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In diesem Kapitel
Die Eroberung der Welt
Die Erfindung einer akzeptablen »Geschichte«
Religion im Spannungsfeld von Pragmatismus und Aberglaube
Import von Religionen, zum Beispiel der ägyptischen Religion und des Christentums
Die römische Kultur hat fast ihre gesamten Mythen aus Griechenland und anderen Ländern importiert. Die Römer hatten natürlich ihre eigenen originären Gottheiten und liebten es genauso wie die Menschen anderer Kulturen auch, Geschichten zu erzählen. Das Römische Reich dehnte sich aber immer weiter aus und mit dieser Ausdehnung wurden auch die Götter der unterworfenen Völker Teil der römischen Mythologie. Im Laufe der Zeit wurde die Trennlinie zwischen »römischer« und »fremder« Mythologie immer unschärfer und verschwand schließlich ganz.
Aber selbst wenn die römischen Götter den griechischen sehr ähneln oder ein römischer Mythos wie das Plagiat eines Mythos aus Ägypten oder Persien erscheint – all diese Götter und Mythen sind doch voll und ganz römisch. Sie haben eine Bedeutung und eine Wahrheit für die römische Bevölkerung jener Zeit und sie tragen die unverkennbaren Merkmale der römischen Kultur. Dies macht sie einzigartig. Vergils Dichtung Aeneis, die die Geschichte des frühesten Ursprungs Roms und seinen einzigartigen Aufstieg zum Imperium Romanum erzählt, beschreibt zum Beispiel, wie ein trojanischer Prinz, eine afrikanische Königin, griechische Götter und ein italischer Seher alle gemeinsam den Bedürfnissen der Welteroberer schlechthin gedient haben – der Römer!
In diesem Kapitel erläutern wir, warum die römische Mythologie ein gewisses Moment der Flüchtigkeit besitzt. Es beschäftigt sich auch damit, wie das Römische Reich funktioniert hat, wie die Römer miteinander gearbeitet haben und wie sie mit den »barbarischen« Völkern umgegangen sind, die schließlich ein Teil des großen Römischen Reiches wurden.
Die Zeit vor Entstehung des Imperiums
Auf dem Höhepunkt der Machtausdehnung des römischen Weltreiches lebten etwa eine Million Menschen in der Stadt Rom und ungefähr fünfzig Millionen Menschen in allen Provinzen des Reiches zusammengenommen. Die Menschen sprachen Hunderte verschiedener Sprachen und beteten zu einer großen Anzahl der unterschiedlichsten Gottheiten. Rom behielt die Kontrolle über das Riesenreich, weil es über eine ausgesprochen effiziente, Lateinisch sprechende Zentralverwaltung verfügte und weil es den Völkern erlaubte, ihre eigenen Sitten und Gebräuche weiterhin auszuüben.
Rom aber war nicht immer das machtvolle Zentrum eines Riesenreiches, so wie es heute bekannt ist. Gehen wir ins achte oder siebte vorchristliche Jahrhundert zurück, so finden wir eine Stadt von bescheidener Größe vor, die nur eine unter vielen war. In jenen frühen Zeiten römischer Geschichte beteten die Menschen gestaltlose Gottheiten an (sodass wir heute keine Statuen oder dergleichen von ihnen besitzen), die eng mit der Erde verbunden waren (weswegen ihnen keine Tempel errichtet wurden) und die keine ausgeprägten Persönlichkeiten besaßen (was zur Folge hat, dass es über sie keinen großen Mythenschatz gibt, der von ihren Abenteuern, Liebesaffären, ihren Kriegen und so fort berichten könnte).
Erst als die römische Kultur in Kontakt mit der griechischen und anderen Kulturen wie der etruskischen kam, setzte eine Initialzündung ein. Die Griechen hatten außerdem viele Siedlungen im heutigen Italien gegründet, was den Austausch beschleunigte. Erst ab diesem Zeitpunkt also bekamen die römischen Götter ein menschliches Antlitz und die Römer begannen, Mythen über sie zu erzählen.
In den frühen Tagen des Reiches wiesen die Religion und Mythologie der Römer starke Ähnlichkeiten mit der Religion der in Italien damals lebenden Bevölkerung auf. Ein Blick auf jene Menschen und Völker, hauptsächlich die Etrusker, wird uns dabei helfen können zu verstehen, woran die Römer glaubten.
Einheimische Götter: Die ursprünglichen Italer
Rom war eine Stadt in Italien; nicht alle Italer waren allerdings auch Römer (zumindest nicht zu Beginn und »Italiener« nennt man sie erst seit dem Mittelalter). Es dauerte viele Jahrhunderte, bis Rom die gesamte italische Halbinsel dominierte. Vor diesem Zeitpunkt und selbst teilweise noch danach besaßen die unterschiedlichen nicht-römischen Italer ihre eigenen Götter und ihre eigenen Mythen. Einige dieser Gottheiten ähnelten denen der Römer sehr stark, andere überhaupt nicht.
Im Folgenden sind die anderen Völker aufgelistet, die sich gemeinsam mit den Römern Italien teilten:
Alle Völker Italiens teilten sich eine Anzahl Götter, zu denen sie gemeinsam beteten. Jede dieser Volksgruppen hatte jedoch etwas unterschiedliche Namen für sie. Die Praxis der Rituale und Zeremonien unterschied sich ebenfalls. Jede dieser Gruppen besaß aber auch ihre jeweils spezifischen Götter.
Der Gott Jupiter wurde in ganz Italien unter dem Namen Jupiter, Juve, Juveis, Juvei oder anderen angebetet. Das Gleiche galt für den Kriegsgott Mars (auch unter dem Namen Mamars bekannt), Herkules (auch Herkle, Herkele, Herekleis), Juno, Hera und Venus. Einige Italer verehrten Fortuna, von der es hieß, sie sei die erstgeborene Tochter des Jupiter. In der Gegend von Iguvium wurde besonders eine Dreiheit von Göttern verehrt:
Jupiter des Eichenbaums
Mars des Eichenbaums
Vofionus des Eichenbaums
Man braucht eine Göttin für das Getreide
Die Göttin der Erde und ihrer Früchte (besonders des Getreides) hieß bei den Römern Ceres. In ganz Italien wurde sie unter den unterschiedlichsten Namen verehrt: Ammai, Diumpais, Pernai, Fluusai, Anafriss und Maatuis. Als Göttin des Getreides war sie von besonderer Bedeutung, sorgte sie doch für das tägliche Brot der Menschen. Jedes Volk unterhielt daher wohl eine besondere Beziehung zu gerade dieser Göttin. Abbildung 9.1 zeigt eine Statue der Göttin Ceres.
Die Etrusker – Wir lieben Kinder!
Von allen Völkern und Nationen, die während der frühen Phase des Aufstiegs Roms zur Macht in Italien lebten, hatten die Etrusker wahrscheinlich die am höchsten entwickelte Kultur und den reichsten Schatz an Mythen. Soweit wir aus ihrer Sprache (insofern sie uns überliefert wurde), ihrer Kunst und den Überresten ihrer Bauwerke und ihrer Keramik schlussfolgern können, waren die Etrusker eng verbunden mit den Griechen. Leider haben die Etrusker keine allzu umfangreichen schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Das meiste wurde zerstört, als die Römer sie unterwarfen, ihre Kultur zerstörten und sie schließlich zu Römern machten. Die Wissenschaftler haben also nur unzureichende schriftliche Quellen, um herauszufinden, inwieweit ihre Sprache und die der Griechen und dementsprechend auch ihre Kultur zusammengehören.
Was hinterließen die Etrusker? Grabmale und Spiegel beispielsweise. Diese erzählen mehr über sie, als man glauben könnte. Die Grabmale der Etrusker waren kleine Räume, deren Wände mit wunderbaren Malereien ausgestattet waren. In jedem dieser Grabmale stand ein Sarkophag aus Stein, dessen Außenseiten oftmals mit Gravierungen verziert waren. Die Spiegel waren aus Bronze und ähnlich den heutigen Toilettenspiegeln, wie sie Frauen zum Beispiel beim Bürsten der Haare verwenden. Die spiegelnde Vorderfläche war glatt und auf Hochglanz poliert. Die Rückseite aber hatte es in sich. Darauf finden sich oft bildliche Darstellungen aus der Mythologie der Etrusker. Eines ihrer Lieblingsmotive war der Trojanische Krieg oder auch Frauen mit kleinen Kindern im Arm.
Diese häuslichen Szenen mit Mutter und Kind vermitteln uns eine Vorstellung von dem, was im Zentrum des Lebens der damaligen Menschen gestanden hat (zumindest was die Frauen anbelangt, die wohl Besitzerinnen dieser Spiegel waren). Die Etrusker legten anscheinend viel Wert auf Häuslichkeit und ihr Familienleben. Die Darstellung von Kampfszenen und Schlachtengetümmel ist eher untypisch für sie. Selbst die Darstellungen des Trojanischen Krieges spiegeln vermehrt weibliche Themen wider – Mütter mit ihren Kindern und Szenen des Ehebruchs. Mehrere erhaltene Spiegel zeigen Uni (der etruskische Name für Hera), wie sie gerade den erwachsenen Herkules an ihrer Brust stillt. Auf einem dieser Bilder hat Herkules sogar einen Bart, höchste Zeit also, dass er entwöhnt wird. Ein anderer Spiegel zeigt eine Gruppe von Göttern – Minerva/Athene, Merkur/Hermes sowie eine Reihe anderer Götter, die alle kleine Kinder in ihren Armen halten. Selbst Mythen, die eigentlich ziemlich furchterregend sind, erfahren bei den Etruskern eine liebliche und sentimentale Wiedergabe. Auf einem Spiegel ist Pasiphaë, die Königin der Kreter, abgebildet. Sie hält gerade das Baby Minotauros auf ihrem Schoß. (Mehr über den Minotauros können Sie in Kapitel 6 nachlesen.)
Die gravierten Darstellungen auf den Sarkophagen sind nicht ganz so fröhlich und unbeschwert. Viele beinhalten Szenen, die direkt der griechischen Mythologie entnommen worden zu sein scheinen. Besonders die Mythen rund um die Geschlechter des Atreus und Kadmos (siehe Kapitel 8) tauchen immer wieder auf. Auf einem Sarg sieht man die Söhne des Ödipus, Eteokles und Polyneikes, wie sie in Theben gegeneinander kämpfen. Auf wieder einem anderen ist der Moment dargestellt, in dem Pelops Oinomaos tötet. (Mehr zu diesen Mythen können Sie in Kapitel 8 nachlesen.)
Rom wurde angeblich um das Jahr 753 v. Chr. gegründet. Zu Beginn war es nur eine Stadt unter anderen und wurde von einem König regiert. Etwa 250 Jahre später wurde Rom zu einer Republik, die von einem von der Aristokratie der Stadt gewählten Senat regiert wurde. Diese »republikanische« Periode dauerte von 509 bis ins Jahr 31 v. Chr. Während dieser Zeit entwickelte sich Rom von einer Stadt unter vielen zu demjenigen Machtzentrum, das schließlich ganz Italien, Sizilien, Sardinien und Griechenland unter seine Kontrolle gebracht hatte. Was ein wenig seltsam anmutet, ist die Tatsache, dass die Römer lange bevor sie selbst von einem Herrscher regiert wurden, ein Weltreich beherrschten.
Am Schluss aber wurde es doch ein Reich, an dessen Spitze ein einzelner Herrscher stand (auch wenn die Römer weiterhin vorgaben, es handele sich noch um eine Republik). Die Herrscher Roms, die Cäsaren, erweiterten das Imperium so lange, bis es schließlich fast ganz Europa, den Mittleren Osten und Nord-Afrika umfasste, siehe Abbildung 9.2. Das Imperium Romanum bestand bis etwa 476 n. Chr., als der letzte römische Kaiser des Weströmischen Reiches abgesetzt wurde. In den Jahrhunderten davor hatte es allerdings mit der Aufsplitterung des Reiches in mehrere Teile schon einen Großteil seiner Macht eingebüßt.
Die Mythologie der Römer bleibt dem ein Rätsel, der sich nicht immer wieder vor Augen führt, dass ihr Reich eine unerhörte Ausdehnung hatte, in dem eine große Anzahl verschiedener Völker lebte. Dazu gehört auch, dass man verstehen muss, wie die Römer ein derart großes Herrschaftsgebiet kontrollieren konnten.
Die Entstehung des Imperiums: Kriegsbeute
Ein Grund für die immerfort betriebene Ausdehnung des Reiches war, dass die römischen Politiker ständig auf der Suche nach neuen monetären Einnahmequellen waren. Sie brauchten sehr viel Geld. Ehrgeizige Politiker besetzten eine Reihe von Ämtern, deren höchstes das Amt des Konsuls war, das etwa dem eines heutigen Präsidenten entspricht, außer dass es damals immer zwei Konsuln gab. Um die Karriereleiter hochzusteigen, brauchte man sehr viel Geld, Geld, das häufig Schulden nach sich zog. Ein guter Politiker aber war in der Lage, seine Schulden zurückzuzahlen, indem er weit genug aufstieg, um zum Gouverneur einer Provinz ernannt zu werden.
Hatte er Glück, so kam es dort zu einem Krieg, was ihm die Möglichkeit gab, enorme Reichtümer in Form von Kriegsbeute anzuhäufen. So konnte er als wohlhabender Mann nach Hause zurückkehren und seine Schulden begleichen. (Gab es keinen Krieg, so konnte der Gouverneur der Provinz immer noch Steuern erheben, was ebenso einträglich war.) Es lag also im Interesse eines jeden Gouverneurs einer jeden römischen Provinz, nach Möglichkeit Krieg zu führen. Der Gewinn des Krieges hatte sogar den Nebeneffekt, dass er das Reich vergrößerte. Die römische Zivilisation folgte der römischen Gier nach Geld und Macht und breitete sich fast in der gesamten damals bekannten Welt (von Europa aus gesehen) aus. Dadurch – denn kultureller Austausch ist nicht nur eingleisig – bereicherten die neuen Völker die Vorstellungswelt der Römer mit ihrer jeweils eigenen Religion und Mythologie.
»Rom« ist in gewisser Weise das Gegenteil von »Griechenland«. Das antike Griechenland umfasste eine große Zahl von verstreut im Mittelmeerraum und in verschiedenen voneinander unabhängigen Städten lebenden Menschen, die unterschiedliche Regierungsformen und ihre eigene Art zu leben hatten. Das, was die Bewohner zusammenhielt, war die gemeinsame Sprache und Mythologie. Das »antike Rom« ist bloß eine Stadt, in der verhältnismäßig wenig Römer lebten. Die Bewohner dieser Stadt aber schafften es, sehr viel Macht über viele andere Völker zu erlangen. Ein beträchtlicher Teil der Völker der damaligen Welt (aus europäischer Sicht gesehen) wurde Teil des Römischen Reiches, ohne dass die Menschen selbst im eigentlichen Sinne zu Römern wurden. Sie behielten ihre Sprache und ihre eigene Mythologie.
Das Ergebnis war, dass die römische Religion ein Schmelztiegel unterschiedlichster religiöser Bräuche und Vorstellungen wurde. Die Römer liebten die griechische Kultur. Sie waren der Ansicht, Griechenland sei die maßgebende Nation in Sachen feiner Lebensart und Kultur. Sie übernahmen also die griechischen Götter als ihre eigenen. Die Bewohner der italischen Halbinsel, die vor der römischen Dominanz dort lebten, besaßen ebenfalls ihre eigene Religion und eigenen Mythen, die die Römer später dann teilweise übernommen haben, genauso wie sie es bei den Ägyptern (zum Beispiel den Mythos von Isis und Osiris) und anderen Völkern auch gemacht haben.
Römische Gründungsmythen: Rom ist die Welt!
Die Geschichten von Romulus und Remus und den sieben Königen Roms waren als Erklärungen für die Vormacht Roms sehr willkommen und ermöglichten es den Römern, ohne Reue oder Schuldgefühl andere Völker zu erobern.
Man nehme zum Beispiel die uralten Zwistigkeiten zwischen Rom und Karthago. Natürlich konnten die Politiker erklären, dass die Bewohner Siziliens sich für Rom und gegen eine Herrschaft Karthagos über sie ausgesprochen hatten. Außerdem gab es handfeste wirtschaftliche Gründe, warum Rom das Sagen in Sizilien haben sollte. Wenn man den Menschen aber sagte, dass Karthago schon seit Jahrhunderten Roms Intimfeindin war, deren Königin noch dazu die Römer verflucht hatte, so klang das in den Ohren des gemeinen Mannes viel zufriedenstellender. Die Römer benutzten die Geschichte von Aeneas und seine Affäre mit Dido (mehr dazu später), um die Tatsache zu verschleiern, dass sie Teile Nordafrikas einfach so aus purem Machtkalkül erobert und behalten hatten.
Die römische Religion als kultureller Schmelztiegel
Die römische Religion, und daher auch die römische Mythologie, ist ein einziger in die Länge gezogener Prozess der Verschmelzung und Aneignung der Gottheiten, Geschichten und Rituale unterschiedlicher Kulturen und Völker im Einflussbereich Roms. Der Fachbegriff für diesen Prozess ist Synkretismus.
Morgens beim Aufstehen mag ein Römer kurz zu Laren und Penaten gebetet (authentische römische Götter), mittags dann Isis angerufen (eine Göttin des alten Ägypten), einige Zeit später ein Festmahl zu Ehren des Herakles (eines griechischen Gottes) besucht, am späten Nachmittag seine Zukunft von einem Haruspex gedeutet bekommen haben (also einem Priester, der die etruskische Kunst der Zukunftsdeutung anhand der Leber eines Opfertieres praktizierte), um am Abend dann einer kultische Versammlung zu Ehren des Mithras (einer persischen Gottheit, deren Anhänger sich in Höhlen oder Katakomben trafen) beizuwohnen.
Auch wenn er all diesen Göttern gehorchte, so stand er dennoch nicht im Widerspruch zu seiner römischen Kultur. Im Gegenteil – er bewies, dass er ein guter Römer war. Irgendeinen Vorteil muss man ja von der Eroberung der Welt haben – und seien es nur neue Götter und neue Mythen.
Warum der griechische Götterhimmel?
In Kapitel 10 beschäftigen wir uns genauer mit dem römischen Götterhimmel. Es ist aber kein Geheimnis, dass die Hauptgötter der Römer im Großen und Ganzen dieselben waren, die wir auch von den Griechen kennen, nur dass ihnen andere Namen verliehen wurden. Wie kamen die griechischen Götter nach Rom? Ganz einfach: Sie folgten den Römern nach Hause und diese beschlossen, sie zu behalten!
Die Geschichte dazu lautet folgendermaßen: Sie beginnt mit einem Griechen namens Livius Andronicus, der von etwa 284 bis 207 v. Chr. lebte. Er wohnte in der in Süditalien gelegenen Stadt Tarentum, die überwiegend von Griechen besiedelt war. Im Jahre 272 v. Chr. eroberten die Römer die Stadt und Livius wurde Sklave eines Römers. Dieser Römer brachte seinen neuen Sklaven nach Rom und entließ ihn einige Zeit später wieder in die Freiheit.
Nach seiner Entlassung in die Freiheit wurde er Lehrer an einer Schule. Nebenbei dichtete er aber auch. Seine bedeutendste Arbeit war seine Übersetzung der Odyssee des Homer ins Lateinische. (Versuchen Sie, das mal nachzumachen!) Sein Werk nannte er Odyssia. Er musste sich sehr mühen, um das Epos in die Sprache der Römer zu übersetzen. Die griechischen Götter passten aber nicht immer reibungslos mit den schon existierenden Göttern der Römer zusammen. Er nahm also einige Ersetzungen vor. So tauschte er zum Beispiel die griechische Muse (eine der Töchter des Zeus, die die Poeten inspirierte) gegen die römische Camena (eine Göttin des Brunnens) aus. Für Moira, die griechische Göttin des Schicksals, nahm er die römische Göttin Morta (die römische Göttin der tödlich verlaufenden Geburt) und so weiter.
Durch diese und sehr viele andere Veränderungen am Text des Originals gelang Livius Andronicus mehr als nur die Anfertigung einer simplen Kopie des großen Epos. Er schuf ein echtes lateinisches Versepos nur für Römer. Und indem er die Geschichte des Odysseus mit der Götterwelt der Römer verband (Jupiter, Venus, Juno und all den anderen), gelang es ihm, die Gottheiten beider Kulturen in enge Verbindung zueinander zu setzen. Sein Werk fand Anklang und die römische Mythologie wurde innerhalb kurzer Zeit »griechischer«, als sie es vor ihm gewesen war.
Importierte Gottheiten anderer Erdteile
Einige seiner Götter erhielt Rom aber aus anderen kulturellen Quellen. Ein großes Reich ist vielen Einflüssen unterworfen. Die Provinzgouverneure und die sie schützenden und begleitenden Heere wurden sehr vielen unterschiedlichen Kulturen ausgesetzt und heirateten oftmals auch die Frauen jener Völker. In umgekehrter Richtung machten sich viele Menschen aus den Provinzen auf den Weg nach Rom. Dabei brachten sie natürlich auch ihre fremden Ideen und Vorstellungen in die Mitte des Reiches. Da die Römer als Gruppe immer schon neuen Moden gegenüber aufgeschlossen gewesen waren, hatten sie keine Scheu, Teile dieser neuen Glaubensvorstellungen in ihre täglichen Rituale aufzunehmen.
Die bekannte ägyptische Göttin Isis war bei den Römern in der Antike besonders beliebt. Die Menschen erkannten in ihr verschiedene Göttinnen wieder –Demeter, Selene (die römische Mondgöttin) oder auch Hera. Sie verschmolz mit anderen Muttergottheiten und wurde auf der griechischen Insel Kreta als Diana verehrt. Die Römer setzten den Gott Osiris mit Dionysos und Horus mit Apoll gleich.
Der König der altägyptischen Götter war Amun/Ammon. Die Griechen hatten schon vor langer Zeit beschlossen, dass Ammon niemand anderes als Zeus selbst sein müsse. Kamen sie also nach Ägypten, so verehrten sie ihn als Zeus-Ammon. Nach der Eroberung Ägyptens durch Alexander den Großen waren alle folgenden Herrscher Ägyptens Griechen. Es war eine lange Reihe von Königen, die alle Ptolemäus mit Namen hießen, und eine ebensolche von Königinnen, deren Namen fast alle Kleopatra lauteten. Durch diese Einflüsse wurde die ägyptische Religion immer griechischer (oder »hellenisiert«, wie der Fachbegriff hierfür lautet).
Die letzte Königin Kleopatra war gleichzeitig auch die berühmteste (nämlich die, die viele, viele Jahre später von Elizabeth Taylor im Film verkörpert werden sollte). Nach ihr wurde Ägypten zur römischen Provinz. Hierdurch vermischte sich die römische mit der ägyptischen Kultur, die sich wiederum vorher mit der griechischen vermischt hatte. (Dies wiederholte sich, wann immer Römer in fremde Länder eindrangen – sie begegneten neuen Gottheiten und integrierten sie in ihre eigene Mythologie.) Gab es zum Beispiel einen Tempel, der einst Ammon geweiht war, so wurde derselbe Tempel ab dem ersten Jahrhundert nach Christus für die Anbetung von Jupiter-Zeus-Ammon verwendet.
Als schließlich das Christentum Rom und dann Ägypten erreichte, wurden die Verhältnisse noch komplizierter. Viele Besucher, die heute Ägypten besuchen, sind überrascht, Wandmalereien zu sehen, auf denen man meint, die Heilige Mutter Maria mit Jesus auf dem Schoß zu sehen, obwohl es sich doch nur um Isis mit dem kleinen Horus handelt. Die beiden Geschichten mit einem heiligen Mutter-Sohn-Verhältnis im Mittelpunkt waren sich so ähnlich, dass sie sich gegenseitig beeinflussten. Die Kunst brachte dies dann zum Ausdruck.
Bevor Rom zum Weltreich aufstieg, war ein großer Teil der antiken Welt unter dem Macht- und Herrschaftsbereich der Perser. Auf dem Höhepunkt seiner Machtausdehnung reichte das persische Reich von Indien bis zum Ägäischen Meer und von Russland bis nach Äthiopien. Die Perser herrschten viele Hundert Jahre lang in Ägypten und in vielen griechischen Städten in Kleinasien. Persien war also von großer Bedeutung.
Alexander dem Großen, einem makedonischen Griechen, gelang es, das persische Riesenreich zu erobern. Der Kultur der Perser konnte er mit seinem militärischen Sieg aber kein Ende bereiten. Er ersetzte die persischen Verwaltungsbeamten durch Beamte aus seiner Heimat; die Dinge liefen aber weiter, wie sie es immer getan hatten. Später wurden dann dieselben Beamten wieder ersetzt, dieses Mal von den Römern. Die persische Kultur aber blieb immer lebendig und war ein das römische Imperium bereicherndes Element.
Die Perser kannten zwei Religionen, die sich überlappt haben könnten oder auch nicht:
Die Perser im Osten des Reiches, im heutigen Iran, waren Anhänger des Religionsstifters Zoroaster. Ihr Gott hieß Zarathustra.
Die Hauptgottheit im Westen des Reiches war Ahuramazda.
Die Griechen und Römer kamen mit diesen Gottheiten und Religionen natürlich in Berührung und interessierten sich auch für sie.
Der Dichter Plutarch – Grieche von Geburt, aber römischer Bürger – schrieb ein Buch über die ägyptischen Götter Isis und Osiris, in dem er aber auch ausführlich über die persische Mythologie berichtet. Er erzählt, wie fünfhundert Jahre vor dem Trojanischen Krieg die Religion der Zoroaster von einem Priester namens Zoroaster ins Leben gerufen wurde. Dieser Religionsstifter verkündete, dass es zwei Götter gab, die um die Vorherrschaft auf der Welt kämpften. Der eine von ihnen war gut, er heißt entweder Zarathustra oder Oromased; der andere war böse und heißt mit Namen Ahriman. Der »Schiedsrichter« in dieser Auseinandersetzung um die Kontrolle über die Welt war Mithra.
Ungeachtet der Tatsache, dass dieser Gott Mithra ursprünglich persischen Ursprungs war, erfreute er sich großer Beliebtheit bei den Römern; so sehr, dass er schließlich zu einem echten römischen Gott gemacht wurde, den man unter dem Namen Mithras anbetete (mehr zu diesem Gott in Kapitel 10).
Der heutzutage bekannteste Teil der alten persischen Religion ist das Amt und der Titel des Magus. Viele Menschen, die mit der christlichen Mythologie vertraut sind, kennen die Magi in Form der Heiligen Drei Könige, die einem Stern folgend dem neu geborenen Jesuskind einen Besuch abstatten. Die Magi waren persische Priester, die sich auf die Entschlüsselung von Träumen verstanden, Geschichten von der Geburt der Götter erzählten und junge Herrscher ausbildeten. Die beiden letztgenannten Aufgaben könnten ihre Reise zum kleinen Jesus erklären.
Die Römer waren die herrschende Macht im Palästina des ersten Jahrhunderts nach Christus. Die Juden waren wie andere Völker auch in dieser Region ein Teil des Römischen Reiches. In Rom selbst gab es auch sehr viele Juden, die für ihren Lerneifer und ihre Frömmigkeit bekannt waren, aber auch im Ruf standen, ein wenig merkwürdig zu sein.
Zum einen hatten Juden eine monotheistische Religion. Sie beteten also nur zu einem Gott und verehrten nicht Jupiter, Isis, Ahuramazda oder irgendeinen anderen (außer Gott selbst). Ganz sicher würden sie niemals anfangen, Caesar oder Augustus anzubeten und als Gott zu verehren. Für Römer war dies alles sehr seltsam und beunruhigend. Würden sie den Zorn Jupiters auf sich ziehen, wenn sich eine merkwürdige Sekte in ihrer Mitte starrsinnig weigerte, ihn zu verehren?
Wie es leider mitunter vorkommt, entwickelten die Römer eine Abneigung und ein Misstrauen gegen Menschen mit einem anderen Glauben. Sehr häufig finden sich in der römischen Literatur Stellen, an denen der Autor über die Juden klagt. Besonders in den Satiren des Dichters Horaz finden sich gegen die Juden gerichtete Bemerkungen.
Diese Spannungen wie auch die generell schwierige politische Situation trugen zu den Problemen der Römer im Mittleren Osten bei (dies kommt uns heute irgendwie bekannt vor). Sie taten aber ihr Bestes, um mit all dem fertig zu werden. Sie erlaubten es zum Beispiel, dass jüdische Könige über Palästina herrschten (König Herodes der Große ist der bekannteste unter ihnen); ihre Militärgouverneure sorgten dafür, dass die Steuern weiterhin flossen und der Frieden gewahrt wurde. Das war auch die Position, die Pontius Pilatus (der später seine Rolle bei einem Zwischenfall mit einem gewissen Jesus von Nazareth spielen sollte) in Jerusalem innehatte.
Um das Jahr 70 n. Chr. spitzten sich die Ereignisse dramatisch zu. Das Volk von Palästina erhob sich gegen die Besatzer aus Rom, die den Aufstand niederwarfen und große Teile Jerusalems zerstörten. Viele Juden verließen daraufhin den Mittleren Osten, was den Beginn der sogenannten Diaspora markierte, das heißt der Verstreuung des Volkes Israel über die ganze Welt.
Die Religion war ein bedeutender Teil im Leben des Römer sowohl während der republikanischen als auch während der nachfolgenden monarchischen Phase des Imperium Romanum. Dies traf auch auf das öffentliche Leben zu. Die Römer waren unerhört abergläubische Menschen. Man darf sich ihre Religion nicht so wie die unserer Zeit vorstellen. Im Zentrum stand nicht der »Glaube«. Wichtig war für sie, die religiösen Regeln und Rituale genauestens einzuhalten. Diese Rituale und ihre genaue Befolgung waren für das Wohlergehen der Menschen von entscheidender Bedeutung; sie bestimmten, ob das Wetter gut war, die Stadt keiner Not ausgesetzt war, der Sieg in der Schlacht auf ihrer Seite war, das Vieh in den Ställen und das Korn auf den Feldern gedieh und Rom als Reich fortbestand. Die von den Priestern ausgeführten Zeremonien und Rituale mussten vollkommen eingehalten werden oder – so fürchtete man – das unstete Glück würde sich von der Stadt abwenden. Die mit der genauen Befolgung und Ausführung der Rituale betrauten Menschen waren die Priester. Es lag in der Natur der römischen Religion, dass man so viele Priester brauchte, dass – einige Verbindungen zu den richtigen Leuten und eine Portion Ehrgeiz vorausgesetzt – so gut wie jeder Mann (und jede Frau!) Priester werden konnte.
Wir alle dienen irgendjemandem
Da es kein Gesetz gab, das die Trennung von Kirche und Staat zum Grundsatz erhob, war es für eine Einzelperson jederzeit möglich, gleichzeitig sowohl ein hohes politisches als auch ein wichtiges Priesteramt inne zu haben. Tatsächlich war es so, dass die bedeutenderen Priester gewählt wurden. Mit diesen wichtigen Priesterämtern ging auch die Übertragung politischer Macht einher. Das Amt des Pontifex Maximus etwa – also der Hohe Priester des Jupiter – war so ein Amt. Priester zu sein war aber kein Erwerbsberuf. Die Menschen gingen oft anderen Berufen nach und übten ihr Priester-Sein quasi nebenbei aus.
Es gab insgesamt fünfzehn Hauptpriester in Rom. Man nannte sie im Plural flamines. Ein einzelner Priester hieß flamen. Es gab zwölf niedriger gestellte Flamines; jeder Einzelne von ihnen war für die kultischen Handlungen für einen bestimmten Gott zuständig –Ceres, Flora und Vulcanus sind drei dieser Götter, von denen wir Kenntnis haben. Es gab drei oberste Flamines:
Sie dienten jeweils den Göttern Jupiter, Mars und Quirinus (dies ist der andere Name des Gründers von Rom Romulus; siehe auch Kapitel 11). Anders als andere Priester wurden diese wichtigen Priesterämter nur an ausgewählte Bürger aus aristokratischen Familien vergeben. Eine Gruppe von Priestern wählte die infrage kommenden Kandidaten aus. Eine Wahl im eigentlichen Sinne fand aber nicht statt. Die meisten Flamines trafen es mit ihrem Amt wirklich gut. Das Priesteramt wurde auf Lebenszeit gewährt und man bekam ein schönes Haus auf Kosten des Steuerzahlers. Dazu kam, dass die Arbeit, die man in Ausübung seiner Priesterfunktion auszuüben hatte, relativ überschaubar war.
Die Aufgaben des römischen Priesters
Eine der wichtigsten Aufgaben des Priesters war es, die Zukunft vorherzusagen. Dazu gab es verschiedene Techniken. Eine davon war das Wetter, in dessen stetem Wechsel man Anzeichen fand, dass sich die Dinge zum Guten oder Schlechten hin entwickelten, je nachdem. Auch wie sich ein Stier bei seiner Opferung verhielt, war bedeutsam und voller Zeichen. Von besonderer Wichtigkeit war, dass das Tier mit dem Kopf nickte (wie man es von Stieren ja kennt) und so seine »Zustimmung« zu dem folgenden grausamen Schauspiel signalisierte. Im Idealfall kam der Stier seiner Pflicht auf dem Opferaltar nach.
Die Priester konsultierten auch den Himmel und seine Konstellationen, um Nachrichten der Götter zu empfangen. Die Astrologie war in Rom ein einträgliches Geschäft, auch wenn es sporadische Versuche gab, den Betrügern unter ihnen Herr zu werden. Von weltlichen Würdenträgern erwartete man ebenfalls ein gewisses Maß an astrologischer Kenntnis. Von den zwei gewählten Konsuln – das Amt ähnelte dem eines Präsidenten der Republik mit dem einen Unterschied, dass es gleich zwei von ihnen gab – erwartete man, dass sie vor ihrer Amtseinführung die ganze Nacht über aufblieben, um in den Sternen nach etwaigen Omina Ausschau zu halten.
Selbst im Flug der Vögel am Himmel konnte man erkennen, ob die Götter wohl oder übel gesonnen waren – zumindest konnte dies der erkennen, der die Zeichen zu deuten wusste: Welche Vogelart war es, wohin flog der Vogel, was trug er im Schnabel und wo würde er schließlich rasten, all dies waren Zeichen, die den Willen der Götter zum Ausdruck bringen konnten.
Die Kunst, aus der Leber zu deuten
Eines der kulturellen Vermächtnisse der Etrusker, das auf die Römer überging, war eine Haruspizium (lateinisch: Eingeweideschau) genannte Kunst, bei der die Zukunft aus der Leber eines geopferten Tieres herausgelesen wurde. Wie um alles in der Welt verfielen die Etrusker auf eine derart nützliche Technik? Ein Mythos kann uns die Frage beantworten. (Er findet sich in Ovids Metamorphosen.)
Im Lande der Etrusker, in Etrurien, lebte einst ein Bauer. Eines Tages bestellte er sein Feld, als auf einmal eine kleine Gestalt aus dem Boden vor ihm auftauchte. Es war Tages, das »greise Kind«. Er sah wie ein Kleinkind aus, hatte aber die Weisheit eines alten Mannes. Tages brachte dem Bauer bei, wie er mithilfe einer Tierleber die Zukunft auf elegante Weise vorhersagen konnte. Als er seine Kunst den Bauern ganz gelehrt hatte, verschwand er wieder im Boden und ward nimmermehr gesehen.
Als die Römer diese zwar blutige, aber auch unterhaltende Art der Zukunftsvoraussage einmal gelernt hatten, da gab es für sie kein bedeutendes Opferritual mehr, dass ohne sie vollständig gewesen wäre.