Diese Leute gebrauchten auch bestimmte Schriftzeichen oder Buchstaben, mit denen sie in ihren Büchern ihre alten Geschichten und ihre Wissenschaften aufschrieben, und durch sie, die Bilder und einige Zeichen an den Bildern verstanden sie ihre Angelegenheiten, machten sie anderen begreiflich und lehrten sie.108
So Diego de Landa 1566 in seinem Bericht aus Yukatan. Ihm ist es letztlich zu verdanken, dass wir die Maya-Schrift sowie die Kalenderzeichen heute weitgehend lesen können, obwohl er andererseits als übereifriger Missonar viele Bücher der Maya vernichtete. Das sogenannte Landa-Alphabet war der Schlüssel zur Entzifferung der Maya-Hieroglyphen. Dazu später ausführlicher. Die wichtigsten Merkmale einer Hochkultur sind Schrift, Zahlen und Kalender. Die meisten Kulturen Mesoamerikas erfüllten diese, aber die Maya waren allen anderen Kulturen des vorspanischen Amerikas in dieser Beziehung voraus. Denn ihr Schrift- und Kalendersystem erreichte die höchste Entwicklungsstufe im vorspanischen Amerika.
Die Maya-Schrift ist den Schriftsystemen der Alten Welt ebenbürtig. Allerdings ist sie nicht wie unsere eine aus einzelnen Buchstaben bestehende Alphabetschrift, sondern eine aus Silben und Wörtern bestehende, sogenannte logosyllabische Schrift. Sowohl die Alphabetschrift als auch die logosyllabische Schrift geben einen Sprachcode wieder. Im Unterschied dazu ist die aus Bildern und/oder Symbolen bestehende piktografische Schrift wie zum Beispiel die der Azteken nicht an eine Sprache gebunden und daher über Sprachgrenzen hinaus sozusagen international verständlich. Erst in den letzten Jahrzehnten konnte man die Maya-Schrift weitgehend entziffern. Lange Zeit stufte man sie als rein piktografische Schrift ein, da sie ähnlich wie die altägyptische Schrift bildhafte Zeichen verwendet. Daher die Bezeichnung »Hieroglyphen«109 und dementsprechend bestand selbst in der Forschung das Vorurteil, dass sie somit keine vollwertige Schrift im eigentlichen Sinne sei.
Maya-Schrift und -Texte sind uns heute vor allem einerseits auf Steinmonumenten wie Stelen, auf Wänden von Tempeln oder Palästen, Treppen, Altären oder Türstürzen sowie als Stuckformen erhalten, andererseits auf Keramikgefäßen sowie Schmuck und anderen kleineren Gegenständen. Schließlich sind noch die aus der Rinde eines Feigenbaumes hergestellten Bücher, die sogenannten Codices oder Handschriften zu nennen, von denen uns aber nur noch insgesamt vier erhalten geblieben sind. Die Entzifferung der Schrift der Maya, der »Hieroglyphen«, hat besonders in den letzten Jahrzehnten Fortschritte gemacht. Heute sind ca. 80 % der Maya-Hieroglyphen entziffert. Nach wie vor ungeklärt ist aber der konkrete Ursprung der Maya-Schrift. Die erste mesoamerikanische Kultur mit nachweisbarer Schrift ist die der Olmeken in der präklassischen Zeit. Schon früh finden sich im Maya-Gebiet an der Pazifikküste und im Hochland Schrifttexte auf Stelen und zwei Schriftsysteme: zum einen die Isthmus-Schrift110, die vermutlich den Sprechern der Mixe-Zoque-Sprachen zuzuordnen ist, zum anderen ein wohl eher den Maya zuzuordnendes Schriftsystem. Das bislang erste erhaltene und datierbare Schriftdokument mit Maya-Hieroglyphen ist ein Stein aus der präklassischen Zeit um 300 v. Chr. aus San Bartolo (Dep. Petén, Guatemala) nahe Tikal. Dabei sind die Hieroglyphen bereits voll entwickelt, sodass der eigentliche Anfang der Maya-Schrift noch einige Jahrhunderte früher anzusetzen ist. Ebenfalls frühe Inschriften stammen aus Orten wie El Mirador, Tikal oder Uaxactún. Eine Blütezeit und weite Verbreitung erlebte die Maya-Schrift in der klassischen Zeit, vor allem auf Steinmonumenten und Gegenständen wie Keramik oder Schmuck und natürlich durch Bücher. In der postklassischen Zeit ist diesbezüglich ein gewisser Rückgang zu beobachten: Bis ins 17. Jh. hinein stellten nun Bücher das mehr oder weniger einzige Schriftmedium dar.
Mit logosyllabischen Schriftzeichen hatten die Maya also ein »gemischtes« Schriftsystem, in dem die Zeichen sowohl ganze Wörter als auch Silben repräsentieren, die miteinander kombiniert wurden. Insgesamt gab es ca. 800 Schriftzeichen, die meisten davon Wortzeichen (Logogramme). Die Silbenzeichen bestehen immer aus einem Konsonanten und einem Vokal. Durch die Kombination von 22 Konsonanten und 5 Vokalen ergaben sich insgesamt mindestens 110, möglicherweise aber an die 300 Silbenzeichen.111 Mit ihnen drückte man nicht nur die Bedeutung eines Wortes aus, sondern konnte man auch die Aussprache anzeigen (sog. phonetische Komplemente) oder die Interpretation bzw. Lesung verdeutlichen (sog. Deutezeichen bzw. Determinative). Erschwerend beim Lesen der Maya-Hieroglyphen kommt allerdings hinzu, dass es verschiedene Schreibvarianten gab: Nicht nur ein Wort, sondern auch ein und dieselbe Silbe konnten mit mehreren bzw. verschiedenen Zeichen – nicht zuletzt auch bildhaft – dargestellt werden. Ein Beispiel ist das Wort ajaw (»Herrscher«, »König«), für das es drei Wortzeichen gab: der Kopf eines Herrschers, der Kopf eines Geiers oder ein abstraktes Wortzeichen. Ajaw konnte man ebenso nur mit Silbenzeichen (a-ja-wa) schreiben und schließlich auch in der Verbindung von Wort- und Silbenzeichen. Eine weitere Schwierigkeit war, dass ein und dasselbe Zeichen verschiedene Bedeutungen haben konnte: Ein Frauenkopf konnte »Frau« oder »Mutter« repräsentieren. Die genaue Bedeutung konnte man nur aus dem konkreten Kontext herauslesen. Es stellt sich die Frage, warum es die Maya-Schreiber dem Leser so schwierig machten? Es waren wohl rein ästhetische Gründe bzw. der künstlerische Ehrgeiz eines Schreibers, der nach dem Motto »je vielfältiger, virtuoser und prachtvoller, desto besser« vorging. So konnte ein Text kalligrafisch kunstvoll ohne Wiederholung derselben Zeichen gestaltet werden.
Die Hieroglyphen wurden in Doppelkolumnen angeordnet, die von oben nach unten und von links nach rechts gelesen werden. D. h. man beginnt mit der obersten Zeile der linken Kolumne und der Hieroglyphe links, liest dann die rechte Hieroglyphe und als nächstes die erste Hieroglyphe links eine Zeile tiefer usw. bis zum Ende der ersten Kolumne. Dann beginnt man mit der obersten Zeile der zweiten Kolumne wieder von links nach rechts.
Die Sprache, in der die Schriftdokumente der klassischen Maya-Epoche verfasst wurden, war das »klassische Maya«, ein Vorläufer der heutigen Ch’ol-Sprachen. Diese gehören zur Cholan-Tzeltalan-Sprachgruppe und bestehen aus den Sprachen Ch’ol, Chontal und Ch’orti’. Letztere zeigt die meisten Ähnlichkeiten mit dem »klassischen Maya«. Das »klassische Maya« war als Hochsprache in der klassischen Zeit im ganzen Tiefland verbreitet. Allerdings war es eine Sprache der gesellschaftlichen Elite, die sich von der der breiten Bevölkerung in gewisser Hinsicht unterschied.
Die Schrift diente in der klassischen Zeit vor allem der Darstellung und Legitimation von Herrschern sowie religiösen Zwecken. Die Hieroglyphentexte auf Steinmonumenten haben dementsprechend historischen Charakter und berichten zum Beispiel über die Geschichte und das Leben der Herrscher und ihrer Dynastien. Aber selbst historische Ereignisse, die schriftlich festgehalten wurden, sah man in einem religiösen Zusammenhang, denn nicht zuletzt galt der Herrscher als göttlich. Bei der Schrift auf Keramikgefäßen und Schmuck handelt es sich meist um die die Bildszenen begleitenden und erklärenden Texte sowie um Weiheformeln mit Namensangabe des Eigentümers und Herstellers. Die Weiheformeln auf den Keramikgefäßen sind als eigene Literaturgattung einzuordnen. Sie geben Auskunft über die rituelle Einweihung, die Art des Gefäßes (zum Beispiel Trinkgefäß), den Inhalt des Gefäßes (zum Beispiel Kakao), den Titel des Besitzers (zum Beispiel Ballspieler) und zum Teil auch über das Entstehungsdatum und den Künstler des Gefäßes. In keiner anderen vorspanischen Kultur Amerikas geben uns somit Keramikgefäße so viel Auskunft wie bei den Maya. Neben dieser Textart der Weiheformeln gibt es noch weitere Texte auf den Keramikgefäßen, die die dargestellten Abbildungen erklären.
Die einzigen vier uns erhaltenen Bücher bzw. Codices stammen aus der postklassischen Zeit.112 Der Inhalt dieser von Priestern verfassten Bücher (zum Beispiel der Dresdner Codex) ist vor allem astronomisch-kalendarischer Art, bei dem es größtenteils um Wahrsagerituale geht. Die Schreiber nahmen als eigene Berufsgruppe eine gesellschaftlich hohe Stellung ein und wohnten in palastartigen Häusern, häufig in der Nähe der Herrscherpaläste. Es gab zwei affenartige Gottheiten (Jun B’atz und Jun Chuwen)113, die als Schutzpatrone der Schreiber fungierten. Malereien der Maya zeigen die Schreiber meist mit einem Kopftuch, in das sie ihre Pinsel steckten.
Sie haben ein so vollkommenes Jahr wie das unsere.114
Schon Diego de Landa erkannte die Gleichwertigkeit des Maya-Kalenders, der einer der weltweit differenziertesten ist, mit den Kalendersystemen der Alten Welt. Wie bei der Maya-Schrift lieferte Landa uns auch im Fall des Zahlen- und Kalendersystems den Schlüssel für das Verständnis.
Eine Besonderheit, die das Zahlsystem der Maya im vorspanischen Amerika einzigartig macht, ist die Verwendung der Null. Eine Errungenschaft, mit der komplexe und umfangreiche Rechnungen möglich waren. Und eine Errungenschaft, die bei uns in Europa erst mit dem arabischen Zahlensystem im Mittelalter eingeführt wurde. Bis dahin rechnete man hier mit dem römischen Zahlensystem, das keine Null kennt.
Während wir insgesamt neun Zeichen und die Null verwenden, benutzten die Maya nur drei Zeichen für Zahlen: Einen Punkt für 1 (zwei Punkte für 2 etc.), einen Balken für 5 und die Muschel als Zeichen für die Null. Die Zahlen konnten aber nicht nur in dieser abstrakten Form dargestellt werden, sondern alternativ auch in Form von Kopfvarianten, d. h. als Kopf eines Menschen oder Tieres.
Das Zahlensystem der Maya war wie das unsere ein Stellenwertsystem, bei der der Zahlenwert von seiner Stelle abhängt. Dargestellt sei dies am Beispiel der Zahl 285: Der Stellenwert der Hunderter hat in diesem Fall den Wert 2 (= 200), der Stellenwert der Zehner den Wert 8 (= 80) und der Stellenwert der Einer den Wert 5 (= 5). Fügt man diese Werte zu einer Zahl zusammen, ergibt sich 285. Wir schreiben die einzelnen Werte einer Zahl horizontal nebeneinander, wobei der Stellenwert von links nach rechts abnimmt. Die Maya schrieben eine Zahl vertikal bzw. in einer Kolumne, wobei der Stellenwert von unten nach oben zunahm.
Ein wesentlicher Unterschied war, dass das Zahlensystem der Maya – wie in ganz Mesoamerika – ein Vigesimalsystem war, unseres dagegen ein Dezimalsystem ist. Während wir die Zahlen sozusagen an den zehn Fingern der beiden Hände abzählen und für uns daher 10 (101), 100 (102), 1000 (103) etc. die maßgebenden Einheiten sind, benutzten die Maya für die Zählung Hände und Füße, und dementsprechend waren 20, dann 400 (202) und 8000 (203) die entscheidenden Zahlenwerte. Für die Maya dienten aber Zahlen bzw. die Mathematik in erster Linie zur Kalenderberechnung. Entsprechend sind die Zahlenangaben der Inschriften fast ausschließlich Kalenderdaten. Dazu passten die Maya das Zahlensystem an das Kalendersystem an und nahmen dabei eine »kleine« Änderung vor: So wurde bei den Kalenderrechnungen zunächst der Stellenwert der Einer gemäß dem Zahlensystem mit einer entsprechenden Anzahl von Punkten angegeben und der Stellenwert der Zwanziger jeweils mit einer Eins. Beim nächsten, dem dritten Stellenwert, machten die Maya dann aber eine Ausnahme: Statt 202 = 400 rechneten die Maya an dieser Stelle 20 × 18 = 360. Danach wurde an vierter Stelle die Reihenfolge des Vigesimalsystems mit der Zahl 360 fortgesetzt: 360 × 20 = 7200, 7200 × 20 = 144 000 etc. Die Zahl 360 hatte man eingesetzt, weil dies der Zahl der Tage des Sonnenkalenders ohne die fünf zusätzlichen Tage entsprach und somit für die Kalenderrechnung wichtig war.
Eine wichtige Aufgabe der Priester war die Astronomie, d. h. die Beobachtung und Berechnung des Verlaufs der Gestirne. In Mesoamerika war bekannt, dass es sich bei Morgen- und Abendstern um dasselbe Gestirn handelt, während man in Europa lange davon ausging, dass es zwei verschiedene »Sterne« seien. Von den Maya wissen wir, dass sie eine ausgezeichnete Kenntnis des Verlaufs diverser Gestirne besaßen, vor allem von Sonne, Mond, Venus, Merkur, Jupiter, Saturn und Mars. Dies belegen vor allem die Codices, die vorwiegend oder ausschließlich kalendarischen Inhaltes sind. So konnten die Maya zum Beispiel vorhersagen, wann eine der von ihnen gefürchteten Sonnen- oder Mondfinsternisse auftrat oder wann die Venus sichtbar war. Zu betonen ist, dass diese Kenntnisse und Leistungen auf zeitaufwendiger Beobachtung der Gestirne ohne technische Hilfsmittel wie Fernglas oder Teleskop beruhten.
In den mesoamerikanischen Kulturen waren vor allem zwei zyklische Kalendersysteme in Gebrauch, von den Maya übernommen und bis zur Perfektion weiterentwickelt: ein Kalender nach dem Verlauf der Sonne und ein Ritualkalender nach dem Verlauf des Mondes.
Der Sonnenkalender, Haab genannt, bestand aus 18 Monaten (uinal) mit je 20 Tagen, also insgesamt 360 Tagen. Man zählte am Jahresende noch die zur Vollständigkeit eines Sonnenjahres fehlenden fünf restlichen Tage (wayeb) hinzu und hatte dann so wie bei uns einen Kalender mit 365 Tagen. Diese fünf Tage, die »Schläfer des Jahres«, galten als unglücksbringend. Die Tage nummerierte man von 0 bis 19 durch (beim Tzolk’in dagegen von 1 bis 20).
Monatsname |
Übersetzung |
|
1 |
Pop |
Strohmatte |
2 |
Wo |
(Hieroglyphe: schwarzes Kreuzband) |
3 |
Slip |
Jagdgott |
4 |
Sotz’ |
Fledermaus |
5 |
Tzek |
? |
6 |
Xul |
Hund mit Sonne |
7 |
Yaxk’in |
»Grüne Sonne« (= Trockenzeit) |
8 |
Mol |
(Hieroglyphe: Jade) |
9 |
Ch’en |
(Hieroglyphe: schwarze Himmelsschlange des Westens) |
10 |
Yax |
(Hieroglyphe: grüne Himmelsschlange des Südens) |
11 |
Sak |
(Hieroglyphe: weiße Himmelsschlange des Nordens) |
12 |
Keh |
(Hieroglyphe: rote Himmelsschlange des Ostens) |
13 |
Mak |
? |
14 |
K’ank’in |
(Hieroglyphe: Hund der Unterwelt) |
15 |
Muwan |
(Hieroglyphe: Muwan-Vogel) |
16 |
Pax |
? |
17 |
K’ayab’ |
(Hieroglyphe: Schildkröte) |
18 |
Kumk’u |
(Hieroglyphe: Muscheln über Maiskeimen = Itzamnaaj) |
|
Wayeb’ |
»Schläfer des Jahres« (die fünf Tage zum Ausgleich des Jahres) |
Der Ritualkalender, Tzolk’in genannt, bestand aus 260 Tagen bzw. aus 13 Abschnitten von jeweils 20 Tagen. Jeder der 20 Tage hatte einen eigenen Namen. Dieser Tagesname bestand aus einem Tageszeichen und einer Zahl. Die Tageszeichen wurden nach einem Naturphänomen, einem Tier oder ähnlichem benannt. Jedes dieser 20 Tageszeichen wurde jeweils mit einer Zahl von 1–13 verbunden. So begann der Name des ersten Tages mit 1 imix (»1 Erdmonster«), 2 ik (»2 Wind«) etc. Die erste Einheit des Tzolk’in-Jahres endete dann mit 13 ben (»13 Schilfrohr«). Die zweite Einheit begann wieder mit 1 und den fortlaufenden Namen, also 1 ix (»1 Jaguar«), 2 men (»2 Adler«) etc. So ergaben sich bis zum Ende des Jahres immer verschiedene Zusammensetzungen von Zahlen und Symbolen bei den Tagesnamen – bis beim ersten Jahrestag des folgenden Jahres (bzw. mit dem 261. Tag) alles wieder mit 1 imix usw. begann. Nach Ablauf von 52 Jahren (bzw. 18980 Tagen) trafen Sonnen- und Mondkalender in ihrem zyklischen Ablauf am selben Tag zusammen. 52 Jahre galten daher als eine unserem Jahrhundert vergleichbare Zeiteinheit, die (damals) einem Menschenleben entsprach. Besondere Beachtung fanden die Tage des Ritualkalenders, die auf den Neubeginn eines Haab-Jahres fielen, sie hießen »Jahresträger«.
Tagesname |
Übersetzung |
|
1 |
Imix |
Erdmonster |
2 |
Ik’ |
Wind |
3 |
Ak’bal |
Nacht |
4 |
K’an |
Mais |
5 |
Chickchan |
Schlange |
6 |
Kimi |
Tod |
7 |
Maník’ |
Hirsch |
8 |
Lamat |
Kaninchen |
9 |
Muluk |
Regen |
10 |
Ok |
Hund |
11 |
Chuwen |
Affe |
12 |
Eb |
Besen |
13 |
Ben |
Schilfrohr |
14 |
Ix |
Jaguar |
15 |
Men |
Adler |
16 |
Kib |
Geier |
17 |
Kaban |
Erde |
18 |
Etz’nab |
Feuerstein (Messer) |
19 |
Kawak |
Sturm |
20 |
Ajaw |
Herr |
Der Ritualkalender war in seiner primär religiösen Funktion als Wahrsagekalender wichtiger als der Sonnenkalender. Denn die im Ritualkalender festgelegten Tage waren schicksalsentscheidend für viele Ereignisse und Unternehmungen vom alltäglichen bis hin zum politisch-staatlichen Bereich (zum Beispiel Namensgebung der Kinder, Krankheiten und ihre Behandlung, für die Einsetzung des Herrschers, für die Kriegsführung sowie für die Festlegung wichtiger Daten wie Jahresfeste, Aussaat und Ernte oder Opfer). Jeder Kalendertag stand unter der Herrschaft einer bestimmten Gottheit. Zudem hielten die Maya die Position eines jeden Tages im Mond- und Venusjahr fest. Jeder Tag war so durch das Zusammenwirken göttlicher und kosmischer Kräfte individuell bestimmt und bestimmend.
Sonnen- und Ritualkalender waren zyklische Zeitberechnungen, während wir ein lineares Kalendersystem haben, dass von einem fixen Datum (einem Null-Datum bzw. Christi Geburt) ausgeht. Mit den zyklischen Kalendersystemen war die Vorstellung verbunden, dass sich alle Ereignisse der Vergangenheit in Gegenwart bzw. Zukunft wiederholen. Außer diesen beiden zyklischen Kalendersystemen gab es in Mesoamerika schon in der präklassischen Zeit noch ein lineares Kalendersystem, dessen Berechnung wie bei uns von einem fixen Zeitpunkt ausgeht und als »Lange Zählung« bzw. »Long Count« bezeichnet wird. Dieses lineare Kalendersystem übernahmen die Maya und entwickelten es weiter. Der Long Count ermöglichte den Maya Kalenderrechnungen in buchstäblich astronomischem Ausmaß. Der Nullpunkt bzw. Beginn des Long Count lag weit zurück in der Vergangenheit. Um aber in der Praxis die Kalenderberechnungen nicht mit so großen Jahreszahlen zu erschweren, wurde bei den Datumsangaben immer »nur« die Anzahl der Tage angegeben, die seit der Erschaffung dieser Welt bzw. dem Beginn des gegenwärtigen, vierten Zeitalters vergangen war. Das war der Tag 4 Ajaw 8 Kumk’u, was dem 8. September im Jahr 3114 v. Chr.116 entspricht. Da uns also dieses Anfangsdatum bekannt ist, ist es uns möglich, die auf den Stelen und anderen Denkmälern verzeichneten Long-Count-Daten in unsere Zeitrechnung zu übertragen.
Der Kalender in Form des Long Count war zwar keine Erfindung der Maya, aber sie entwickelten diesen zur Perfektion weiter. Die ersten Stelen mit Daten in der Long-Count-Rechnung stammen aus Tres Zapotes, La Mojarra und Tuxtla. Die Stele C von Tres Zapotes (31 v. Chr.) im mexikanischen Bundesstaat Veracruz und die Stele 2 von Chiapa de Corzo (36 v. Chr.) im mexikanischen Bundesstaat Chiapas gelten als bislang erste Stelen mit der Langen Kalenderzählung. Beide Orte sind der Kultur der Epi-Olmeken zuzuordnen. Die Bewohner von Chiapa de Corzo waren Sprecher der Mixe-Zoque-Sprache, die von der Olmeken-Kultur beeinflusst waren. Die früheste Datumsangabe der klassischen Maya-Zeit, die bisher gefunden wurde, enthält die Stele 29 in Tikal, nämlich 292 n. Chr. Die letzte erhaltene Datumsangabe des Long Count ist 909 n. Chr. auf einer Stele von Toniná. Ein Datum, das als Ende der klassischen Maya-Kultur gilt.
Ein tun entsprach einem Jahr und bedeutete »Stein«, weil an jedem Jahresende ein Gedenkstein aufgestellt wurde. Ein Beispiel für ein Datum des Long Count ist das der Leidener Platte117: Auf ihr ist das Datum 8.14.3.1.12 vertikal bzw. übereinander in einer Kolumne angeordnet. Die Maya-Forscher umschreiben dies folgendermaßen in einer linearen Form: 12 kin, 1 winal, 3 tun, 14 k’atun und 8 bak’tun. Dies sind insgesamt 1 265 432 Tage bzw. fast 3467 Jahre, die seit dem Beginn der Maya-Zeitrechnung (dem Tag 4 Ajaw 8 Kumk’u) vergangen sind. Das Datum auf der Platte entspricht dem 17. September 320 n. Chr. Die Datumsangaben der Inschriften auf den Monumenten beginnen mit der sogenannten Initialserie, die durch eine Einführungsglyphe gekennzeichnet ist. Diese Einführungsglyphe kündigt die Datumsangabe an, die die Anzahl der Tage angibt, die seit dem Schöpfungstag 4 Ajaw 8 Kumk’u vergangen sind.
Auch eine hochentwickelte Kalenderberechnung über oder bezüglich des Verlaufes der Venus war in Gebrauch. Informationen darüber liefern uns die acht sog. Venustafeln des Dresdner Codex. Für die Maya war es wichtig zu wissen, wann der »Venusstern« zum ersten bzw. letzten Mal als Morgen- und als Abendstern sichtbar ist. Die Berechnungen des Venusverlaufes dienten dazu, vor dem ersten Sichtbarwerden des Morgensternes zu warnen, das bei den Maya sehr gefürchtet war. Der Codex beschreibt dementsprechend den Verlauf von 65 Venusjahren, die jeweils aus 584 Tagen bestanden. Der Codex verbindet den Verlauf der Venus mit denen des Sonnen- und Mondkalenders sowie mit der LongCount-Rechnung. So bestand zum Beispiel ein Venuszyklus aus 2920 Tagen, was genau acht Zyklen bzw. Jahren des Sonnenkalenders entspricht (8 × 365 = 2920).
Aufgrund der besonderen rituellen Bedeutung des Kalenders war das Neujahrsfest am ersten Tag des Monats Pop eines der wichtigsten Feste der yukatekischen Maya. Diego de Landa berichtet, dass die Priester und Adligen zwei bis vier Wochen vorher begannen zu fasten. Die Indios erneuerten am Neujahrstag »ihren ganzen Hausrat, wie etwa Teller, Gefäße, Schemel, Schilfmatten, die alte Kleidung und die Umhänge, in die sie ihre Götzenbilder eingewickelt hatten. Sie fegten ihre Häuser aus, den Kehricht und die alten Hausgeräte warfen sie außerhalb des Ortes auf den Abfallhaufen und niemand, auch wenn er ihrer bedurfte, rührte sie an.«118 Im Tempelhof versammelten sich die Männer (ohne Frauen). Dann
»reinigte der Priester, der sich mit seinem priesterlichen Ornat bekleidet hatte, den Tempel, wobei er sich in die Hofmitte setzte, und bei sich (hatte) er ein Kohlenbecken und die Brettchen mit dem Weihrauch. […] Nachdem der Teufel ausgetrieben war, begannen alle andächtig zu beten, und die Chaces entfachten ein neues Feuer und zündeten das Kohlenbecken an, denn bei den Festen, an denen die ganze Gemeinde teilnahm, verbrannten sie den Weihrauch für den Teufel mit neuem Feuer; nun streute der Priester seinen Weihrauch in das Kohlenbecken; dann kamen alle der Reihe nach, wobei die Häuptlinge den Anfang machten, und empfingen Weihrauch aus der Hand des Priester, der ihnen den Weihrauch mit solch feierlichem und andächtigem Ernst gab, als überreichte er ihnen Reliquien; und streute ihn nach und nach in das Kohlenbecken, wobei sie abwarteten, bis er völlig verbrannt war. Nach diesem Räucherwerk aßen sie alle gemeinsam die Gaben und Speiseopfer, und der Wein ging von Hand zu Hand, bis sie stockbetrunken waren: Dies war ihr Neujahresfest und eine ihren Götzen sehr angenehme Zeremonie.«119
Wir fanden bei ihnen eine große Zahl von Büchern […], und weil sie nichts enthielten, was von Aberglauben und den Täuschungen des Teufels frei wäre, verbrannten wir sie alle, was die Indios zutiefst bedauerten und beklagten.120
So Diego de Landa, der allein 27 Maya-Codices während des berühmten, von ihm veranstalteten Autodafés am 12.07.1562 verbrannte. Insgesamt haben von den Hunderten von Handschriften bzw. Codices nur ganze vier die Zerstörungswut der spanischen Missionare überstanden.
Mit dem Begriff Kodex (vom lat. codex, Mehrzahl codices, für »Baumstamm«, später »Buch«) bezeichnet man in der Alten Welt einen Vorläufer bzw. eine frühe Form des heutigen Buches. Diese wurden zunächst in Form von Holz- oder Wachstafeln angefertigt, später als Block von gefalteten Papyrus-, Pergament- oder Papierblättern zwischen zwei Holzbrettchen, die bis ins Mittelalter hinein verwendet wurden. Auch in der Neuen Welt spricht man bei den Kulturen der Maya, Mixteken und Azteken von Codices.121 Dabei handelt es sich um Faltbücher, die leporelloartig oder wie eine Ziehharmonika gefaltet wurden.
Die Codices der Maya bestanden aus Amate-Papier, d. h. aus der Rinde eines Ficus-Baumes. Ein solcher Codex wurde durch zwei mit Jaguarfell überzogene Holzdeckel geschützt. Die einzelnen Blätter wurden mit einer feinen Kalk- bzw. Stuckschicht als Grundlage überzogen und schließlich farbig bemalt. Die doppelseitig beschriebenen Blätter haben eine Größe von ca. 20 × 10 cm und waren durch dünne Häutchen miteinander verbunden. Die Herstellung dauerte wahrscheinlich mehrere Jahre. Es gab nicht nur einen, sondern durchaus mehrere Autoren eines Codex, wie es auch beim Dresdner Codex der Fall ist. Von den Büchern wurden immer wieder Abschriften erstellt, denn die Lebensdauer des Papiers war im feuchtwarmen Klima nicht sehr lang. Aufbewahrt wurden die Codices von Priestern in den Bibliotheken der Zeremonialzentren. Die uns erhaltenen Codices stammen alle aus der Zeit der Postklassik und zwar – mit Ausnahme des Codex Grolier – kurz vor Ankunft der spanischen Eroberer. Sie alle stammen aus derselben Gegend, nämlich Yukatan, und beschäftigen sich inhaltlich mit religiösen und astronomischen Themen.
Drei der Maya-Codices sind nach den Städten benannt, in denen sie sich heute befinden: Der Codex Dresdensis befindet sich in Dresden (Buchmuseum der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek), der Codex Madrid in der spanischen Hauptstadt (Museo de América) und der Codex Paris bzw. Peresianus in Frankreich (Bibliothèque Nationale). 1971 wurde ein vierter Codex, der Codex Grolier, entdeckt, der sich in Mexiko befindet. Inhaltlich befassen sich diese Codices mit Kalender, Astronomie und Astrologie – für die Maya eng mit der Religion verbunden: So dienten die in den Codices beschriebenen Kalenderberechnungen und die Beschreibungen der Bahnen von Sonne, Venus, Mond und anderen Gestirnen der Voraussage von Glücks- und Unglückstagen sowie Tagen, an denen Krankheiten drohen, oder der Festlegung der Termine von Festen, Opfern, Ritualen und landwirtschaftlicher Tätigkeiten (Aussaat, Ernte etc.). Enthalten sind auch damit zusammenhängende Anrufungen der entsprechenden Gottheiten.
Der Dresdner Codex (Buchmuseum der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden) stammt aus dem 15. Jh., vermutlich aus der Zeit kurz vor der Ankunft der Spanier, denn er wurde nicht fertiggestellt. Zudem sind die darin dargestellten Räuchergefäße identisch mit archäologischen Funden der materiellen Kultur der späten postklassischen Zeit. Der Codex besteht inhaltlich hauptsächlich aus kalendarischen Angaben. Ursprünglich war die Handschrift leporelloartig gefaltet, bestehend aus 39 doppelseitig beschriebenen Blättern von ca. 20 × 10 cm Größe mit insgesamt 78 Seiten. Seit 1830 wird er nicht gefaltet, sondern in zwei ca. 1,80 m langen Teilen mit 20 bzw. 19 Blättern und in beidseitiger Verglasung ausgestellt. Dabei wurden drei Blätter vertauscht, sodass die Handschrift seitdem in einer falschen Seitenfolge gezeigt wird. Dies wird nicht korrigiert, da beim Bombenangriff auf Dresden 1945 ein Wasserschaden entstand und die Farbschicht teilweise am Glas haften blieb, sodass eine Änderung der Seitenverdrehung nicht mehr möglich ist.
Die Forschungsgeschichte des Codex begann, als der Hofkaplan und Bibliothekar Johannes Christian Götze (1692–1749) diesen »bei einer Privat-Person in Wien gefunden, und als eine sonst unbekannte Sache gar leicht umsonst erhalten«122 hatte. Wie der Codex nach Wien kam, ist nicht mehr nachvollziehbar. Götze übergab den Codex der Kurfürstlichen Bibliothek in Dresden, wo er 1848 erstmals veröffentlicht wurde. Alexander von Humboldt (1769–1859) zeigte einige Seiten aus dieser Handschrift in seiner Kordillerenreise (1810) und weckte so das wissenschaftliche Interesse am Codex. Constantine Samuel Rafinesque-Schmaltz (1783–1840) wies nach, dass es sich nicht, wie man bisher annahm, um ein Buch der Azteken, sondern der Maya handelte. Ernst Wilhelm Förstemann (1822–1906), Sprachwissenschaftler und Leiter der Königlichen Bibliothek in Dresden, erkannte den kalendarischen Inhalt des Codex: eine Reihe von Almanachen (wie Förstemann sie nannte), die sich mit den einzelnen Tagen des Ritualkalenders sowie den jeweils für diese Tage zuständigen Gottheiten befassen. Die Gottheiten werden dabei angerufen und beraten über das Schicksal der Tage. Förstemann ist es zu verdanken, dass wir heute wissen, wie der Ritualkalender sowie die Rechnung von einem fixen Nullpunkt und wie das Zahlensystem der Maya funktionierte. Der mit Förstemann befreundete Jurist Paul Schellhas (1859–1945) konnte 20 Maya-Gottheiten des Dresdner Codex’ anhand ihrer spezifischen Darstellung mit Symbolen, Kleidung etc. identifizieren. Er benannte die Gottheiten nach dem Alphabet als Gott A, Gott B usw., um eine voreilige und somit eventuell falsche Deutung zu vermeiden. Diese Namen werden teilweise bis heute in der Forschung verwendet. Der Codex behandelt in zehn, von insgesamt sechs verschiedenen Schreibern verfassten Kapiteln folgende Themen:
1.Anrufung der 20 wichtigsten Gottheiten
2.Anrufung der Mondgöttin
3.»Venustafeln«, die das Erscheinen und Wirken des Venusgottes darstellen
4.Sonnen- und Mondfinsternisse
5.Multiplikationstafeln für die Zahl 78 (die eine besondere, bislang unbekannte Bedeutung hatte)
6.Prophezeiungen der Katastrophen am Ende eines K’atun123
7.Ursprung des Regens und der Zeit
8.Weltuntergang durch eine Sintflut
9.Neujahrszeremonien bzw. Zeremonien zum Ende des Sonnenjahres
10. Opferrituale für den Regengott sowie die Reisen des Regengottes und des Mars (»Marstafeln«)
Der Codex Madrid (Madrid, Museo de América) besteht aus 56 Blättern bzw. 112 Seiten und ist mit einer Länge von insgesamt 6,82 m der längste Codex. Seine Entstehung ist, wie beim Dresdner Codex, zwischen dem 15. und 16. Jh. anzusetzen, nicht zuletzt auch hier wieder aufgrund der Ähnlichkeiten von archäologischen Funden mit den im Codex dargestellten Objekten wie Trommeln oder Rasseln. Allerdings besteht ein auf Seite 56 eingefügter Textteil aus europäischem Papier und ist somit ein Beleg dafür, dass der Codex nach Ankunft der Spanier zumindest noch bearbeitet wurde. Es wird vermutet, dass der Codex in Tayasal entstanden ist, der Maya-Stadt der Itzá, die erst 1697 von den Spaniern erobert wurde.
Vermutlich von einem katholischen Priester beschlagnahmt, gelangte der Codex um 1618 an den spanischen Königshof, dann in Privatbesitz und geriet in Vergessenheit. In den 1860er-Jahren wurde er in zwei Teilen an verschiedenen Orten wiederentdeckt, als »Codex Troanus« (im Besitz von Juan de Tro y Ortolano, von Charles Étienne Brasseur de Bourbourg publiziert) und als »Codex Cortesianus«. Der Franzose Léon de Rosny stellte fest, dass beide Teile zusammen eine Handschrift bilden, die daraufhin zunächst »Codex Tro-Cortesanius« genannt wurde.
Thematisch werden zum Beispiel Krieg, Jagd, Bienenzucht (11 Seiten) sowie ausführlich der Regengott Chaak und seine Herrschaft über die Landwirtschaft behandelt. Aber auch astronomische Tabellen wie die Venustafeln fehlen nicht. Der Codex weist etliche Schreibfehler auf und ist in der Qualität nicht mit dem Dresdner Codex vergleichbar.
Der Pariser Codex (oder »Codex Peresianus«, Bibliothèque Nationale de Paris) ist bis auf den mittleren Teil der am schlechtesten erhaltene Maya-Codex. Nur etwa 30 % der Bemalung sind erhalten. Er ist 1,45 m lang, besteht aus 22 Seiten und entstand wohl im 15. Jh. Wie die anderen Codices in Vergessenheit geraten, entdeckte ihn Léon de Rosny – buchstäblich im letzten Augenblick – in einem Korb mit Altpapier neben dem Kamin der Bibliothek. Der Inhalt des Pariser Codex ist astronomischer Art. Dargestellt sind eine Reihe von Kalenderzyklen (so ein Zyklus unter der Herrschaft des Regengottes Chaak) sowie K’atun-Prophezeiungen.
Der Codex Grolier (oder »Sáenz Codex« bzw. »Mexiko Maya Codex«, Museo Nacional de Antropología in Mexiko-Stadt) bestand ursprünglich aus 20 Blättern, von denen 10 einseitig bemalte Blätter erhalten sind. Nach ersten Radiokarbon-Messungen datierte man das Papier in die Zeit um 1230, nach jüngsten Forschungsergebnissen soll der Codex sogar aus dem 11./12. Jh. stammen.124 Danach wäre der Codex Grolier der älteste der Maya-Codices. Andererseits ist er der zuletzt – 1965 in Chiapas – wiederentdeckte Codex. Aus einer Raubgrabung stammend, wurde er von dem mexikanischen Sammler José Sáenz gekauft, von dem Mayaforscher Michael D. Coe begutachtet und zunächst im Grolier Club in New York ausgestellt. Schließlich schenkte Sáenz den Codex der Mexikanischen Regierung. Der Codex fand schließlich seine letzte Heimstätte im Museo Nacional de Antropología in Mexiko-Stadt. In Art und Stil – zum Beispiel der ausschließlichen Verwendung von Zahlzeichen – unterscheidet sich dieser Codex von den anderen drei. Deshalb wurde er lange als Fälschung eingestuft.125 Zudem schien der schlechte Zustand des Papiers im Widerspruch zur gut erhaltenen Bemalung zu stehen. Ebenso schien die Darstellung einer damals noch unbekannten Berggottheit mit gespaltenem Kopf die Einstufung als Fälschung zu belegen. Dann aber fand man Abbildungen dieser Gottheit auf Artefakten bei Ausgrabungen in Tancah und Pasíon del Cristo. Es ist kaum anzunehmen, dass diese Gottheit Fälschern bereits vor diesen Funden bekannt war. Inhaltlich beschreibt der Codex – im Unterschied zum Dresdner Codex – den vollständigen Himmelsverlauf des Planeten Venus: nicht nur als Morgen- und Abendstern, sondern darüber hinaus das Verschwinden in der oberen und Wiedererscheinen in der unteren Konjunktion. Auf jeder Seite ist zudem eine nach links blickende Person oder Gottheit mit einer Waffe oder mit einem Gefangenen dargestellt.
Zu den Büchern bzw. zur Literatur der Maya zählen aber nicht nur die Codices, sondern auch das Popol Vuh und die Prophezeiungen des Chilam Balam (»Jaguarpriesters«) als die bekanntesten Schriften, ferner die Annalen der Kaqchikel, das Tanzdrama Rab’nal Achí oder die Lieder von Dzitbalché.
Das Popol Vuh (»Buch des Rates«) besteht aus den mythischen und historischen Erzählungen der K’iche’-Maya. Der erste Teil enthält den Mythos der Schöpfung und der vier Weltzeitalter sowie den Mythos der Göttlichen Zwillinge,126 der zweite Teil die Geschichte der K’iche’-Maya.127 Die Erzählungen wurden lange, wohl schon in der klassischen Zeit, mündlich überliefert, ehe sie schriftlich festgehalten wurden. Nach der spanischen Eroberung vernichteten die spanischen Missionare so gut wie alle Maya-Handschriften. Aber die Maya fertigten insgeheim einige Abschriften an. Diese waren in der Sprache der K’iche’ verfasst, allerdings in lateinischer Schrift und von christlichen Vorstellungen beeinflusst. Der Dominikanermönch Francisco Ximénez (1666–1722) in Chichicastenango (Guatemala) erhielt 1702 eine solche Abschrift von einem Indianer. Er widersetzte sich den Anordnungen, solche Manuskripte zu vernichten, stellte eine Kopie her und übersetzte den K’iche’-Text ins Spanische. Diese Kopie von Ximénez ist der einzige auf uns gekommene Primärtext des Popol Vuh. Dieses »Erbe« von Ximénez verblieb zunächst in seinem Dominikanerkloster, kam dann in die Universitätsbibliothek von Guatemala-Stadt und wurde von Charles Étienne Brasseur de Bourbourg wiederentdeckt, publiziert und ins Französische übersetzt.
Die Annalen der Kaqchikel enthalten die Geschichte der Kaqchikel im Gebiet des Lago de Atitlán und im Dep. Sololá128 (Guatemala) von der Einwanderung aus Tula in das Hochland von Guatemala, Ansiedlung und Eroberungen dort bis zur Zeit der spanischen Eroberung. Die Geschichte wird in einem mehr mythologischen als historischen Rahmen erzählt, ähnlich wie die Geschichte der K’iche’-Maya im zweiten Teil des Popol Vuh. Trotzdem handelt es sich um eine wertvolle Quelle zur Geschichte der vorspanischen Kultur der Kaqchikel sowie der benachbarten Ethnien. Sie enthält durchaus wichtige historische Daten. Über mehrere Jahrzehnte schrieben an dem Werk mehrere Autoren aus der ehemaligen Kaqchikel-Herrscherdynastie Xahil129, so Hernández Arana Xajilá in der Zeit von 1560 bis 1583 und sein Enkel Francisco Rojas in der Zeit von 1583 bis 1604. Niedergeschrieben wurde es zwar in der Sprache der Kaqchikel, aber in lateinischer Schrift. Zunächst im Besitz der Familie Xahil wurde das Manuskript bis zu seiner Wiederentdeckung 1844 im Kloster San Francisco de Guatemala aufbewahrt und 1855 von Charles Étienne Brasseur de Bourbourg ins Französische übersetzt.
Das Rab’inal Achí130 ist ein Tanzdrama der Achi’-Maya (Dep. Baja Verapaz, Guatemala). Benannt nach der Hauptperson des Stückes, wurde es in der Maya-Sprache verfasst, aber in lateinischer Schrift niedergeschrieben und ist seit 2005 Teil der UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit. Dargestellt wird eine der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den K’iche’ und den Achí’ im 15. Jh. im Hochland von Guatemala: Ein Mitglied des Fürstenhauses der K’iche’ dringt unerlaubt in das Gebiet der Achì’ von Rab’inal ein, wird von einem dortigen Krieger gefangengenommen, angeklagt und geopfert. Der Krieger von Rab’inal bezichtigt den K’iche’-Krieger in einer eindrucksvollen Rede an, sein Volk vertrieben und zu Vasallen gemacht zu haben, obwohl beide Völker eigentlich Brüder seien. Bevor der K’iche’-Krieger von den Adler- und Jaguar-Kriegern geopfert wird, wird ihm auf seine Bitte hin ein Tanz mit der Prinzessin von Cahyub ermöglicht. Charles Étienne Brasseur de Bourbourg übersetzte und publizierte das Drama 1862.131 Noch heute wird es jedes Jahr am 25. Januar, dem Tag der Bekehrung des heiligen Paulus, als Erinnerung an die Vorfahren aufgeführt.
Die verschiedenen Bücher, die unter dem Titel Chilam Balam zusammengefasst werden, bestehen aus einer Reihe verschiedener, aber miteinander verwandter Textsammlungen aus Yukatan, verfasst in der yukatekischen Maya-Sprache und aufgeschrieben in lateinischer Schrift. Sie stammen aus dem Zeitraum zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert. Inhaltlich enthalten sie vor allem die Prophezeiungen des sogenannten Chilam Balam (chilam = »Prophet, Priester«; B’alam = »Jaguar«) zum Beispiel über die spanische Eroberung Yukatans, die mehrere Priester von diesem empfingen und nach dem später die gesamte Textsammlung benannt wurde. Daneben finden sich in diesen Büchern aber auch aber auch historische, medizinische und astronomische Texte.
In dem Werk vermischen sich oft indianische Tradition und christliches Gedankengut. Die verschiedenen Chilam Balam-Bücher sind nach dem Ort ihrer jeweiligen Entstehung benannt. Sie haben alle eine gemeinsame, nach 1540 entstandene Textquelle. Ungefähr zwei Drittel der Texte zeigen mehr oder weniger starken spanisch-christlichen Einfluss, nur der Rest beruht auf vorspanischer Maya-Tradition. Als wichtigste Bücher des Chilam Balam sind folgende zu nennen:
·Chilam Balam von Chumayel (107 Seiten; um 1780; Princeton University Library in Princeton, New Jersey)
·Chilam Balam von Tizimin
(54 Seiten; um 1760; Bibliothek des Museo Nacional de Antropología, Mexiko-Stadt)
·Chilam Balam von Maní
(um 1790; erhalten als Kopie in dem von Juan Pío Pérez um1837 geschriebenen Codex Pérez; Bibliothek des Museo Nacional de Antropología in Mexiko-Stadt)
·Chilam Balam von Ixil
(88 Seiten; Bibliothek des Museo Nacional de Antropología in Mexiko-Stadt)
·Chilam Balam von Chan Kann
(128 Seiten; Bibliothek des Museo Nacional de Antropología in Mexiko-Stadt)
·Chilam Balam von Káua
(282 Seiten; Princeton University Library in Princeton, New Jersey)
·Chilam Balam von Nah
(67 Seiten; Princeton University Library in Princeton, New Jersey)
·Chilam Balam von Tusik
(58 Seiten; verschollen, es existieren nur Kopien)
·Chilam Balam von Tekax
(37 Seiten; verschollen)
Die bekannteste Sammlung ist das Chilam Balam-Buch von Chumayel. Es war namensgebend für diese Textsammlungen und enthält die Prophezeiungen einer Reihe von »Jaguarpriestern« (Chilam Balam). Diese heißen Ah Xupan Nauat, Ah Napuc Tun oder Ah Kauil Chel, und sagen zum Beispiel die Ankunft der Spanier und die Eroberung Yukatans sowie eine neue Religion voraus. Eine besondere Textgattung sind die K’atun132-Prophezeiungen, die weniger eine glückliche Zukunft verkünden als vielmehr Katastrophen wie Krieg, Seuchen, Hunger oder Dürre. Außerdem gibt es noch Zaubersprüche, in denen die Krankheiten und die Krankheitsbehandlung bzw. Heilung mit den entsprechenden Sprüchen beschrieben werden.
Die Lieder von Dzitbalché sind ein Beispiel für die Poesie der Maya. Aufgeschrieben während der Kolonialzeit in yukatekischem Maya, aber in lateinischer Schrift, stammen die Texte selbst wohl aus der Zeit um 1440. Es handelt sich um 15 Lieder zu den unterschiedlichsten Themen, von Liebe, Religion bis hin zur Philosophie. Der religiöse Bereich beinhaltet Themen wie Menschenopfer, Neujahrsfest oder Gebete. Die Lieder wurden von einem der Dorfältesten namens Ah Nam des Ortes Dzitbalché im mexikanischen Bundesstaat Campeche im 18. Jh. zusammengestellt, 1942 in Mérida wiederentdeckt und 1962 erstmals von Alfredo Barrera Vásquez übersetzt und publiziert.
108Ebd., 160.
109Mit Hieroglyphen (von griech. hieros = »heilig« und glyphe = »Eingeritztes«) bezeichnete man zunächst die ägyptische Schrift und später auch alle anderen ähnlichen Schriften mit bildhaften Schriftzeichen, ohne dass sie unbedingt den rein piktografischen Schriften zuzuordnen sind.
110Die Isthmus-Schrift ist bisher so gut wie nicht entziffert und ihre Zuordnung zu einer Sprache ist auch unsicher. Schriftzeichen finden sich zum Beispiel auf Stele 2 von Tres Zapotes, der Stele 1 von Mojarra und der Stele 2 von Chiapa de Corzo.
111So Nikolai Grube 2020, 44.
112s. S. 160–165.
113s. S. 184.
114Diego de Landa 2017, 100.
115Von den Monatsnamen des Haab sind nur von einigen die Namen bekannt, von anderen nur die Hieroglyphe oder weder Name noch Hieroglyphe.
116Nach Nikolai Grube 2012, 40. Oft findet sich noch die ältere Datumsangabe 11. oder 13. August 3114, so bei Linda Schele / David Freidel 1994, 74.
117s. S. 143 f.
118Diego de Landa 2017, 137.
119Ebd., 139 f.
120Ebd., 160 f.
121Üblicherweise in Anpassung an die spanische Sprache mit C geschrieben.
122Johann Christian Götze: Die Merckwürdigkeiten der Königlichen Bibliotheck zu Dreßden, Bd. 1, Dresden 1743, 4.
123K’atun = eine Periode von 20 Jahren, deren Ende feierlich begangen wurde.
124Vgl. INAH Boletín No 299, 2018
125Zum Beispiel von Nikolai Grube 2012, 21 f.
126s. S. 199–202.
127s. S. 103 ff.
128Daher auch bekannt als Memorial de Tecpán-Atitlán oder Memorial de Sololá.
129Daher auch bekannt als Anales de los Xahil.
130Der originale Titel lautet Xajoj Tun (»Trommeltanz«).
131Grammaire Quichée et le drame de abinal Achí.
132K’atun = 20 Jahre.