In der psychotherapeutischen Behandlung von Opfern eines sexuellen Missbrauchs ist es immer wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Missbrauchsopfer ihr Leben und ihren Alltag oft seit langer Zeit um das Trauma und dessen Folgen herum organisiert haben und sie Initiativen, etwas daran zu verändern, oft mit großen Widerständen begegnen. Diese Verhaltenstendenz ist besonders bei erwachsenen Opfern zu beobachten. Zudem muss man sich dessen bewusst sein, dass wir in unserer therapeutischen Arbeit nur mit einer ganz bestimmten Gruppe von Missbrauchsopfern konfrontiert sind. Wir sehen in den meisten Fällen nur Betroffene, die infolge des Missbrauchs Folgestörungen oder Folgeprobleme entwickelt haben und deren Leidensdruck durch vorhandene Störungen und Probleme ein Ausmaß erreicht hat, dass sie sich letztlich doch dazu entschliessen, professionelle Hilfe aufzusuchen. Auch sind sehr viele der Betroffenen erst im Erwachsenenalter bereit, sich einer Behandlung ihrer Probleme zu stellen. Bei jenen, die eine Psychotherapie aufsuchen, handelt es sich somit um eine spezifische und auch kleine Untergruppe aller Missbrauchsopfer. Daran geknüpft ist die wichtige Frage der Generalisierbarkeit von Daten aus Psychotherapiestudien, weil diese Studien sich lediglich auf eine mehr oder minder kleine Teilgruppe von Missbrauchsopfern beziehen.
Warum sich Klient:innen zumeist erst im Erwachsenenalter, oft viele Jahre nach ihrem Missbrauch, therapeutische Hilfe suchen, kann unterschiedliche Ursachen haben. Viele dieser Ursachen haben wir bereits in Kapitel 4.2.3 kennengelernt, denn die Motive, die Betroffene an der Offenlegung ihres Missbrauchs hindern, verhindern auch das Aufsuchen einer psychotherapeutischen Behandlung. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass eine psychotherapeutische Behandlung erst begonnen wird, nachdem der sexuelle Missbrauch bereits offengelegt wurde. Zu einer Offenlegung des Missbrauchs kommt es häufig erst im geschützten Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung. Daher ist es für die psychotherapeutische Praxis wichtig, sich mit jenen Gründen auseinanderzusetzen, die Betroffene an der Aufnahme einer psychotherapeutischen Behandlung und an der Offenlegung ihrer Missbrauchserlebnisse hindern. Denn diese Motive und Gründe |210|weisen auf grundlegende und für die psychotherapeutische Behandlung wichtige kognitiv-emotionale Prozesse hin, die eng mit den Missbrauchserlebnissen in Zusammenhang stehen. Sie erklären auch so manche auf den ersten Blick vielleicht unverständliche Handlung der Klient:innen.
Der wohl bedeutsamste Grund, der Opfern die Aufnahme einer psychotherapeutischen Behandlung erschwert, ist das Bewusstsein, sich im Zuge einer Psychotherapie mit den Missbrauchserlebnissen auseinandersetzen zu müssen. Das Opfer weiß, dass es seine mehr oder weniger generalisierte Vermeidungshaltung gegenüber den Erinnerungen an den Missbrauch oder traumabezogener Stimuli wird aufgeben müssen. Dies bereitet Opfern Angst, denn aus ihrer Sicht haben diese Vermeidungsstrategien bislang immer einen sehr wirksamen Schutz vor negativen Gefühlen und Gedanken geboten. Diese Bewältigungsstrategie aufzugeben, bedeutet für Opfer die Gefahr, sich mit belastenden kognitiv-emotionalen Prozessen auseinandersetzen und schmerzhafte und negative Gefühle wiedererleben zu müssen. Nereo, Farber und Hinton (2002) konnten feststellen, dass Opfer eines sexuellen Missbrauchs eher gewillt sind, fremden Personen gegenüber persönliche Informationen über sich selbst preiszugeben als gegenüber intimen Partner:innen oder nahestehenden Personen. Dieses Ergebnis unterstreicht die Schwierigkeiten von Missbrauchsopfern, im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung ihre Strategie der Vermeidung aufzugeben. Denn intime Details aus dem eigenen Leben offenzulegen, bedeutet verletzbar und angreifbar zu werden.
Die Zuschreibung von Schuld und Verantwortung für den sexuellen Missbrauch ist ein zentraler kognitiv-emotionaler Prozess, mit dem sich Missbrauchsopfer allerdings nicht auseinandersetzen wollen. Neben negativen Gefühlen wie Schuld, Scham, Ekel und Angst können Kinder im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch durchaus auch positive Gefühle erleben. Sie können sich als anerkannt, als etwas Besonderes erleben, die körperliche und möglicherweise auch emotionale Nähe zum Täter kann bei ihnen Wohlbefinden auslösen, auch können sie sexuelle Lust oder Erregung empfinden. Diese widersprüchlichen Empfindungen können bei Missbrauchsopfern ein hohes Maß an Ambivalenz auslösen und die Bewertung nahelegen, dass sie das Erlebte vielleicht doch auch selbst gewollt haben. Missbrauchsopfer fürchten, dass auch andere diese Bewertung teilen und sie deshalb nicht nur als Opfer gesehen, sondern auch als Mitbeteiligte stigmatisiert werden. Ein weiterer Punkt, der diese Ambivalenz noch zusätzlich verstärken kann, ist der Umstand, dass Opfer häufig von den Tätern Vergünstigungen erhalten (z. B. Geschenke, besondere Erlaubnisse) oder einen Sonderstatus bzw. eine besondere Rolle zugeteilt bekommen. Dies wird von manchen Opfern bereitwillig akzeptiert und kann manchmal sogar Gefühle von Stolz und Freude auslösen. Die Zuschreibung von Verantwortung kann auch darin begründet sein, dass sich viele Opfer vorwerfen, die Übergriffe nicht verhindert zu haben. Kinder entwickeln diese Einschätzungen rund um Schuld und Verantwortung, aber zumeist nicht aus eigenem Antrieb. Dies sind vielmehr Rechtfertigungen, die Opfer häu|211|fig von den Tätern vermittelt bekommen und entsprechend übernehmen. Es kann aber auch sein, dass ein Opfer von seinem Umfeld mit derartigen Einschätzungen und Zuschreibungen konfrontiert wird, wenn dieses vom Missbrauch erfährt.
Ein weiterer Grund, der Opfern die Entscheidung, eine psychotherapeutische Behandlung aufzusuchen, deutlich erschwert, ist der massive Vertrauensbruch, den sie durch den sexuellen Missbrauch erfahren mussten. Sie mussten erleben, dass eine Person – möglicherweise sogar eine enge Vertrauensperson – unter Ausnutzung der eigenen Position Handlungen setzt, die ausschließlich der Befriedigung eigener Bedürfnisse dienen, ungeachtet dessen, was das Gegenüber dabei empfindet. Sie mussten erfahren, von anderen Menschen nicht respektiert und geschützt zu werden, dass niemand mit ihnen mitfühlt. Dieser Vertrauensbruch und das Bedrohungspotenzial, welches anderen Menschen infolge dieser Erlebnisse zugeschrieben wird, erschweren es deutlich, sich einer anderen Person anzuvertrauen. Diese Erfahrungen lassen eine psychotherapeutische Behandlung im Grunde sinnlos erscheinen.
Alle diese kognitiv-emotionalen Prozesse – Bewertungen, Zuschreibungen, Vorbehalte und negative Emotionen – können in der psychotherapeutischen Behandlung von Missbrauchsopfern bedeutsam sein. Sie können ein hohes Maß an Ambivalenz verursachen, die bei Missbrauchsopfern gerade zu Beginn der Therapie häufig auftritt. Diese Prozesse können auch den Verlauf der Behandlung deutlich behindern, wenn sie unbearbeitet bleiben.
Die Ausführungen in Kapitel 3 haben bereits verdeutlicht, dass Opfer eines sexuellen Missbrauchs häufig unter einer Vielzahl von komplexen und interagierenden Problembereichen leiden. Besonders bei jenen Opfern, die eine psychotherapeutische Behandlung aufsuchen, werden schwerwiegende Beeinträchtigungen vorliegen. Daher ist es wichtig, in einem ersten Schritt unter enger Beteiligung der Klient:innen eine sinnvolle Konzeptualisierung des Einzelfalles zu erarbeiten. Primär sollten sich Therapeut:innen einen Überblick zu den vorhandenen Problembereichen verschaffen und klären, wie diese Problembereiche miteinander in Zusammenhang stehen. Erst im Anschluss an eine sorgfältige Erfassung der individuellen Probleme und Schwierigkeiten sollten Überlegungen zum therapeutischen Vorgehen angestellt werden. Diese sollten aus dem individuellen Bedingungsgefüge abgeleitet und auf die Klient:innen individuell zugeschnitten sein. Ist es nicht möglich, bestehende Problembereiche gleichzeitig zu behandeln, muss aufgrund ihrer Stellung im Bedingungsgefüge und ihrer Relevanz entschieden werden, in welcher Reihenfolge sie behandelt werden sollen. Wird die Veränderung eines Problembereiches erst durch die Veränderung eines anderen Problembereiches ermöglicht und bleibt dies unberücksichtigt, kann es den Therapiefortschritt insgesamt gefährden oder verhindern.
Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass Klient:innen für sich ein plausibles Erklärungsmodell entwickeln. Klient:innen sollten verstehen, wie ihre vielfältigen |212|Probleme entstanden sind und in welcher Weise sie zusammenhängen. Diese psychoedukative Maßnahme zielt darauf ab, dass Klient:innen ein für sie nachvollziehbares Konzept zur Ätiologie ihrer Störungen aufbauen und auch erkennen, wie ihre Beeinträchtigungen mit den Missbrauchserlebnissen zusammenhängen. Über das Erleben von Sinnhaftigkeit und Bedeutung gelingt es den Klient:innen, Hilflosigkeit zu reduzieren und ein gewisses Maß an Kontrolle aufzubauen. Dieser Prozess des Einordnens, Verstehens und Nachvollziehen-Könnens ist bei den Klient:innen oft mit einer großen Erleichterung verbunden. Aufbauend auf diesen Prozess wird es für Klient:innen auch leichter, Ziele für die Therapie zu entwickeln.
Bei sexuell missbrauchten Klient:innen ist ein hohes Maß an Transparenz im therapeutischen Vorgehen von grundlegender Bedeutung. Durch ihre Erfahrungen des Benutzt-Werdens und des Kontrollverlustes ist die Angst, dass etwas geschehen könnte, was sie nicht wünschen, besonders groß. Daher neigen Opfer eines sexuellen Missbrauchs dazu, ihre Beziehungen und das Umfeld, von dem sie direkt betroffen sind, zu kontrollieren. Deshalb muss es gerade für diese Klient:innen nachvollziehbar sein, wie durch die gemeinsam entworfene therapeutische Strategie die gemeinsam festgesetzten Ziele erreicht werden können. Klient:innen sollten auf alles, was in der Therapie geschieht, vorbereitet werden und damit einverstanden sein. Die psychotherapeutische Behandlung von Opfern eines sexuellen Missbrauchs muss stets am zentralen Leitsatz orientiert sein, dass Entscheidungen über Inhalte und die Zielrichtung der Therapie von Klient:in und Therapeut:in gemeinsam gefällt werden. Sexuell missbrauchten Klient:innen sollte immer so viel Kontrolle wie möglich übertragen werden. Die notwendige Transparenz in der psychotherapeutischen Behandlung von Missbrauchsopfern geht über das normale Maß des erforderlichen Informed Consent hinaus.
Eine funktionsfähige therapeutische Beziehung ist eine notwendige Bedingung für eine effektive therapeutische Arbeit und die Erreichung der gesetzten Ziele. Die Sicherheit einer tragfähigen und unterstützenden Beziehung ermöglicht es Klient:innen, sich mit dem Trauma und den damit in Zusammenhang stehenden kognitiv-emotionalen Prozessen auseinandersetzen zu können.
In einer psychotherapeutischen Behandlung fungiert die Beziehung zur Therapeutin bzw. zum Therapeuten als Modell für eine Vertrauensbeziehung, die sowohl unterstützend und wertschätzend als auch tragfähig ist (Cohen, 2008). Über die Beziehung zur Therapeutin bzw. zum Therapeuten können die Klient:innen lernen, dass es möglich ist, mit einem anderen Menschen in einer klaren, eindeutigen und verlässlichen Weise verbunden zu sein und von diesem Menschen ohne |213|bestimmte Gegenleistungen Wertschätzung und Unterstützung erfahren zu können. Diese für Klient:innen neue Beziehungserfahrung aktiviert deren Bindungssystem. Im Zuge dieses Prozesses können Klient:innen ihre bisherigen Bindungserfahrungen reflektieren und damit Sichtweisen und Einstellungen gegenüber der eigenen Person und anderen Personen hinterfragen und verändern. Das interne Arbeitsmodell, die verinnerlichten Repräsentationen der eigenen Person und von sozialen Beziehungen können durch die Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung sukzessive verändert werden (Fonagy & Bateman, 2006). Auch in diesem Bereich kommt den Therapeut:innen eine wichtige Modellfunktion zu. Durch die Anerkennung, Wertschätzung und das Verhalten, das Therapeut:innen ihren Klient:innen gegenüber zeigen, sollen Klient:innen lernen, ihre Selbsteinschätzungen, ihr Selbstbild und auch das Verhalten sich selbst gegenüber zu verändern.
Der Aufbau einer therapeutischen Beziehung gestaltet sich jedoch bei sexuell missbrauchten Klient:innen häufig schwierig, da diese aufgrund ihrer Erfahrungen davor zurückscheuen, jemandem zu vertrauen. Sich einer anderen Person gegenüber zu öffnen, ist für sexuell missbrauchte Klient:innen häufig mit Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein assoziiert. Vielen Klient:innen fällt es daher schwer, sich auf die therapeutische Beziehung einzulassen und die enthaltenen Angebote anzunehmen. Therapeut:innen können ihre Klient:innen in diesem Prozess unterstützen, indem sie die Grenzen ihrer Klient:innen achten und respektieren, wobei sowohl körperliche als auch emotionale Grenzen bedeutsam sind. Klient:innen stehen einer Therapie, die sie oft jahrelang aufgeschoben haben, meist ambivalent gegenüber, da Therapie einerseits Hilfe verspricht, andererseits aber auch die Auseinandersetzung mit Gefühlen und Inhalten bedeutet, was jahrelang vermieden wurde. Diese Ambivalenz zeigt sich häufig darin, dass Klient:innen zu spät kommen, Termine absagen oder diese nicht einhalten. Therapeut:innen können auch auf die Probe gestellt werden, wie tragfähig und verlässlich die von ihnen angebotene Beziehung tatsächlich ist. Verläuft diese von den Klient:innen initiierte Überprüfung erfolgreich, unterstützt dies Klient:innen dabei, ihr internalisiertes Konzept über zwischenmenschliche Beziehungen zu hinterfragen und zu modifizieren. Gelingt es Therapeut:innen, gelassen und akzeptierend auf derartige Provokationen zu reagieren, zeigt dies den Klient:innen, dass Beziehungen möglich sind, in denen die Bedürfnisse beider Partner berücksichtigt werden können, ohne die Beziehung infrage zu stellen (Pearlman & Courtois, 2005).
Auch die konkrete Interaktion mit sexuell missbrauchten Klient:innen kann in einigen Bereichen schwierig werden. Viele dieser Klient:innen sind sehr sensibel gegenüber Kritik und Zurückweisungen. Daher wird für die psychotherapeutische Behandlung von Missbrauchsopfern empfohlen, von der sonst üblichen neutralen und nicht wertenden Haltung abzuweichen. Ein moralisch-solidarischer Umgang würde den spezifischen Bedürfnissen dieser Klient:innen deutlich mehr entsprechen. Das Erleben von Solidarität kann Klient:innen jedenfalls in ihrer Selbstak|214|zeptanz unterstützen. Insgesamt kann die Erfahrung, dass andere Menschen empathisch mitfühlen, die Selbstakzeptanz und die Fähigkeit zur Emotionsregulation deutlich verbessern (Paivio & Laurent, 2001).
Eine besondere Herausforderung in der psychotherapeutischen Behandlung von sexuell missbrauchten Klient:innen ergibt sich, weil Therapeut:innen oft widersprüchliche Botschaften an ihre Klient:innen vermitteln müssen. Einerseits ist es wichtig, die Schwere der traumatischen Erlebnisse und deren Folgen anzuerkennen, gleichzeitig muss den Klient:innen aber auch das Vertrauen vermittelt werden, dass sie in der Lage sind, vorhandene Beeinträchtigungen und Probleme zu bewältigen. Dabei ist es wichtig, den Klient:innen zu zeigen, dass Therapeut:innen mit ihnen mitfühlen und die Schwere der Beeinträchtigungen nachvollziehen können, ohne von den negativen Gefühlen und Bewertungen überwältigt zu werden. Auch hier können Therapeut:innen ein wichtiges Modell für den Aufbau von Fähigkeiten zur Emotionsregulation sein. Von großer Bedeutung ist, den Klient:innen zu vermitteln, dass die Gefühle, die sie nach dem sexuellen Missbrauch erleben, und die Bewertungen, die sie getroffen haben, nachvollziehbar, aber dennoch unangemessen sind. Klient:innen müssen erkennen, dass diese kognitiv-emotionalen Prozesse zu den Beeinträchtigungen und Problemen geführt haben und daher verändert werden sollten (Cohen, 2008).
Manche Klient:innen erleben auch sehr viel Ärger und Wut, die ohne einen für Außenstehende nachvollziehbaren Anlass hervortreten können und für die Betroffenen oft schwer kontrollierbar sind. Diese Gefühle können möglicherweise erstmals im geschützten Rahmen der Therapie gezeigt werden, und sich auch gegen die Therapeutin bzw. den Therapeuten richten. Zudem kann es für Therapeut:innen bei Opfern eines sexuellen Missbrauchs schwierig werden, die für eine therapeutische Arbeit notwendige Distanz zu wahren. Das Thema sexueller Missbrauch im Allgemeinen, besonders aber konkret geschilderte Erlebnisse und Vorfälle berühren Therapeut:innen in deutlich stärkerem Ausmaß als andere Themen, mit welchen sie üblicherweise konfrontiert werden. In solchen Situationen versuchen manche Therapeut:innen, Distanz wiederherzustellen, indem sie die Ebene der gefühlsmäßigen Beteiligung, Bedeutung und Bewertung verlassen und sich mit der rationalen Analyse von Situationen und Entwicklungen beschäftigen. Diese Reaktion ist für den Fortschritt in der Therapie jedoch hinderlich, weil Klient:innen dies als implizite Botschaft auffassen können, dass es selbst im Therapiesetting nicht „erlaubt“ ist, gewisse Themen anzusprechen.
Eine weitere Schwierigkeit in der therapeutischen Beziehung mit sexuell missbrauchten Klient:innen besteht darin, dass Klient:innen sexualisiertes Verhalten auch im Rahmen der Therapie zeigen können. Wenn Therapeut:innen nicht gelernt haben, dieses Verhalten entsprechend einzuordnen und professionell damit |215|umzugehen, kommt es leider nicht selten dazu, dass Klient:innen im Verlauf der Therapie erneut sexuell missbraucht werden. Eine Reviktimisierung im therapeutischen Kontext bedeutet für die Klient:innen einen weiteren und sehr massiven Vertrauensbruch. In dessen Folge werden bestehende negative Bewertungen von sozialen Beziehungen und die erlebte Gefährdung durch andere Menschen bestätigt und konsolidiert. Die Hemmschwelle, sich erneut professionelle Hilfe zu suchen, wird mit Sicherheit noch weiter zunehmen.
Um den therapeutischen Prozess zu optimieren und die therapierelevanten Aspekte wie Stigmatisierung, Tabuisierung, Vermeidung und Betroffenheit der Therapeut:innen in hinreichender Weise zu berücksichtigen, ist für behandelnde Therapeut:innen eine fundierte Selbsterfahrung von grundlegender Bedeutung. Diese Themen müssen im Rahmen der Selbsterfahrung hinreichend bearbeitet werden. Zudem ist eine engmaschige Supervision zu empfehlen. Therapeut:innen, die Missbrauchsopfer behandeln, müssen sich vergegenwärtigen, dass sie mit den Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten konfrontiert werden können und eventuell auch eigene Verletzungen, die diesen Themenbereich betreffen, erneut auftauchen können. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer gezielten themenspezifischen Selbsterfahrung, um auszuschließen, dass Therapeut:innen in ihrem Handeln von unbearbeiteten eigenen Erfahrungen oder ihrer eigenen Geschichte behindert werden. Denn unbearbeitete Erfahrungen von sexuellen Grenzverletzungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Interventionen gesetzt werden, in welchen Therapeut:innen aus der Ohnmachtsposition des Opfers heraus agieren. Derartige Interventionen sind nicht zielführend und stehen dem Therapiefortschritt und der Zielerreichung deutlich entgegen.
Eine Psychotherapie mit sexuell missbrauchten Klient:innen kann von Behandler:innen durchaus als traumatisierend erlebt werden. In diesem Zusammenhang wird von „stellvertretenden Traumatisierungen“ gesprochen. Harrison und Westwood (2009) konnten unterschiedliche Strategien isolieren, die Therapeut:innen dabei unterstützen, die nicht zu unterschätzenden Belastungen, die aus der Arbeit mit Traumatisierungsopfern für die Therapeut:innen entstehen, besser zu bewältigen. Obgleich es sich durchwegs um allgemein etablierte Bewältigungsstrategien und Resilienzfaktoren handelt, erscheint es zielführend, dennoch an dieser Stelle darauf hinzuweisen. Wichtig für Therapeut:innen ist, sich auszutauschen und trotz der erlebten Belastung bestehende Kontakte aufrechtzuerhalten. Zudem hilft ein achtsamer Umgang mit sich selbst, im aktuellen Erleben und im Hier und Jetzt verankert zu bleiben, sich von der Betroffenheit zu lösen und Entspannung zu finden. Weiter sollte einer möglichen Einengung des eigenen Denkens und der eigenen Perspektive bewusst entgegengearbeitet und die Komplexität menschlichen Erlebens und Verhaltens mit allen positiven und negativen Aspekten akzeptiert werden. Weitere Punkte sind ein aktiver, aber auch pragmatischer Optimismus im therapeutischen Handeln, eine ganzheitliche Acht|216|samkeit gegenüber dem eigenen Wohlbefinden, in der physische, psychische und emotionale Aspekte in gleicher Weise berücksichtigt werden. Ein sehr wichtiger Punkt besteht darin, die Grenzen des eigenen professionellen Handelns zu erkennen und auf deren Einhaltung zu achten, gleichzeitig aber mit den Klient:innen empathisch verbunden zu bleiben. Dies schließt auch die Einhaltung einer klaren und eindeutig professionellen Beziehung zu den Klient:innen mit ein. Die Erreichung gesetzter Ziele darf nicht aus dem Fokus verloren werden, um zu gewährleisten, dass die therapeutische Arbeit hinreichend befriedigend erlebt wird.
Sowohl die Expert Consensus Guideline Series (ECGS) (Foa, Davidson et al., 1999) als auch die International Society for Traumatic Stress Studies (ISTSS) (Bisson et al., 2019) empfehlen für die Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen Therapieansätze, die auf die Bearbeitung der traumabezogenen kognitiv-emotionalen Prozesse abzielen. Die von der International Society for Traumatic Stress Studies (ISTSS) veröffentlichten Richtlinien (Bisson et al., 2019; Forbes, Bisson, Monson & Berliner, 2020) basieren auf den Ergebnissen von 361 Einzelstudien und 208 Metaanalysen zur Therapie von Posttraumatischen Belastungsstörungen. Obgleich dieses Störungsbild nicht spezifisch bei Opfern eines sexuellen Missbrauchs, sondern auch bei anderen Traumata als Folgestörung zu finden ist und nicht alle Opfer eines sexuellen Missbrauchs eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln, sollen die Empfehlungen der ISTSS dennoch im Überblick dargestellt werden.
Die Empfehlungen der ISTSS zu den unterschiedlichen Therapiestrategien, die in der Behandlung einer Posttraumatischen Belastungsstörung zum Einsatz kommen, erfolgen anhand von vier Abstufungen. Die oberste Kategorie bedeutet eine starke Empfehlung und setzt die stärkste Evidenz voraus, verbunden mit der höchsten Wahrscheinlichkeit für einen Therapieerfolg. Dieser Kategorie nachgeordnet ist eine Standardempfehlung, die bei einer geringeren Stärke der Evidenz ausgesprochen wird. Die folgende Kategorie umfasst Empfehlungen „aufgrund einer sich entwickelnden Evidenz“ und beinhaltet alle Therapiestrategien, zu welchen noch wenige, jedoch vielversprechende Studienergebnisse vorliegen. Für Therapiestrategien der letzten Kategorie kann keine Empfehlung ausgesprochen werden, weil die Evidenz als unzureichend einzustufen ist oder sie zur Gänze fehlt (siehe Tabelle 5.1 und Tabelle 5.2).
|217|Tabelle 5.1: Empfehlungen der International Society for Traumatic Stress Studies (ISTSS) für die psychotherapeutische Behandlung von Erwachsenen (Bisson et al., 2019)
Stufe |
Therapiestrategie/Methode |
Starke Empfehlung |
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Standardempfehlung |
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Empfehlung aufgrund einer sich entwickelnden Evidenz |
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Keine Empfehlung |
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|218|Alle stark empfohlenen Therapiestrategien bauen im Wesentlichen auf die Methoden der Kognitiven Therapie und der Konfrontation als zentrale Therapieelemente auf. Dies trifft auch weitgehend auf die Therapiestrategien mit einer Standardempfehlung und einer sich entwickelnden Evidenz zu. Manche Strategien – besonders jene für Kinder und Jugendliche (siehe Tabelle 5.2) – verfolgen zusätzlich einen behavioralen Therapieansatz. Die Traumafokussierung ist ein weiteres gemeinsames Element der empfohlenen Therapiestrategien – auch wenn dies nicht aus allen Bezeichnungen direkt ablesbar ist. Bei einem Vergleich der empirischen Evidenz zu psychotherapeutischen Strategien fällt auf, dass die Evidenz im Erwachsenenbereich wesentlich umfangreicher ist als jene für Kinder und Jugendliche. Entsprechend umfassen die Empfehlungen der ISTSS für den Erwachsenenbereich deutlich mehr Therapiestrategien, gleichzeitig sind diese deutlich differenzierter als die Empfehlungen für den Kinder- und Jugendbereich. Die Empfehlungen für Kinder und Jugendliche beschränken sich im Wesentlichen auf die Traumafokussierte Kognitiv-behaviorale Therapie (TF-KVT) in unterschiedlichen Therapiesettings (Jensen, Cohen, Jaycox & Rosner, 2020). Auch das von Kim, Noh und Kim (2016) durchgeführte Review unterstreicht die hohe Effektivität von Kognitiv-behavioralen Strategien in der psychotherapeutischen Behandlung von kindlichen oder jugendlichen Missbrauchsopfern.
Tabelle 5.2: Empfehlungen der International Society for Traumatic Stress Studies (ISTSS) für Kinder und Jugendliche (Bisson et al., 2019)
Stufe |
Therapiestrategie/Methode |
Starke Empfehlung |
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Empfehlung aufgrund einer sich entwickelnden Evidenz |
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Keine Empfehlung |
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Zum Bereich der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörungen wird vermerkt, dass aufgrund der nur sehr geringen Datenbasis lediglich erste Hinweise auf die Wirksamkeit unterschiedlicher Therapiestrategien möglich sind. Die vorläufigen Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Intensivierung und eine spezifische Anpassung der Interventionen durch Sequenzierung der unterschiedlichen Therapiekomponenten indiziert sein dürften. Zudem hat es sich als zielführend erwiesen, die unterschiedlichen Therapiemodule flexibler einzusetzen und in stär|219|kerem Ausmaß den spezifischen Bedürfnissen der Klient:innen anzupassen. Besonders bei diesem Störungsbild wird der Einsatz von Booster-Sitzungen dringend empfohlen.
Das bedeutsamste Element der wirksamen psychotherapeutischen Strategien in diesem Bereich ist die Modifikation der mit dem Trauma in Zusammenhang stehenden kognitiven bzw. kognitiv-emotionalen Prozesse. Dabei handelt es sich um das zentrale Therapieziel aller Therapiestrategien, die für eine psychotherapeutische Behandlung von Klient:innen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung empfohlen werden. Eine Veränderung der beeinträchtigenden kognitiv-emotionalen Prozesse ist jedoch nur möglich, wenn sich Klient:innen jenen Stimuli, Situationen etc. stellen, durch welche diese kognitiv-emotionalen Prozesse ausgelöst werden. Da sich Klient:innen im Zuge dieses Therapieprozesses mit z. T. sehr starken Emotionen konfrontieren müssen, sollte die psychotherapeutische Behandlung von Opfern eines sexuellen Missbrauchs neben der Strategie der Traumaexposition auch Strategien enthalten, die dem Aufbau von Fähigkeiten zur Emotionsregulation dienen. Diese beiden Therapiestrategien sind die zentralen Bausteine einer evidenzbasierten Psychotherapie von Opfern eines sexuellen Missbrauchs. Beginnen Klient:innen im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung ihre zumeist sehr umfassende Vermeidungsstrategie sukzessive aufzugeben, ist dies anfänglich mit einer deutlichen Belastung der Klient:innen verbunden. Bei der Konfrontation müssen sich Klient:innen mit belastenden kognitiv-emotionalen Prozessen auseinandersetzen – wie dem Empfinden von Schuld, Ekel bzw. Selbst- oder Fremdabwertungen. Die Konfrontation und Auseinandersetzung mit den zumeist lange vermiedenen negativen kognitiv-emotionalen Prozessen kann zu einer deutlichen Destabilisierung der psychischen Situation der Klient:innen führen und in der Folge das Vermeidungsverhalten erneut verstärken, wenn die Betroffenen nicht in der Lage sind, die auftauchenden negativen Prozesse hinreichend zu regulieren. Daher ist der Aufbau entsprechender Ressourcen von entscheidender Bedeutung für den Therapieerfolg.
Bei Missbrauchsopfern – wie bei allen Opfern von Typ-II-Traumatisierungen – ist es besonders wichtig, die konkrete Therapieplanung mit den jeweils vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen der Betroffenen abzustimmen. Opfer von frühen und schwereren Traumatisierungen können von einem zu raschen und forcierten Vorgehen überfordert sein. Das hohe Ausmaß an Erregung, das Klient:innen in solchen Situationen erleben, kann die Verarbeitung neuer Informationen und Er|220|fahrungen deutlich behindern. Bei Überforderung können bestehende Angststrukturen sogar weiter stabilisiert und verfestigt werden (Ehlers et al., 1998; Johnson, Pike & Chard, 2001; Wolfsdorf & Zlotnick, 2001). Wenn Klient:innen das nötige Mindestmaß an Kontrolle nicht herstellen können, fühlen sie sich ihren negativen Gedanken und Gefühlen hilflos ausgeliefert und brechen häufig die Therapie ab. Daher wird besonders bei Klient:innen mit frühen Traumatisierungen und einer ausgeprägten emotionalen Instabilität empfohlen, eine Traumaexposition erst durchzuführen, wenn dafür nötige Kompetenzen und Ressourcen aufgebaut wurden. Klient:innen müssen lernen, Emotionen zuzulassen, diese zu beeinflussen und zu modellieren, sie müssen Sicherheit gewinnen, diese Prozesse tatsächlich kontrollieren zu können (Cloitre et al., 2010). Diese Empfehlung eines zweiphasigen Vorgehens trägt dazu bei, die häufig stattfindenden Therapieabbrüche zu reduzieren.
Wie generell bei psychotherapeutischen Behandlungen ist auch bei der Psychotherapie mit Opfern eines sexuellen Missbrauchs der Therapieabbruch ein wichtiges Thema. Denn Therapieabbrüche bergen immer die Gefahr einer Exazerbation und Chronifizierung der bestehenden Symptomatik. Eine sehr breit angelegte Metaanalyse zu psychotherapeutischen Behandlungen im Allgemeinen ergab eine Dropout-Rate von 19.7 %. Höhere Dropout-Raten wiesen jüngere Klient:innen und Klient:innen mit schlechterer Ausbildung auf. Höhere Raten waren auch bei Therapiestrategien zu finden, die nicht spezifisch auf ein bestimmtes oder das jeweils vorliegende Störungsbild ausgerichtet waren. Auch Strategien, die nicht manualisiert oder zeitlich begrenzt waren oder von Therapeut:innen in Ausbildung durchgeführt wurden, wiesen höhere Dropout-Raten auf. Keinen Einfluss hatte hingegen die Therapieschule oder das Therapiesetting (Einzel- oder Gruppensetting) (Swift & Greenberg, 2012).
In Therapien mit Opfern eines sexuellen Missbrauchs kann auf der Basis vorliegender Daten von einer Dropout-Rate zwischen 20 % und 25 % ausgegangen werden (z. B. Harte, Hamilton & Meston, 2013). Diese Rate liegt somit geringfügig höher als in der allgemeinen Psychotherapiepopulation. Bei kindlichen Opfern weist die Studie von Chasson, Mychailyszyn, Vincent und Harris (2013) sogar auf eine Rate von 40 % hin. Die Analyseergebnisse zu Prädiktoren für ein Dropout bei Missbrauchsopfern decken sich im Großen und Ganzen mit jenen, die für psychotherapeutische Behandlungen generell relevant sind. Die Ergebnisse bei Missbrauchsopfern sind allerdings nicht sehr konsistent. Während manche Studien für jüngere Klient:innen höhere Dropout-Raten nachweisen konnten (z. B. Cloitre, Stovall-McClough, Miranda & Chemtob, 2004; Harte et al., 2013), erwies sich in anderen Studien das Alter als kein signifikanter Prädiktor (z. B. Fletcher, Elklit, Shevlin & Armour, 2017). Auch hinsichtlich der Schwere der Symptomatik sind die Ergebnisse nicht einheitlich (z. B. Fletcher et al., 2017; Zayfert et al., 2005). Konsistentere Ergebnisse liegen zum Einfluss des sozioökonomischen Status vor. Missbrauchsopfer mit einem geringeren Status und einer schlechteren Ausbildung |221|brechen häufiger eine psychotherapeutische Behandlung ab (Fletcher et al., 2017; Harte et al., 2013). Zudem konnte ein schwerer Missbrauch und das gleichzeitige Vorkommen von Vernachlässigung, d. h. eine Polyviktimisierung, als relevanter Prädiktor für Therapieabbrüche isoliert werden (z. B. Fletcher et al., 2017; McDonagh et al., 2005).
Auf der Basis der vorliegenden Literatur gelten Traumafokussierende Kognitiv-behaviorale Therapiestrategien zumindest in den USA als der Goldstandard (z. B. Cohen & Mannarino, 2012) und sind dort entsprechend breit etabliert (Collin-Vézina & Garrido, 2017). Für diese Verfahren konnten hohe Effektstärken nachgewiesen werden (d = 2.10 bis 2.82). Demgegenüber erwiesen sich traditionelle Verfahren, die im Wesentlichen auf die psychische Stabilisierung der Klient:innen abzielen, als nicht effektiv im Bereich der Traumasymptomatik. Sie werden daher für die psychotherapeutische Behandlung von Missbrauchsopfern nicht empfohlen (siehe Tabelle 5.1).
Die Publikationen der International Society for Traumatic Stress Studies (ISTSS) (Bisson et al., 2019; Forbes et al., 2020) verdeutlichen, dass für die psychotherapeutische Behandlung von Missbrauchsopfern unterschiedliche Strategien und Methoden entwickelt wurden, die sich trotz gemeinsamer Ziele und Elemente doch in ihren Schwerpunktsetzungen und Herangehensweisen unterscheiden. An den Empfehlungen der ISTSS (siehe Tabelle 5.1) fällt jedoch auf, dass der auf Marsha Linehan zurückgehende Ansatz der Dialektischen Verhaltenstherapie (DVT) (Swales, 2017) nicht aufscheint. Dieser Ansatz wird weder empfohlen noch wird er wegen mangelnder Wirksamkeit verworfen. Auch in der älteren Expert Consensus Guideline (Foa, Davidson et al., 1999) bleibt dieser Therapieansatz unerwähnt. Dies ist insofern interessant, weil auch dieser Ansatz sich auf die Bearbeitung kognitiv-emotionaler Prozesse und die Konfrontation als zentrale Therapieelemente stützt. Trotz der Tatsache, dass vereinzelt Studien zu finden sind (z. B. Kimbrough, Magyari, Langenberg, Chesney & Berman, 2010; Steil, Dyer, Priebe, Kleindienst & Bohus, 2011), ist der dialektisch-verhaltenstherapeutische Ansatz im internationalen Raum möglicherweise in der Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen zu wenig verbreitet. Die vorliegende empirische Evidenz weist jedoch auf eine hohe Wirksamkeit bei Opfern von sexuellem Missbrauch hin (Bohus & Priebe, 2018; Steil et al., 2018). Diese Strategie erwies sich besonders bei der Veränderung von Scham, Schuld, Ekel, Angst und bei der Akzeptanz von Gedanken, Emotionen und Umständen, die nicht verändert werden können, als sehr wirksam (Görg et al., 2017).
Auch im Ansatz der Narrativen Expositionstherapie sind die Traumaexposition und die Modifikation relevanter kognitiv-emotionaler Prozesse zentrale Elemente. Dieser Therapieansatz erhält von der ISTSS zwar keine starke Empfehlung, er wird jedoch der Stufe der Standardtherapien zugeordnet. Dieser biografisch-trauma-aufarbeitende Ansatz unterstützt die Auseinandersetzung mit der eigenen Biogra|222|fie, mit traumatischen Erfahrungen im Lebensverlauf und den Entwicklungen, die an bestimmte Ereignisse im Leben geknüpft sind. Das übergeordnete Ziel dieses Ansatzes ist, die Kontrolle über die eigene Geschichte wiederzugewinnen (Schauer, Neuner & Elbert, 2005). Bei der PTSD-Symptomatik konnten für diesen Therapieansatz hohe Effektstärken nach Therapieabschluss (g = 1.18) und auch im Follow-up (g = 1.37) berechnet werden, die Effektstärken für die Behandlung einer komorbiden depressiven Symptomatik bewegen sich im mittleren Bereich (g = 0.47 bis 0.60). Im Vergleich mit kognitiv-behavioralen Therapiestrategien zeigt die narrative Expositionstherapie hingegen eine geringere Wirksamkeit (Lely, Smid, Jongedijk, Knipscheer & Kleber, 2019).
Der Ansatz des Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) (Shapiro & Forrest, 2010; Shapiro, 2017) wird von der ISTSS für die Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen sehr empfohlen (siehe Tabelle 5.1). Diese starke Empfehlung basiert auf der hohen Wirksamkeit dieses Ansatzes. Bei EMDR handelt es sich gleichfalls um ein traumafokussierendes Verfahren. Die zentralen Ziele bestehen jedoch in der Weiterverarbeitung von fragmentiert abgespeicherten traumaspezifischen Erinnerungen und deren Integration in das autobiografische Gedächtnis. Diese Weiterverarbeitung soll durch eine gleichzeitige bilaterale Stimulation erreicht werden, die zumeist über Augenbewegungen erfolgt. Es können aber auch akustische oder sensorische Stimulationen eingesetzt werden. Diese Strategie verfolgt das Ziel, positive kognitiv-emotionale Prozesse aufzubauen, diese zu implementieren und in der Folge alternative Verhaltens- und Bewältigungsstrategien zu erarbeiten. Der Wirkmechanismus der für diesen Therapieansatz spezifischen Intervention, die bilaterale Stimulation, liegt in einer nachgewiesenen Veränderung neurophysiologischer Prozesse (Pagani, Högberg, Fernandez & Siracusano, 2013). Im Zuge einer EMDR-Behandlung kommt es zu einer erhöhten Aktivität in bestimmten Gehirnregionen, die Konnektivität zwischen unterschiedlichen Gehirnregionen wird verbessert und damit werden relevante Gedächtnisprozesse erleichtert. Insgesamt wird die neuronale Aktivität verschoben – weg von den limbischen Regionen, die im Wesentlichen für die Verarbeitung von emotionalen Zuständen verantwortlich sind, hin zu kortikalen Regionen, wo Inhalte auf einer höheren kognitiven Ebene verarbeitet werden. Die Ergebnisse von Mutluer et al. (2018) bestätigen die Fundiertheit von Therapiestrategien, die auf eine Konfrontation mit dem Trauma, die Verarbeitung und Integration dieser Erlebnisse und eine gleichzeitige bilaterale Stimulation der neuronalen Strukturen setzen (van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2006). Studien belegen, dass diese therapeutischen Interventionen nicht nur Effekte auf der Ebene des Verhaltens und Erlebens der Betroffen erbringen, sondern dass sich auch neuronale Strukturen nachhaltig verändern lassen (z. B. Laugharne et al., 2016).
Das Therapierationale all dieser unterschiedlichen therapeutischen Strategien besteht darin, die Erinnerungen an das Trauma in Form von emotionalen Assoziationen in das autobiografische Gedächtnis zu integrieren und auf diese Weise neue |223|Gedächtnisrepräsentationen auszubilden. In diesem Prozess soll das Traumagedächtnis mit bestehenden Gedächtnisinhalten neu verknüpft und in das „normale“ deklarative Gedächtnis überführt werden. Dadurch gehen die negativen Begleiterscheinungen der emotionalen Assoziationen verloren – wie Flashbacks, Alpträume und das damit verbundene Hyperarousal. Dieser Prozess ebnet zudem den Weg für eine Modifikation der daran geknüpften negativen kognitiv-emotionalen Prozesse, wie negative Bewertungen, Schuld- und Schamgefühle, Selbstabwertungen etc. Die Therapie darf sich jedoch nicht darauf beschränken, lediglich die Erinnerungen an die Missbrauchserlebnisse anzustoßen oder über die damit verbundenen Gefühle zu sprechen. Eine konstruktive und effektive Verarbeitung schließt auch mit ein, dass sich Klient:innen damit auseinandersetzen, welche Bedeutungen und Bewertungen sie diesen Erlebnissen über die Jahre hinweg zugeschrieben haben und wie sie durch diese Bewertungen in ihrem Verhalten beeinflusst wurden. Insgesamt orientieren sich diese Strategien somit an den in Kapitel 3.1 skizzierten Ätiologiemodellen und setzen an jenen Faktoren an, denen bei der Entstehung von Störungen und Problemen nach einem sexuellen Missbrauch Relevanz zugeschrieben wird.
Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass Opfer eines Missbrauchs häufig Vermeidung und Verleugnung als zentrale Strategien einsetzen, um die Missbrauchserlebnisse und deren Folgen zu bewältigen. Diese Vermeidungsstrategien zeigen sich auf allen Ebenen des Erlebens und Verhaltens – davon betroffen sind somit nicht nur das konkrete Verhalten, sondern auch Kognitionen und Emotionen. Bereits ausgeführt wurde auch, dass Vermeidung das Opfer zwar kurzfristig entlastet, langfristig jedoch wesentlich zu einer Verstärkung und Generalisierung der Folgeprobleme beiträgt. Indem Vermeidung die kognitiv-emotionale Verarbeitung des Erlebten verhindert, drängen Gedanken und Erinnerungen an den Missbrauch immer wieder ungewollt ins Bewusstsein. Dies wiederum ist dafür verantwortlich, dass Betroffene vielfältige Folgeprobleme entwickeln können. Eine effektive psychotherapeutische Behandlung muss daher diesen Kreislauf der Vermeidung und Verleugnung unterbrechen, um eine kognitiv-emotionale Verarbeitung zu ermöglichen.
Darüber hinaus müssen in der Psychotherapie von Missbrauchsopfern noch weitere relevante Themenbereiche bearbeitet werden. Vor allem die Selbstwahrnehmung der Klient:innen, ihre bisher im Verlauf genutzten Bewältigungsstrategien und deren Effektivität im Umgang mit den Folgeproblemen des sexuellen Missbrauchs sollten unbedingt im Rahmen der Psychotherapie thematisiert werden. Ziel sollte es sein, funktionale Strategien beizubehalten oder zu verstärken und dysfunktionale Strategien entsprechend abzubauen. Zudem wird es in den meisten Fällen nötig sein, die Folgestörungen und Probleme, die sich im Verlauf entwickelt haben, durch den Einsatz von spezifischen, für die jeweiligen Störungsbereiche entwickelten Strategien und Methoden zu behandeln. Die Auffassung, dass eine Verarbeitung der Missbrauchserlebnisse auch das Verschwinden der aktuel|224|len Probleme und Schwierigkeiten zur Folge hat, ist noch heute sehr verbreitet. Dies gelingt leider nur sehr selten, weil die Probleme der Klient:innen zwar als Folge des Missbrauchs entstanden sind, sie haben sich zumeist im Verlauf der Jahre soweit verselbständigt, dass sie nur durch eine spezifische und unabhängige Behandlung überwunden werden können.
Ein an den Einzelfall angepasstes Therapiekonzept ist daher von grundlegender Bedeutung. Eine manualgestützte Therapie schließt nicht aus, das therapeutische Vorgehen in seinen konkreten, zu bearbeitenden Inhalten individuell zu gestalten und den konkreten Therapieablauf individuellen Erfordernissen anzupassen – auch hinsichtlich des Einsatzes unterschiedlicher Therapiemodule für bestehende Störungsbereiche. Zu Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung sollten sich Therapeut:innen einen Überblick über jene kognitiv-emotionalen Prozesse verschaffen, die das Denken und Fühlen der jeweiligen Klient:innen dominieren. Der Einsatz des Posttraumatic Cognitions Inventory (PTCI) (Foa, Ehlers, Clark, Tolin & Orsillo, 1999) kann dabei sehr hilfreich sein. Das Verfahren wurde von Ehlers und Boos ins Deutsche übersetzt (Fragebogen zu Gedanken nach traumatischen Erlebnissen) (Ehlers, 1999). Gegebenenfalls sollte ergänzend erhoben werden, welche Erinnerungen von den Klient:innen als besonders belastend erlebt werden. In diesem Zusammenhang sollte auch exploriert werden, welche Bewertungen mit diesen Erinnerungen in Zusammenhang stehen, welche Emotionen durch die Erinnerung und die damit verknüpften Bewertungen ausgelöst werden. Zudem ist es wichtig zu explorieren, ob und in welchem Ausmaß die Klient:innen vermeiden, sich mit diesen Erinnerungen zu konfrontieren und ob diese Erinnerungen vielleicht auch mit dissoziativen Symptomen verknüpft sind.
In einem nächsten Schritt sollten sich Therapeut:innen einen umfassenden Überblick zu weiteren vorhandenen Problembereichen verschaffen und klären, wie diese Problembereiche miteinander in Zusammenhang stehen. Hier empfiehlt sich der Einsatz von strukturierten klinischen Interviews, durch welche systematisch und in strukturierter Form Informationen erhoben werden können, welche psychischen Störungen tatsächlich vorliegen. Strukturierte Interviews unterstützen Therapeut:innen in ihrem diagnostischen Vorgehen. Sie helfen, systematisch alle relevanten Bereiche abzuklären und keine Störung bzw. keinen Problembereich zu übersehen. Klinische Interviews sind hoch effizient und sehr praktikabel, um sich einen umfassenden Überblick über vorhandene Auffälligkeiten und Störungen zu verschaffen und werden zudem von Klient:innen sehr positiv aufgenommen (Bruchmüller, Margraf, Suppiger & Schneider, 2011; Suppiger et al., 2009). Für den Kinderbereich existieren das Kinder-DIPS (Schneider, Pflug, In-Albon & Margraf, 2017) und das Potsdamer Kinder-Interview für 6- bis 12-Jährige (POKI) (Esser et al., 2017). Auch der Einsatz der Achenbach-Skalen ist durchaus geeignet (Döpfner, Plück & Kinnen, 2014; Plück, Scholz & Döpfner, 2022). Ebenso können Diagnose-Checklisten angewandt werden, diese bergen jedoch die Ge|225|fahr, Störungsbereiche zu übersehen, die nicht direkt von den Klient:innen angesprochen werden. In diesem Bereich existiert das Diagnostik-System für psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-5 für Kinder und Jugendliche (DISYPS-III) (Döpfner & Görtz-Dorten, 2017) und das Psychopathologische Befund-System für Kinder und Jugendliche (CASCAP-2) (Döpfner et al., 2022). Bei erwachsenen Klient:innen stehen folgende klinische Interviews zur Verfügung: das Strukturierte Klinische Interview für DSM-5-Störungen – Klinische Version (SCID-5-CV) (Beesdo-Baum, Zaudig & Wittchen, 2019a) und das Strukturierte Klinische Interview für DSM-5 – Persönlichkeitsstörungen (SCID-5-PD) (Beesdo-Baum, Zaudig & Wittchen, 2019b), das Diagnostische Interview bei psychischen Störungen (DIPS) (Margraf, Cwik, Suppiger & Schneider, 2017) und das Diagnostische Expertensystem für Psychische Störungen (DIA-X) (Wittchen, Perkonigg & Pfister, 1997). Achenbach-Skalen (Achenbach, 2014) und Diagnose-Checklisten für ICD-10 (IDCL) (Hiller, Zaudig & Mombour, 1995) stehen auch für Erwachsene zur Verfügung.
Ergänzend zur Erfassung vorhandener Störungen und Beeinträchtigungen ist es wichtig zu explorieren, wie die Betroffenen diese Beeinträchtigungen selbst einschätzen und bewerten. Erst danach sollten Überlegungen zum therapeutischen Vorgehen angestellt werden. Dabei ist zu beachten, das konkrete therapeutische Vorgehen aus dem individuell vorliegenden Bedingungsgefüge abzuleiten und die zu bearbeitenden Themen und Prozesse individuell den Klient:innen anzupassen. Die Therapieplanung ist oftmals mit dem Problem verbunden, dass es nicht möglich ist, die manchmal sehr vielfältigen Störungen und Probleme durch eine einzige gezielte Intervention zu beseitigen. Deshalb ist es erforderlich zu entscheiden, in welcher Reihenfolge man die Störungen und Probleme in Angriff nehmen will. Diese Entscheidung sollte immer davon geleitet sein, welchen Einfluss die unterschiedlichen Beeinträchtigungen auf die psychische Situation und das Wohlbefinden der Klient:innen insgesamt haben. Ein weiteres relevantes Kriterium ist ihre jeweilige Stellung im Bedingungsgefüge. Oftmals sind Problembereiche oder Störungen funktional miteinander verknüpft und die erfolgreiche Veränderung eines Problembereiches setzt die Veränderung eines anderen Problembereiches voraus. Daher ist es für eine zielführende Therapieplanung wichtig, die insgesamt bestehenden funktionalen Zusammenhänge immer im Auge zu behalten. Bleiben diese unberücksichtigt, kann dies den Therapiefortschritt gefährden oder sogar verhindern.
Die generelle Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlungen von Opfern eines sexuellen Missbrauchs wurde im Rahmen unterschiedlicher Metaanalysen überprüft. Die letzten verfügbaren Analysen stammen von Harvey und Taylor sowohl zu kindlichen als auch zu erwachsenen Opfern und stützen sich jeweils auf eine |226|breite Datenbasis (Harvey & Taylor, 2010; Taylor & Harvey, 2010). Eine weitere Metaanalyse zu kindlichen Opfern wurde von Trask, Walsh und Dilillo (2011) durchgeführt, deren Stichprobe sich ca. zur Hälfte mit jener von Harvey und Taylor (2010) deckt. Die im Rahmen dieser Metaanalysen berechneten Effektstärken sind in Tabelle 5.3 dargestellt.
Tabelle 5.3: Effektstärken psychotherapeutischer Behandlungen erwachsener und kindlicher Missbrauchsopfer
Symptombereiche |
Kinder |
Erwachsene |
|||||
Gesamt |
Prä-Post |
Gruppenvergleich |
Prä-Post |
Gruppenvergleich |
Prä-Post |
Gruppenvergleich |
|
Global outcome/overall |
1.37 |
1.37 |
0.99 |
0.54 |
0.54 |
0.60 |
0.57 |
PTSD/traumaspezifisch |
1.12 |
1.13 |
0.77 |
0.51 |
0.63 |
0.72 |
0.77 |
Internalisierende Symptome |
0.74 |
0.61 |
0.80 |
0.50 |
0.56 |
0.68 |
0.72 |
Selbstwert |
0.63 |
0.49 |
1.15 |
– |
– |
0.58 |
0.56 |
Externalisierende Symptome |
0.52 |
0.60 |
1.39 |
0.47 |
0.39 |
0.41 |
0.53 |
Sexualisierung |
0.49 |
0.48 |
0.49 |
– |
– |
– |
– |
Coping |
0.44 |
0.42 |
0.39 |
– |
– |
– |
– |
Interpersonelle Funktion |
– |
– |
– |
– |
– |
0.61 |
0.05 |
Outcome Bezugsperson |
0.43 |
0.45 |
– |
– |
– |
– |
– |
Soziale Skills |
0.38 |
0.32 |
1.07 |
– |
– |
– |
– |
Anmerkungen: a Effektstärkemaß g, b Effektstärkemaß d
Während Trask et al. (2011) und Taylor und Harvey (2010) für die unterschiedlichen Studiendesigns – Prä-Post-Vergleiche und Intergruppenvergleiche – getrennte Effektstärken berechnen, liefern Harvey und Taylor (2010) über die Studiendesigns hinweg zusätzlich übergreifende Effektstärken. Für den Bereich der kindlichen Opfer zeigt sich, dass mit Ausnahme des Global Outcomes und der PTSD-Symptomatik die Gruppenvergleichsstudien höhere Effekte erbrachten als die |227|Prä-Post-Vergleiche (Harvey & Taylor, 2010). Auch Trask et al. (2011) konnten für fast alle Störungsbereiche stärkere bzw. gleich starke Effekte für die Gruppenvergleichsstudien berechnen – die einzige Ausnahme waren hier externalisierende Symptome. Im Erwachsenenbereich sind die Effekte insgesamt ausgewogener, hier sind nur wenige Unterschiede zu finden. Eine Abweichung betrifft die externalisierende Symptomatik, wo Gruppenvergleichsstudien größere Effekte erbrachten. Als besonders auffällig erweis sich jedoch die interpersonelle Funktion. Während Gruppenvergleichsstudien hier keinen Effekt nachweisen konnten, zeigte sich in Prä-Post-Vergleichsstudien ein moderater Effekt.
Im Vergleich der Ergebnisse von Harvey und Taylor (2010) und Trask et al. (2011) fällt auf, dass die Metaanalyse von Trask et al. (2011) durchgängig geringere Effekte erbrachte. Zwar werden in den beiden Analysen unterschiedliche Parameter berechnet, jedoch handelt es bei Hedge’s g und Cohen’s d um zwei Größen, die sich kaum in ihrer Berechnung unterscheiden und daher in gleicher Weise zu interpretieren sind. Allerdings kommt es bei kleinen Stichproben (< 20) zu einer Überschätzung der Effektstärken. Da bei Harvey und Taylor (2010) deutlich mehr der analysierten Studien kleine Stichproben aufweisen, kann es hier zu einer Überschätzung der Effekte gekommen sein. Möglich wäre jedoch auch, dass die Unterschiede in den Effektstärken auf die höhere Anzahl von unveröffentlichten Dissertationen in der Stichprobe von Trask et al. (2011) zurückzuführen sind.
Für die Gegenüberstellung der Effektivität von Psychotherapien für kindliche und erwachsene Opfer bietet sich ein Vergleich der Analysen von Harvey und Taylor (2010) und Taylor und Harvey (2010) an. Hier zeigt sich, dass Psychotherapien mit kindlichen Opfern höhere Effekte erzielen als Psychotherapien mit erwachsenen Opfern. Die Effekte im Erwachsenenbereich bewegen sich insgesamt auf einem geringeren Niveau, sind aber über die Symptombereiche hinweg konsistenter. Allerdings sind die von Trask et al. (2011) für den Kinderbereich ermittelten Effekte mit den Effekten von Taylor und Harvey (2010) für den Erwachsenenbereich vergleichbar. Da der Analyse von Taylor und Harvey (2010) für den Erwachsenenbereich kaum Studien mit kleinen Stichproben zugrunde liegen, kann es tatsächlich bei Harvey und Taylor (2010) zu einer Überschätzung der Effekte gekommen sein. Dies legt nahe, dass sowohl im Kinder- als auch im Erwachsenenbereich von vergleichbaren Effekten auszugehen ist.
Zur Frage der Stabilität der erzielten Ergebnisse konnten die Psychotherapiestudien an kindlichen Opfern einen stabilen Effekt eindeutig belegen. Die Studien an Kindern legen häufig Follow-up-Daten vor, die teilweise den Zeitraum von 6 Monaten nach Therapieende übersteigen. Demgegenüber überprüfen Psychotherapiestudien an erwachsenen Opfern nur selten die langfristigen Erfolge ihrer Interventionen. Die wenigen vorgelegten Follow-up-Daten sind jedoch sehr vielversprechend und weisen zum Teil auf eine Zunahme des Effektes während des Follow-up-Zeitraumes hin.
Die Metaanalyse von Harvey und Taylor (2010) zur Psychotherapie von kindlichen Opfern erbrachte hohe Effektstärken in den Bereichen der globalen Outcomes und der traumaspezifischen Symptomatik. Moderate Effekte zeigten sich bei internalisierenden und externalisierenden Symptomen, und auch in den spezifischeren Bereichen des Selbstwertes und des sexualisierten Verhaltens. Demgegenüber wurden geringe Effekte in jenen Bereichen erzielt, die nicht direkt Ansatzpunkte der psychotherapeutischen Interventionen waren: dem Bereich des Copings, dem Outcome bei Bezugspersonen des Kindes und dem Bereich der sozialen Fertigkeiten. Bei Trask et al. (2011) bewegen sich die Effekte im unteren mittleren Bereich, nur für die externalisierende Symptomatik wurden geringe Effekte berechnet. Bei allen diesen Werten ist jedoch eine mögliche Überschätzung der Effekte aufgrund der großteils kleinen Stichproben zu bedenken.
In weitergehenden Analysen konnten das Alter und das Geschlecht des Kindes, die Art der Behandlung, die Modalität und bestimmte Rahmenbedingungen der Therapie als relevante Moderatorvariablen isoliert werden. Es ist interessant und eigentlich nicht nachvollziehbar, warum die Umstände des sexuellen Missbrauchs in Therapiestudien weitgehend unberücksichtigt bleiben. Die Art und die Rahmenbedingungen des Missbrauchs werden in vielen Bereichen als hochrelevant für das Outcome betrachtet. Diese Variablen werden sehr häufig als mögliche Moderatorvariable in epidemiologische Studien, in Studien zu Folgen oder zur Bewältigung eines sexuellen Missbrauchs einbezogen. Entsprechend häufig wurde der Nachweis erbracht, dass diesen Variablen ein deutlicher Effekt zukommt (siehe Kapitel 1.2, 3, 4). Diese Erkenntnisse legen die Vermutung nahe, dass die Umstände des Missbrauchs auch die Effekte von Psychotherapien beeinflussen könnten. Dennoch gibt es kaum Untersuchungen, die Informationen zu diesen Zusammenhängen liefern. Es kann daher nicht verlässlich beurteilt werden, ob beispielsweise der Schwere oder den Rahmenbedingungen des Missbrauchs ein Einfluss auf die Wirksamkeit einer psychotherapeutischen Behandlung zukommt.
Das Alter der Kinder konnte als wichtige Moderatorvariable isoliert werden. Die Analyse von Trask et al. (2011) ergab, dass ältere Kinder von den angebotenen Psychotherapien mehr profitieren. Demgegenüber konnten Harvey und Taylor (2010) für unterschiedliche Symptombereiche einen differenziellen Effekt des Alters nachweisen. Während in den Bereichen globale Belastung, Selbstwert und soziale Skills die Therapien bei älteren Kindern (d. h. ab 6 Jahren) bessere Effekte erzielten, war die Therapie im Bereich der Sexualisierung bei jüngeren Kindern effektiver. Im Bereich der traumaspezifischen Symptomatik, der internalisierenden und externalisierenden Störungen, zeigte sich hingegen kein Alterseffekt. Hinsichtlich des Moderators Geschlecht erwiesen sich die psychotherapeutischen Behandlungen bei Jungen in den Bereichen soziale Skills und Sexualisierung als |229|effektiver. Kognitiv-behaviorale und einsichtsorientierte Therapiestrategien erbrachten im Bereich der traumaspezifischen Symptomatik deutlich bessere Effekte als eklektische Therapieansätze, wobei traumafokussierende Verfahren die besten Effekte erzielten. Bei externalisierenden Verhaltensweisen waren hingegen kognitiv-behaviorale Therapien weniger effektiv. Auch die Untersuchung unterschiedlicher Therapiemodalitäten erbrachte ein differenziertes Bild. Im Bereich der traumaspezifischen Symptome zeigten einzel- und familienorientierte Verfahren höhere Effekte als ein gruppentherapeutisches Setting. In den Bereichen Externalisierung und Selbstwert erwies sich hingegen ein gemischtes Setting als effektiver (Harvey & Taylor, 2010). Demgegenüber konnten Trask et al. (2011) keine Unterschiede zwischen einzeltherapeutischen und gruppentherapeutischen Therapieansätzen finden. Hinsichtlich der Manualisierung der Therapie zeigte sich, dass in der Behandlung von traumaspezifischen Symptomen eine manualisierte Therapie, bei Sexualisierung eine halbstrukturierte Therapie und im Aufbau von sozialen Fertigkeiten eine halb- oder unstrukturierte Therapie effektiver waren. Symptomübergreifend erbrachten therapeutische Interventionen, die über mehr als 20 Wochen andauerten, größere Effekte als kürzere Behandlungen. Ergänzend sei erwähnt, dass sich eine längere Therapiedauer zwar in Gruppenvergleichsstudien als effektiver erwies, nicht jedoch in Studien, die auf einem Prä-Post-Vergleich beruhen. Interessanterweise hatte weder die Anzahl an Sitzungen noch das Ausmaß an Erfahrung der Therapeut:innen einen Einfluss auf die Effektivität einer psychotherapeutischen Behandlung.
Psychotherapeutische Behandlungen erwachsener Opfer erbrachten in den unterschiedlichen Outcome-Bereichen fast durchwegs moderate Effekte (Taylor & Harvey, 2010). Große Effektstärken, wie sie bei kindlichen Opfern gefunden werden konnten, waren bei Erwachsenen nicht nachweisbar. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass diese Unterschiede möglicherweise auf die kleinen Stichproben bei Harvey und Taylor (2010) zurückzuführen sind, weil ein Vergleich mit den Ergebnissen von Trask et al. (2011) ein vergleichbares, teilweise sogar geringfügig höheres Niveau in den Effekten bei erwachsenen Opfern aufzeigt. Auffällig im Erwachsenenbereich sind die Effekte im interpersonellen Funktionsniveau. Während hier bei Prä-Post-Vergleichsstudien ein moderater Effekt nachgewiesen wurde, erbrachten Gruppenvergleichsstudien keinen Effekt.
Die für den Erwachsenenbereich durchgeführten Moderatoranalysen erbrachten nur wenig signifikante und übergreifende Ergebnisse. Im Bereich der traumaspezifischen Symptomatik erbrachten Therapien, die im Einzelsetting durchgeführt wurden, und jene, die Hausaufgaben verordneten, deutlich bessere Effekte. Bei Personen mit geringem Einkommen waren in der traumaspezifischen Symptoma|230|tik deutlich geringere Effekte nachweisbar. Kognitiv-behaviorale Therapiestrategien erbrachten in den Bereichen Internalisierung und Selbstwert die höchsten Effekte. Interessant ist, dass spezifisch im Bereich des Selbstwertes ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an therapeutischer Erfahrung und der Effektivität einer Therapie gefunden werden konnte, und zwar abhängig vom Studiendesign. Wenig erfahrene Therapeut:innen erwiesen sich im Prä-Post-Vergleich als effektiver, in Gruppenvergleichsstudien konnten hingegen erfahrene Therapeut:innen die höheren Effekte erzielen. Auch dieses Ergebnis ist möglicherweise auf ein methodisches Artefakt zurückzuführen. Ein Gruppenvergleichsdesign erfordert deutlich mehr Mittel und ist deutlich aufwändiger in der Durchführung, weswegen bei diesen Studien mit größerer Wahrscheinlichkeit auch besser ausgebildete und erfahrenere Therapeut:innen zum Einsatz kommen. In den Bereichen Externalisierung, interpersonelles Funktionsniveau und Global Outcome konnten hingegen keine bedeutsamen Moderatoren gefunden werden.
Ein zentraler Bereich in der Psychotherapie von sexuellen Missbrauchsopfern ist die Veränderung von inneren Repräsentationen. Besonders relevant sind Repräsentationen, die Klient:innen von sich selbst und ihrer Umwelt und über Beziehungen mit anderen Menschen aufgebaut haben. Gerade diese Bereiche innerer Repräsentationen wurden bei vielen Missbrauchsopfern aufgrund der Missbrauchserlebnisse grundlegend in eine negative Richtung hin verändert. Bei Missbrauchsopfern sind neben einer Vielzahl an dysfunktionalen Kognitionen häufig auch negative Emotionen, wie Schuld, Scham, Ekel, Traurigkeit, Hilflosigkeit, Angst oder Ärger, in diesen inneren Repräsentationen verankert. Es wurden nun unterschiedliche therapeutische Strategien entwickelt, um diese inneren Repräsentationen zu verändern.
Der Einsatz von imaginativen Strategien hat sich als sehr erfolgreich erwiesen, um innere Repräsentationen, Bewertungen und Emotionen zu modifizieren (Hackmann, Holmes & Bennett-Levy, 2011; Rodomonti, Fedeli, Luca, Gazzillo & Bush, 2021). Imaginationen können gezielt eingesetzt werden, um Missbrauchserlebnisse, in der Form wie sie abgespeichert sind, retrospektiv einer alternativen Lösung zuzuführen. Diese Interventionen zielen darauf ab, die Bedeutungen und Bewertungen, die mit den Erlebnissen verknüpft sind, zu verändern und einen Konnex mit anderen Emotionen herzustellen. Dabei konfrontieren sich Klient:innen in der Fantasie mit den vergangenen Missbrauchssituationen und versuchen, |231|den Ablauf dieser Situationen, so wie er erinnert wird, zu verändern (Mota et al., 2015; Nijdam, Baas, Olff & Gersons, 2013; Steil, Benner, Müller-Engelmann & Hadouch, 2015). Eine Möglichkeit wäre, dass eine unterstützende Person eingeführt wird, welche die Klientin bzw. den Klienten in dieser Situation vor dem Täter beschützt und auf diese Weise den Missbrauch verhindert. Die neu etablierte Person kann aber auch dem Kind selbst in seinen Bemühungen um Gegenwehr helfen, den Missbrauch zu verhindern oder zu beenden. Diese Person kann eine Vertrauensperson des Kindes oder auch die Klientin bzw. der Klient selbst als erwachsene Person sein. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass die Klientin bzw. der Klient als damaliges Kind von sich aus, ohne unterstützende Person, abgrenzendes Verhalten zeigt und es auf diese Weise gelingt, den Missbrauch zu verhindern oder zu beenden. Die imaginierte und veränderte Situation kann durchaus unrealistisch sein. Klient:innen müssen sich jedoch im Klaren sein, dass sie mit ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten als Erwachsene zurückgehen, um der Situation von damals eine alternative Wendung zu geben – sie im Vergleich zum Kind von damals also über deutlich mehr Wissen, Erfahrung und Möglichkeiten verfügen.
Ziel dieser Interventionen ist, dass Klient:innen alternative Erlebniszugänge zu den Missbrauchssituationen entwickeln. Über ein alternatives Erleben soll in diesen Situationen ein Gefühl der Kontrolle, Macht und Stärke entstehen, welches die Betroffenen den vorherrschenden Gefühlen von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein entgegensetzen können. Das Imaginieren einer unterstützenden Person kann Klient:innen zudem dabei helfen, sich von Gefühlen des Alleingelassen-Werdens zu distanzieren und ein Gefühl der Sicherheit und des Beschützt-Werdens aufzubauen. Im Anschluss sollten diese Erlebenszustände in das aktuelle Erleben und Verhalten übertragen werden. Ein nachhaltiger Erfolg dieser Intervention setzt voraus, dass Zusammenhänge zwischen den veränderten inneren Repräsentationen und aktuellen kognitiv-emotionalen Prozessen und heutigem Verhalten hergestellt werden.
Opfer eines sexuellen Missbrauchs leiden häufig unter Alpträumen und Intrusionen. Wie es zu diesen unwillkürlichen Wiedererinnerungen an ein Missbrauchserlebnis kommt und welche Faktoren dafür verantwortlich sind, wurde ausführlich in Kapitel 3.1.3 beschreiben. Intrusionen werden von Betroffenen als ausgesprochen belastend erlebt. Durch Intrusionen sind Betroffene gezwungen, den Missbrauch und die damit verbundenen Empfindungen, Gefühle und Gedanken immer wieder erneut erleben zu müssen. Zudem tauchen sie unwillkürlich und nicht vorhersehbar auf und lösen dadurch bei den Betroffenen große Hilflosigkeit und Ängste aus. Diese Ängste führen entsprechend zur Vermeidung von Situationen, in denen Betroffene es für möglich halten, dass sie mit Intrusionen konfrontiert werden.
Die Behandlung von Intrusionen und Alpträumen erfolgt im Wesentlichen durch die kognitiv-emotionale Verarbeitung der Missbrauchserlebnisse. Wenn es gelingt, |232|das traumaspezifische Gedächtnis mit seinen emotionalen Assoziationen auszuarbeiten und in das autobiografische Gedächtnis zu integrieren, werden sich Intrusionen und Alpträume abschwächen, möglicherweise sogar zur Gänze verschwinden. Zumindest anfangs bleiben jedoch Ängste vor dem erneuten Auftreten von Intrusionen und auch das daran geknüpfte Vermeidungsverhalten bestehen. Zur Behandlung dieses Problembereiches empfiehlt sich – wie bei allen Angststörungen – eine Konfrontation mit den relevanten Situationen und den darin auftauchenden Bildern und Inhalten (siehe Kapitel 5.5.2). Allerdings ist es wichtig, mit den Klient:innen Strategien zu erarbeiten, wie es ihnen gelingen kann, die negativen Emotionen und Kognitionen zu regulieren, die von den Intrusionen unwillkürlich ausgelöst werden. Eine von Betroffenen häufig angewandte, jedoch dysfunktionale Strategie ist, zu versuchen, die auftauchenden Bilder, Gedanken und Emotionen zu unterdrücken. Um Klient:innen die Dysfunktionalität dieser Strategie zu demonstrieren, hat es sich als zielführend erweisen, mit ihnen ein allgemein bekanntes Experiment zur Unterdrückung von Gedanken durchzuführen. Dabei werden Klient:innen instruiert, beispielsweise nicht an einen großen rosaroten Elefanten zu denken. Dieses Experiment soll den Klient:innen veranschaulichen, dass die Unterdrückung von Gedanken Intrusionen verstärken kann. Als deutlich funktionalere Strategie kann den Klient:innen angeboten werden, die Gedanken und Bilder einfach zuzulassen und wie einen Zug zu betrachten, der in einen Bahnhof einfährt und diesen auch wieder verlässt (Ehlers & Clark, 2000).
Eine weitere Strategie der Distanzierung besteht darin, die bei Intrusionen auftauchenden und angstauslösenden Bilder zu entfremden. Eine Entfremdung kann erreicht werden, indem man die Bilder wie einen Film ablaufen lässt, dabei jedoch die Geschwindigkeit variiert – so, wie wenn Zeitlupe oder Zeitraffer aktiviert würden. Es besteht auch die Möglichkeit die Farben zu verändern, die Bilder schwarz-weiß oder grün einzufärben oder die Tonlage der Stimmen zu variieren, die Beteiligten mit tiefer oder hoher Stimme sprechen zu lassen. Diese Interventionen zielen darauf ab, den Intrusionen den Schrecken zu nehmen und den Betroffenen Sicherheit zu vermitteln. Sie sollen sich in der Lage fühlen, mit auftauchenden Intrusionen umgehen zu können, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Dadurch sollen die Koppelung zwischen bestimmten Stimuli oder Situationen und negativen kognitiv-emotionalen Prozessen gelöst, die Verbindung zu alternativen Prozessen hergestellt und bestehende Repräsentationen erweitert werden.
Ein wichtiges Ziel in der Psychotherapie von Opfern eines sexuellen Missbrauchs besteht darin, dass Opfer ein Gefühl von Sicherheit entwickeln und das allgemeine Erleben von Gefährdung und Bedrohung reduzieren. Missbrauchsopfer mussten erfahren, dass sie von anderen, zumeist nahestehenden Personen nicht beschützt wurden, obwohl sie deren Mitgefühl und Schutz dringend benötigt hätten. Derartige Erfahrungen prägen innere Repräsentationen über sich selbst, die Umwelt und Beziehungen mit anderen Menschen ganz wesentlich. Das Erleben von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein wird zum zentralen Element dieser Repräsentatio|233|nen, die das Bindungsverhalten und das Verhalten in sozialen Beziehungen bis ins Erwachsenenalter bestimmen können. Bereits Bowlby hat festgestellt, dass diese Repräsentationen wie Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiungen funktionieren (Bowlby, 1973/2000). Entsprechend haben Missbrauchsopfer häufig Probleme, anderen gegenüber Grenzen zu setzen, sich bei Konflikten zu verteidigen sowie die Gefahr von neuerlichen Übergriffen zu erkennen und abzuwenden (Briere, 1992). Diese Zusammenhänge wurden bereits ausführlich in Kapitel 3.1.1 dargestellt. Daher ist es neben der Veränderung dieser inneren Repräsentationen auch wichtig, mit den Klient:innen aktuelle Situationen zu reflektieren, in welchen Grenzüberschreitungen stattgefunden haben und gemeinsam mit ihnen zu erarbeiten, welche Möglichkeiten es gäbe, diese zu verhindern oder sich dagegen zur Wehr zu setzen. In diesem Zusammenhang sollten auch aktuelle Beziehungen der Klient:innen auf ihr Gefährdungspotenzial hin überprüft werden. Auf das erhöhte Risiko von Reviktimisierungen oder Polytraumatisierungen bei Missbrauchsopfern wurde bereits hingewiesen (siehe Kapitel 3.3.2.1 und 3.4.3.16). Daher ist es in der Therapie wichtig zu reflektieren, ob sich Klient:innen gegenwärtig in einer missbräuchlichen Beziehungssituation befinden, um eine mögliche aktuelle Gefährdung abwenden zu können. In diesem Zusammenhang hat sich der Aufbau eines entsprechenden Unterstützungsnetzwerkes als sehr zielführend erwiesen (Cohen, 2008).
Insgesamt sollten Klient:innen dabei unterstützt werden, jene dysfunktionalen Kognitionen zu verändern, die im Zusammenhang mit Erinnerungen an den Missbrauch sowie mit den Schuld- und Schamgefühlen, den Selbstabwertungen und den Abwertungen der Beziehungen zu anderen Menschen auftreten. Klient:innen sollten befähigt werden, alternative Bewertungen in diesen Bereichen zu finden und alternative Konzeptualisierungen aufzubauen. Zur Erreichung dieser Ziele müssen die gesamten Überzeugungen der Klient:innen in Bezug auf den erlebten Missbrauch, dessen Entstehungsbedingungen und den damit zusammenhängenden Selbstbeschuldigungen systematisch und genau erfasst und bestehende funktionale Zusammenhänge geklärt werden. Auch die Bewertungen der langfristigen Folgen und die daran geknüpften Erwartungen sind hier zu berücksichtigen. Im Anschluss sollte mit der Modifikation zentraler dysfunktionaler Kognitionen begonnen werden. Als Methode bieten sich die von Beck entwickelten Techniken der kognitiven Therapie an (Beck, Rush, Shaw & Emery, 2017). Dabei ist es wichtig, die Umstrukturierungen besonders zu Beginn unter enger therapeutischer Anleitung durchzuführen, wobei darauf zu achten ist, dass keine alternativen Erklärungen vorgegeben werden. Durch die Anwendung der Methode des Sokratischen Dialogs sollten bestehende dysfunktionale Kognitionen infrage gestellt und die Klient:innen schrittweise angeleitet werden, selbst alternative Bewertungen und Erklärungen zu finden. Nur wenn die erarbeiteten korrigierenden Informationen ich-synton sind, wird der Modifikationsprozess tatsächlich erfolgreich sein. Die Frage der Ich-Syntonität ist bei Missbrauchsopfern besonders bedeutsam, da bei |234|diesen Klient:innen dysfunktionale Kognitionen zumeist über lange Zeit bestanden haben. Besonders erwachsene Missbrauchsopfer haben zumeist ihre gesamte Lebensgestaltung an diesen dysfunktionalen Repräsentationen orientiert. Dadurch ist eine Veränderung dieser kognitiv-emotionalen Prozesse besonders schwierig und schmerzhaft und häufig mit großem Widerstand verbunden.
Das Vorhandensein von Ekel und des Gefühls, infolge des Missbrauchs „beschmutzt zu sein“, gelten als besonders schwer zu behandelnde Störungsbereiche. Auch hier hat sich der Einsatz von imaginativen Verfahren als durchaus effektive therapeutische Strategie erwiesen. Steil und Mitarbeiter:innen haben für diesen Störungsbereich spezifische Imaginationstechniken entwickelt – wie „aus der eigenen Haut steigen“ oder die Strategie der imaginativen Hauterneuerung. Erste Studien erbrachten für diese Techniken sehr hohe Effektstärken (d = 1.83 bis 2.79). Diese Techniken erwiesen sich insgesamt als sehr erfolgversprechend (Jung, Dyer, Priebe, Stangier & Steil, 2011; Steil, Jung & Stangier, 2011; Steil et al., 2015). Es hat sich gezeigt, dass imaginative Verfahren besonders geeignet sind, Emotionen zu verändern. Auch in der Modifikation von stabilen Überzeugungen und Bewertungen haben sie sich bewährt. Der Einsatz von Imaginationen kann besonders bei schwierigen Klient:innen die Akzeptanz und Compliance in der Psychotherapie verbessern.
Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt in der psychotherapeutischen Behandlung von Missbrauchsopfern besteht im Aufbau von Kompetenzen, die für das Erkennen und Differenzieren von Emotionen benötigt werden. Viele Opfer versuchen Situationen zu vermeiden, von welchen sie emotional berührt werden, oder sie unterdrücken Emotionen, wenn sie auftreten. Betroffene fühlen sich ihren Emotionen hilflos ausgeliefert und befürchten, emotionale Zustände nicht mehr kontrollieren zu können, wenn sie diese zulassen. Entsprechend liegen gerade bei Opfern von sexuellem oder körperlichem Missbrauch oft Defizite in den Fähigkeiten zur Emotionsregulation vor (Pelcovitz et al., 1997). Der Aufbau von Fähigkeiten zur Emotionsregulation in der Psychotherapie von Missbrauchsopfern ist daher ein wichtiger Aspekt. Auch eine Alexithymie ist bei Opfern von sexuellem Missbrauch häufig zu finden (Polusny, Dickinson, Murdoch & Thuras, 2008).
Ängste und Angststörungen sind bei Opfern eines sexuellen Missbrauchs weit verbreitet. Zumeist erleben Missbrauchsopfer Ängste, wenn sie mit Situationen oder Stimuli konfrontiert werden, die mit den Missbrauchserlebnissen in Zusammenhang stehen. Im Verlauf generalisieren die Ängste jedoch manchmal so stark auf andere Situationen und Bereiche, dass der Zusammenhang zwischen den Ängsten und dem sexuellen Missbrauch für die Klient:innen nicht mehr nachvollziehbar ist. Häufig versuchen Betroffene ihre Ängste zu bewältigen, indem sie alle Si|235|tuationen und Stimuli vermeiden, die Ängste auslösen könnten. Dies kann massive Einschränkungen im Lebensvollzug zur Folge haben und depressive Verstimmungen bzw. das Vollbild einer Depression auslösen oder diese verstärken. Wie bei zahlreichen anderen Klient:innen mit psychischen Problemen ist auch bei sexuell missbrauchten Klient:innen häufig der Teufelskreis „Ängste – Vermeidungsverhalten – Depression“ zu finden, der in der psychotherapeutischen Behandlung durchbrochen werden muss.
In der Psychotherapie von Ängsten ist eine Konfrontationsbehandlung aufgrund ihrer hohen Wirksamkeit die Methode der Wahl (Teismann & Margraf, 2018), dies gilt auch für Opfer eines sexuellen Missbrauchs. Besonders wichtig bei der Durchführung einer Konfrontationsbehandlung ist, dass Klient:innen die Grundprinzipien dieses Vorgehens verstehen, welches aus der Konfrontation mit den angstauslösenden Stimuli, der Verhinderung der Vermeidung und der Habituation der Angstreaktion besteht. Zudem müssen sich Klient:innen in der Lage fühlen, sich der Konfrontation mit den angstauslösenden Stimuli bzw. Situationen zu stellen. Bei einer Konfrontationsbehandlung ist darauf zu achten, dass die für die Habituation nötige Angst ausgelöst wird, diese Angst jedoch nie ein Ausmaß erreicht, das von Betroffenen nicht mehr bewältigt werden kann. Daher empfiehlt es sich, in der Angstbehandlung von Missbrauchsopfern mit einer Konfrontation in sensu zu beginnen, doch sollten nach Möglichkeit auch Konfrontationen in vivo folgen.
Manche Opfer setzen dissoziative Strategien oder Selbstverletzungen ein, um Emotionen, die sie als unkontrollierbar erleben, kontrollieren und bewältigen zu können. Es existieren Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Bindungsverhalten und einer dissoziativen Symptomatik, wobei besonders jene Missbrauchsopfer, die ein unsicher-vermeidendes Bindungsverhalten zeigen, verstärkt von Dissoziationen betroffen sein dürften (Mikulincer & Shaver, 2003). Entsprechend konnte nachgewiesen werden, dass mit der Verbesserung des Bindungsverhaltens im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung auch eine Reduzierung der dissoziativen Symptomatik zu erreichen ist (Lahav & Elklit, 2016).
Im Bereich der dissoziativen Störungen sind Missbrauchsopfer am häufigsten von dissoziativen Amnesien betroffen. „Ich muss mich erinnern, um zu vergessen“ kann als Leitsatz in der Therapie für jene Opfer gelten, die ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten oder eine dissoziative Amnesie zeigen (Wolf & Nochajski, 2013). Dissoziative Störungen, wie dissoziative Amnesien, sind nicht nur als Beeinträchtigungen kognitiver Abläufe zu sehen, sie beeinträchtigen Betroffene deutlich grundlegender in ihrer Selbstwahrnehmung und in ihrem Selbstbild. Manche Klient:innen berichten, dass sie aufgrund fehlender Erinnerungen unter dem |236|Gefühl leiden, den Bezug zu sich selbst oder zum eigenen Leben verloren zu haben (Edwards et al., 2001; McNally, Perlman, Ristuccia & Clancy, 2006). Betroffene werden sich nicht plötzlich wieder an alles erinnern können, selbst wenn sie dies wollen. Der Zugang zu den Erinnerungen an die Erlebnisse des sexuellen Missbrauchs wird kurzfristig nicht zur Gänze möglich sein. Vielmehr findet ein Wiedererinnern im Rahmen eines graduellen und längerdauernden Prozesses statt, der in der Regel durch die sukzessive Konfrontation mit bestimmten Erinnerungsbestandteilen angestoßen werden muss. Allerdings ist die psychotherapeutische Behandlung dissoziativer Amnesien eine Gratwanderung zwischen zwei Zielen, einerseits den Zugang zu Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch herzustellen, andererseits aber Interventionen zu vermeiden, die falsche Erinnerungen zu Erlebnissen aufbauen könnten, die so nie stattgefunden haben. Dieser Gefahr sollten sich Therapeut:innen immer bewusst sein. Daher wird empfohlen, die therapeutische Arbeit auf jene Erinnerungen zu beschränken, die den Klient:innen tatsächlich zugänglich sind. Von diesen Erinnerungsbestandteilen ausgehend sollten Bezüge mit dem aktuellen kognitiv-emotionalen Erleben hergestellt und in der Folge diese Erinnerungen in das autobiografische Gedächtnis integriert werden (Wolf & Nochajski, 2013). Es gilt abzuwarten, ob im Zuge dieses Verarbeitungsprozesses den Klient:innen dann neue Erinnerungsbestandteile zugänglich werden. Bei Vorgabe von Erinnerungscues, die nicht von den Betroffenen selbst stammen, oder einem zu forcierten Vorgehen ist die Gefahr groß, falsche Erinnerungen zu generieren. Diese Problematik wurde sehr ausführlich und umfassend im Zusammenhang mit dem „False-Memory-Syndrom“ diskutiert (z. B. Brewin & Andrews, 2017; Loftus, 1996).
Bei einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung besteht das Ziel psychotherapeutischer Interventionen darin, die unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile in einer kohärenten und einheitlichen Persönlichkeit zusammenzuführen. Um dies zu erreichen, sollten vorhandene Self-states aktiv in die Therapie einbezogen werden (Reddemann, Hofmann & Gast, 2011). Die kohärente Persönlichkeit, die am Ende dieses Prozesses steht und bestehende Selbstanteile integriert, soll bei den Betroffenen ein Funktionieren ihres Erlebens und Verhaltens sicherstellen und auch ein Erinnern an den sexuellen Missbrauch ermöglichen, ohne die psychischen Funktionen zu destabilisieren. Ein zentraler Ansatzpunkt in diesem Prozess wird darin bestehen, die Fähigkeit der Klient:innen zu verbessern, jene Bewusstseinszustände bzw. Self-states aufrechtzuerhalten, die einen Verbleib in der Realität und in der Gegenwart sicherstellen. Dadurch soll ein Abgleiten in einen Self-state verhindert werden, der den Realitätsbezug vermeidet. Bei unterschiedlichen Self-states, zu denen ein bewusster Zugang möglich ist, aber auch bei widersprüchlichen Emotionen oder Bewertungen, hat sich der Einsatz der Zwei-Stuhl-Technik bewährt. Diese Technik erleichtert es Klient:innen, unterschiedliche Positionen oder Zustände direkt zu erleben, unterstützt sie dabei, Hintergründe zu reflektieren und in der Folge wichtige Zusammenhänge herzustellen.
Sexualisiertes Verhalten kann sich bei Opfern eines sexuellen Missbrauchs in vielfältiger Weise zeigen. Es reicht von verführerischem Verhalten und Aufforderungen zu sexuellen Aktivitäten – auch in unangemessenen Situationen – bis hin zu Promiskuität und Prostitution (siehe Kapitel 3.3.2.6 und 3.4.3.15). Bei der Entstehung von sexualisiertem Verhalten und einer Sexualisierung des Opfers spielen operante Mechanismen eine wichtige Rolle. Indem der Täter dem Intimbereich des Opfers und Aktivitäten oder Körperteilen, die mit Sexualität assoziiert sind, eine übermäßige Beachtung schenkt und er sexualisiertes Verhalten des Opfers belohnt, wird dem Opfer vermittelt, dass es als sexuelles Wesen einen besonderen Wert hat. Das Opfer erhält positive Zuwendung nur über Sexualität bzw. sexuelle Handlungen und sieht in der Folge seinen Selbstwert ausschließlich in diesem Bereich begründet. Im Selbstkonzept der Opfer wird der Bereich der Sexualität zur dominierenden Variable. Missbrauchsopfer mit ausgeprägtem sexualisiertem Verhalten haben die Überzeugung aufgebaut, dass sie nur als sexuelle Wesen für andere attraktiv sind und es ihnen nur über diesen Bereich gelingt, Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten.
Die psychotherapeutische Behandlung sollte darauf abzielen, die mit Sexualität assoziierten Bereiche des Selbstkonzeptes und die daran geknüpften Überzeugungen und Bewertungen zu reflektieren und Alternativen zu entwickeln. In diesem Prozess sollten Klient:innen andere Bereiche erkennen, in welchen sie sich als wertvoll und liebenswert einschätzen. In vielen Fällen werden Veränderungen im Selbstkonzept und in den Überzeugungen aber nicht zwangsläufig zu Veränderungen im sexualisierten Verhalten führen. Es kann auch wichtig sein, mit den Klient:innen jene Trigger zu erarbeiten, die sexualisiertes Verhalten auslösen. Entsprechend sollten auch im Bereich des konkreten Verhaltens mit den Klient:innen Alternativen entwickelt und aufgebaut werden.
Missbrauchsopfer können im Bereich der Sexualität in unterschiedlicher Weise beeinträchtigt sein. Einerseits können sie ein gesteigertes sexuelles Interesse und gesteigerte sexuelle Aktivitäten zeigen, andererseits können sexuelle Aktivitäten stark angstbesetzt sein, was bei erwachsenen Opfern zu ausgeprägten sexuellen Funktionsstörungen führen kann (siehe Kapitel 3.4.3.15). Ängste, die negative Bewertung des eigenen Körpers, Intrusionen und Probleme, der Partnerin bzw. dem Partner zu vertrauen, sind zentrale Faktoren, um die Entstehung und Aufrechterhaltung sexueller Funktionsstörungen zu erklären. Bei Opfern eines sexuellen Missbrauchs löst die Konfrontation mit Sexualität häufig negative kognitiv-emotionale Prozesse aus. Diese Prozesse sind dafür verantwortlich, dass sexuelle Kon|238|takte oft vermieden werden, dies wiederum führt zu Selbstabwertungen und beeinträchtigt das Selbstkonzept des Opfers. Viele Opfer bauen die Überzeugung auf, keine „richtige Frau“ oder kein „richtiger Mann“ zu sein. Probleme mit sexueller Lust und Erregung und die Vermeidung von Sexualität führen darüber hinaus zu starken Schuldgefühlen der Partnerin bzw. dem Partner gegenüber. Sexueller Missbrauch und sexuelle Gewalt sind wahrscheinlich die am meisten unterschätzten Antezedenzien sexueller Dysfunktionen.
Bestimmte Situationen, Stimuli oder Erlebenszustände, die den Missbrauchserlebnissen in bestimmten Aspekten ähneln oder lediglich an den Missbrauch erinnern, können negative kognitiv-emotionale Prozesse in Gang setzen und entsprechende negative Reaktionen auslösen. Dies kann in der Folge auf andere Situationen, in welchen Nähe oder Intimität erlebt wird, oder generell auf sexuelle Situationen und sexuelles Verhalten generalisieren. In der Folge werden vom Betroffenen derartige Situationen vermieden, wodurch jedoch die negativen Reaktionen aufrechterhalten werden. An der Entstehung und Aufrechterhaltung sexueller Funktionsstörungen sind somit nicht nur Lernprozesse im Sinne eines Reiz-Reaktions-Lernens beteiligt, sondern auch kognitiv-emotionale Prozesse. In sexuellen Situationen oder beim Erleben von sexueller Erregung werden negative Gefühle und Gedanken ausgelöst, die beim Betroffenen zu einer Hemmung der sexuellen Erregung führen. Aufgrund der Missbrauchserlebnisse kann beispielsweise sexuelle Erregung mit einem Verbot belegt sein, was zur Folge hat, dass das Opfer unfähig ist, sexuelle Erregung bei sich wahrzunehmen. Es können aber auch Ängste auftauchen, die eigene Erregung nicht kontrollieren zu können.
Ziele einer psychotherapeutischen Behandlung von sexuellen Funktionsstörungen bei Missbrauchsopfern bestehen somit darin, ein positives Konzept von Nähe, Intimität und Sexualität zu entwickeln und sexuelle Verhaltensweisen aufzubauen, die Klient:innen dabei unterstützen, zu einer für sie befriedigenden Sexualität zu finden. Klient:innen sollen die Kontrolle über ihre eigene Sexualität wiedererlangen, dysfunktionale Kognitionen und Konzepte modifizieren und lernen, eigene Wünsche und Vorlieben wahrzunehmen und zu äußern.
In der Bearbeitung dieses Problembereiches ist es wichtig, mit den Klient:innen zu Beginn der Therapie die möglichen Auswirkungen eines sexuellen Missbrauchs auf das spätere sexuelle Erleben und Verhalten zu reflektieren. Dies trägt in hohem Maß zur Entlastung der Klient:innen bei, weil für viele Betroffene diese Zusammenhänge nicht in dem Ausmaß erkennbar sind, wie es erforderlich wäre. Durch eine veränderte Sichtweise auf die Zusammenhänge fällt es Klient:innen leichter, Ziele für die Therapie zu entwickeln. Dabei ist besonders darauf zu achten, dass Klient:innen für sich reflektieren, was ihre eigenen, selbstgewählten Ziele sind, welche Bereiche sie tatsächlich verändern und was sie tatsächlich erreichen wollen. Klient:innen sollten sich in diesem Prozess nicht an Zielen der Partnerin oder des Partners oder an gesellschaftlich akzeptierten Zielen orientieren. Es ist wich|239|tig, das Bewusstsein dafür zu schärfen, was Klient:innen tatsächlich selbst erreichen wollen. Darüber hinaus sollte reflektiert werden, ob nicht ein ausgeprägter Leistungsanspruch, der bei Missbrauchsopfern häufig im Bereich der Sexualität vorliegt, einer befriedigenden Sexualität im Wege steht.
Die Arbeit am Körperbild und Körpererleben ist ein weiterer zentraler Aspekt in der psychotherapeutischen Behandlung von sexuellen Funktionsstörungen. Opfer eines sexuellen Missbrauchs erleben sich häufig als unattraktiv, sie lehnen ihren Körper oder bestimmte Körperteile stark ab und fühlen sich durch den sexuellen Missbrauch oft „verunreinigt“ und „beschmutzt“. Hier ist es wichtig, dass Klient:innen lernen, ihren Körper positiv zu sehen und mit angenehmen Empfindungen zu verbinden. In diesem Bereich haben sich die oben beschriebenen imaginativen Verfahren als sehr wirksam erwiesen (siehe Kapitel 5.5.1). Zudem bieten sich unterschiedliche Übungen zur körperlichen Selbsterfahrung an, wie sie von Hauch, Arentewicz und Gaschae (1986) und Hauch (2020) beschrieben werden. Da diese Übungen besonders bei Missbrauchsopfern sehr starke negative Emotionen auslösen können, ist hier ein vorsichtiges und schrittweises Vorgehen dringend zu empfehlen.
In der psychotherapeutischen Behandlung von sexuellen Funktionsstörungen sollte immer auch die Einbeziehung der Partnerin bzw. des Partners der Missbrauchsopfer überlegt werden. Wenn Klient:innen Sexualität neu entdecken oder modifizierende neue Erfahrungen in diesem Bereich machen wollen, ist es bedeutsam, dass Klient:innen selbst bestimmen können, wann und wie sie sexuell aktiv werden. Nur wenn Klient:innen hier weitgehend selbst die Kontrolle haben, werden sie sich sicher genug fühlen, Neues auszuprobieren und sich auf neue Erfahrungen einzulassen. Dies wird aber nur auf der Basis einer funktionierenden Kommunikation mit der Partnerin bzw. dem Partner gelingen. Viele Missbrauchsopfer haben Probleme, sich auf soziale Beziehungen einzulassen, enge und vertraute Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten ist für sie schwierig. Daher sind der Austausch und die Kommunikation mit ihren Partner:innen häufig gestört, und auch die Beziehungsqualität ist beeinträchtigt. Oft sind die Reaktionen der Missbrauchsopfer für ihre Partner:innen unverständlich, was häufige Konflikte zur Folge hat. Wenn missbrauchte Klient:innen als Ziel eine verbesserte Partnerschaft und eine befriedigende gemeinsame Sexualität formulieren, ist es daher erforderlich, bestehende Beeinträchtigungen gemeinsam mit ihren Partner:innen zu bearbeiten.
Missbrauchsopfer entwickeln aufgrund ihrer Erfahrungen und dysfunktionalen Einstellungen häufig unrealistische Erwartungen gegenüber anderen Personen. Besonders ihren Partner:innen gegenüber zeigen Missbrauchsopfer eine überhöhte Anspruchshaltung. Auch in diesem Zusammenhang kann es wichtig sein, Kompetenzen dahingehend zu vermitteln, wie ein Gleichgewicht zwischen den eigenen Wünschen und Bedürfnissen und den Wünschen und Bedürfnissen des Gegenübers zu ermöglichen ist. Ein weiteres Ziel kann darin bestehen, den Um|240|gang mit interpersonellen Stressoren, die in Partnerschaften häufig auftreten, zu verbessern. Alle diese Bereiche können selbstverständlich auch mit den Klient:innen alleine bearbeitet werden, in den meisten Fällen wird die Einbeziehung der Partner:innen die Erreichung der gesetzten Ziele jedoch erleichtern.
Nach einer sorgfältigen Problemanalyse des sexuellen Erlebens, der sexuellen Schwierigkeiten und der sexuellen Wünsche der Klient:innen empfiehlt es sich, nach dem von Annon (1976) entwickelten PLISSIT-Modell vorzugehen. Dieses Modell ist stufenweise nach dem Prinzip der minimalen Intervention aufgebaut und ermöglicht bei jeder Klientin bzw. jedem Klienten individuell zu entscheiden, in welchem Ausmaß eine therapeutische Unterstützung benötigt wird, um die für die Behandlung festgelegten Ziele zu erreichen. Bei der ersten Stufe handelt es sich um die Stufe P (= Permission), auf welcher die Klient:innen lernen, dass sie berechtigt sind, sich gewisse Dinge einfach zu erlauben. Die nächste Stufe wäre LI (= Limited Information), auf welcher Klient:innen grundlegende Informationen über sexuelle Verhaltensweisen und Reaktionen erhalten, die ihr Problem betreffen. Darauf folgt die Stufe SS (= Specific Suggestions), auf welcher spezifische Vorschläge zur Veränderung ihrer Probleme erarbeitet werden, falls Klient:innen nicht in der Lage sind, derartige Strategien selbst zu entwickeln. Erst bei der letzten Stufe IT (= Intensive Therapy) wird eine umfassendere psychotherapeutische Behandlung vorgeschlagen. Diese Stufe ist nur dann indiziert, wenn die anderen Stufen nicht zum nötigen Erfolg geführt haben oder schwerwiegende emotionale oder Beziehungsprobleme bei den Klient:innen vorhanden sind, die eine Psychotherapie erfordern. Dieses Modell hat seine Brauchbarkeit und Effizienz in der Beratung und Behandlung von sexuellen Problemen vielfach bewiesen (z. B. Laan, Rellini & Barnes, 2013; Mohammadzadeh Moghaddam, Moradi, Mirzaii Najmabadi, Ramezani & Shakeri, 2019).
Empowerment ist ein weiteres wichtiges Ziel in der Psychotherapie mit Opfern eines sexuellen Missbrauchs (Blumer, Papaj & Erolin, 2013). Viele Opfer leiden unter einem geringen Selbstwert und fühlen sich hilflos, besonders wenn es darum geht, eigene Bedürfnisse gegenüber anderen durchzusetzen. Manche Klient:innen haben ein Konzept von sich selbst entwickelt, das sie als wertlose Person beschreibt, die den Wünschen anderer hilflos ausgeliefert ist, die keine Kontrolle über ihr Leben hat und keine Perspektiven für die Zukunft entwickeln kann. Klient:innen schildern manchmal, dass sie das Gefühl hätten, in der Zeit, in welcher der Missbrauch stattgefunden hat, gefangen zu sein, es ihnen noch nicht gelungen ist, diese Zeit zu verlassen und sich weiterzuentwickeln.
Hier ist es wichtig, dieses Konzept sukzessive zu hinterfragen und neu zu gestalten. Möglicherweise ist es zielführend, das Konzept des „Opfers“ gegen das Kon|241|zept der bzw. des „Überlebenden“ auszutauschen und dabei den Fokus auf jene Stärken zu legen, die den Betroffenen ein Überleben ermöglicht haben. Walker-Williams und Fouché (2017) gehen sogar noch einen Schritt weiter und formulieren für Betroffene das Ziel „from survivor to thriver“. Dies ist möglich, wenn das Denken nicht nur davon bestimmt ist, überlebt zu haben, sondern auch Möglichkeiten gesehen werden, an den Herausforderungen zu wachsen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird es wichtig sein, Kompetenzen und Ressourcen aufzubauen, um eigene Bedürfnisse zu erkennen und sich gegenüber anderen durchzusetzen. Gleichzeitig wird es aber auch nötig sein, Ängste vor Zurückweisung abzubauen, ein Gefühl der Kontrolle vor allem über das eigene Leben wiederzuerlangen und tragfähige Zukunftsperspektiven zu entwickeln.
Von einer gruppentherapeutischen Behandlung können besonders jene Opfer profitieren, die ein Gefühl des Andersseins entwickelt haben und stark von Gefühlen der Stigmatisierung beeinträchtigt sind. Die Gemeinschaftserlebnisse, die eine Gruppentherapie bietet, können Klient:innen dabei unterstützen, diese Gefühle zu bewältigen. Klient:innen können erfahren, dass auch andere Personen Ähnliches erlebt haben. Dies kann ihnen helfen, Zuschreibungen von persönlicher Verantwortung für den Missbrauch zu reduzieren, die sozialen und gesellschaftlichen Aspekte des Phänomens „sexueller Missbrauch“ zu erkennen und zu akzeptieren. Zudem sind Klient:innen in der Gruppe darauf angewiesen, Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen. Diese Erfahrungen tragen wesentlich dazu bei, die inneren Repräsentationen von Beziehungen zu anderen Menschen zu modifizieren. Eine Gruppentherapie ermöglicht es, Fortschritte und Rückschritte in der Bewältigung der Missbrauchserlebnisse bei anderen Personen mitzuerleben und eigene Erfahrungen in diesem Zusammenhang mit anderen zu teilen. Zudem können Klient:innen in der Gruppe erleben, dass sie von anderen Menschen unterstützt werden, sie aber auch selbst Unterstützung geben können. Diese Erfahrungen verändern das Selbstbild der Betroffenen und können deren Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit deutlich verbessern.
Kognitiv-behaviorale Therapieansätze, die sich an kindliche oder jugendliche Opfer eines sexuellen Missbrauchs richten, schließen neben traditionellen kognitiv-behavioralen Strategien auch Psychoedukation, Konfrontation, Spieltechniken, Lernen am Modell und den Aufbau adäquater Bewältigungsstrategien mit |242|ein (z. B. Cohen, Deblinger, Mannarino & Steer, 2004; Springer, Misurell & Hiller, 2012).
In ihrem Review konnten Kim et al. (2016) nachweisen, dass durch den Einsatz von kognitiv-behavioralen Therapiestrategien in der psychotherapeutischen Behandlung von kindlichen Missbrauchsopfern wesentliche Verbesserungen in einem breiten Spektrum psychosozialer Auffälligkeiten und Störungen erreicht und auch aufrechterhalten werden können. Der Nachweis einer Stabilität der Therapieeffekte wurde mehrfach auch von Mannarino und Mitarbeiter:innen erbracht (Cohen & Mannarino, 1997; Deblinger, Steer & Lippmann, 1999; Deblinger, Mannarino, Cohen & Steer, 2006; Mannarino, Cohen, Deblinger, Runyon & Steer, 2012). Neben Verbesserungen in der zentralen Symptomatik, wie Intrusionen, Ängsten, Depressionen, sexualisiertem Verhalten oder externalisierenden Problemen, zielen kognitiv-behaviorale Interventionen bei kindlichen Opfern auch auf die Verbesserung des Wissens über den sexuellen Missbrauch und damit zusammenhängende Sicherheitsstrategien ab. Bei jenen Therapieansätzen, die auch nicht missbrauchende Eltern(teile) in die Psychotherapie mit einbeziehen, ist das zentrale Ziel, die Belastungen und negativen Reaktionen der Eltern infolge des Missbrauchs ihrer Kinder zu reduzieren und das elterliche Erziehungsverhalten zu verbessern. Durch diese Maßnahmen scheint sich die elterliche Belastung im Follow-up sogar noch weiter zu reduzieren (Mannarino et al., 2012). Ob es durch den Einbezug der Eltern jedoch gelingt, die Therapieeffekte bei den Kindern zu erhöhen, erscheint fraglich (King et al., 2000). Wenn das Kind selbst allerdings die Teilnahme an einer Psychotherapie verweigert, kann es sinnvoll sein, ausschließlich den Eltern eine psychotherapeutische Behandlung anzubieten. Neben den bereits genannten Bereichen zielen diese Interventionen auch darauf ab, beim Kind eine entsprechende Therapiebereitschaft aufzubauen.
Kim et al. (2016) betonen in ihrem Review explizit die Wirksamkeit eines gruppentherapeutischen Settings in der Behandlung von kindlichen Opfern. Eine Gruppe von Kindern bzw. Jugendlichen, die ähnliches erlebt haben und unter vergleichbaren Problemen leiden, kann Missbrauchsopfern die nötige Sicherheit bieten, Belastungen und negative Gedanken und Gefühle offenzulegen. Diese Rahmenbedingungen können auch junge Missbrauchsopfer wesentlich dabei unterstützen, Gefühle der Isolation und des Andersseins abzubauen und im Gegenzug das Erleben von Vertrauen und Zugehörigkeit zu verstärken. Zudem schafft ein gruppentherapeutisches Setting eine sehr einfache und umfassende Möglichkeit des sozialen Lernens. So konnten Nolan et al. (2002) nachweisen, dass zusätzliche gruppentherapeutische Interventionen die Wirksamkeit einer Einzeltherapie, besonders im Bereich einer depressiven Symptomatik, deutlich verbessern können. Bei der Bearbeitung bestehender Sorgen im Bereich der Sexualität scheinen alleinige gruppentherapeutische Interventionen hingegen keine Effekte zu erbringen. Allerdings lässt sich die Wirksamkeit einer Gruppentherapie durch zusätzliche einzeltherapeutische Sitzungen verbessern. Dies scheint jedoch auf den |243|Symptombereich der sexuellen Sorgen beschränkt zu sein. Vergleichsstudien zu anderen Störungsbereichen konnten keinen zusätzlichen Effekt nachweisen (Cohen, Mannarino & Knudsen, 2005; Liotta, Springer, Misurell, Block-Lerner & Brandwein, 2015). Die Entscheidung zwischen einzel- und/oder gruppentherapeutischen Therapiemaßnahmen sollte somit, wenn es die Praxis zulässt, an der vorliegenden Symptomatik orientiert und evidenzbasiert erfolgen.
Alle Kinder empfinden Angst, wenn sie erstmals mit einer Therapiesituation konfrontiert sind. Die Angst und die Vorbehalte gegenüber einer therapeutischen Behandlung und Therapeut:innen sind bei Kindern noch stärker vorhanden als bei erwachsenen Klient:innen. Kindliche Missbrauchsopfer zeigen aufgrund ihrer Erfahrungen ein sehr ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Erwachsenen. Deren Vertrauen zu gewinnen erfordert von den Therapeut:innen viel Geduld und Einfühlungsvermögen. Dies ist jedoch eine unabdingbare Voraussetzung, um kindliche Opfer für die therapeutische Arbeit zu öffnen und zu erreichen, dass sie sich aktiv am therapeutischen Prozess beteiligen. Bei Opfern von intrafamiliärem Missbrauch stellt der Aufbau einer tragfähigen und vertrauensvollen therapeutischen Beziehung eine besondere Herausforderung dar.
In der psychotherapeutischen Behandlung von kindlichen und jugendlichen Missbrauchsopfern gelten im Prinzip dieselben Regeln wie in der Therapie mit erwachsenen Opfern. Die Therapie folgt denselben Strukturen und die bereits skizzierten ätiologischen Modelle zur Erklärung der Folgestörungen gelten in gleicher Weise für kindliche Opfer wie für Erwachsene. Diese Parallelen spiegeln auch die Forderung von van der Kolk (2005) wider, welche Bereiche als zwingend in der Behandlung von kindlichen Opfern eines sexuellen Missbrauchs zu betrachten sind: der Aufbau von Sicherheit und Kompetenz, die Bearbeitung von Intrusionen und Neuinszenierungen, die Integration des Traumas und der Aufbau von Kontrolle.
In der psychotherapeutischen Behandlung von kindlichen Opfern kommen dieselben therapeutischen Strategien und Methoden zum Einsatz wie bei Erwachsenen. Allerdings ist es wichtig, die Methoden dem Entwicklungsstand der jeweiligen kindlichen oder jugendlichen Klient:innen anzupassen (Doherr, Reynolds, Wetherly & Evans, 2005). Steht in der Arbeit mit Erwachsenen das therapeutische Gespräch im Vordergrund, so ist es bei Kindern und Jugendlichen notwendig, die therapeutische Arbeit in das Medium Spiel zu integrieren. Je jünger die Kinder sind, umso stärker muss den Kindern durch konkretes Erleben eine Veränderung ihres Verhaltens und ihrer kognitiv-emotionalen Prozesse ermöglicht werden. Mit zunehmendem Alter wird das Spiel dann vom therapeutischen Gespräch abgelöst.
In kognitiv-behavioralen Therapiestrategien sind Interventionen, die auf der kognitiven Ebene ansetzen, ein essenzieller Bestandteil des therapeutischen Vorgehens. Daher müssen die konkreten Interventionen unbedingt mit der Fähigkeit |244|des Kindes im Hinblick auf kognitive Operationen in Abstimmung gebracht werden. Befindet sich das Kind in einem Entwicklungsstadium, in welchem es noch nicht über jene Kompetenzen zur kognitiven Verarbeitung verfügt, die eine bestimmte Intervention voraussetzt, wird diese Intervention zwangsläufig nicht den gewünschten Effekt erbringen. Legen wir die grobe Einteilung der kognitiven Entwicklungsstadien von Piaget (1974, 2003) zugrunde, können wir beispielsweise davon ausgehen, dass es Kindern im präoperationalen Stadium aufgrund ihrer Egozentriertheit schwerfällt, sich das Denken anderer Menschen zu eigen zu machen. Sie haben Probleme, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Setzt eine Intervention nun daran an, das Denken und Fühlen anderer Menschen zu reflektieren oder zu erarbeiten, was eigene Handlungen in anderen Menschen auslösen können, ist diese Intervention erst bei Kindern sinnvoll, die sich bereits im Stadium des konkret-operationalen Denkens befinden. Kinder im präoperationalen Stadium haben zudem Schwierigkeiten, relationale Begriffe zu bilden, d. h. das Denken dieser Kinder ist eher absolut. Eine Einschätzung von „mehr oder weniger als“ ist erst Kindern im Stadium des konkreten Denkens möglich. Die Fähigkeit zum Problemlösen, zum Abwägen unterschiedlicher Lösungsmöglichkeiten mit ihren jeweiligen Konsequenzen, ist erst bei Kindern vorhanden, die sich im formal-operationalen Stadium befinden. Dementsprechend sind Interventionen, die auf dem Problemlöseansatz beruhen, nur bei Kindern ungefähr ab dem 11. Lebensjahr sinnvoll.
Studienergebnisse zeigen, dass sich in der Psychotherapie von kindlichen Missbrauchsopfern bestimmte Therapiestrategien differenziell auf bestehende Störungsbereiche auswirken. Dies liefert wichtige Erkenntnisse für eine störungsgeleitete Therapieplanung. So konnten Hetzel-Riggin, Brausch und Montgomery (2007) im Rahmen einer Metaanalyse nachweisen, dass kognitiv-behaviorale, traumaspezifische und unterstützende Interventionen die besten Effekte auf der behavioralen Ebene erbrachten, während eine Spieltherapie am besten geeignet war, soziale Probleme zu beseitigen und die soziale Anpassung zu verbessern. Bestehende Belastungen ließen sich am besten durch kognitiv-behaviorale und familientherapeutische Strategien sowie Interventionen im Einzelsetting behandeln. Bei einem geringen Selbstwert zeigten hingegen traumaspezifische und kognitiv-behaviorale Strategien sowie Interventionen im Gruppensetting die größte Wirksamkeit.
Das Erleben von Kontrolle über den Ablauf einer psychotherapeutischen Behandlung ist bei Opfern eines sexuellen Missbrauchs besonders wichtig. Darauf wurde bereits hingewiesen. Dieses Kontrollbedürfnis gilt für kindliche Opfer in gleichem Maß wie für Erwachsene. Es ist sehr bedeutsam, dass Kinder in die Entscheidung einbezogen werden müssen, wann und mit wem über die Missbrauchserlebnisse und die im Rahmen der Therapie gewonnenen Informationen gesprochen wird. Kindliche Opfer reagieren im Vergleich zu erwachsenen Opfern auch deutlich sensibler, wenn sie aufseiten der Therapeut:innen Vorbehalte gegenüber den eigenen |245|Aussagen wahrnehmen. Bemerken Kinder diesbezüglich auch nur ansatzweise ein mangelndes Verständnis oder Misstrauen, besteht die Gefahr, dass sie sich der Therapie verschließen und nicht mehr mitarbeiten. Daher ist es in der therapeutischen Arbeit mit Kindern besonders wichtig, die Aussagen des Kindes ernst zu nehmen und kindlichen Klient:innen zu vermitteln, dass ihnen geglaubt und ihren Angaben vertraut wird.
In noch viel stärkerem Ausmaß als bei Erwachsenen sollten sich Therapeut:innen in der Behandlung von kindlichen Missbrauchsopfern in der Rolle von Anwält:innen sehen, welche die Interessen des Kindes vertreten. Therapeut:innen übernehmen als „Anwält:innen des Kindes“ einen Teil der elterlichen Verantwortung – zumindest für die Dauer der Therapiestunde. Man muss sich jedoch immer bewusst sein, dass man in keinem Fall die Mutter oder den Vater ersetzen kann – auch nicht in jenen Fällen, in welchen Kinder mit sehr schwierigen Beziehungsgefügen konfrontiert sind. Zudem sollten Therapeut:innen immer bedenken, dass sie zwangsläufig in Gefahr geraten, von den Eltern ihrer kindlichen Klient:innen als Konkurrenz wahrgenommen zu werden – vor allem in der Rolle als wichtigste Bezugsperson und Expertin bzw. Experte in Belangen des Kindes. Besonders bei intrafamiliärem Missbrauch müssen diese Aspekte mit der nötigen Sensibilität betrachtet und gehandhabt werden.
Für Opfer eines sexuellen Missbrauchs wurden im Verlauf der Jahre unterschiedlichste psychotherapeutische Behandlungsstrategien entwickelt. Dies betrifft sowohl kindliche und jugendliche als auch erwachsene Opfer. Entsprechend des breiten Störungsspektrums an Initialeffekten und Langzeitfolgen, die ein sexueller Missbrauch verursachen kann, und den unterschiedlichen Ätiologiekonzepten, um die Entstehung dieser Folgestörungen zu erklären, ist die Bandbreite an therapeutischen Strategien sehr groß. Sie reichen von sehr spezifischen und fokussierten Therapieangeboten bis zu breiten und eher allgemein ausgerichteten psychotherapeutischen Ansätzen. Die empirische Basis an Studien, in welchen diese Strategien evaluiert wurden, ist umfangreich und lässt fundierte und verlässliche Schlüsse zur Wirksamkeit einer psychotherapeutischen Behandlung von Missbrauchsopfern zu. Insgesamt betrachtet existieren sowohl für kindliche und jugendliche als auch für erwachsene Opfer sehr wirksame psychotherapeutische Interventionen, durch welche signifikante und auch stabile Effekte in einem breiten Spektrum an Folgestörungen erzielt werden können. Die unterschiedlichen Ansätze unterscheiden sich jedoch in ihrer Wirksamkeit. Von den internationalen Fachgesellschaften wurden Empfehlungen für manche Ansätze ausgesprochen, von der Anwendung anderer Ansätze wird hingegen abgeraten. Auch sind die unterschiedlichen Ansätze nicht in allen Symptom- und Problembereichen in |246|gleichem Ausmaß effektiv. Die spezifische Indikationsstellung sollte daher immer an den jeweiligen Problemkonstellationen und Rahmenbedingungen orientiert sein.
Insgesamt lässt die vorliegende empirische Evidenz den Schluss zu, dass von einem kognitiv-behavioralen Therapieansatz, der auf einer traumafokussierenden Konfrontation und der Elaboration des Traumagedächtnisses als zentrale Elemente aufbaut, die höchste Wirksamkeit zu erwarten ist. Eine Modifikation der mit dem Trauma zusammenhängenden kognitiv-emotionalen Prozesse und des daran geknüpften Verhaltens sind die wesentlichen Ziele dieses Therapieansatzes. Dennoch gilt es, die konkrete Planung jeder psychotherapeutischen Behandlung immer an den spezifischen Konstellationen des Einzelfalles zu orientieren, differenzielle Indikationsstellungen zu berücksichtigen und Entscheidungen über mögliche Sequenzierungen einzelner Interventionsschritte zu treffen. Alle diese Entscheidungen müssen die jeweils vorliegenden Rahmenbedingungen berücksichtigen und sollten immer an der empirischen Evidenz orientiert sein.
Zusammenfassend betrachtet lassen sich die einzelnen Schritte einer psychotherapeutischen Behandlung von Opfern eines sexuellen Missbrauchs folgendermaßen beschreiben: Der erste Schritt sollte in der Elaboration des Traumagedächtnisses bestehen, darauf sollte eine Modifikation der negativen kognitiv-emotionalen Prozesse folgen. In einem letzten Schritt müssen ungünstige behaviorale und kognitive Bewältigungsstrategien abgebaut und im Gegenzug positive Strategien aufgebaut werden (Ehlers et al., 1998). Zur Erreichung der Therapieziele können sowohl kognitive und imaginative als auch behaviorale Methoden zum Einsatz kommen, die sich in der Behandlung der jeweils betroffenen Bereiche bewährt haben.