu finden. Auf dieser Basis wird es Opfern eher gelingen, Pläne für die Zukunft zu entwickeln und sich auch die Verwirklichung dieser Pläne zuzutrauen. Entsprechend wird ein Verhaftetsein in der Vergangenheit und die Rumination über vergangene negative Ereignisse und Entwicklungen mit seinen bekannten negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit in geringerer Ausprägung vorliegen. Auch die kognitive Strategie der „Selbstvergebung“ dürfte mit diesen Prozessen in Zusammenhang stehen. Denn diese Bewertung kann helfen, jene negativen Gefühle zu reduzieren, die an die Zuschreibung von Verantwortung und Schuld geknüpft sind. So konnten Kaye-Tzadok und Davidson-Arad (2017) nachweisen, dass Selbstvergebung und auch Gefühle von Hoffnung die Resilienz von Missbrauchsopfern verstärken können.
Tocker et al. (2017) belegen die Wirksamkeit einer Variablenkombination aus Selbstvertrauen, Kohäsion in der Familie und ängstlicher Bindungsstrategie. Opfer eines sexuellen Missbrauchs, die über ein gutes Selbstvertrauen verfügen, die gleichzeitig in einer Familie mit einer hohen Kohäsion leben und deren Bindungsverhalten eher von Angst als von Vermeidung geprägt ist, gelingt es besser, einen sexuellen Missbrauch zu bewältigen. Diese Variablenkombination ist geeignet, |184|den negativen Effekt des Missbrauchs auf die Bereiche Depression, Ängste und Dissoziationen deutlich zu reduzieren. Auf interessante geschlechtsspezifische Zusammenhänge in diesem Zusammenhang weisen Chandy et al. (1996) hin. Bei Mädchen konnten engere emotionale Beziehungen innerhalb der Familie, Religiosität bzw. Spiritualität, ein Zusammenwohnen mit beiden Elternteilen und sich gesund zu fühlen als wichtige protektive Faktoren isoliert werden. Bei Jungen hingegen erwiesen sich das Bildungsniveau der Mutter und die Wahrnehmung von elterlicher Sorge als bedeutsame protektive Faktoren. Auch bestimmte Risikofaktoren dürften eine geschlechtsspezifische Wirkung entfalten. Während Chandy et al. (1996) bei männlichen Opfern keine Risikofaktoren nachweisen konnten, erwies sich bei weiblichen Opfern ein hohes Ausmaß an Rumination über den erlebten sexuellen Missbrauch als jener Risikofaktor, der das Ausmaß an Beeinträchtigung am stärksten beeinflusst. Weitere Risikofaktoren für weibliche Opfer waren ein durch Drogen belastetes Schulumfeld und ein erhöhter Alkoholkonsum der Mutter.
Bereits frühe Studien konnten den Nachweis erbringen, dass unterschiedliche Strategien der Bewältigung die Anpassung nach einem erlebten sexuellen Missbrauch wesentlich beeinflussen können (z. B. Friedrich, 1989; Hartman & Burgess, 1989). Ein Missbrauchsopfer wird bevorzugt auf jene Strategien zurückgreifen, von welchen es sich am meisten Hilfe und Unterstützung in der Bewältigung des Missbrauchs und dessen Folgen verspricht. Diese Einschätzung wird zu großen Teilen davon abhängen, wie das Opfer die Erlebnisse, den Täter, sich selbst und die Folgen, die es im Verlauf erlebt, bewertet. Die subjektive Sichtweise des Opfers ist somit für diesen Bereich von zentraler Bedeutung. Die Einteilung von Copingstrategien erfolgt üblicherweise anhand ihrer Effektivität. Doch ob Bewältigungsstrategien effektiv sind, lässt sich nicht generell beurteilen. Dies hängt einerseits vom jeweiligen Stressor ab, der die Belastung bei den Betroffenen auslöst, andererseits aber auch von Entwicklungsvoraussetzungen und der psychischen Situation der Betroffenen selbst.
Vermeidung zielt darauf ab, sich vor Belastungen und Bedrohungen zu schützen. Durch Vermeidung wird Distanz zu den Belastungen hergestellt und verhindert, dass negatives Befinden bei den Betroffenen ein Ausmaß erreicht, das subjektiv als nicht mehr beherrschbar eingeschätzt wird. Vermeidung ist die von Opfern eines sexuellen Missbrauchs am häufigsten eingesetzte Strategie, um mit den Pro|185|blemen und Störungen, die sie infolge des sexuellen Missbrauchs erleben, besser zurechtzukommen. Auch in anderen Bereichen gilt Vermeidung als sehr brauchbare und zielführende Bewältigungsstrategie. Im Vergleich mit anderen Belastungsereignissen wird jedoch Vermeidung von Opfern eines sexuellen Missbrauchs in besonderer Weise bevorzugt (Ullman, Peter-Hagene & Relyea, 2014; Walsh et al., 2010).
Die Strategie der Vermeidung kann unterschiedliche Bereiche betreffen. Eine kognitive Vermeidung kann darin bestehen, die Gedanken oder Erinnerungen an den Missbrauch beispielsweise durch Wunschdenken zu unterdrücken, kognitive Vermeidung kann aber auch bis zu einer bewussten Verleugnung oder Dissoziation reichen. Auch Aktivitäten, Situationen oder Personen, die direkt in die Geschehnisse um den sexuellen Missbrauch involviert waren oder nur indirekt – aufgrund einer bestehenden Ähnlichkeit – Erinnerungen an den Missbrauch wachrufen, werden häufig vermieden. Missbrauchsopfer erleben häufig Gefühle von Bedrohung. Dieses Bedrohungserleben kann so weit generalisieren, dass viele der alltäglichen Aktivitäten, wie Freund:innen zu treffen, abends das Zuhause zu verlassen oder Sport zu treiben, als potenziell gefährlich eingeschätzt und in der Folge vermieden werden. Zudem werden von manchen Missbrauchsopfern herausfordernde oder belastende Situationen grundsätzlich vermieden, weil die Betroffenen erwarten, von den Belastungen oder Emotionen überwältigt zu werden. Auch der Konsum von Alkohol oder Drogen ist in diesem Zusammenhang als Vermeidungsstrategie zu sehen, weil deren Wirkung Betroffenen helfen kann, sich zu entspannen und Distanz zu negativen Gedanken und Emotionen herzustellen. Entsprechend zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an Vermeidungsverhalten, das ein Opfer nach einem sexuellen Missbrauch zeigt, und dem Auftreten von Alkoholmissbrauch oder einer Alkoholabhängigkeit (z. B. Müller et al., 2015).
Die Bevorzugung von Vermeidung als die zentrale Bewältigungsstrategie von Missbrauchsopfern ist sicherlich darin begründet, dass sich durch Vermeidung sehr erfolgreich Belastungen beseitigen und eine Entlastung der Betroffenen herbeiführen lassen. Diese Strategie hilft zumindest kurzfristig, sich nicht mit der Fülle an negativen Gedanken und Gefühlen auseinandersetzen zu müssen, die an die Erinnerung des sexuellen Missbrauchs geknüpft sind. Deshalb erleben Betroffene Vermeidung zumeist als sehr hilfreich und zielführend im Umgang mit den Erlebnissen des sexuellen Missbrauchs und dessen Folgen. Interessant in diesem Zusammenhang sind die Erkenntnisse von O’Dougherty Wright et al. (2007), die aufzeigen konnten, dass speziell jene Opfer Vermeidung einsetzen, die ihren Missbrauch als nicht bewältigt betrachten.
Die empirische Evidenz widerspricht jedoch dieser subjektiv positiven Einschätzung der Betroffenen. Vielfach wurde der Nachweis erbracht, dass Vermeidung mit einem höheren Ausmaß an Folgeproblemen zusammenhängt. |186|Cantón-Cortés und Cantón (2010) konnten einen deutlichen Zusammenhang zwischen vermeidendem Coping und der Ausprägung einer traumaspezifischen Symptomatik nachweisen. Der Effekt von Vermeidung auf die Folgeprobleme bleibt selbst nach Kontrolle weiterer relevanter Einflussfaktoren, wie der Schwere des Missbrauchs oder dessen Rahmenbedingungen, noch bestehen (z. B. Brand & Alexander, 2003; Coffey, Leitenberg, Henning, Turner & Bennett, 1996; Müller et al., 2015; Steel et al., 2004). Johnson und Kenkel (1991) konnten bei jugendlichen Inzestopfern Wunschdenken als jene Strategie isolieren, die mit dem höchsten Ausmaß an Belastung in Zusammenhang stand. Doch auch bei dieser Variable empfiehlt sich eine differenzierte Betrachtung der Zusammenhänge. So scheint der dauerhafte Einsatz dieser Bewältigungsstrategie der kritische Faktor in der Beurteilung der Effektivität dieser Maßnahme zu sein. Eine deutlich schlechtere Anpassung und mehr Folgestörungen zeigen sich bevorzugt bei jenen Opfern, die dauerhaft auf diese Strategie zurückgreifen (Johnson, Sheahan & Chard, 2003). Möglicherweise spielen in diesem Zusammenhang der Zeitpunkt des Einsatzes und die damit in Zusammenhang stehenden Voraussetzungen beim Opfer eine entscheidende Rolle. Bonanno et al. (2003) untersuchten im Rahmen einer prospektiven Studie 11- bis 25-jährige weibliche Opfer eines sexuellen Missbrauchs über den Verlauf von 7 Jahren und konnten feststellen, dass bei dieser Gruppe von jungen Opfern Vermeidung mit einem geringeren Ausmaß an Störungen und Problemen und einer besseren Anpassung zusammenhing.
Eine besondere Form des Vermeidungsverhaltens stellen Dissoziationen dar. Zwar helfen Dissoziationen Menschen, in Situationen extremer Belastungen diese Situationen zu überstehen, aber in längerer Folge verstärkt die Neigung zu dissoziieren, vorhandene Probleme und Auffälligkeiten (Wolf & Nochajski, 2013).
Die Forschungslage weist somit insgesamt darauf hin, dass Vermeidung direkt im Anschluss an den sexuellen Missbrauch durchaus einen positiven Effekt auf den Verlauf haben kann, ein langfristiger Einsatz dieser Strategie beeinflusst den Verlauf und die Anpassung jedoch negativ. Darüber hinaus lassen diese Erkenntnisse auch die Schlussfolgerung zu, dass bei jenen Opfern die Strategie der Vermeidung als kontraproduktiv einzuschätzen ist, die im Verlauf über genügend Ressourcen verfügen, um sich mit dem Missbrauch und seinen Folgen aktiv auseinandersetzen zu können, ohne emotional überwältigt oder überfordert zu sein. Sind diese Voraussetzungen gegeben, bringen aktivere Strategien der Bewältigung einen deutlich positiveren Effekt. Denn der Einsatz von vermeidendem Coping verhindert die wichtige kognitiv-emotionale Verarbeitung des sexuellen Missbrauchs, indem die Erinnerungen an die Missbrauchserlebnisse isoliert bleiben und eine Reflexion darüber nicht stattfindet. Vermeidung unterbindet eine Verknüpfung der einzelnen an den Missbrauch geknüpften Erinnerungsbestandteile sowie die kontextuelle Integration ergänzender Informationen. Eine Zusammenführung mit anderen Erinnerungen im autobiografischen Gedächtnis findet nicht statt.
|187|Opfer eines schweren sexuellen Missbrauchs, die auch Zwang erlebt haben, scheinen in höherem Ausmaß auf Vermeidung als Bewältigungsstrategie zurückzugreifen. Sowohl intrafamiliärer als auch ein mehrfacher Missbrauch verstärkte den Einsatz von vermeidendem Coping noch zusätzlich (z. B. Coffey et al., 1996; Leitenberg, Greenwald & Cado, 1992). Interessant in diesem Zusammenhang sind auch die Ergebnisse von Gibson und Leitenberg (2001), die aufzeigen, dass besonders Opfer, die ein hohes Maß an Stigmatisierung erleben, Vermeidung einsetzen.
Obwohl es keine empirischen Belege dafür gibt, dass es Kindern durch direkten Widerstand tatsächlich gelingt, einen Missbrauch zu beenden, kann vermutet werden, dass diese Bemühungen dazu beitragen, zumindest ein gewisses Maß an Kontrollerleben in der Missbrauchssituation aufzubauen und in der Folge Bewertungen mit einem wirksameren protektiven Effekt zu entwickeln. Die Erkenntnis, dass Opfer, die dem Missbrauch Widerstand entgegengesetzt haben, diesen eher offenlegen, unterstützt diese Vermutung (Leclerc & Wortley, 2015). Steel et al. (2004) konnten nachweisen, dass jene Opfer, die direkten Widerstand leisten, weniger konfrontierendes, von Feindseligkeit geprägtes Coping einsetzen. Diese Strategie hängt insgesamt mit geringeren Problemen und Auffälligkeit zusammen. Doch die Studie von Conte und Schuerman (1987) erbrachte widersprüchliche Ergebnisse. Sowohl Kinder, die Widerstand leisteten, als auch jene, die sich dem Missbrauch passiv unterwarfen, erwiesen sich in dieser Studie als weniger beeinträchtigt.
Die Entscheidung eines Opfers, den erlebten Missbrauch offenzulegen und sich anderen mitzuteilen, gestaltet sich zumeist schwierig und langwierig. Der Stand der Forschung weist eindrücklich darauf hin, dass es sich hier nicht um einen einfachen unidirektionalen Prozess handelt, sondern dass in diesem Prozess ein komplexes System vielfältiger interner und externer Faktoren zusammenwirkt (Lemaigre, Taylor & Gittoes, 2017). Einer Offenlegung stehen zumeist große Bedenken und Sorgen und damit verbundene negative affektive Zustände entgegen, welche an die unterschiedlichsten Folgen geknüpft sind, die eine Offenlegung des Missbrauchs mit sich bringen würde. Die Entstehung dieser Bewertungen und Emotionen, die Opfer in dieser Situation erleben, sind im Modell der traumatogenen Dynamiken (siehe Kapitel 3.1.2) umfassend erklärt und beschrieben. Im Vordergrund steht vor allem das Erleben von Hilflosigkeit.
|188|Im Verlauf wurden unterschiedliche Modelle entwickelt, die versuchen, die Abläufe rund um die Offenlegung eines sexuellen Missbrauchs zu beschreiben und auf wesentliche Elemente hinzuweisen. Beim Child Sexual Abuse Accomodation Syndrom (CSAAS) handelt es sich um ein frühes Modell (Summit, 1983), das Praktiker:innen die komplexen und widersprüchlichen Dynamiken, die ein sexueller Missbrauch für das Opfer mit sich bringt, verständlich machen will. Der Verlauf des Offenlegungsprozesses wird im CSAAS anhand von fünf unterschiedlichen Stufen beschrieben: Geheimhaltung, Hilflosigkeit, in einer Falle gefangen sein und Anpassung an diese Situation, verzögerte und nicht überzeugende Offenlegung sowie Rücknahme der Offenlegung. Sorensen und Snow (1991) kommen zu einer etwas abweichenden Konzeptualisierung und gliedern den Offenlegungsprozess in die vier Stufen Leugnen, zögerliche Offenlegung, Rücknahme der Offenlegung und Bestätigung des Missbrauchs. In späteren Studien ließen sich jedoch diese Modelle in ihrer Gesamtheit nicht bestätigen. Bei einem Großteil der Opfer waren die Prozesse des Leugnens, der zögerlichen Offenlegung oder der Rücknahme der Offenlegung nicht nachweisbar. Diese Dynamiken fehlten besonders bei jenen Opfern, bei denen neben der Aussage des Opfers auch andere Beweise zur Außenvalidierung des sexuellen Missbrauchs existierten. Insgesamt weisen die Daten darauf hin, dass die meisten Opfer, wenn sie aktiv befragt werden, ihre Erlebnisse offenlegen und ihre Angaben später auch nicht mehr zurücknehmen bzw. widerrufen (London, Bruck, Ceci & Shuman, 2005).
Leventhal, Murphy und Asnes (2010) berichten aus ihrer klinischen Praxis, von welchen Inhalten das Denken von Opfern geprägt ist und welche Fragen sich Opfer in diesem langwierigen Prozess vor der Offenlegung stellen. Relevante Themenkomplexe für Opfer sind der Schutz der Eltern, Sorgen über die Unversehrtheit des eigenen Körpers, Sorgen, wie sich die eigene Sexualität entwickeln wird sowie die Frage, wer Kenntnis von den mitgeteilten Informationen erhalten würde. Aufgrund der angesprochenen Themen wird es nachvollziehbar, warum Opfer eines sexuellen Missbrauchs oft Jahre für ihre Offenlegung benötigen und warum selbst dann Offenlegungen häufig unvollständig erfolgen. Gespräche über die Erlebnisse bleiben für Opfer oft schwierig und werden vermieden und tatsächlich gelingt es vielen Missbrauchsopfern erst im Erwachsenenalter, ihre Erlebnisse offenzulegen (Easton, 2013; London et al., 2005). Die National Women Study (Smith et al., 2000) kam zur Erkenntnis, dass zwar 72 % der untersuchten weiblichen Opfer eines sexuellen Missbrauchs ihre Erlebnisse offenlegten, aber nur bei 18 % die Offenlegungen unmittelbar nach dem Missbrauch erfolgten und beinahe die Hälfte (47 %) sich innerhalb der ersten 5 Jahre nicht für eine Offenlegung entscheiden konnte. Das Review von Ullman (2003) gibt Offenlegungsraten zwischen 40 % und 75 % an, wobei hier 30 % bis 58 % der Offenlegungen in der Kindheit erfolgt, 42 % bis 75 % der Opfer jedoch erst im Erwachsenenalter über ihren Missbrauch berichten.
Einige Studien gingen der wichtigen Frage nach, von welchen Faktoren es abhängt, ob ein Missbrauchsopfer seine Erlebnisse offenlegt. Das Wissen über diese Fakto|189|ren ist für die Entwicklung spezifischer präventiver Strategien wichtig, die darauf abzielen, die Offenlegungsraten zu erhöhen. Besonders bei kindlichen Opfern hat sich gezeigt, dass Anstöße von außen, wie das Vermitteln von Informationen, gezielte Fragen durch eine Person des Vertrauens, emotionale Unterstützung, Ansprechen von Auffälligkeiten bzw. Veränderungen dem Kind gegenüber oder Interventionen vonseiten der Schule, es dem Kind erleichtern können, über seine Erlebnisse zu sprechen (Hershkowitz, Lanes & Lamb, 2007; Jensen, Gulbrandsen, Mossige, Reichelt & Tjersland, 2005; Søftestad, Toverud & Jensen, 2013). Besonders bei jüngeren Kindern kann eine Offenlegung auch eher zufällig erfolgen, angestoßen durch ein auslösendes Ereignis. Mit zunehmendem Alter werden diese zufälligen Offenlegungen jedoch seltener und intentionale Offenlegungen, denen ein längerer Entscheidungsprozess vorausgehen kann, häufiger (Campis, Hebden-Curtis & DeMaso, 1993; Nagel, Putnam, Noll & Trickett, 1997). Auch das Vorliegen von zusätzlichen objektiven Beweisen erleichtert es Opfern, über ihren Missbrauch zu berichten (Schaeffer, Leventhal & Asnes, 2011). Insgesamt sollte jedoch ein zu forciertes Vorgehen immer vermieden werden, um dem Kind nicht etwas zu suggerieren, was es tatsächlich nicht erlebt hat. Denn die Beeinflussbarkeit von Kindern ist groß.
In einer qualitativen Studie mit erwachsenen Missbrauchsopfern konnten Collin-Vézina, de La Sablonnière-Griffin, Palmer und Milne (2015) eine Fülle an Faktoren isolieren, die Opfer an der Offenlegung ihres sexuellen Missbrauchs hindern. Diese Faktoren lassen sich in drei Bereiche gliedern. Zum einen handelt es sich um den Bereich der innerpsychischen Faktoren, dem die Faktoren interne Schuldzuschreibung, Selbstschutz und mangelnde Reife zum Zeitpunkt des Missbrauchs unterzuordnen sind. Zum anderen handelt es sich um den interpersonellen Bereich mit den Hinderungsgründen familiäre Gewalt und Dysfunktion, Machtausübung, soziale Konsequenzen einer Offenlegung und ein fragiles soziales Netzwerk. Der dritte Bereich betrifft soziale Barrieren, wie die Stigmatisierung des Opfers, die Tabuisierung von Sexualität, das Fehlen von Beratungseinrichtungen sowie kulturelle oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen.
Interessante Erkenntnisse zu den Offenlegungsraten und Einflussfaktoren erbrachte auch die Metaanalyse von Azzopardi, Eirich, Rash, MacDonald und Madigan (2018). Den Analyseergebnissen zufolge legen 64.1 % der Kinder, die einem forensischen Interview unterzogen werden, ihren sexuellen Missbrauch offen. Bei älteren und weiblichen Opfern waren höhere Raten zu finden. Zudem waren die Offenlegungsraten höher, wenn das Opfer bereits einmal in einem anderen Zusammenhang über seinen Missbrauch gesprochen hatte. Auch das Publikationsjahr der jeweiligen Studie hatte einen Einfluss auf die Raten, wobei in jüngeren Studien der Anteil von Offenlegungen höher war als in älteren Studien. Dieses Ergebnis lässt darauf schließen, dass die in den letzten Jahren im forensischen Kontext gesetzten Maßnahmen des Opferschutzes tatsächlich dazu beigetragen haben, Kindern die Offenlegung eines Missbrauchs zu erleichtern. Die Erkennt|190|nisse weisen somit darauf hin, dass viele Kinder ihren Missbrauch dann offenlegen, wenn sie im Rahmen eines forensischen Interviews direkt befragt werden und sie im Verlauf nur selten ihre Aussage wieder zurückziehen.
Doch über die Ergebnisse dieser Metaanalyse hinaus sind die Ergebnisse zur Frage, welche Faktoren eine Offenlegung tatsächlich beeinflussen, sehr inkonsistent und widersprüchlich. Am häufigsten wurde der Einfluss von Alter und Geschlecht des Opfers untersucht. Manche Studien finden bei jüngeren Opfern höhere Raten (z. B. Bae, Kang, Hwang, Cho & Cho, 2017; Kogan, 2004), andere bei älteren Opfern (z. B. Leclerc & Wortley, 2015; Lippert, Cross, Jones & Walsh, 2009; Schönbucher, Maier, Mohler-Kuo, Schnyder & Landolt, 2012) und andere Studien wiederum konnten keinen Alterseinfluss feststellen (z. B. Bottoms, Rudnicki & Epstein, 2007; Lam, 2014). Auch zum Geschlecht sind die Befunde nicht eindeutig. Es überwiegen jedoch die Hinweise, dass männliche Opfer weniger bereit sind, ihren Missbrauch offenzulegen (Easton, 2013; Hershkowitz, Horowitz & Lamb, 2005; Lippert et al., 2009; O’Leary & Barber, 2008). Auch bei einem intrafamiliären Missbrauch bzw. einem Naheverhältnis zum Täter dürfte ein größerer Widerstand gegenüber der Offenlegung bestehen (Easton, 2013; Leclerc & Wortley, 2015; Lippert et al., 2009; Schaeffer et al., 2011). Dies kann auch der Grund sein, warum es Opfern, die von einem jugendlichen Täter und damit von einem Täter in einem vergleichbaren Alter missbraucht worden waren, deutlich schwerer fällt, den erlebten Missbrauch offenzulegen (Schönbucher et al., 2012). Dennoch konnten manche Studien diesen Zusammenhang nicht finden (z. B. Lam, 2014).
Widersprüchliche Ergebnisse existieren auch zur Schwere des Missbrauchs. Manche Studien belegen, dass jene Opfer, die einen weniger schweren Missbrauch erlitten haben, eher mit anderen Personen über ihre Erlebnisse sprechen, während Opfer eines gravierenderen Missbrauchs eher dazu neigen, zu ruminieren und sich selbst zu bestrafen (z. B. Hershkowitz et al., 2007; Paine & Hansen, 2002). Demgegenüber fanden andere Studien, dass schwere Missbrauchshandlungen Opfer eher dazu bringen, ihren Missbrauch offenzulegen (z. B. Lam, 2014; Leclerc & Wortley, 2015). Das Ausmaß an Beeinträchtigung – hier besteht ja ein deutlicher Zusammenhang mit der Schwere des Missbrauchs – dürfte die Offenlegungsraten jedoch nicht beeinflussen (Arata, 1998). Im Bereich der Missbrauchsdauer sind die Zusammenhänge differenzierter. Hier weisen die Daten insgesamt gesehen darauf hin, dass Opfer von häufigerem Missbrauch diesen eher offenlegen. Opfer geben an, dass sie eine Fortsetzung der Übergriffe nicht mehr ertragen und sie Angst vor Folgen oder Verletzungen hätten, eine Gefahr, die gerade bei einem fortgesetzten Missbrauch als höher einzuschätzen ist. Zudem ist die Bereitschaft zur Offenlegung bei Opfern von häufigerem Missbrauch größer, wenn sie sich stärker belastet fühlen und nicht mehr darüber schweigen wollen (Gries, Goh & Cavanaugh, 1997; Kellogg & Huston, 1995; McElvaney, Greene & Hogan, 2012; Schönbucher et al., 2012). Damit sind möglicherweise auch jene Faktoren angesprochen, die Opfer eines schweren sexuellen Missbrauchs eher dazu bringen dürften, sich |191|mitzuteilen. Darüber hinaus sind höhere Offenlegungsraten auch bei Opfern zu finden, bei welchen sich der Missbrauch auf einen Täter beschränkt (Bae et al., 2017). Opfer mit einer Intelligenzminderung weisen hingegen geringere Offenlegungsraten auf, besonders wenn Beeinträchtigungen im Bereich der verbalen Intelligenz vorliegen. Allerdings sind intellektuell beeinträchtigte Opfer häufig auch einem schweren sexuellen Missbrauch ausgesetzt, was gleichfalls für diesen Effekt verantwortlich sein könnte (Bae et al., 2017).
Weitere wichtige Barrieren, die einer Offenlegung entgegenstehen, lassen sich dem Erleben der Opfer zuordnen. So kommt es seltener zu einer Offenlegung, wenn das Opfer seine Missbrauchserlebnisse verdrängt (Bottoms et al., 2016). Einen wesentlichen Einfluss haben jedoch Erwartungshaltungen des Opfers, wobei Erwartungen über Reaktionen von Bezugspersonen oder des sozialen Umfelds besonders relevant sein dürften. Gefühle der Angst, Schuld und Scham sowie die Zuschreibung von Verantwortung für den Missbrauch spielen bei der Entstehung von negativen Erwartungen in diesen Bereichen eine zentrale Rolle. Die Erwartung, dass andere Personen kein Verständnis für das Erlebte oder die eigene Situation aufbringen werden, wird von Betroffenen als ein sehr gewichtiger Hinderungsgrund genannt. Wenn das Opfer bei ersten Andeutungen dann tatsächlich auf mangelndes Verständnis stößt, wird der Effekt dieser Barriere noch zusätzlich verstärkt (z. B. Schaeffer et al., 2011; Schönbucher et al., 2012). Damit in Zusammenhang steht auch die Erwartung, von anderen Menschen keine Unterstützung oder Hilfe zu erhalten – auch dieser Hinderungsgrund wird häufig von Opfern genannt (Crisma, Bascelli, Paci & Romito, 2004; Hershkowitz et al., 2005; Jensen et al., 2005). Als weitere wichtige Barrieren konnten das fehlende Vertrauen in andere, auch nahestehende, Personen gefunden werden oder die Angst, dass andere Personen den Aussagen nicht glauben werden (Schönbucher et al., 2012). Demgegenüber konnten deutlich höhere Offenlegungsraten bei jenen Opfern nachgewiesen werden, die darauf vertrauten, dass den eigenen Aussagen Glauben geschenkt wird (McElvaney, Greene & Hogan, 2014).
Wichtige Barrieren betreffen auch Ängste der Opfer vor den negativen Konsequenzen einer Offenlegung. Opfer geben häufig an, Angst vor dem Täter zu haben. Sie fürchten, dass dieser im Falle einer Offenlegung seine Drohungen umsetzen würde und dem Opfer selbst oder seiner Familie Schaden zugefügt wird (Münzer et al., 2016; Schaeffer et al., 2011; Schönbucher et al., 2012). Auch der Schutz der eigenen Person, die Angst, getötet oder verletzt zu werden, Ängste, von den Eltern oder der Familie bestraft zu werden bzw. deren Unterstützung zu verlieren, aber auch Ängste vor einer negativen Bewertung durch andere Menschen sind wichtige Motive, die Opfer als Barrieren gegen eine Offenlegung nennen (Schönbucher et al., 2012; Shalhoub-Kevorkian, 2005). Die Ängste des Opfers können sich auch auf negative Konsequenzen beziehen, welche die Familie im Falle einer Offenlegung erleiden müsste. Hier geht es um Ängste, die Familie als Einheit zu vernichten oder das Ansehen oder die Ehre der Familie zu zerstören. Zahlreiche |192|Studien sehen den Schutz der Familie und die Familie vor Schaden oder Belastungen zu bewahren als zentrale Motive, die ein Opfer an einer Offenlegung hindern (Crisma et al., 2004; Jensen et al., 2005; McElvaney et al., 2014; Schönbucher et al., 2012; Shalhoub-Kevorkian, 2005). Darüber hinaus existieren auch Motive, die der Sphäre des Täters zuzuordnen sind. Besonders bei einem Naheverhältnis zwischen Opfer und Täter können positive Gefühle dem Täter gegenüber und auch der Wunsch, den Täter vor negativen Konsequenzen zu beschützen, einer Offenlegung entgegenstehen (Jensen et al., 2005; Kellogg & Huston, 1995; Münzer et al., 2016). Auch der Wunsch nach Autonomie und Erwachsensein konnte als Motiv gefunden werden, das einer Offenlegung widerspricht. Denn manche Opfer fühlen sich gestärkt in ihrer Unabhängigkeit und ihrem Erwachsensein, wenn sie alleine versuchen, mit dem Missbrauch und dessen Folgen zurechtzukommen (Crisma et al., 2004).
Neben der Frage, ob sich ein Opfer überhaupt dazu entschließt, seinen Missbrauch offenzulegen, ist auch die Frage relevant, welche Faktoren für eine verzögerte Offenlegung verantwortlich sind und welche Faktoren ein Opfer im Verlauf doch dazu motivieren können, über ihren Missbrauch zu berichten. Anderson (2016) konnte nachweisen, dass besonders bei Children of Color, bei Opfern von erwachsenen Tätern, bei Opfern, die wenig familiäre Unterstützung erhalten, und Opfern, die ihren Missbrauch erstmals auf Nachfrage offengelegt haben, der Prozess der Offenlegung und die Schilderung der Erlebnisse deutlich zögerlicher erfolgt. Ob das Alter des Opfers das Ausmaß der Verzögerung beeinflusst, ist nicht eindeutig zu beantworten. Während Hershkowitz et al. (2007) bei älteren Kindern eine deutlich längere Zeitspanne bis zur Offenlegung feststellen konnte, fanden Giroux, Chong, Coburn und Connolly (2018) keine Unterschiede zwischen kindlichen und jugendlichen Opfern. Eine längere Zeitspanne bis zur Offenlegung findet sich hingegen bei Opfern von intrafamiliärem Missbrauch und Opfern, die von mehreren Tätern missbraucht wurden (Kellogg & Hoffman, 1997; London, Bruck, Wright & Ceci, 2008). Zudem weisen Daten darauf hin, dass ein verzögertes Offenlegen mit einem höheren Ausmaß an Beeinträchtigung in Zusammenhang stehen dürfte. Allerdings konnten Ullman und Filipas (2005b) diesen Zusammenhang nur für weibliche Opfer nachweisen. Betrachten wir die Gesamtheit der Erkenntnisse, scheinen die Gründe für eine zögerliche Offenlegung sehr vielfältig zu sein. Für den häufig in diesem Zusammenhang genannten Grund, dass eine zögerliche Offenlegung ein Indikator für eine nicht der Realität entsprechenden Aussage wäre, gibt es jedoch keinen fundierten Beleg.
Erlebnisse eines Missbrauchs offenzulegen ist zumeist von der Suche nach Unterstützung motiviert. Bei jüngeren Missbrauchsopfern sind es daher die Eltern, denen sich Kinder am häufigsten erstmals anvertrauen (Giroux et al., 2018). Vertrauen zu der entsprechenden Person ist für Kinder von entscheidender Bedeutung (Petronio, Reeder, Hecht & Ros-Mendoza, 1996). Insgesamt ist die Suche nach Unterstützung eine sehr wirksame Bewältigungsstrategie, denn Opfer, die |193|nach sozialer Unterstützung suchen, zeigen deutlich weniger Initialeffekte und auch Langzeitfolgen (Brand & Alexander, 2003; Murthi & Espelage, 2005; Steel et al., 2004). Für eine positive Bewältigung eines erlebten Missbrauchs ist es aber nicht ausreichend, sich auf der Suche nach Unterstützung jemandem anzuvertrauen. Der entscheidende Punkt ist, wie die Person, der sich das Opfer anvertraut, auf die Offenlegung reagiert (Wyatt & Mickey, 1987). Auch wenn nur bei einem geringen Prozentsatz der Fälle eine Offenlegung erfolgt, solange der sexuelle Missbrauch noch andauert, sind gerade bei diesen Fällen die Handlungen der Ansprechpersonen von zentraler Bedeutung. In solchen Fällen erwartet das Opfer, dass diese Person Maßnahmen ergreift, um den Missbrauch zu beenden. Legt das Kind den Missbrauch offen und erhält keine Unterstützung und Hilfe, sondern ist weiterhin dem Missbrauch ausgesetzt, hat dies den schwerwiegendsten Effekt auf Beeinträchtigungen und Folgeprobleme des Opfers (Swingle et al., 2016).
Easton et al. (2011) berichten, dass eine Offenlegung zeitnah nach den Missbrauchserlebnissen mit stärker ausgeprägten Problemen im Bereich der Sexualität zusammenhängt. Dieser Zusammenhang zeigt sich besonders bei älteren Missbrauchsopfern. Eine mögliche Erklärung für diesen Effekt könnte sein, dass Personen auf die Offenlegung von älteren Kindern möglicherweise weniger verständnisvoll oder unterstützend und eher mit Schuldzuweisungen reagieren. Männliche Opfer scheinen nach der Offenlegung ihres sexuellen Missbrauchs nur wenig emotionale Unterstützung und Schutz zu erhalten, was das Risiko für spätere psychische Probleme deutlich erhöht (Easton, 2013).
Soziale und emotionale Kompetenzen sind wichtige Ressourcen für den Offenlegungsprozess und können ihn deutlich positiv beeinflussen. Sie können Opfer dabei unterstützen, geeignete Personen dafür auszuwählen und sich in dieser Situation verständlich und angemessen zu verhalten. Dies erhöht die Chancen, auch tatsächlich jene Unterstützung zu erhalten, die für eine positive Bewältigung nötig ist. Soziale und emotionale Kompetenzen gelten ja als wichtige protektive Faktoren für die Adaptation von Missbrauchsopfern (siehe Tabelle 4.1). Die Reaktionen, die ein Missbrauchsopfer auf eine Offenlegung erfährt, sind vielschichtig, weshalb sich eine differenzierte Betrachtung dieses Interaktionsprozesses empfiehlt. Tabelle 4.2 bietet einen Überblick zu positiven und negativen Reaktionen, die von Missbrauchsopfern konkret benannt wurden. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass kindliche Opfer auf ihre Offenlegung hin mehr negative Reaktionen erhalten als Opfer, die erst im Erwachsenenalter von ihrem Missbrauch berichten.
Walker-Descartes, Sealy, Laraque und Rojas (2011) haben nicht betroffene Eltern nach ihren Reaktionen befragt, falls ein Kind ihnen gegenüber einen sexuellen Missbrauch offenlegen würde. Konfrontiert mit unterschiedlichen Missbrauchszenarien gaben Eltern an, dass sie sehr wahrscheinlich eine Anzeige erstatten oder sich an offizielle Stellen, wie Behandlungs- oder Kinderschutzeinrichtungen, wenden würden. Weniger wahrscheinlich war es für die Eltern, dass sie den Täter |194|zur Rede stellen oder das Kind beschuldigen würden. Hier ergaben sich aber noch immer durchschnittliche Werte von 2.45 (Täter zur Rede zu stellen) und 2.03 (Kind beschuldigen) auf einer 5-stufigen Skala, was diese Reaktionen als durchaus möglich ausweist. Bei jüngeren Opfern bevorzugten Eltern verstärkt die Erstattung einer Anzeige und das Aufsuchen einer Kinderschutzeinrichtung und im Falle eines schwereren Missbrauchs würden sie eher aktiv etwas unternehmen. Zudem zeigte sich, dass jene Eltern, die selbst Missbrauchsopfer waren oder Erfahrungen mit der Justiz hatten, eher den Täter zur Rede stellen würden. Hier könnten möglicherweise negative Erfahrungen mit Einrichtungen oder Behörden die Eltern davon abhalten, eine Anzeige zu erstatten oder Kinderschutzeinrichtungen aufzusuchen.
Tabelle 4.2: Positive und negative Reaktionen auf die Offenlegung eines sexuellen Missbrauchs (nach Ullmann, 2003)
Positive Reaktionen |
Negative Reaktionen |
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Im therapeutischen Kontext:
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Newman und Peterson (1998) konnten nachweisen, dass Familienmitglieder im Vergleich zu Freund:innen oder fremden Personen deutlich häufiger in negativer Form auf die Offenlegung eines sexuellen Missbrauchs reagieren. Freund:innen |195|zeigen am meisten Unterstützung, Eltern hingegen reagieren am negativsten auf die Offenlegung ihrer Kinder. Diese Ergebnisse bestehen unabhängig vom Alter der Opfer. Nur bei extrafamiliärem Missbrauch zeigen Familienmitglieder positivere Reaktionen. Das große Problem der Familienmitglieder scheint somit ein intrafamiliärer Missbrauch zu sein. Zudem konnte nachgewiesen werden, dass durch positive Reaktionen von Müttern nach einer Offenlegung zwar die Feindseligkeit im Verhalten ihrer Kinder nicht reduziert werden konnte, negative Reaktionen der Mütter haben die Feindseligkeit der Kinder jedoch deutlich verstärkt. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Reaktionen auf eine Offenlegung auch unabhängig vom Geschlecht erfolgen. Hier sind die Ergebnisse nicht einheitlich. Insgesamt scheinen aber Männer eher beschützend auf eine Offenlegung zu reagieren, während bei Frauen der Anteil jener, die den Aussagen glauben, höher zu sein scheint. Von den Opfern selbst werden die Reaktionen von Frauen eher als hilfreich erlebt als jene von Männern. Auch das Geschlecht des Opfers scheint zumindest im Erwachsenenalter relevant zu sein. Entschließt sich ein Opfer erst im Erwachsenenalter seinen Missbrauch offenzulegen, dürften weibliche Opfer mehr positive Reaktionen erfahren als männliche Opfer (Ullman, 2003).
Wenn es einem Opfer gelingt, seinen Missbrauch offenzulegen und mit anderen über die Erlebnisse zu sprechen, kann dies zwar kurzfristig zu einer größeren Belastung der Betroffenen führen, dies wird sich langfristig aber positiv auswirken (Nagel et al., 1997; Wyatt & Newcomb, 1990). Entsprechend konnten bei erwachsenen Opfern, die im Verlauf ihres Lebens ihren Missbrauch offengelegt hatten, ein geringeres Ausmaß an Beeinträchtigung und eine bessere Anpassung nachgewiesen werden. Interessant ist aber auch, dass im Falle einer Offenlegung auch ein höheres Ausmaß an Dissoziation zu finden war (Bonanno et al., 2003; Scarpa et al., 2009). Von jenen Opfern, die ihren Missbrauch nicht offengelegt haben, weisen jene Opfer, bei denen zwar der Wunsch nach Offenlegung existiert, die sich aber bisher noch nicht überwinden konnten, deutlich stärkere Beeinträchtigungen auf (Sinclair & Gold, 1997). Demgegenüber weisen jene Opfer, die es schaffen, ihren Missbrauch offenzulegen, deren Umfeld aber negativ reagiert, den negativsten Verlauf auf. Bei diesen Opfern findet sich das höchste Ausmaß an Symptomen und Beeinträchtigungen (z. B. Arata, 1998; Hong, Ilardi & Lishner, 2011). Der zerstörerische Effekt von negativen Reaktionen übersteigt sogar den Effekt, der auf bestimmte Merkmale des Missbrauchs, wie die Schwere oder die Dauer des Missbrauchs, zurückzuführen ist (Lange et al., 1999).
Bei Opfern, die sich erst als Erwachsene dazu entschließen, ihren Missbrauch offenzulegen, sind die Prozesse, die zur Offenlegung führen, vergleichbar mit jenen bei kindlichen Opfern. Auch bei erwachsenen Opfern wird die Auseinandersetzung mit der Frage einer möglichen Offenlegung von ähnlichen Bedenken, Befürchtungen, Erwartungen und Gefühlen begleitet. Entsprechend finden wir dieselben Einflussfaktoren und dieselben Begleitumstände, wie sie auch bei kindlichen Opfern zum Tragen kommen (Tener & Murphy, 2015). In gleicher Weise |196|wie in der Kindheit wird auch im Erwachsenenalter die Entscheidung von Zweifeln und Unsicherheiten begleitet und bleibt für Betroffene schwierig. Im Erwachsenenalter kommen jedoch noch weitere Zweifel und Unsicherheiten hinzu. So zweifeln erwachsene Opfer häufig an der Verlässlichkeit ihrer Erinnerungen, sie fragen sich, ob eine Offenlegung zum gegebenen Zeitpunkt überhaupt noch relevant ist und zur Verbesserung der eigenen Situation und des Befindens beitragen kann. Im Gegensatz zu kindlichen Opfern, die sich zumeist an ihre Eltern richten, erfolgt eine Offenlegung im Erwachsenenalter häufig gegenüber engen Freund:innen oder auch im therapeutischen Kontext (Arata, 1998; Lamb & Edgar-Smith, 1994). Nach Somer und Szwarcberg (2001) legen nur 5 % der erwachsenen Opfer ihren sexuellen Missbrauch gegenüber einem Familienmitglied offen.
Kindliche und erwachsene Opfer unterscheiden sich deutlich darin, wie bedeutsam soziale Skripte zum Thema sexueller Missbrauch für den Entscheidungsprozess sind. Wenn die Erlebnisse des Opfers, die Begleitumstände des sexuellen Missbrauchs und der weitere Verlauf von diesen Skripten abweichen, finden sich bei erwachsenen Opfern deutlich stärker ausgeprägte Zweifel und Bedenken, die gegen eine Offenlegung sprechen. Abweichungen liegen beispielsweise vor, wenn das Opfer nicht mit Gewalt zum Missbrauch gezwungen wurde, es während des Missbrauchs auch angenehme Gefühle erlebt oder keine schwerwiegenden Folgen davongetragen hat. Auch ist es für erwachsene Opfer bedeutsamer, wenn sie glauben, durch ihre Offenlegung mögliche weitere Opfer vor einem Missbrauch durch denselben Täter schützen zu können. Bei derartigen Konstellationen können sie sich eher zu einer Offenlegung entschließen. Diese Motive kommen besonders bei Opfern von intrafamiliärem Missbrauch zum Tragen (MacFarlane & Korbin, 1983). Auch haben Medienberichte über berühmte Personen, die missbraucht worden waren, einen deutlich stärker anstoßenden Effekt bei erwachsenen Opfern.
In allen Modellen, die den Entstehungszusammenhang von Folgeproblemen nach einem sexuellen Missbrauch erklären, sind kognitiv-emotionale Faktoren ein zentraler Bestandteil. Auch in der Aufrechterhaltung der Folgestörungen spielen Kognitionen und Emotionen eine wichtige Rolle. Daher wird eine effektive Bewältigung eines sexuellen Missbrauchs ohne die Veränderung dieser Variablen nicht möglich sein. In Kapitel 4.1.1 wurden bereits jene dysfunktionalen Bewertungen dargestellt, die sich auf die Interpretation des Missbrauchs und dessen Folgeprobleme beziehen. Da diese dysfunktionalen Bewertungen häufig das Erleben von Missbrauchsopfern prägen, ist es erforderlich, diese Kognitionen und die daran geknüpften Emotionen zu verändern, um Folgeprobleme und Störungen erfolgreich zu überwinden und die Anpassung zu verbessern.
|197|Die Problematik der Vermeidung, die von Missbrauchsopfern am häufigsten eingesetzte Bewältigungsstrategie, wurde bereits in Kapitel 4.2.1 ausführlich diskutiert. Der zentrale und unerwünschte Effekt von Vermeidung besteht darin, dass eine Veränderung dysfunktionaler Kognitionen und Emotionen verhindert wird. Die entsprechende Gegenmaßnahme wäre die Strategie der Konfrontation. Eine Konfrontation ist bei Opfern eines sexuellen Missbrauchs in vielfältiger Weise möglich und auch notwendig, wenn Folgeprobleme und Störungen reduziert und die Adaptation verbessert werden sollen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Konfrontation mit den Erinnerungen an den Missbrauch und den daran geknüpften Kognitionen und Emotionen. Dies kann bewusst auf der gedanklichen Ebene im Rahmen eines reflexiven Prozesses erfolgen. Darüber hinaus ist aber auch eine Konfrontation mit Stimuli zu empfehlen, die Erinnerungen, dysfunktionale Kognitionen und Emotionen direkt auslösen. Dies können Situationen oder Personen sein, die möglicherweise nur in Ansätzen an die Missbrauchssituation oder den Täter erinnern, es können aber auch Gedanken, Gefühlszustände oder Verhaltensweisen sein, die Erinnerungen und dysfunktionale Bewertungen und Emotionen aktiveren. Zentral ist, dass jene negativen Erlebenszustände bei der bzw. dem Betroffenen ausgelöst werden, die für die Beeinträchtigungen, die ein Opfer erlebt, letztlich verantwortlich sind.
Die Strategie der Konfrontation zielt im Wesentlichen darauf ab, eine Auseinandersetzung mit dysfunktionalen Kognitionen und Emotionen herzustellen. Dadurch wird eine Umstrukturierung der Kognitionen möglich, gleichzeitig wird sukzessive die Verknüpfung zwischen den entsprechenden Stimuli und den negativen Emotionen gelöst und eine Verknüpfung mit alternativen Emotionen erlaubt. Oftmals wird den Betroffenen erst im Laufe dieses Prozesses bewusst, welche problematischen Bedeutungen und Bewertungen sie dem sexuellen Missbrauch, dessen Folgen und sich selbst zugeschrieben haben. Das oberste Ziel dieses Prozesses besteht darin, die Verarbeitung und Integration der Missbrauchserlebnisse zu fördern. Kurzfristig ist diese Strategie zwar mit einer erhöhten Belastung verbunden, langfristig führt sie jedoch zu einer deutlichen Reduktion der Symptomatik und einer Verbesserung der Anpassung. Wie bereits ausgeführt setzt eine erfolgreiche Konfrontation jedoch voraus, dass die betroffene Person über hinreichend Kompetenzen und Ressourcen verfügt, um sich tatsächlich in zielführender Art und Weise mit den Ereignissen und den daran geknüpften kognitiv-emotionalen Prozessen auseinandersetzen zu können. Sind diese Ressourcen nicht vorhanden, wie beispielsweise bei jüngeren Kindern direkt im Anschluss an den Missbrauch, wird eine Konfrontation den gegenteiligen Effekt erbringen. Das Opfer wird sich nicht von den negativen Bewertungsprozessen distanzieren können und es wird erneut, wie bereits in der Missbrauchssituation, vom gesamten Komplex an negativen Emotionen und Bewertungen unkontrollierbar überschwemmt werden.
Die Strategie der kognitiven Umstrukturierung zielt somit darauf ab, dysfunktionale Kognitionen und Emotionen in funktionale Kognitionen und Emotionen über|198|zuführen. In Kapitel 4.1.2 wurde bereits ausführlich die empirische Evidenz zu diesem Bereich dargestellt und beschrieben, welche kognitiv-emotionalen Prozesse sich als funktional und welche sich als dysfunktional erwiesen haben. Die Ansatzpunkte für eine kognitive Umstrukturierung sind somit vielfältig.
Ein zentraler Bereich der kognitiven Umstrukturierung ist, dem sexuellen Missbrauch eine alternative Bedeutung beimessen zu können. Dieser Prozess des Reframings zielt darauf ab, die Missbrauchserlebnisse neu zu bewerten und alternative Bezüge herzustellen. Durch diese Strategie soll es gelingen, den Ereignissen des Missbrauchs einen Sinn, eine grundlegende Bedeutung für das eigene Leben, beimessen zu können. Das Erleben von Sinnhaftigkeit eines Ereignisses stellt ja einen wichtigen Resilienzfaktor für die psychische Gesundheit dar (siehe Kapitel 4.1.2). Diese Strategie wird gelingen, wenn die bei Missbrauchserlebnissen zumeist fehlende Verknüpfung mit dem autobiografischen Gedächtnis aufgelöst wird und Zusammenhänge mit weiteren autobiografischen Informationen hergestellt werden. Im Zuge dieses Prozesses werden die negativen Emotionen, die bisher mit den Ereignissen verknüpft waren, entkoppelt. Durch ein erfolgreiches Reframing wird es Opfern auch gelingen, sich von der Fokussierung auf Vergangenes zu lösen, den Blick verstärkt auf Zukünftiges zu richten und Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen, die sich vielleicht aus dem sexuellen Missbrauch und dessen Folgen ergeben. Diese Bewältigungsstrategie des Reframings wird von Opfern kaum direkt im Anschluss an den Missbrauch eingesetzt, sondern ist häufiger bei erwachsenen Opfern zu finden (Oaksford & Frude, 2003). Dies liegt sicherlich darin begründet, dass ein erfolgreiches Reframing nur bei entsprechenden Kompetenzen und Ressourcen möglich ist.
Ein weiterer Fokus der kognitiven Umstrukturierung liegt auf den Bereichen Schuld und Scham. Ein zentraler Baustein dafür ist, dass die Betroffenen das Erlebte und die damit verbundenen Gefühle adäquat verstehen und einordnen können. Mit dem Aufbau eines verbesserten Verständnisses über die Hintergründe des Missbrauchs, den Missbrauch selbst und dessen Folgen wird es möglich werden, interne Zuschreibungen von Verantwortung für die Geschehnisse auf externe Quellen zu verlagern. Infolge dieses Prozesses werden sich Gefühle von Schuld und Scham reduzieren. Auch der Prozess der Selbstvergebung kann besonders im Bereich der Scham eine wichtige Rolle spielen.
Selbstbewertungen sind ein weiterer zentraler Ansatzpunkt für diese Bewältigungsstrategie. Hier ist es wichtig, vorhandene negative Selbstbewertungen zu hinterfragen, positive Aspekte des eigenen Selbst und auch eigener Kompetenzen und Fähigkeiten zu erkennen und den Fokus des Denkens und Fühlens auf diese positiven Aspekte zu verlagern. Dies wird durch eine forcierte Verknüpfung mit positiven autobiografischen Selbstrepräsentationen gelingen. Eine Reflexion des Themas, wieviel Kraft und Ressourcen man besaß, um die Ereignisse hinter sich zu lassen und zu überstehen, aber auch eine Änderung der Sichtweise weg vom |199|Opfer hin zur bzw. zum Überlebenden, werden hier anzusprechen sein. Diese Prozesse ermöglichen es den Betroffenen, sich von der Rumination über die negativen Ereignisse in der Vergangenheit zu lösen und ein zukunftsorientiertes Denken und eine optimistische Sichtweise aufzubauen. Damit kann es gelingen, das Erleben von Selbstwirksamkeit insgesamt zu stärken – ein zusätzlicher zentraler Resilienzfaktor. Ein weiterer mit der Selbstbewertung in Zusammenhang stehender Bereich ist die Bewertung anderer Personen, interpersoneller Beziehungen und das von anderen Menschen ausgehende Gefährdungs- und Bedrohungspotenzial. Eine effektive Bewältigung in diesem Bereich zielt darauf ab, die generalisiert negativen Einschätzungen des Wertes der eigenen Person, des Wertes anderer Personen, aber auch des Wertes interpersoneller Beziehungen zu hinterfragen und zu einer differenzierten Sichtweise zu gelangen. Im Rahmen dieses Reflexionsprozesses wird es auch notwendig sein, die generalisiert negativen Intentionen, die anderen Menschen unterstellt werden, zu hinterfragen. Die alternativen Bewertungen sollten eine realistische Einschätzung sowohl positiver als auch negativer Aspekte der eigenen Person, anderer Personen und interpersoneller Beziehungen angemessen berücksichtigen.
Viele Psychotherapien setzen in der Behandlung von Opfern eines sexuellen Missbrauchs auf die Strategie der kognitiven Umstrukturierung. Vor allem bei wirksamen Psychotherapien ist diese Methode ein zentraler Bestandteil der Behandlung. Eine vertiefende Darstellung dieser Methode und der zu erzielenden Effekte findet sich daher in Kapitel 5.
Neben innerpsychischen Faktoren spielen auch soziale Aspekte für eine positive Bewältigung eines erlebten sexuellen Missbrauchs eine wichtige Rolle. Bei Betrachtung relevanter Faktoren aus dem sozialen Umfeld des Opfers sind im Prinzip zwei unterschiedliche Bereiche von Interesse. Einerseits Faktoren, die das Opfer unabhängig von den Erlebnissen des Missbrauchs in seiner Resilienz unterstützen, und andererseits Reaktionen aus dem sozialen Umfeld, wenn ein Opfer seinen Missbrauch offengelegt hat oder wenn lediglich ein Verdacht besteht, das Opfer selbst sich jedoch noch nicht explizit dazu geäußert hat.
Wie Eltern darauf reagieren, wenn ihr Kind einen sexuellen Missbrauch offenlegt, ist von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf. Ob Eltern ihrem Kind glauben und es ernst nehmen, entscheidet nicht nur über die Sicherheit des Kindes, sondern nimmt darüber hinaus wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung |200|von Störungen und Beeinträchtigungen. Von den Reaktionen der Eltern hängt es häufig auch ab, ob der Missbrauch angezeigt wird und das Kind zumindest die Chance erhält, dass die an ihm begangene Straftat verfolgt und geahndet wird. Man muss sich aber auch vor Augen halten, dass es für das soziale Umfeld eines Kindes, besonders für die Eltern und die engere Familie, zumeist eine massive Belastung bedeutet, wenn sie mit der Offenlegung eines sexuellen Missbrauchs an ihrem Kind konfrontiert werden. Entsprechend können die Reaktionen der nicht missbrauchenden Eltern oder anderer enger Familienangehöriger sehr vielschichtig sein.
Soziale Unterstützung ist insgesamt ein vielfältiges und multidimensionales Konstrukt. Abhängig von der spezifischen Bedürfnislage der Person, an die sich die Unterstützung richtet, sind unterschiedliche Dimensionen von Unterstützung bedeutsam. Entsprechend kann ein Opfer eines sexuellen Missbrauchs in vielfältiger Weise und in unterschiedlichen Bereichen von seinem sozialen Umfeld unterstützt werden. Für die Gruppe der Missbrauchsopfer erwiesen sich folgende Dimensionen als spezifisch relevant: Unterstützung durch Erhöhung von Sicherheit und Schutz, Unterstützung bei notwendigen Entscheidungen, Unterstützung durch Präsenz, Verfügbarkeit und Supervision, Unterstützung durch Empathie, Verständnisbereitschaft und Anerkennung sowie instrumentelle Unterstützung mit dem Ziel, den Lebensvollzug des Kindes zu erleichtern und professionelle Hilfe zu ermöglichen (Bolen, Dessel & Sutter, 2015).
Für die Bewältigung eines sexuellen Missbrauchs wird der Unterstützung durch enge Bezugspersonen des Opfers eine große Bedeutung beigemessen. Hier sind vor allem die Eltern relevant, denn Eltern bzw. der nicht missbrauchende Elternteil sind für die meisten Kinder die wichtigsten und engsten Bezugspersonen. Manchmal wird diese Rolle aber auch von anderen Betreuungspersonen eingenommen, wie Großeltern, älteren Geschwistern, Tagesmüttern oder Erzieher:innen.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Entscheidungsprozess, bis das Opfer seinen Missbrauch offenlegt, sich zumeist schwierig und langwierig gestaltet und es für Betroffene eine deutliche Erleichterung sein kann, wenn sie von engen Bezugspersonen direkt auf Veränderungen und möglicherweise vorhandene Probleme angesprochen werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Veränderungen beim Kind auch tatsächlich von den Bezugspersonen wahrgenommen werden. Es ist somit davon auszugehen, dass die Fähigkeit der Eltern zur Perspektivenübernahme ein wichtiger Faktor ist, der mit der Entwicklung von Auffälligkeiten und dem Ausmaß an positiver Bewältigung beim Kind in Zusammenhang steht. Jüngere Kinder, die nur eingeschränkt fähig sind, ihre Empfindungen und Gefühle adäquat einzuordnen und mitzuteilen, sind auf Bezugspersonen angewiesen, die über die nötigen Fähigkeiten verfügen, die inneren Befindlichkeiten ihres Kindes wahrzunehmen und das Verhalten und die Reaktionen des Kin|201|des adäquat zu interpretieren. Bei Kindern, die Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden sind, scheint diese Fähigkeit der Eltern von großer Bedeutung, weil Eltern auf diese Weise adäquat auf Belastungen ihrer Kinder reagieren und dem oft schwierigen und manchmal auch rätselhaften Verhalten ihrer Kinder mit mehr Verständnis begegnen können. Insofern können Eltern, wenn sie über hinreichende Kompetenzen zur Perspektivenübernahme verfügen, ihre Kinder bei der Bewältigung von Missbrauchserlebnissen besser unterstützen. Ensink, Bégin, Normandin und Fonagy (2017) gelang es, diese Zusammenhänge zu bestätigen. Bessere Kompetenzen der Mutter zur Perspektivenübernahme hingen mit einer geringer ausgeprägten Symptomatik bei ihren Kindern zusammen. Die Fähigkeit einer Mutter, sich in ihre Kinder hineinzuversetzen, reduzierte nicht nur das Risiko, dass Kinder Auffälligkeiten entwickelten – im internalisierenden und externalisierenden Bereich –, sondern half den Kindern auch die infolge des Missbrauchs entwickelten Auffälligkeiten und Beeinträchtigungen zu bewältigen. Ein interessantes Detailergebnis dieser Studie war, dass Mütter von sexuell missbrauchten Kindern eine deutlich geringer ausgeprägte Fähigkeit zur Perspektivenübernahme besaßen als Mütter, deren Kinder keinen Missbrauch erlebt hatten. Dies kann bedeuten, dass sexuell missbrauchte Kinder es ihren Müttern erschweren, sich in das Erleben ihres Kindes hineinzuversetzen. Es kann aber auch sein, dass diese Mütter bereits vor Stattfinden des Missbrauchs über eingeschränktere Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme verfügt haben. Um Kinder in der Bewältigung ihrer traumatischen Erlebnisse zu unterstützen, sollten jedenfalls Bezugspersonen in ihren Kompetenzen zur Perspektivenübernahme gestärkt werden.
Obwohl in der Fachwelt der mütterlichen Unterstützung eine hohe Relevanz beigemessen wird, wie ein missbrauchtes Kind seine Erlebnisse bewältigen kann, erbrachten die Studien insgesamt gesehen widersprüchliche Ergebnisse. Ergänzend sei erwähnt, dass ein Großteil dieser Studien die Reaktionen von Müttern untersuchte, nur wenige Studien wurden zu den Reaktionen von nicht missbrauchenden Vätern durchgeführt (Wamser-Nanney, 2017). Leventhal et al. (2010) haben sich – wie bereits weiter oben dargestellt – nicht nur mit den Sorgen und Bedenken der Opfer beschäftigt, sondern berichten auch, welche Themen Eltern bewegen, wenn sie erfahren, dass ihr Kind missbraucht worden ist. Eine zentrale Frage von Eltern ist, ob sie ihrem Kind glauben sollen. Besonders wenn es sich beim mutmaßlichen Täter um eine nahestehende Person handelt, bezweifeln Eltern häufig die Richtigkeit der Aussage ihres Kindes. Aber auch die Umstände der Offenlegung, wem sich das Kind anvertraut und wie detailliert es berichtet hat, können das Vertrauen der Eltern in die Aussagen ihres Kindes erschüttern. Eltern können oft auch nicht verstehen, warum ihnen ihr Kind nicht umgehend von seinen Erlebnissen berichtet hat. Manchmal sind Eltern beunruhigt oder enttäuscht, manchmal auch verletzt über eine verzögerte Offenlegung ihres Kindes. Besonders schwierig kann es für Eltern werden, wenn das Kind sich nicht ihnen, sondern einer |202|anderen Person anvertraut hat. Des Weiteren sind Eltern häufig mit Sorgen beschäftigt, ob ihr Kind durch den Missbrauch körperlich geschädigt wurde. Sie fragen sich auch, wie es ihnen gelingen soll, mit den zum Teil sehr starken Emotionen, die sie selbst in diesem Zusammenhang erleben, umzugehen. Sie sind im Zweifel darüber, wie sie es in Gesprächen – besonders mit ihrem Kind – schaffen können, von diesen heftigen Emotionen nicht überwältigt zu werden. Beschäftigt sind Eltern auch mit der Frage, wie sie mit ihrem Kind über die Vorfälle sprechen können oder ob dies überhaupt empfehlenswert ist. Eltern haben oft Bedenken, ob sie durch Gespräche beim Kind nicht immer wieder die Erinnerungen an den Missbrauch wachrufen und das Kind auf diese Weise einer übermäßigen Belastung aussetzen. Viele Sorgen der Eltern kreisen auch um die Frage, welche behördlichen Maßnahmen nun folgen werden, wie und wann der Täter bestraft wird. Alle diese Bereiche sind von hoher Relevanz in der Beratung und Begleitung der Eltern und Angehörigen, wenn ein Verdacht auf einen sexuellen Missbrauch besteht.
Auf der Basis eines umfassenden Reviews weisen Elliott und Carnes (2001) darauf hin, dass Mütter in der Regel ihren Kindern glauben, wenn diese einen sexuellen Missbrauch offenlegen und ein Großteil der Mütter sich auch beschützend und unterstützend verhält. Auch Ullman (2003) hält fest, dass die Hälfte bis zwei Drittel der Mütter den Aussagen ihrer Kinder vertraut. Erleben die Opfer hingegen, dass sie nach der Offenlegung ihres Missbrauchs von ihren Müttern nicht unterstützt werden, stellt dies eine große Belastung für die Opfer dar. Johnson und Kenkel (1991) konnten nachweisen, dass diese Belastung 23 % der Varianz der Symptomatik aufklärt. Das Ausmaß an mütterlicher Unterstützung dürfte somit die Entwicklung von Folgeproblemen und Beeinträchtigungen beim Opfer wesentlich beeinflussen. Doch selbst jene Mütter, die ihre Kinder unterstützen, zeigen auch inkonsistentes und ambivalentes Verhalten. Zudem scheint das Ausmaß an mütterlicher Unterstützung wesentlich davon abzuhängen, welches Verhältnis zwischen der Mutter und dem Missbrauchstäter besteht. Je enger diese Beziehung war, beispielsweise wenn eine aufrechte Partnerschaft zum Täter bestand, erwies sich die mütterliche Unterstützung als umso geringer (Everson, Hunter, Runyon, Edelsohn & Coulter, 1989). Die erlebte Dissonanz – einerseits ist die Person Täter, andererseits Lebenspartner – sowie Ängste um die eigene emotionale oder finanzielle Sicherheit dürfen als Einflussfaktoren nicht unterschätzt werden. Entsprechend erfährt in einer derartigen Konstellation ein erheblicher Anteil der Opfer nicht die erhoffte Unterstützung, sondern ist mit negativen Reaktionen, wie Schuldzuweisungen oder der Aufforderung, darüber Schweigen zu bewahren, konfrontiert (Lamb & Edgar-Smith, 1994). Pintello und Zuravin (2001) konnten in diesem Zusammenhang nachweisen, dass jene Mütter ihrem Kind eher glaubten und es eher beschützten, die älter waren, keine Beziehung zum Täter hatten und deren Kind kein sexualisiertes Verhalten zeigte.
Wamser-Nanney und Sager (2018) betrachten den Zweifel an den Aussagen des Kindes und die Bereitschaft der Mütter zur Unterstützung ihres Kindes als zwei |203|eng miteinander verknüpfte Variablen, wobei sie das Vertrauen in die Richtigkeit der Aussage des Kindes als Voraussetzung für die Bereitschaft der Mütter sehen, ihre Kinder emotional zu unterstützen. Sie konnten ein höheres Alter des Kindes und einen mehrmaligen Missbrauch als sehr robuste Prädiktoren für Vertrauen und Unterstützung isolieren. Zudem zeigten jene Mütter ein höheres Ausmaß an emotionaler Unterstützung, die besser über den Missbrauch informiert waren und mehr Missbrauchsdetails kannten. Keinen Einfluss auf Vertrauen und Unterstützung hatten hingegen Familiencharakteristika oder Charakteristika der Mütter, wie Einkommen oder Ausbildung.
Im Gegensatz zu den meisten früheren Studien, die einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an mütterlicher Unterstützung und der Anpassung der Kinder aufgezeigt hatten (Elliott & Carnes, 2001; Everson et al., 1989; Guelzow, Cornett & Dougherty, 2002), konnte eine jüngere Metaanalyse diesen Effekt von mütterlicher Unterstützung auf die Folgeprobleme nach einem Missbrauch nicht nachweisen (Bolen & Gergely, 2015). Bereits Merrill, Thomsen, Sinclair, Gold und Milner (2001) gelang es nicht, in einer breit angelegten Untersuchung an Navy-Rekrutinnen den Zusammenhang zwischen elterlicher Unterstützung und späterer Anpassung zu belegen. Zwar zeigte sich ein unidirektionaler Zusammenhang zwischen diesen beiden Variablen, in multivariaten Analysen, die auch die Schwere des Missbrauchs und weitere Bewältigungsstrategien mit einbezogen, war der Zusammenhang zwischen Unterstützung und Anpassung jedoch nicht mehr nachweisbar. Dieses Ergebnis lässt darauf schließen, dass die widersprüchlichen Ergebnisse möglicherweise darauf zurückzuführen sind, dass in manchen Studien die Effekte weiterer relevanter Einflussfaktoren nicht kontrolliert wurden. Zudem wurde elterliche Unterstützung in manchen Studien allgemein konzeptualisiert und nicht die gezielt auf den sexuellen Missbrauch bezogene Unterstützung erfasst. Es ist eine bekannte Tatsache, dass sich soziale Unterstützung generell positiv auf die Anpassung und psychische Gesundheit auswirkt. Daher wäre es für die Untersuchung des spezifischen Effektes von sozialer Unterstützung auf die Folgeprobleme nach einem sexuellen Missbrauch wichtig, den differenziellen Effekt einer missbrauchsspezifischen Unterstützung zu untersuchen.
Auch Wamser-Nanney (2017) konnte in einer neueren Studie der Variable mütterliche Unterstützung einen nur sehr schwachen prädiktiven Wert zuschreiben. Das Ausmaß an mütterlicher Unterstützung erbrachte nur in wenigen Symptombereichen (soziale Probleme, regelverletzendes Verhalten, sexualbezogene Sorgen) einen Effekt. Ein interessantes Nebenergebnis dieser Studie war, dass besonders alleinerziehende Mütter den Schilderungen ihrer Kinder keinen Glauben schenken und diese auch häufiger ihren Kindern die Verantwortung für den Missbrauch zuschreiben. Zudem zeigte sich, dass bei einer längeren Dauer des Missbrauchs und auch bei mehr Vorfällen Mütter ihre Kinder weniger emotional unterstützten. Da in der Entstehung von sexualisiertem Verhalten dem Fehlen von |204|mütterlicher Unterstützung ein besonderer prädiktiver Wert beigemessen wird, führten Wamser-Nanney, Sager und Campbell (2019) eine Folgeuntersuchung spezifisch zu diesem Symptombereich durch. Hier konnten sie zwar einen Zusammenhang zwischen mütterlicher Unterstützung, besonders emotionaler Unterstützung und sexualisiertem Verhalten nachweisen, doch war dieser relativ gering und bei Kontrolle anderer relevanter Prädiktoren (z. B. Gesamtausmaß an Verhaltensauffälligkeiten) verschwand dieser Zusammenhang.
Ob ein Opfer eines sexuellen Missbrauchs von seinem engeren sozialen Umfeld Unterstützung erfährt, ist sehr stark davon bestimmt, wie das Umfeld gegenüber dem Problemkreis des sexuellen Missbrauchs eingestellt ist. Diese Einstellung wiederum ist von kulturellen Faktoren abhängig, wobei kulturelle Einflüsse nicht nur für Minderheiten relevant sind, sondern alle Mitglieder unserer Gesellschaft davon beeinflusst werden (Fontes & Plummer, 2010). Für Opfer eines sexuellen Missbrauchs ist neben der Unterstützung durch enge Bezugspersonen auch die Unterstützung durch den weiteren Familien- und Freundeskreis wichtig. Es gibt Hinweise darauf, dass jugendliche Missbrauchsopfer mehr Unterstützung von ihren Freund:innen erhalten, während kindliche Opfer stärker von Familienmitgliedern unterstützt werden (Feiring, Taska & Lewis, 1998). Allein aufgrund von Unterschieden in ihrer sozialen Entwicklung hat bei jugendlichen und erwachsenen Opfern die soziale Unterstützung durch Freund:innen einen höheren Wert und in der Folge auch einen größeren Effekt auf Gesundheit und Adaptation als bei kindlichen Opfern.
Soziale Unterstützung kann die Wirkung von sexuellem Missbrauch deutlich abmildern (Frazier, Tashiro, Berman, Steger & Long, 2004; Murthi & Espelage, 2005). Runtz und Schallow (1997) konnten für soziale Unterstützung sogar einen stärkeren Effekt auf die Symptomatik und die Anpassung von Missbrauchsopfern nachweisen als für andere Bewältigungsstrategien. Soziale Unterstützung scheint sich besonders positiv auf Schuld- und Verantwortungszuschreibungen auszuwirken (McMilien & Zuravin, 1998). Auch bei psychotischen Erkrankungen konnte eine protektive Wirkung von sozialer Unterstützung nachgewiesen werden. Hervorzuheben ist der positive Effekt von emotionaler und instrumenteller Unterstützung bei weiblichen Opfern im späteren Erwachsenenalter (Gayer-Anderson et al., 2015). Zudem scheint das Erleben von sozialer Unterstützung Missbrauchsopfer dabei zu helfen, ihr Leben in eine positive Richtung zu verändern. Dieser Effekt zeigte sich besonders, wenn es Betroffenen gelungen war, im Bewältigungsprozess eine aktive Rolle einzunehmen (Frazier et al., 2004).
|205|Auch der Erhalt von emotionaler Unterstützung stärkt Opfer in ihren Bemühungen, einen sexuellen Missbrauch zu bewältigen. Dieser Effekt konnte besonders für die Unterstützung durch Personen, die nicht der Familie des Opfers angehören, nachgewiesen werden (Valentine & Feinauer, 1993). Hier scheint ein entspannender und angenehmer sozialer Austausch, der von positiven Gefühlen getragen wird, von besonderer Bedeutung zu sein. So weisen Erkenntnisse darauf hin, dass Opfer eines sexuellen Missbrauchs, die im sozialen Kontakt ein höheres Ausmaß an positiven Gefühlen ausdrücken, auch eine bessere Anpassung zeigen (Bonanno, 2008). Allerdings empfiehlt sich auch hier eine differenziertere Betrachtung. So erwiesen sich jene Opfer, deren Schilderung der Missbrauchserlebnisse von einem positiven Gefühlsausdruck begleitet war, als deutlich schlechter angepasst. Möglicherweise ist ein positiver Gefühlsausdruck in dieser spezifischen Situation als Vermeidungsverhalten einzuordnen. Da traumatische Ereignisse in der Regel negative Gefühlszustände auslösen, werden sie zumeist an negative Emotionen gekoppelt im Gedächtnis abgespeichert. Daher ist zu erwarten, dass eine Schilderung derartiger Ereignisse auch von negativen Gefühlen begleitet wird. Ein positiver Gefühlsausdruck kann somit kein „echter“ Gefühlsausdruck sein, vielmehr hilft er den Betroffenen, sich nicht mit jenen negativen Emotionen konfrontieren zu müssen, die eigentlich mit der geschilderten Situation verknüpft sind. Entsprechend ist dieses Verhalten nicht als positiver sozialer Austausch einzuordnen, sondern als Vermeidungsverhalten – jener Bewältigungsstrategie, die mit einem negativen Outcome in Zusammenhang steht (Bonanno et al., 2007).
Legt ein Opfer eines sexuellen Missbrauchs seine Erlebnisse offen, bleibt dieser Prozess zumeist nicht auf das familiäre Umfeld oder auf den Freundeskreis beschränkt. Häufig werden neben Einrichtungen des ärztlichen oder psychologischen Hilfesystems, wie Kinderschutzeinrichtungen, auch Strafverfolgungsbehörden und in der Folge Gerichte involviert.
So konnten Everson et al. (1989) aufzeigen, dass Inzestopfer, die nach der Offenlegung ihres Missbrauchs nur wenig Unterstützung von ihren Müttern erhielten, häufiger aus ihrer Familie herausgenommen und fremduntergebracht wurden. Eine Fremdunterbringung ist für Kinder zumeist ein zutiefst verunsicherndes Erlebnis, weil das Kind von seinen engsten Bezugspersonen getrennt wird und sein gewohntes Lebensumfeld verliert. Dennoch kann diese Maßnahme auch eine Chance bedeuten. So weist Phasha (2010) darauf hin, dass eine Fremdunterbringung das Sicherheitserleben des Kindes erhöht und auch das soziale Netzwerk und die Unterstützungsmöglichkeiten erweitert. Zudem hat sich gezeigt, dass eine |206|Fremdunterbringung den Zugang zu einer professionellen Behandlung erleichtert. Über diesen positiven Effekt hinaus ist es jedoch wichtig, dem Kind eine Aufrechterhaltung der Kontakte zu seinen früheren Bezugspersonen zu ermöglichen. Regelmäßige geschützte Kontakte zum Familienumfeld unterstützen das betroffene Kind zusätzlich in seiner Bewältigung.
Ob diese Einrichtungen vom Opfer als hilfreich und unterstützend erlebt werden, wird wesentlich vom Ablauf der Kontakte abhängen. Dabei ist von zentraler Bedeutung, ob das Kind die Erfahrung macht, dass man seine Angaben ernst nimmt und ihm glaubt. Professionelle Helfer:innen, Polizist:innen, Staatsanwält:innen und Richter:innen benötigen für die Abklärung von Verdachtsfällen ein fundiertes Wissen und eine entsprechende Erfahrung, um die Spezifika in den Aussagen von Opfern eines sexuellen Missbrauchs adäquat erkennen und einschätzen zu können. Die Studie von Al-Saif et al. (2018) beschäftigt sich mit unterschiedlichsten Berufsgruppen, die mit der Untersuchung und Betreuung von möglichen Missbrauchsfällen betraut sind. Es zeigte sich, dass Frauen, professionelle Helfer:innen im Gesundheitswesen und jene Personen, die eine umfassende Fortbildung zum Thema sexueller Missbrauch erhalten hatten, Verdachtsfälle deutlich sensitiver beurteilten, indem sie versuchten, falsch-negative Urteile möglichst zu vermeiden. Demgegenüber schätzten Männer, Ärzt:innen, Mitglieder der Strafverfolgungsbehörden und Personen, die in diesem Bereich keine Fortbildung erhalten hatten, die Angaben von möglichen Missbrauchsopfern deutlich kritischer ein. Diese Personen tendierten deutlich häufiger zu falsch-negativen Urteilen.
Das Vorgehen und das Verhalten von Strafverfolgungsbehörden haben einen bedeutsamen Einfluss auf das Erleben von Opfern eines sexuellen Missbrauchs. Abhängig davon, ob sich Opfer adäquat behandelt und mit ihrem Anliegen akzeptiert fühlen oder sie den Eindruck gewinnen, dass man sie nicht ernst nimmt und ihren Aussagen nicht glaubt, wird dies die Bewältigung unterstützen oder behindern. Auffallend ist, dass frühere Studien diesen Prozessen zumeist eine zusätzliche schädigende Wirkung auf Folgeprobleme und die Anpassung bei Missbrauchsopfern attestierten, neuere Studien hingegen durchaus auch positive Effekte nachweisen konnten. Vermutlich sind diese Unterschiede auf die deutlich veränderten Rahmenbedingungen zurückzuführen, unter denen Ermittlungen und Gerichtsprozesse geführt werden. Frühe Erkenntnisse, besonders zur potenziell schädigenden Wirkung von Einvernahmen und Befragungen von Missbrauchsopfern, haben zu einem deutlichen Wandel im Vorgehen der Polizei, der Staatsanwaltschaften und der Gerichte geführt. Das Vorgehen ist heute in einem hohen Maß am Opferschutz orientiert. Frühe Studien zeigten, dass Opfer eines sexuellen Missbrauchs, die nie in ein Gerichtsverfahren involviert waren, die geringste Belastung aufwiesen und die positivsten Verläufe nahmen. Demgegenüber zeigten die negativsten Verläufe jene Opfer, die mehrfach als Zeug:innen aussagen mussten, die Angst vor dem Täter hatten und bei denen es außer der Aussage des Kindes keine weiteren Beweise für den stattgefundenen Missbrauch gab. Auch eine län|207|gere Verfahrensdauer hatte einen negativen Einfluss auf die Anpassung des Opfers (Goodman et al., 1992; Runyan, Everson, Edelsohn, Hunter & Coulter, 1988). Zudem zeigte es sich, dass nicht der Prozessausgang oder die Anzahl an Befragungen relevant für die Belastung war, sondern vielmehr, ob das Opfer sich vor Gericht wiederholten, langandauernden, intensiven und auch hart geführten Befragungen stellen musste. Derartige Befragungen zeigten die negativsten Auswirkungen (Whitcomb et al., 1994). Demgegenüber scheint eine kontradiktorische Einvernahme der Opfer vor Gericht, bei der das Opfer nicht im Gerichtssaal unter Anwesenheit der gesamten Prozessbeteiligten einschließlich dem Beschuldigten befragt wird, sondern die Befragung in einem getrennten Raum durch Sachverständige oder Richter:innen durchgeführt wird, den Verlauf bei den Betroffenen durchwegs positiv zu beeinflussen.
Opfer eines sexuellen Missbrauchs setzen sowohl intuitiv als auch gezielt und überlegt die unterschiedlichsten Strategien ein, um mit ihren Missbrauchserlebnissen besser zurechtzukommen. Diese Strategien betreffen verschiedene Ebenen des Erlebens und Verhaltens, sie reichen von innerpsychischen Resilienzfaktoren über bestimmte kognitive Prozesse bis zu spezifischen Verhaltensstrategien des Opfers. Auch dem sozialen Umfeld des Opfers kommt eine wichtige Bedeutung für die Bewältigung des sexuellen Missbrauchs zu. Die Reaktionen des sozialen Umfelds oder Prozesse, die vom sozialen Umfeld initiiert werden, können die Bewältigungsbemühungen des Opfers beeinflussen. Insgesamt können diese Strategien, Reaktionen oder Prozesse ihr Ziel erreichen und das Opfer in seiner Bewältigung unterstützen, sie können aber auch den gegenteiligen Effekt bewirken und die Bewältigung beeinträchtigen.
Eine Schwierigkeit, mit der Opfer konfrontiert sind, besteht darin, dass manche dieser Strategien zwar kurzfristig erfolgreich sind, sie langfristig jedoch einer positiven Bewältigung im Weg stehen. Andere Strategien hingegen führen kurzfristig zu mehr Belastungen und entfalten ihren positiven Effekt erst langfristig. Da kurzfristige Effekte deutlich stärker verhaltenswirksam werden als langfristige Effekte, sind Opfer auf jeden Fall dazu verleitet, auf jene Strategien zu setzen, die ihnen kurzfristig Erleichterung und Hilfe bieten, selbst wenn die langfristigen negativen Effekte für die Opfer nicht absehbar sind. Eine generelle Beurteilung, ob die in Gang gesetzten Prozesse als funktional oder dysfunktional einzuschätzen sind, ist auf dieser Basis jedoch nicht möglich. Die Beurteilung wird immer von den Möglichkeiten und Bedürfnissen des Opfers oder den jeweils vorliegenden Bedingungen abhängen. Die aus der Forschung und praktischen Arbeit mit Opfern gewonnenen Erkenntnisse zur Bewältigung liefern insgesamt wichtige Hinweise für die Entwicklung therapeutischer und präventiver Strategien. Ziel dieser |208|Strategien muss es sein, förderliche Rahmenbedingungen zu schaffen und das Opfer in seiner Bewältigung zu unterstützen, um sowohl kurzfristige als auch langfristige Belastungen und Beeinträchtigungen effektiv zu reduzieren. Viele der in diesem Kapitel angesprochenen Faktoren und Prozesse werden daher in den folgenden Kapiteln wieder aufgegriffen.