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Die griechische Tragödie

In diesem Kapitel

arrow Aufführungen zu Ehren von Dionysos und Athene: Die griechische Tragödie

arrow Ein weitverbreiteter Irrtum – der Rummel um die Hybris

arrow Die Dramendichter

arrow Das Geschlecht der Atriden

arrow Oedipus und die Nachfahren des Kadmos

Man kann am meisten über die griechischen Mythen erfahren, wenn man sich mit der Tragödiendichtung im antiken Griechenland beschäftigt. Es handelt sich um Stücke, die etwa um 500 v. Chr. geschrieben wurden und mithilfe von öffentlichen Geldern in Athen aufgeführt wurden. Die meisten Tragödien haben mythologische Themen zum Inhalt; besonders interessant sind die Stücke, in denen die berühmten Geschichten zweier zerrütteter Familien erzählt werden (mehr dazu weiter unten), oder die, die sich dem Trojanischen Krieg widmen. Nur eine vergleichsweise geringe Zahl an Dichtungen ist bis heute überliefert. Aber auch so verraten uns die erhaltenen Texte eine Menge über die griechische Mythologie, insbesondere darüber, wie unterschiedliche Versionen eines einzelnen Mythos nebeneinander bestehen konnten.

Welches Stück wird heute gespielt?

Theaterbesucher reden gerne über die Stücke, die sie gesehen haben. Manche machen aus dieser Neigung einen Beruf. Der Erste seiner Art war der griechische Philosoph Aristoteles (der im Übrigen wie alle seine Philosophen-Kollegen damals nicht nur »philosophierte«, sondern auch in anderen Wissensbereichen forschte, sei es die Astronomie, die Physik, Medizin oder irgendein anderes Gebiet, das er spannend fand). Neben zahlreichen anderen Schriften ist uns von Aristoteles auch ein Buch über die Dichtkunst mit Namen Poetik erhalten geblieben, das sich mit den unterschiedlichsten Genres beschäftigte – Epik, Komödie, Tragödie. Der Teil des Buches, der uns am besten überliefert ist, handelt von der Tragödie. Aristoteles war ein methodisch und denkerisch sorgfältig vorgehender Philosoph. Die Art, wie er sich dem Thema Tragödie näherte, bestimmt in großen Teilen, wie auch die heutigen Literaturwissenschaftler mit dem Thema Dramendichtung umgehen.

Aristoteles unterschied mehrere Merkmale an der Tragödie, deren Umsetzung, so sagte er, auch mitentscheidend sei für den Erfolg beim Publikum:

check.gif Musik: Alle dramatischen Aufführungen wurden damals von Musik begleitet.

check.gif Schauwert: Der Bühnenaufbau und die Kostüme.

check.gif Handlung: Das, was im Stück geschieht.

check.gif Art des sprachlichen Vortrags: Die Art, wie die Verse vorgetragen werden.

check.gif Figuren: Wer sagt was und wie wird es gesagt.

Die Poetik des Aristoteles ist von präskriptiver Art. Dies bedeutet, dass der Dichter erläutert, wie der Dichter vorgehen soll, natürlich gemessen daran, was Aristoteles für gut hielt. Da Aristoteles aber ein wirklich schlauer Bursche gewesen ist, hatten seine Ansichten damals ein hohes Gewicht. Dies haben sie in gewissem Grade übrigens bis heute.

Das griechische Drama erforderte drei Schauspieler und einen Chor. Es gab nur männliche Schauspieler und Chormitglieder, selbst wenn Frauenrollen gespielt wurden. Sowohl die Schauspieler als auch der Chor trugen Masken und Kostüme. Die Stücke wurden von Musik begleitet – mindestens wohl von Flötenspielern und einer Trommel –, deren Klang wir aber leider nicht mehr rekonstruieren können.

An manchen Tagen ein Tempel, an anderen ein Theater

In Athen wurden Tragödien und Komödien im Theater des Dionysos aufgeführt. Es handelte sich um ein für Griechenland typisches Theater mit einer Bühne und halbkreisförmig angeordneten, aufsteigenden Sitzreihen. Besucher, die heute die Akropolis in Athen hinaufsteigen, können sich einen schönen Eindruck von diesem Theater verschaffen, da es in eine Seite des Akropolis-Hügels hineingebaut wurde. (Tatsächlich handelt es sich zwar um das alte Theater; es wurde jedoch von den Römern erneuert und verbessert.) Dieses Theater war mehr als nur ein Theater; es war ein Dionysos geweihter Tempel. Es war der einzige Dionysos zu Ehren erbaute Tempel in Athen. Die Besucher, die sich dort hinbegaben, mussten sich anständig aufführen, da jede Form von ungebührlichem Verhalten als Sakrileg (als Affront gegen die Götter) angesehen und entsprechend hart bestraft wurde. Einmal stritten sich zwei Besucher um einen Sitz. Derjenige, der den Streit angefangen hatte, wurde des Sakrilegs für schuldig befunden. Sein Hab und Gut wurde beschlagnahmt und er musste die Stadt schließlich sogar verlassen.

Die Feste zu Ehren des Dionysos

Dionysos war der Gott des Weines, des Rausches und des Theaters. Das verbindende Element dieser drei Bereiche ist, dass die normale Realität dabei zeitweise aufgehoben wird. In Athen wurde Dionysos gehuldigt, indem zweimal im Jahr ein großes »dramatisches Fest« gefeiert wurde, das heißt große Feiern, bei denen die Aufführung von Theaterstücken im Mittelpunkt stand. Diese beiden Feiern in Athen waren die Dionysia, ein großes Frühlingsfest zu Ehren des Dionysos, und die etwas weniger orgiastischen Lenaia während des Winters, die zu Ehren der Göttin Demeter veranstaltet wurden.

Und der Gewinner ist ...

Während beider Feste, der Dionysia und der Lenaia, wurde ein Theaterwettbewerb veranstaltet. Nach der Dramenvorführung vergab eine Jury Preise für die beste Trilogie, die besten Kostüme und die besten Schauspieler. Das Ganze erinnert ein wenig an die heutigen Rituale bei Preisverleihungen auf Filmfestivals. Der Gewinn eines Wettbewerbs war damals sicher förderlich für die Laufbahn eines Dichters.

Förderung des Theaters

Außer den Sklaven konnten alle Athener, alle Fremden und Besucher in der Stadt eine Eintrittskarte für eine Vorführung erwerben. Das Theater nahm im Laufe der Zeit eine so große Bedeutung für die Menschen an, dass die Athener im vierten Jahrhundert vor Christus einen aus öffentlichen Geldern gespeisten Fonds einrichteten, dessen Aufgabe es war, Eintrittskarten zu subventionieren, damit auch die armen Bewohner der Stadt die Möglichkeit zu einem Theaterbesuch bekamen.

Die Tragödie

Was Theaterstücke zu Tragödien im eigentlichen Sinne macht, lässt sich nur sehr schwer bestimmen. Die meisten Tragödien, aber eben lange nicht alle, enthalten eine Figur, die im Verlauf stirbt oder die ein gewisses Maß an Leiden erdulden muss. Die meisten Tragödien schlagen einen ernsten Ton an – aber eben nicht alle. Euripides’ Tragödie Helena ist ziemlich komisch, niemand wird getötet und sie hat sogar ein glückliches Ende. Aristoteles behauptet, dass die seiner Meinung nach gelungensten Tragödien gewisse gemeinsame Elemente haben; er sagt aber nicht, dass allen Tragödien etwas gemeinsam sein muss.

Was machte eine Tragödie zur Tragödie? Vielleicht ist ja ein Teil der Antwort die Mythologie. Von den bis heute überlieferten Tragödien haben alle bis auf eine Mythen als stoffliche Grundlage. Die eine Ausnahme ist das Stück Die Perser des Aischylos, dessen Handlung auf der während der Perserkriege zu Beginn des fünften Jahrhunderts vor Christus ausgetragenen historischen Schlacht von Salamis beruht. Man könnte in diesem Fall sogar sagen, dass dieser (anfangs höchst unwahrscheinlich erscheinende) Sieg über die Perser für die Griechen damals so bedeutsam war, dass er kurze Zeit danach schon mythisch überhöht wurde. Wie dem auch sei – das Stück Die Perser ist die einzige uns bekannte Tragödie aus der Antike, der kein Mythos zugrunde liegt. Diese Tatsache grenzt die tragischen Dichtungen deutlich von den Komödien ab, die eher alltägliche Geschichten aus dem Leben der Athener auf derb-komische Weise erzählten.

Der Chor in der griechischen Tragödie ist sozusagen die Verkörperung des »normalen Bürgers«. Seine Aufgabe ist es, das Geschehen zu verfolgen und das Verhalten der Figuren kommentierend zu begleiten. Tragödien erschienen in Form von Trilogien, das heißt Gruppen von drei Theaterstücken. Ein Dichter schrieb eine Trilogie bestehend aus drei Dramen, die zusammen, eines nach dem anderen, aufgeführt werden sollten. Mitunter kam es vor, dass die drei Stücke eine zusammenhängende, in drei Teile untergliederte Geschichte erzählten. (Die Orestie des Aischylos ist so ein Beispiel.) In anderen Fällen erzählten die drei Teile ganz unterschiedliche, nicht zueinander gehörende Geschichten.

Mythen und mythologisches Recycling

Worum geht es in den griechischen Tragödien? Natürlich geht es um tragische Ereignisse, aber eben nicht um irgendwelche beliebigen. Tragödien handeln in der Mehrzahl von mythologischen Figuren und Ereignissen beziehungsweise Geschichten. Der Trojanische Krieg etwa bot den Tragödiendichtern reichhaltiges Material für ihre Stücke. Bei anderen Mythen war es genauso. Material für die Ausarbeitung neuer Stoffe in ihren Theaterstücken fanden die Dichter auch bei den zwei mythologischen Königsfamilien: den Nachkommen des Kadmos, des Königs von Theben, sowie dem Geschlecht der Atriden aus Mykene. In vielen Tragödien legt der Dichter einer der Figuren die Bemerkung in den Mund: »Ist eine Familie einmal verflucht, wird das Unglück sie für immer verfolgen.« Die Existenz dieser beiden Familien ist sicher der beste Beweis für die Wahrheit dieser Aussage.

Der Mythenschatz der Griechen versorgte die Tragödiendichter der Antike mit umfangreichem Material. Dennoch gibt es ein und dieselbe Geschichte mitunter in mehrfachen Bearbeitungen. Es erschienen damals vielleicht zwanzig bis dreißig Stücke pro Jahr und das über einen Zeitraum von etwa einhundert Jahren. Einige Stoffe sind uns heute in der Bearbeitung von mehreren Dichtern der Antike überliefert. Dazu gehört etwa der Elektra-Stoff, der uns in den Versionen von Aischylos, Sophokles und Euripides vorliegt. Alle drei Stücke unterscheiden sich etwas voneinander, was die Athener aber damals nicht weiter störte.

Missverständnisse bei der Tragödie

An dieser Stelle erscheint es angebracht, dass wir uns einmal den weitverbreiteten Irrtümern zuwenden, die über die griechische Tragödie im Umlauf sind. Viele Leute denken, dass das Wesentliche der Tragödien wie zum Beispiel Ödipus der Tyrann darin besteht, dass die Hauptfigur (hier Ödipus – auch Oedipus oder Oidipus geschrieben) in ein selbst verschuldetes tragisches Scheitern verstrickt ist, das heißt durch seine Hybris (ein griechisches Wort, das in etwa Hochmut, Stolz bedeutet) Leid erfährt und schließlich zugrunde geht. Stimmt das? Kurz gesagt: Nein!

Ein Fehler, der auf Unwissenheit beruht ...

Woher kommt also diese Idee eines selbst verschuldeten tragischen Scheiterns? Nun, sie stammt aus einer fehlerhaften Lektüre beziehungsweise Übersetzung der Poetik des Aristoteles aus dem Griechischen. Aristoteles stellt in seinem Buch die These auf, dass man gute Tragödien daran erkennt, dass das Tragische sich aus etwas entwickelt, was er hamartia nannte. Für Aristoteles bedeutete das Wort »einen aus Unwissenheit begangenen Fehler im Gegensatz zu einem planvollen Vergehen«. Nehmen wir an, ich decke das Dach meines Hauses neu und ein Dachziegel fällt herunter und erschlägt einen Menschen, so wäre dies hamartia. Ein Mensch wurde getötet, aber nicht absichtlich; es war kein Verbrechen, da ich es gar nicht wollte.

... wird zu einer handfesten Sünde

Nun geschah der Fehler. Als nämlich die Gelehrten im 19. Jahrhundert Aristoteles im griechischen Original studierten, da lasen sie es quasi mit der Bibel im Hinterkopf. Im Neuen Testament (etwa 500 Jahre nach Aristoteles) bedeutet hamartia so viel wie Sünde. Man übertrug diese Wortbedeutung auf Aristoteles und nahm an, Aristoteles wollte sagen, dass sich gelungene Tragödien durch ein Element der Sünde auszeichnen, beziehungsweise, wie wir es hier nennen, durch ein selbst verschuldetes Scheitern. Es stellte sich heraus (und dies machte die Verwirrung nur noch größer), dass diese Art der Aristoteleslektüre – die neutestamentarische also – sehr gut zu funktionieren schien, etwa wenn man sie auf die Tragödiendichtung Shakespeares überträgt: Hamlet gerät in Schwierigkeiten, weil er unentschlossen ist; König Lear ist eitel und eingebildet; Macbeth ist ein Pantoffelheld und so weiter.

Die Griechen aber hatten ein anderes Tragödienverständnis

Dies entspricht aber nicht der altgriechischen Auffassung dessen, was eine gute Tragödie ausmacht. Was, so fragen wir Sie, ist denn auch tragischer: Jemand, der »bekommt, was er verdient«, oder jemand, der tut, was er kann, und dann trotzdem scheitert?

Die großen Drei

Die drei bedeutendsten Tragödiendichter der Antike waren Aischylos, Sophokles und Euripides. Sie lebten im fünften Jahrhundert vor Christus. Aischylos war der Älteste von ihnen. Ihm folgte Sophokles und als Dritter kam Euripides. Es gab in der Antike natürlich viele andere Dramendichter. Agathon ist ein weiterer bekannter Name. Zwar ist von ihm kein einziges Stück überliefert, dennoch haben wir von ihm Kenntnis durch andere Quellen, etwa durch sein Auftreten in Platos Symposion. Der vielseitige Ion von Chilos schrieb neben vielen anderen Dichtungen auch Tragödien, vielleicht sogar Komödien, was ihn zum einzigen bekannten Dichter der Antike machen würde, der sich an beiden Genres versucht hätte. Nach dem fünften vorchristlichen Jahrhundert war die Zeit der großen Tragödiendichtungen vorbei und die Griechen beschränkten sich darauf, ihre Klassiker immer wieder neu aufzuführen.

Aischylos

Aischylos wirkte von etwa 499 bis 456 v. Chr. Er war der Erneuerer des griechischen Theaters. Vor ihm traten im Theater nur jeweils zwei Schauspieler auf, was die dramatischen Möglichkeiten doch erheblich einschränkte. Aischylos kam die Idee, einen dritten Schauspieler auftreten zu lassen. Dies ermöglichte die Entstehung echter dramatischer Konstellationen, da der neu hinzugekommene dritte Darsteller als Folie, als Hintergrund für die anderen beiden agieren konnte. Denken Sie etwa an folgende Beispiele: zwei Liebende und ein böser Nebenbuhler; ein Mörder, ein Opfer und ein Zeuge; oder auch ein Betrüger/Hochstapler, ein ehrlicher Charakter und eine dritte Figur, die beide auseinanderhalten muss. Bei Theaterwettbewerben gewannen Aischylos’ Stücke wenigstens dreizehn Mal den ersten Preis. Seine bekanntesten Stücke sind Agamemnon, Sieben gegen Theben und Der gefesselte Prometheus (mehr über sie in späteren Abschnitten).

Sophokles

Sophokles kam zeitlich nach Aischylos. Seine Wirkungszeit überschnitt sich mit der von Aischylos und Euripides. Seine ersten Stücke erschienen um 468 v. Chr.; seine letzten um das Jahr 406 v. Chr. Mit an die 120 Dramen ist er der produktivste der antiken Tragödiendichter. Er gewann um die 20 Preise bei dramatischen Wettbewerben. Seine berühmtesten Stücke sind Ödipus der Tyrann (auch Ödipus Rex genannt) sowie Antigone. Seine Stücke sind überwältigend, teilweise aus dem Grund, weil er eine direktere, sparsamere Diktion wählte als etwa Aischylos, dessen Sprache eher geschwollen und hochtrabend ist.

Euripides

Euripides ist der letzte in der Reihe der bedeutenden Tragiker. Er starb um 407/406 v. Chr. Soweit wir wissen, schrieb er ungefähr 90 Stücke, gewann aber nur selten bei Theaterwettbewerben. Euripides gilt uns heute als der innovativste der drei großen Dramendichter. Er nahm gerne weitverbreitete Stoffe als Grundlage seiner Stücke und gab diesen dann einen neuen Dreh, etwa in seinem Drama Elektra. Die Heldin Elektra zum Beispiel, Agamemnons Tochter, wird als rotznäsiges, verzogenes Balg porträtiert. Euripides baute in seine Stücke gerne Witze und ironische, geistreiche Bezüge zu anderen Stücken seiner Zeit ein.

Lernen Sie die Eltern kennen: Die Nachkommen des Kadmos

Die bedeutendste Familie, das berühmteste Geschlecht in der griechischen Tragödie sind die Nachfahren des Kadmos, Sohn des Königs von Phönizien, die königliche Familie von Theben. Theben war eine Stadt in Zentralgriechenland mit einer realen Geschichte und Herkunft. Theben hatte aber auch eine mythologische Geschichte, die sehr viel seltsamer und beunruhigender als ihre reale war.

Icon_techniker.jpgIn der Antike gab es zwei Städte mit Namen Theben. Die eine in Griechenland und die andere, viel bekanntere, in Ägypten. Das griechische Theben war das »siebentorige Theben«. Das ägyptische Theben hieß das »Theben der hundert Tore«.

Seltsame Anfänge

Alles begann mit der Lust und einer Kuh. Agenor, Sohn des Gottes Poseidon und der Göttin Lybia, war König von Phönizien (dem heutigen Libanon). Er hatte eine wunderschöne Tochter namens Europa. Zeus verliebte sich in sie und entführte sie nach Kreta, wofür er sich in einen Stier verwandelte. Agenor schickte seinen Sohn, nach ihr zu suchen. Kadmos begab sich also von Kleinasien aus auf den Weg nach Westen zu dem Kontinent, der später Europa heißen sollte.

Was haben Kühe mit der Gründung von Städten zu tun?

Kadmos gelang es nie, seine Schwester Europa zu finden. Er begab sich zum Orakel von Delphi, um Apoll zu fragen, was er tun solle. Apoll sprach, er solle nicht weiter nach seiner Schwester suchen, sondern stattdessen einer Kuh folgen und dort eine Stadt gründen, wo sie sich niederließ, um zu rasten. Kadmos verließ also Delphi und ging nach Boeotien (einer Region in Mittelgriechenland). Dort traf er auf einen Mann namens Pelagon, der eine große Herde Kühe besaß. Eine von ihnen scherte aus der Herde aus und lief davon. Kadmos folgte ihr.

Dort, wo die Kuh haltmachte, war der Ort, an dem Kadmos seine Stadt gründen wollte. In der Nähe fand sich sogar eine Wasserquelle. Leider wurde sie von einem Drachen, einem Sohn des Gottes Ares, bewacht. Kadmos tötete den Drachen schließlich nach langem Kampf und opferte die Kuh der Göttin Athene. Athene trug ihm auf, die Zähne des Drachen auszusäen. Kaum hatte er die Anweisung befolgt, da entstiegen der Erde auch schon bewaffnete Krieger in vollem Harnisch, genannt spartoi (die Sparten) oder übersetzt »ausgesäte Männer«.

Drachenzähne und die ersten Bewohner der neuen Stadt

Kadmos begann, Steine mitten unter die Krieger zu werfen, die sich daraufhin selber – einer gegen den anderen – bekämpften und töteten. Am Ende hatten nur fünf der Krieger überlebt. Kadmos machte sie zu den ersten Bewohnern seiner neuen Stadt. Sie wurden später zu den Ahnen des thebanischen Geschlechts.

Eine erfolgreiche Familie

Da Kadmos Ares’ Drachen getötet hatte, musste er diesem als Wiedergutmachung für acht Jahre dienen. Als er wieder frei war, gab Ares ihm seine Tochter Harmonia, deren Mutter Aphrodite hieß, zur Frau und Athene richtete es so ein, dass Kadmos König der neuen Stadt Theben wurde. (Haben Sie es mitbekommen? »Krieg« und »Liebe« zeugten ein gemeinsames Kind namens »Harmonia«.)

Kadmos und Harmonia bekamen die Kinder Semele, Agave, Polydoros, Ino und Illyrios.

Abbildung 8.1 gibt einen Überblick über die Abstammungsverhältnisse. Kadmos’ Tochter Agave heiratete Echion, mit dem sie das Kind Pentheus zeugte. Als Kadmos Theben verließ, wurde sein Nachfolger als König entweder sein Sohn Polydoros oder sein Enkel Pentheus. Dieser Teil des Mythos ist etwas verwirrend. Illyrios wurde als Letzter geboren, nachdem Kadmos und Harmonia nach Illyria (in Nordgriechenland) gezogen waren, wo sie in hohem Alter von Zeus in sanftmütige Schlangen verwandelt wurden.

Die Sage von Ödipus

Polydoros’ Sohn Labdakos wurde König von Theben. Nach ihm bestieg sein Sohn Laios den Thron. Dieser heiratete Jokaste (auch Iokaste geschrieben), die Tochter des Menoikeus, des Sohnes des Pentheus. Laios und Jokaste waren also Cousins dritten Grades, was aber angesichts der späteren Ereignisse ein eher unbedeutendes Detail war. Jokaste hatte auch einen Bruder mit Namen Kreon.

Ohne Orakel geht es nicht

Nach der Heirat zwischen Laios und Jokaste vernahm dieser einen Orakelspruch, der etwa so lautete: »Apoll ist untröstlich, mitteilen zu müssen, dass du einen Sohn bekommen wirst, der dich eines Tages töten wird.« Das Problem für Laios war, dass die Orakelsprüche des Orakels von Delphi sich immer erfüllen, was auch immer sonst geschehen mag!

Als Jokaste einen Jungen gebar, da legten sie ihm Fußfesseln an und setzten ihn an der Flanke eines Berges aus, wo ihn Raubtiere fressen sollten. »Leider« hatten die Eltern mit ihrem Versuch kein Glück. Ein Schäfer fand das Kind, übergab es einem anderen Schäfer, der den Jungen in die Obhut des Königs und der Königin von Korinth gab, die just zu dem Zeitpunkt nach einem Adoptivkind Ausschau hielten. Das Baby nannten sie wegen seiner angeschwollenen Füße »Ödipus«. Dass sie ihm verschwiegen, dass er ein Adoptivkind war, sollte sich später als großer Fehler herausstellen.

 

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Abbildung 8.1: Das Geschlecht des Kadmos: Was stimmt mit der Tafel nicht?

Die andere Seite des Orakels

Noch in jungen Jahren erfuhr er von einem Orakel, dass das Schicksal ihn dazu ausersehen habe, seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten. Um seinem Schicksal entgehen zu können, beschloss er, seine Adoptiveltern zu verlassen. Auf seiner Reise gelangte er in die Nähe von Delphi. Dort gab es drei Straßen, die sich an einem Punkt trafen. Ein Wagen, der – wie es schien – eine bedeutende Person transportierte, kam gerade in diesem Moment vorbei. Eine der Begleitpersonen dieses Wagens schlug Ödipus mit einem Knüppel, damit er den Weg freigäbe. Ödipus geriet in Wut, griff den Wagen an und tötete alle seine Insassen, auch den älteren Mann in seinem Inneren.

Das Rätsel der Sphinx

Als er weitermarschierte, gelangte er an den Rand der Stadt Theben. Dort sah er eine Sphinx, ein Ungeheuer mit dem Kopf einer Frau, dem Körper eines Löwen, einem Flügelpaar und dem Schwanz einer Schlange. Dieses Ungeheuer ging auf die Einwohner der Stadt zu, stellte ihnen ein Rätsel und tötete jeden, dem es nicht gelang, das Rätsel zu lösen. Ödipus hörte, dass der König der Stadt vor Kurzem nach Delphi aufgebrochen war, um die Antwort auf das ihm gestellte Rätsel zu finden. Unterwegs wurde er von einem Unbekannten erschlagen. Theben hatte seinen Herrscher verloren.

Ödipus wollte nun selbst versuchen, das Rätsel zu lösen. Es lautete: Welches Wesen geht morgens auf vier, mittags auf zwei und am Abend auf drei Beinen? Ödipus war sofort klar, dass nur der Mensch gemeint sein konnte, da er als Kleinkind sich auf allen Vieren fortbewegt, als Erwachsener auf zwei Beinen läuft und im Alter einen Stock benutzt.

Die Sphinx, deren Pläne nun durchkreuzt waren, brachte sich selbst um. Die Bewohner der Stadt Theben wählten Ödipus zu ihrem tyrannos. Die Bedeutung des Wortes entspricht nicht unserem heutigen Wort »Tyrann«; die Griechen bezeichneten mit tyrannos einen einzelnen, vom Volk gewählten Führer oder Herrscher (im Gegensatz zu einem Herrscher, der seinen Titel und seine Position durch Geburtsrecht erlangt hatte).

Ödipus heiratet

Vom neuen Herrscher wurde erwartet, dass er die Witwe des früheren Königs zur Frau nahm. Diese hieß Jokaste, Ödipus’ Mutter. Sie heirateten und bekamen vier Kinder:

check.gif Eteokles

check.gif Polyneikes

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Nach vielen Jahren breitete sich in Theben eine Seuche aus. Ödipus schickte den Bruder der Königin, Kreon, nach Delphi, um Apoll um Rat zu fragen, wie man der Seuche Herr werden könne.

Ödipus Tyrannos

Kreon begab sich also zum Orakel von Delphi. An dieser Stelle setzt die Handlung der berühmtesten aller griechischen Tragödien ein: Sophokles’ Ödipus der Tyrann (beziehungsweise Ödipus Rex, wie sie auch genannt wird). Die Handlung des Stücks ist schnell erzählt: Kreon kehrte nach Theben zurück und berichtete, das Orakel hätte ihn wissen lassen, dass die Seuche erst dann weichen würde, wenn die Bewohner von Theben den Mörder ihres alten Königs Laios gefunden und ihn seiner gerechten Strafe zugeführt hätten. Ödipus begann, nach dem Mörder zu forschen. Was er herausfand, war beunruhigend. Alle sagten ihm, er solle mit den Nachforschungen aufhören. Er aber konnte nicht, da er versprochen hatte, die Stadt vor der Seuche zu retten. Am Ende kam die ganze Wahrheit ans Tageslicht.

Seine Mutter Jokaste erhängte sich aus Scham. Ödipus stach sich die Augen aus, tötete sich aber nicht. Er tat dies aus Angst, nach einem Selbstmord seinen Eltern in der Unterwelt begegnen zu müssen. Seine Töchter Antigone und Ismene führten ihn aus der Stadt. Als Bettler verließ er Theben und fand in Attika im Heiligen Hain von Kolonos bei Theseus Asyl. Er blieb dort bis zu seinem Tod.

Kreon wurde vorübergehend König von Theben, bis die Söhne des Ödipus unter sich ausgemacht hatten, wer die Nachfolge ihres Vaters antreten sollte. Sie einigten sich darauf, die Macht unter sich aufzuteilen und sich nach einem Jahr jeweils abzulösen. Natürlich hielt diese Vereinbarung nicht lange. Eteokles vertrieb seinen Bruder Polyneikes. Dieser ging nach Argos, sammelte mehrere Verbündete um sich und machte sich daran, die Macht in Theben zurückzuerobern.

Sophokles und sein Stück Ödipus auf Kolonos

Ödipus’ Lebensende ist Thema von Sophokles’ Drama Ödipus auf Kolonos. Die beiden Brüder Eteokles und Polyneikes (der sich wieder auf den Thron von Theben zurückwünschte) erhielten Kunde von einem Orakelspruch. Er lautete: Wer den Leichnam des Ödipus in seinen Besitz zu bringen vermöchte, der würde für immer gesegnet sein. Ödipus war insofern bedeutungsvoll, als auf ihm ein großer Fluch lastete und er zu seinen Lebzeiten großes Leid erfahren hatte (keines von beidem hatte er wirklich verdient). Ödipus erfuhr ebenfalls von diesem Orakelspruch. Er wollte aber um keinen Preis zum Faustpfand der Machtranküne zwischen seinen beiden Söhnen werden. Also begab er sich nach Athen zum dortigen König Theseus, der ihn mit offenen Armen empfing. Nun, da er auf jemanden gestoßen war, der ihn wegen seines bemerkenswerten Lebens hoch achtete, entschied er, dass sich sein Leben erfüllt hatte. Er begab sich zu einem kleinen Wäldchen (dem Hain von Kolonos) am Rande der Stadt Athen. Ein Lichtblitz erschien und Ödipus wurde von da an nie mehr gesehen.

Icon_Hand.jpgViele Leser des Stücks Ödipus der Tyrann sind der Auffassung, dass der Held wegen eines selbst verschuldeten tragischen Scheiterns, seiner Hybris also, untergeht. Wir denken, dies stimmt so nicht. Das entscheidende tragische Moment liegt eher darin begründet, dass Ödipus alles richtig macht und dennoch scheitert! Apoll trug ihm auf, den Mörder des alten Königs zu finden, und er tat es! Im ganzen Stück ist Ödipus der Einzige (selbst den Seher Teiresias eingeschlossen), der die Götter ernst nimmt. Er muss die Stadt vor der Pest retten. Genau dies gelingt ihm auch!

Sieben gegen Theben

Nach dem Tod des Ödipus lastete der Fluch weiter auf Theben. Polyneikes sammelte um sich eine Armee mit sechs treuen Verbündeten an der Spitze. Mit ihm zusammen waren es insgesamt sieben Heerführer, einer für jedes Tor der Stadt Theben. Gemeinsam griffen sie an. Die weiteren Ereignisse sind Thema im Drama Sieben gegen Theben von Aischylos. Der Krieg endete für die Angreifer tödlich. Die Heerführer starben. Die beiden Brüder standen sich im Zweikampf gegenüber und brachten sich gegenseitig um. Am Ende wurde Kreon, der Onkel der beiden, wieder auf den Thron von Theben gesetzt.

Ein bitteres Vermächtnis: Antigone

Dort, wo die Ereignisse in Aischylos’ Stück Sieben gegen Theben endeten, nimmt Sophokles den Faden in seiner Tragödie Antigone wieder auf. Nach dem Tod ihres Vaters war Antigone wieder in der Stadt Theben. Sie verlobte sich mit Kreons Sohn Haimon und sollte diesen bald heiraten. Nach dem Krieg bestimmte Kreon, dass alle Verteidiger der Stadt Theben, die bei den Kämpfen ums Leben gekommen waren, ehrenvoll begraben werden sollten. Die Angreifer aber, die tot vor den Toren der Stadt lagen, solle man so, wie sie lagen, verrotten lassen. Antigone erschien dies unerträglich. Sie konnte sich nicht damit abfinden, einem Bruder alle Ehren zukommen zu lassen und den anderen, der tot im Staub lag, zu entehren. Den Göttern zu gehorchen war vordringlicher als alles andere. War die Familie nicht wichtiger als alle Politik, selbst wenn die eigene Familie so problembeladen war wie die ihre?

Antigone ignorierte das Gebot des Königs, schlich sich aus der Stadt und begrub ihren Bruder Polyneikes (mehr symbolisch, da sie nur etwas Erde auf seinen Körper häufte). Die Beerdigung eines Toten war ausgesprochen bedeutsam, da die Seele eines nicht Bestatteten nicht in die Unterwelt gelangen konnte. Kreon entging der Frevel nicht. Antigone wurde beobachtet und verraten. Er ordnete an, dass Antigone »getötet« werden sollte. Genauer ausgedrückt, ordnete er es nicht direkt an, da der Mord an einem Blutsverwandten ja ein großes Tabu war (vergleiche Kapitel 4). Stattdessen ließ er sie lebend in ein Felsengrab einschließen. Zu essen und zu trinken gab er ihr nur so viel mit, dass es für einen Tag ausreichte.

Antigones Verlobter Haimon hört von all den schrecklichen Ereignissen und will seiner Verlobten zu Hilfe eilen. Er kommt aber zu spät! Antigone hat sich in der Höhle schon erhängt. König Kreon überkommen am Ende, als alles schon zu spät ist, Zweifel. Er eilt zur Höhle und will Antigone begnadigen. Haimon sieht ihn herannahen und nimmt sich ebenfalls das Leben. Den Schlusspunkt bildet der Selbstmord von Haimons Mutter, Kreons Frau. Am Ende bleibt der König ganz allein zurück.

Das Geschlecht der Atriden – der Nachfahren des Atreus

Die zweite große und weitverzweigte Familie der griechischen Mythologie war das Geschlecht der Atriden, dessen Geschichte den Tragödiendichtern der Antike zahlreiche Stoffe lieferte. Im Unterschied zu den Nachkommen des Kadmos, deren Unglück im Wesentlichen unverschuldet ist, finden sich im Geschlecht der Atriden zahlreiche verdorbene, verachtenswerte Figuren. Dies beginnt schon mit dem Patriarchen der Sippe – Tantalos.

Tantalos war König von Sipylos in Kleinasien. Er war so wohlhabend, dass er es sich leisten konnte, die Götter selbst einzuladen. Als er ihnen aber seinen Sohn Pelops zum Essen servierte, da verscherzte er es sich dauerhaft mit ihnen. Er wollte auf diese Weise offensichtlich testen, ob die Götter allmächtig waren. Es stellte sich heraus – sie waren es! Natürlich ließen sie sich nicht hereinlegen und sorgten für eine besonders furchtbare Bestrafung in der Unterwelt (vergleiche Kapitel 12 in dem Abschnitt Ovids Metamorphosen). Den armen Pelops stellten die Götter wieder einigermaßen her. Aber eben nur einigermaßen. Die Göttin Demeter, die in Sorge um ihre Tochter war (Sie erinnern sich), aß versehentlich Pelops’ Schulter. Die Götter machten ihm allerdings netterweise eine neue aus Elfenbein.

Der unheilvolle Fluch des Streitwagenlenkers

Pelops zog nach Griechenland. Er beschloss, Hippodameia, Tochter des Oinomaos, des Königs von Pisa, zu heiraten. (Gemeint ist hier nicht das italienische Pisa, sondern eine Landschaft gleichen Namens in Griechenland.) Der König hatte erklärt, dass nur der seine Tochter zur Frau bekommen würde, dem es gelänge, ihn bei einem Wagenrennen zu besiegen. Der Verlierer müsse sterben. Die Tochter des Königs, die sich in Pelops verliebt hatte, beschloss, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Sie ging zu Myrtilos, dem Wagenlenker ihres Vaters, und überredete ihn, Pelops gewinnen zu lassen. Myrtilos ging also hin und lockerte den Sicherungszapfen, der für die Stabilität der Achsen am Wagen sorgte. Der König verlor das Rennen und sein Leben.

Nach dem Rennen warf Pelops Myrtilos ins Meer, entweder weil er die ehrlose Art seines Sieges vertuschen wollte oder weil er sich des Wagenlenkers als eines Nebenbuhlers um Hippodameia entledigen wollte. Kurz bevor ihn die Wogen für immer verschluckten, verfluchte Myrtilos Pelops und sein ganzes Geschlecht. Durch diesen Mord moralisch verunreinigt, wandte er sich an den Gott Hephaistos, der ihn von seiner Schuld wieder reinigte. Er gab ihm außerdem ein Zepter mit auf den Weg, in ganz Südgriechenland das Symbol der Macht. Von ihm stammt auch der Name für den südlichen Teil der griechischen Halbinsel, die Peloponnes.

Aber ich wollte das Königreich!

Das Ehepaar hatte viele gemeinsame Kinder, die groß wurden und in anderen Teilen der Halbinsel Königreiche gründeten. Es stellte sich aber irgendwann die Frage, wer den Vater als König beerben sollte.

Pelops hatte einen unehelichen Sohn aus der Zeit, bevor er seine Frau Hippodameia heiratete. Der Sohn hieß Chrysippos. Hippodameia (die für den unehelichen Bastard ihres Mannes nicht allzu viel übrig hatte) stiftete ihre beiden Söhne Atreus und Thyestes dazu an, ihren Halbbruder zu ermorden. Sie warfen ihn in einen Brunnenschacht und sicherten sich damit den Anspruch auf den Thron. Als Pelops von der ungeheuerlichen Tat erfuhr, verfluchte er seine beiden Söhne. Von nun an lastete ein doppelter Fluch auf der Familie. Siehe Abbildung 8.2.

Atreus war mit Aerope verheiratet. Diese liebte aber Thyestes. Eines Tages wollte Atreus der Göttin Artemis ein Opfer darbringen. Als er ein wunderschönes goldenes Lamm sah, griff er es und verbarg es in einer Truhe. Er vergaß jedoch, Artemis das versprochene Opfer zu bringen. Ein Sakrileg! Aerope stahl die Truhe mit dem Lamm und gab sie Atreus’ Bruder Thyestes.

Kurze Zeit später vernahmen die Einwohner Mykenes einen Orakelspruch, der ihnen gebot, einen der Söhne des Pelops zu ihrem König zu machen. Atreus und Thyestes erschienen und stellten sich als mögliche Kandidaten zur Verfügung. Atreus (der nicht ahnte, dass seine Frau sein goldenes Lamm gestohlen hatte) schlug vor, denjenigen zum König zu machen, der ein goldenes Lamm vorweisen könne. Thyestes war sofort einverstanden. Dies versetzte seinen Bruder sicher sehr in Erstaunen; noch größer aber war seine Überraschung, als dieser eine Truhe herbeiholte, sie öffnete und allen das Goldene Vlies zeigte.

Zeus aber gefiel diese List des Thyestes gar nicht sonderlich. Er schickte Hermes zu Atreus und ließ ihm einige Ratschläge erteilen: Er solle sich zunächst als guter Verlierer präsentieren, Thyestes dann aber fragen, ob er sich damit einverstanden erkläre, ihm den Thron von Mykene zu überlassen an dem Tag, an dem die Sonne im Westen aufginge. Thyestes erklärte sich einverstanden (obwohl er es hätte besser wissen müssen). Die Sonne wanderte prompt verkehrt herum über den Himmel und Atreus wurde zum König ernannt. Seinen Bruder schickte er in die Verbannung.

 

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Abbildung 8.2: Das Atridengeschlecht: dort, wo man kein Essen zu sich nehmen sollte

Atreus’ furchtbare Rache

Erst jetzt erfuhr Atreus vom Ehebruch seiner Frau und beschloss, sich dafür grausam an seinem Bruder zu rächen. Er lud ihn unter dem Vorwand, er wolle sich mit ihm aussöhnen, in seinen Palast ein. Atreus tötete die drei Söhne des Thyestes (Kinder einer Nymphe, die an einem Altar des Zeus Schutz vor den Häschern suchten) und ließ aus ihnen eine Mahlzeit für seinen Bruder zubereiten. Dieser verspeiste ahnungslos seine Kinder. Nach dem Mahl zeigte Atreus dem Vater die Hände und Köpfe seiner toten Kinder. Da erkannte Thyestes, was ihm angetan wurde.

Apoll gab ihm einen Rat, wie er sich rächen könne. Er müsse mit seiner Tochter Pelopia einen Sohn zeugen, der ihn dann später rächen werde. Der Sohn hieß Aigisthos. Pelopia versuchte noch, das Kind loszuwerden, indem sie es in der Wildnis aussetzte. Schäfer aber fanden es und päppelten es mithilfe einer Ziege, die dem Kleinen als Amme diente, wieder auf. (Dies mag der Ursprung des Namens Aigisthos sein, da das Wort Ziege im Griechischen aix (Plural: aiges) lautet.) Atreus erfuhr von der Existenz dieses ausgesetzten Kindes, nahm es in seine Obhut und zog es wie seinen eigenen Sohn groß. Thyestes wurde König von Mykene (und die Bewohner der Stadt hatten vermutlich ihre Zweifel, ob es wirklich so ratsam gewesen war, einen Sohn des Pelops zu ihrem König zu machen). Sophokles schrieb eine Tragödie mit dem Titel Thyestes, die aber leider verloren gegangen ist.

Atreus’ Söhne Agamemnon und Menelaos überlebten die Ereignisse. Sie wuchsen heran und Menelaos wurde schließlich König von Sparta. Agamemnon kehrte nach Mykene zurück, tötete Thyestes (nicht aber Aigisthos, dessen Sohn) und wurde selbst König. Die zwei Brüder heirateten zwei Schwestern: Agamemnon nahm Klytaimnestra zur Frau und Menelaos heiratete Helena. Das alles hört sich fast nach einem glücklichen Ende an – ein Brüderpaar heiratet ein Schwesternpaar und alle leben glücklich und zufrieden; aber natürlich kam alles ganz anders.

Weiteres Ungemach im Hause des Atreus

Agamemnon war der Anführer des griechischen Feldzugs gegen Troja. Komplizierte Gründe führten dazu, dass es dazu kam, dass er seine Tochter Iphigenie opfern musste. (Siehe hierzu auch Kapitel 7.)

Während der zehn Jahre, die Agamemnon in Troja kämpfte, fraß sich die Verzweiflung über den Tod ihrer Tochter immer weiter in Klytaímnestra hinein. Thyestes’ Sohn Aigisthos, der ja alle Gründe dieser Welt hatte, einen der Söhne des Atreus zu hassen, stachelte Klytaimnestra in ihrem Hass noch weiter an.

Agamemnon bringt seine Kriegsbeute mit nach Hause

Agamemnon kehrte als Sieger aus Troja in seine Heimat zurück und wurde zu Hause freudig begrüßt. In Aischylos’ Drama Agamemnon wird seine Heimkehr beschrieben. In diesem Stück wird sein Charakter eher negativ geschildert. So kehrt er zum Beispiel mit seiner weiblichen Kriegsbeute, einer Frau namens Kassandra, von Troja nach Hause zurück. Das Erste, was er zu seiner Frau sagte, war: »Bitte kümmere dich doch um sie, Liebes.«

Agamemnon wurde schließlich von seiner Frau Klytaimnestra und Aigisthos getötet. Sein Sohn Orest und seine Tochter Elektra, die ihren Bruder vor den Mördern rettete, blieben verschont. Orest kehrte nach Hause zurück und brachte gemeinsam mit seiner Schwester ihre Mutter und Aigisthos um. Diese Geschichte ist Thema von drei überlieferten Tragödien:

check.gif Aischylos’ Choephoroi

check.gif Sophokles’ Elektra

check.gif Euripides’ Elektra

Verfolgt von den Furien

Orest war nun in großen Schwierigkeiten, da der Mord an seiner Mutter ein absolutes Tabu war. Die in der römischen Mythologie Furien (beziehungsweise mit dem griechischen Begriff Erinnyen) genannten weiblichen Rachegöttinnen, die den Mörder verfolgen und ihn durch ihren grauenvollen Anblick in den Wahnsinn treiben, setzten ihm von nun an zu. Dass Orest Ärger mit ihnen bekam, war insofern unfair, als Apoll Orest ausdrücklich dazu ermuntert hatte, sich zu rächen. Euripides’ Stück Orest erzählt diese Geschichte, genauso wie Aischylos’ Drama Eumenides. In Aischylos’ Stück gelangt Orest nach Athen, die Furien immer auf seinen Fersen. Dort angekommen, wird auf Betreiben Athenes eine Art göttliches Gerichtsverfahren gegen Orest eröffnet. Apoll wird zu seinem Verteidiger bestellt und die Furien übernehmen die Anklage. Die Jury aus Athener Bürgern ist unentschieden, sodass Athene zu Gunsten Orests ihre Entscheidung fällt. Als Grund führt sie an, dass Mütter weniger wert seien als Väter. Orest tat also recht daran, seine Mutter aus Rache für seinen Vater zu ermorden. Wie kommt Athene zu ihrer Theorie? Nun, sie selbst hatte zwar einen Vater, aber keine Mutter (vergleiche Kapitel 5, wenn Sie mehr über ihre selbst für Götter ungewöhnliche Entstehung erfahren möchten). Mütter scheinen also wirklich keine so große Bedeutung zu haben, war ihre Schlussfolgerung.

Orest konnte seiner Bestrafung also noch einmal knapp entgehen. Er heiratete Hermione, die Tochter von Menelaos und Helena, eben jener Helena, die »eintausend Schiffe loszuschicken vermochte« und die Grund und Ursache des Trojanischen Krieges war. Orests Schwester Elektra wurde die Frau des Pylades, der genauso wie Helena Cousin ersten Grades des anderen Ehepartners war.