Kapitel 17
IN DIESEM KAPITEL
Im Jahr 2009 waren die Vereinigten Staaten schockiert, als eine Rede des Präsidenten zur Lage der Nation durch Zwischenrufe der gegnerischen Partei unterbrochen wurde. Nie zuvor hatte es eine solche Respektlosigkeit in den Hallen des Kongresses gegeben. Der Kongressabgeordnete, der den Senat beleidigt hatte, entschuldigte sich fast sofort.
Heute, etwa anderthalb Jahrzehnte später, sind Zwischenrufer ein fester Bestandteil der Rede zur Lage der Nation geworden. Viele würden behaupten, dass Unhöflichkeit in der gesamten Gesellschaft ungebremst um sich greift, nicht nur in der Politik, sondern auch bei Menschenansammlungen, im Straßenverkehr, zwischen Kollegen und unter Familienmitgliedern.
Dieses Kapitel befasst sich mit der Zunahme der Unhöflichkeit in der heutigen Welt und damit, wie Narzissmus die wachsende Unhöflichkeit fördert. In dem Maße, wie die Zahl der Narzissten wächst, nimmt auch die egozentrische Anspruchshaltung zu. Das Kapitel beleuchtet häufige Anlässe für Fehlverhalten und das zugrunde liegende Problem, das die Ausbreitung von Unhöflichkeit verursacht. Mangelndes Geben und Nehmen in freundschaftlichen Beziehungen und die Missachtung der Rechte anderer sind die Ursachen für diesen Abstieg in eine Welt voller Feindseligkeit, Respektlosigkeit und Vulgarität.
Das Wort Höflichkeit geht zurück auf das Wort »höfisch«, das die guten, kultivierten und respektvollen Umgangsformen an frühneuzeitlichen Höfen bezeichnet. Auch die nicht zum Hof gehörigen Bürger orientierten sich an diesen Verhaltensformen, um gute Beziehungen zum jeweiligen Hof und untereinander halten zu können. Auseinandersetzungen jeglicher Form sollten respektvoll bleiben, offene Feindseligkeit sollte vermieden werden. Der Diskurs sollte sich auf das Gemeinwohl konzentrieren und Antworten anstreben, von denen möglichst viele Bürger profitieren konnten. Unterschiedliche Ansichten wurden toleriert und waren willkommen. Vielfalt brachte Nuancen und ein besseres Verständnis für aktuelle Fragen oder Probleme.
Im Gegensatz dazu bedeutet Unhöflichkeit Rüpelhaftigkeit und Missachtung anderer, oft begleitet von Impulsivität, Anspruchsdenken und Aggressivität. Sie breitet sich oft wie ein Lauffeuer aus. Wenn ein Ausbruch von Unhöflichkeit nicht im Keim erstickt wird, greift sie schnell auf andere über. Heutzutage wird unhöfliches Verhalten oft von Politikern, Prominenten und Sportstars vorgelebt, vor allem aber von Narzissten, wie in den folgenden Abschnitten erläutert wird.
Narzissten fühlen sich als etwas Besonderes und stellen Ansprüche. Von daher sind sie oft darauf fixiert, jederzeit zu bekommen, was sie wollen. Sie lassen die Bedürfnisse anderer außer Acht und denken nicht daran, wie sie auf ihre Mitmenschen wirken. Hier kommt die narzisstische Unhöflichkeit ins Spiel. Narzissten glauben, dass sie das Recht haben, andere zu kritisieren, sie lächerlich zu machen oder beiseitezuschieben, wenn es ihnen passt. Kein Wunder, dass es den meisten Narzissten nicht gelingt, in ihrem Umgang mit anderen Menschen ein Mindestmaß an Respekt, Freundlichkeit und Höflichkeit zu zeigen.
Was man einst als zivilisierte Gesellschaft bezeichnete, wird heute von einer Kultur narzisstischer Erwartungen durchdrungen. Diese Erwartungen führen zu mehr Rüpelhaftigkeit, Egoismus und mangelndem Einfühlungsvermögen. Die Frage nach dem Ursprung lässt sich nicht beantworten. Fördert der Narzissmus die Unhöflichkeit oder fördert die Unhöflichkeit den Narzissmus? Das ist keine Einbahnstraße. In den folgenden Abschnitten wird die Wechselwirkung zwischen Unfreundlichkeit und Narzissmus näher beleuchtet.
Anspruchsdenken ist fast immer ein Symptom des Narzissmus. Anspruchsdenken hat sich in das Gefüge unserer Zeit eingeschlichen. Wenn Narzissten frustriert sind, finden sie fast immer jemanden, dem sie die Schuld zuschieben können. Dieses Anspruchsdenken findet sich in fast jedem Umfeld, insbesondere dann, wenn es um Bewertungen geht.
Wenn narzisstische Schüler zum Beispiel in der Schule schlecht abschneiden, neigen sie dazu, den schlechten Unterricht ihrer Lehrer als Grund anzugeben. Die Tatsache, dass sie es versäumt haben, sich mit dem Stoff zu beschäftigen, regelmäßig und aufmerksam am Unterricht teilzunehmen oder ausreichend Zeit für die Vorbereitung auf Arbeiten und Prüfungen einzuplanen, spielt für ihre schlechten Leistungen keine Rolle.
In ähnlicher Weise wird auch in der Arbeitswelt bereits leichte Kritik von den Kritisierten als unfair abgeschmettert, vor allem von narzisstischen Arbeitnehmern. Natürlich gibt es auch Menschen, die negatives Feedback annehmen und es nutzen, um ihre zukünftige Leistung zu verbessern, aber viele reagieren defensiv und weisen Kritik als unberechtigt zurück.
Auch in der Öffentlichkeit gibt es viel Anspruchsdenken. Haben Sie schon einmal versucht, dem Dialog eines Theaterstücks zu folgen, während jemand sich ganz selbstverständlich die Freiheit nimmt, einen Handyanruf anzunehmen? Und das, obwohl vor Beginn der Vorstellung ausdrücklich darauf darum gebeten wurde, die Handys zumindest stumm zu schalten. Sind all die Menschen, die in solchen Situationen zum Handy greifen, Narzissten oder einfach nur anspruchsberechtigt? Wahrscheinlich beides.
In den letzten Jahren war das Reisen mit dem Flugzeug von Frustrationen geprägt. Von langen Schlangen vor der Sicherheitskontrolle über gestrichene oder verspätete Flüge bis hin zu überfüllten, stickigen Flugzeugen – die meisten Menschen empfinden Reisen gelinde gesagt als nervig. Zu dem ohnehin schon ärgerlichen Durcheinander kommen neuerdings auch noch Ärger und Gewalt unter den Fluggästen sowie zwischen Fluggästen und Besatzung hinzu. Was einst mehr oder weniger nervte, eskaliert heute im Handumdrehen zu beängstigenden Dramen.
Vorbei sind die Zeiten, in denen man sich auf den wohlverdienten Urlaub oder eine Reise zur Familie freute. Heute fürchten sich die Fluggäste vor langen Wartezeiten in überfüllten Flughäfen oder, schlimmer noch, vor einer nächtlichen Verspätung, während der sie versuchen, im besten Fall auf einem unbequemen Stuhl oder gar auf einem schmutzigen Flughafenboden zu schlafen und dabei ihr Gepäck zu bewachen. Die Reaktionen auf diese Frustrationen führen oft zu Konflikten und grober Unhöflichkeit.
Wenn man das Glück hat, ein Flugzeug zu besteigen, muss man sich vor möglichen Ausbrüchen ungehobelter Passagiere in Acht nehmen. Von körperlichen Übergriffen, weil ein Sitz zu weit nach hinten gekippt wurde, über Angriffe auf Flugbegleiter bis hin zu Passagieren, die damit drohen, das Flugzeug durch eine Hintertür zu verlassen, sind gewalttätige Ausbrüche keine Seltenheit.
Maskenpflicht während der Pandemie und zu viel Alkohol wurden für die Zunahme der Gewalt an Bord verantwortlich gemacht. Die Vorfälle traten jedoch auch dann noch auf, als die Maskenpflicht aufgehoben wurde. Und auch als viele Fluggesellschaften den Alkoholausschank vorübergehend einstellten, ließ die Unhöflichkeit nicht nach.
Ein kürzliches Beispiel für narzisstische Wut im Flugzeug wurde von mehreren Passagieren gefilmt. Ein Mann stand im Gang und brüllte einen Passagier mit einem schreienden Kleinkind an. Die Flugbegleiterin forderte den Mann ruhig auf, mit der Brüllerei aufzuhören. Er erwiderte, das Baby schreie schließlich auch, warum dürfe er das nicht? Das ist mangelndes Einfühlungsvermögen gepaart mit Anspruchsdenken.
Sind diese unverschämten, störenden und gewalttätigen Vorfälle in Flugzeugen auf einen zunehmenden Narzissmus der Fluggäste zurückzuführen? Das ist eine der Fragen, die sich nicht so einfach untersuchen lassen.
Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Ihre Aufgabe wäre es, den Zusammenhang zwischen Wut im Flugzeug und Narzissmus zu untersuchen. Würden Sie eine Person, die den Flugbegleiter anschreit oder schlägt, unterbrechen und fragen, ob sie bereit wäre, an einer Studie über Narzissmus teilzunehmen? Wahrscheinlich würden Sie sich ein blaues Auge einhandeln.
Es gibt einige Spekulationen darüber, dass Passagiere mit narzisstischen Zügen einen unverhältnismäßig hohen Anteil an unbeherrschten Passagieren ausmachen. Sie mögen es nicht, wenn man ihnen sagt, was sie tun sollen, vor allem nicht von einer »Saftschubse«, wie Flugbegleiterinnen von Passagieren dieses Kalibers oft diskriminierend bezeichnet werden. Narzissten glauben wahrscheinlich, dass es Flugbegleitern nicht zusteht, ihr Verhalten zu kritisieren. Außerdem wollen Narzissten im Allgemeinen, dass ihrem Willen sofort Folge geleistet wird. Sie sind nicht gerade für Geduld bekannt.
Aggressive Fahrer sind gefährlich. Tatsächlich stehen etwa ein Drittel aller tödlichen Unfälle mit aggressivem Fahrverhalten in Verbindung. Narzissten glauben, dass ihnen eine Sonderbehandlung zusteht, und das gilt auch im Straßenverkehr. Wenn ein anderer Fahrer nicht so schnell fährt, wie es ein Narzisst gerne hätte, reagiert dieser womöglich mit Wut in Form von Drängeln, Blinken, Hupen, Schreien, aggressiven Gesten oder sogar illegalem Überholen.
Aggressives Denken führt zu noch aggressiverem Fahren. Aggressive Fahrer überschreiten die zugelassene Geschwindigkeit, wechseln unvermittelt und ohne Blinker die Fahrspur und ignorieren rote Ampeln. Sie bringen ihre Ungeduld und ihren Ärger über andere Fahrer offen zum Ausdruck. Im Grunde sind Narzissten der Meinung, dass andere Fahrer ihnen den Weg freimachen sollten, damit sie ungehindert und schnell ihr Ziel erreichen können.
Jährlich werden weltweit etwa 1,35 Millionen Menschen im Straßenverkehr getötet. Ein Großteil ist auf Geschwindigkeitsüberschreitungen, Fahren unter Alkoholeinfluss und Verkehrsrowdytum zurückzuführen. Menschen, die im Straßenverkehr rasen, sind der Meinung, dass andere Fahrer sie absichtlich verärgern wollen. Manche glauben, dass andere absichtlich nicht blinken und stark abbremsen, bevor sie abbiegen, um sie persönlich zu verärgern. Mit anderen Worten: Sie machen sich zum Zentrum des Universums und nehmen das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer persönlich.
Civility in America ist eine jährliche Umfrage, in der untersucht wird, wie die Menschen ihre aktuelle Kultur wahrnehmen. Unter Bezugnahme auf Daten aus dem Jahr 2019 ergab diese Umfrage, dass etwa zwei Drittel der Amerikaner glauben, dass Unhöflichkeit ein Problem ist. Die meisten Menschen geben an, jede Woche etwa zehn unhöfliche Vorfälle zu erleben. Die meisten dieser Konfrontationen finden online statt und nicht persönlich.
Unter den Befragten gibt es unterschiedliche Ansichten darüber, wer und was zur Zunahme der Unhöflichkeit beiträgt. Dazu gehören
Die Zunahme von Unhöflichkeit erhöht auch das Risiko von Mobbing, Belästigung, Regelverstößen, Hasskriminalität und Intoleranz. Narzissmus und Unhöflichkeit sind eng miteinander verwoben. In beiden Fällen wird von einem höherrangigen Recht ausgegangen, andere missachten oder verunglimpfen zu dürfen.
Narzissten glauben, dass es völlig in Ordnung ist, wenn sie die Rechte anderer verletzen. Sie nehmen sich das Recht heraus, andere zu demütigen und zu schikanieren. Ihr mangelnder Respekt gegenüber anderen Menschen zeigt sich in ihrem rüpelhaften und respektlosen Verhalten. Unhöfliches Verhalten kann für einen Narzissten eine Quelle der Belustigung oder ein Mittel sein, um Macht zu erlangen. Ihr Mangel an Empathie erlaubt es ihnen, ohne Schuldgefühle oder Reue aggressiv zu handeln.
Gegenseitigkeit, oder Reziprozität, ist ein Austausch zwischen Menschen, der für beide Seiten vorteilhaft sein soll. Sie ist eine grundlegende Fähigkeit, die zum Aufbau guter Beziehungen beiträgt. Sie ermöglicht es Menschen, Dinge zu erledigen, die sie allein nicht schaffen könnten. Kurz gesagt: »Eine Hand wäscht die andere.«
Die Erwartung von Gegenseitigkeit zieht sich durch viele Beziehungen. So erwartet beispielsweise ein Arbeitnehmer, dass er für die Erledigung seiner Aufgaben mit einem bestimmten Betrag entlohnt wird. Lehrer unterrichten und erwarten von ihren Schülern, dass sie aufmerksam sind, sich beteiligen und lernen.
Freunde genießen die Vorteile der Gegenseitigkeit auf vielfältige Weise. Zum Beispiel können sie gute Zuhörer sein, wenn einer der beiden reden möchte, oder sie bieten Hilfe bei einer Aufgabe an, die zwei Personen erfordert.
Freundschaften und andere Beziehungen erfordern ein ausgewogenes Verhältnis von gegenseitigem Handeln. Wenn nur ein Beziehungspartner etwas gibt und der andere nicht, kann die Beziehung auf Dauer darunter leiden. Eine gute Beziehung gedeiht, wenn jeder Partner annähernd gleich viel Zuwendung, Unterstützung und Liebe erhält.
Es gibt auch Beziehungen, die keine Gegenseitigkeit erfordern. Eltern kümmern sich liebevoll um ihre Kinder, ohne eine gleichwertige Gegenleistung zu erwarten. Pflegende helfen ihren Angehörigen, ohne dafür Lob und Anerkennung zu erhalten. Bei solchen Beziehungen ist die Gegenleistung – hoffentlich – Liebe.
Narzissten versagen kläglich bei der Kunst der Gegenseitigkeit. Da sie etwas Besonderes sind und ein Sonderrecht haben, glauben sie, dass sie eine besondere Behandlung verdienen. An die Bedürfnisse anderer denken sie selten. Wenn sie um einen Gefallen gebeten werden, lautet ihre erste Frage: »Was habe ich davon?«
Wie wirkt sich der Mangel an Gegenseitigkeit bei Narzissten aus? Nicht sehr positiv. Ihre Beziehungen neigen dazu, oberflächlich und konfliktbeladen zu sein. Sie haben vielleicht viele Bekannte, aber nur wenige echte Freunde. Mit der Zeit haben viele Menschen in einer Beziehung mit einem Narzissten genug von der Einseitigkeit der Partnerschaft und verlassen sie oder ziehen sich allmählich zurück.
Wenn die Kultur sich in Richtung Narzissmus entwickelt, was sind dann die Folgen? Man könnte die Vermutung wagen, dass Beziehungen weniger intensiv, einseitiger und oberflächlicher werden. Unhöflichkeit würde zur erwarteten Norm werden. Anstatt echte Freunde zu haben, würden die Menschen Online-Beziehungen zu ihren Anhängern aufbauen. Raserei im Straßenverkehr würde explosionsartig zunehmen, schlechte Manieren würden sich ausbreiten, und Anspruchsdenken würde Freundlichkeit ersetzen.
Das ist keine glückliche, friedliche Zukunft. Man kann nur hoffen, dass wir nicht darauf zusteuern, aber es ist zu befürchten, dass das Fehlen von Gegenseitigkeit zu einer Lawine von Unhöflichkeit führen wird.
Wenn Menschen das Gefühl haben, dass es ein ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen gibt, verhalten sie sich anderen gegenüber eher höflich. Höflichkeit kann durch einige leicht umzusetzende Strategien gefördert werden, zum Beispiel:
Setzen Sie Höflichkeit in Schulen und am Arbeitsplatz durch. Es liegt in der Verantwortung der Führungskräfte, Standards für angemessenes Verhalten zu setzen und diese Regeln durchzusetzen.