Von Svātmārāma favorisierte Übungen und Grundsätze
In jedem Praxisabschnitt hebt Svātmārāma jeweils eine Übung hervor. So heißt es über die Āsanas: »Kein Āsana gleicht dem Siddhāsana.«
Würde sich der Schüler oder Leser auf die empfohlenen Übungen Svātmārāmas beschränken, so wären dies die folgenden:
• Siddhāsana (vollkommener Sitz mit gebeugten Beinen, bei dem die linke Ferse am Damm und die rechte Ferse am Schambein liegt),
• Naulī (Quirlen des Bauches; gilt nur für phlegmatische Menschen),
• Bhastrikā-prānāyāma (geräuschvolle »Blasebalg«-Atmung),
• Khecarī-mudrā (Umbiegen der Zunge und Berühren des Rachens),
• Uddīyānabandha (Einziehen des Bauches),
• Vajrolī (Bewahren bzw. Hochziehen des Samens) und
• Nādanusandhāna (Versenkung in den Klang).
Statt komplexer und abwechslungsreicher Übungsfolgen empfiehlt Svātmārāma die Konzentration auf wenige, einzelne Übungen, wobei die Dauer der Übung in der Regel kontinuierlich gesteigert werden sollte. Die Umkehrhaltung Viparita-Karanī beispielsweise sollte am ersten Übungstag vier Minuten lang gehalten und jeden weiteren Tag um je vier Minuten gesteigert werden bis zu dem Punkt, an dem sie drei Stunden lang gehalten wird. Wer dies in dieser Weise übt, so Svātmārāma, der wird »weder Runzeln noch graue Haare« an seinem Körper sehen und den Tod besiegen.
Von den oben genannten Praktiken, die in den jeweiligen Abschnitten hervorgehobenen werden, gibt es nochmals eine Auswahl, die Svātmārāma bevorzugt und gleich im ersten Kapitel herausstellt: »Es gibt kein Āsana gleich dem Siddhāsana, keinen Kumbha177 gleich dem Kevalakumbha178, keine Mudrā gleich der Khecari und keinen Laya179 gleich dem Nāda180.«181
Zwei Verse zuvor fragt er bereits provokativ und rhetorisch, wozu eigentlich die vielen anderen Āsanas gut sein sollen, wenn einmal das Siddhāsana geglückt ist und der Atem durch Kevala-Kumbhaka gehemmt wird.
Svātmārāmas Credo und Grundsätze
Üben, üben, nochmals üben – am Ende des ersten Kapitels macht Svātmārāma in den Versen 64 bis 66 deutlich, worauf es (ihm) beim Hatha-Yoga ankommt und worauf nicht. Ausschlaggebend für Fortschritt und Vollendung sind praktisches und unermüdliches Üben, ergänzt durch Studium der entsprechenden Schriften (shastra). Keine Rolle spielen hingegen Alter, Konstitution und Gesundheitszustand, ebenso wenig das Tragen bestimmter Kleidung und das Sprechen über Yoga (wie etwa bei den oft mehrstündigen Satsanga, Zusammenkünften mit spirituell Fortgeschrittenen).
Nicht ohne Rāja-Yoga
Gleichwohl ist der Hatha-Yoga für Svātmārāma kein Selbstzweck, sondern Zuflucht und Grundlage für jene, die sich in den gesamten Yoga vertiefen. Gemeint ist die Verbindung des Hatha-Yoga mit dem Rāja-Yoga, was von Svātmārāma mehrfach hervorgehoben wird. So heißt es zum Beispiel im Vers 76 des zweiten Kapitels: »Ohne Hatha-Yoga gelingt der Rāja-Yoga nicht, ohne Rāja-Yoga gelingt der Hatha-Yoga nicht, daher soll man bis zum Ende beide üben.«182
Und im Vers 126 des dritten Kapitels heißt es: »Ohne Rāja-Yoga übt man vergebens Āsana, Kumbhaka und die verschiedenen Mudrā.«183
Samādhi, Befreiung und Unsterblichkeit
Am Ende des abschließenden vierten Kapitels bringt Svātmārāma in den Versen 104 und 108 seine Auffassung vom Sinn und Stellenwert der Hatha-Yoga-Praxis auf den Punkt. »Der Geist ist der Same, Hatha das Feld, höchste Entsagung das Wasser. Durch diese drei entsteht die Zauberliane Unmani184.«
»Der Yogin, der Samādhi erreicht hat, wird vom Tod nicht verzehrt, vom Karma nicht gequält und von keinem anderen erreicht.«185
Jener Yājñavalkya, von dem hier die Rede ist, hat nichts mit dem berühmten Yājñavalkya der Brihad-Āranyaka-Upanishad zu tun, der wahrscheinlich ältesten Upanishad, die im 8. Jh. v. Chr. entstand und in der ebenfalls eine Frau namens Gargī als Gesprächspartnerin auftaucht.
Der Autor der Yoga-Yājñavalkya-Samhitā lebte vermutlich im 13. Jh. n. Chr. – darauf lässt sich aufgrund der Textanalysen schließen. Die gelegentliche Datierung auf den Zeitraum 2. bis 4. Jh. n. Chr. (wie sie auch Desikachar vertritt) berücksichtigt nicht die vielen Parallelen zu den deutlich später entstandenen Quellentexten des Hatha-Yoga wie auch die in der Yoga-Yājñavalkya enthaltenen Merkmale tantrischer Literatur. Es mag sein, dass die mündlich tradierte Grundlage für diesen Text bis ins 2. oder 4. Jh. n. Chr. zurückgeht, die Aufzeichnungen auf den Palmblättern jedoch sind deutlich jüngeren Datums.
Neben einer von Prahlad C. Divjanji herausgegeben Ausgabe, die 1954 in Bombay erschien, existieren zwei weitere Ausgaben der Yoga-Yājñavalkya. Die eine wurde vom Krishnamacharya Yoga Mandiram herausgegeben und basiert auf einer Übersetzung Krishnamacharyas aus dem Sanskrit ins Telugu, die von T. K. V. Desikachar ins Englische übertragen wurde. Die zweite Ausgabe stammt von A. G. Mohan (wie T. K. V. Desikachar ebenfalls ein langjähriger Schüler Krishnamacharyas), der sich auf den Originaltext bezieht und diesen sowohl übersetzte als auch kommentierte.
Yājñavalkyas Yogakompendium ist in der Form eines Dialogs verfasst. Yājñavalkya, dessen Name sich mit »Opfer/Hingabe/Verehrung mit dem Bastgewand« übersetzen lässt, lehrt und erklärt seiner Frau Gargī den Yoga, der von ihm als Verbindung (samyoga) des individuellen Kerns (jīvātman) mit dem Höchsten (parātmān) definiert wird.
Die Darlegungen beginnen mit yama und niyama, fahren mit Āsanas und Prānāyāma fort und münden schließlich in Pratyāhāra186, Dhāranā187, Dhyāna und Samādhi. Es ist das Ashtānga-Yoga-Konzept des Patañjali; der Begriff Ashtānga wird auch mehrfach im Text erwähnt. Zugleich gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten mit den Yoga-Upanishaden und der Hatha-Pradīpikā.
Worin sich die Yoga-Yājhavalkya-Samhitā von vergleichbaren Texten unterscheidet, ist die Offenheit unter anderem gegenüber weiblichen Adepten, der Verzicht auf die Reinigungsübungen und das ausführlich dargelegte Konzept der Kundalini, welche entgegen sonstiger Auffassung und Vermittlung hier als Hindernis beschrieben wird, das es zu beseitigen gilt. In den Versen 11 und 12 des letzten Kapitels heißt es wörtlich: »Mit Hilfe von prana vāyu188 und agni (dem inneren Feuer), die Gedanken auf Gott gerichtet, wird die Kundalini verbrannt (kundalinīm dahati). Wurde die Kundalini vom Feuer ›gekocht‹, weicht sie zur Seite, und der Weg ist geöffnet. Dann bewegen sich prāna vāyu und agni nach oben. Solch eine Person ist frei von Krankheit.«189
Für Krishnamacharya war dieses Konzept der Kundalini überzeugend. Es entsprach seiner eigenen Erfahrung und Auffassung. Auch sein Sohn T. K. V. Desikachar folgt dieser Ansicht und nennt die Yoga-Yājñavalkya-Samhitā den »kohärentesten und klarsten Text zu diesem Thema«. Er vergleicht Kundalini mit Avidyā (Unwissenheit) und zieht eine Parallele zwischen dem Auflösen des Kundalini-Hindernisses und dem Moment, da Avidyā, das Nicht-Wissen, beseitigt wird.
Irritierend (und für manche Anhänger des Kundalini-Yoga sogar verstörend) an diesem anders gearteten Konzept ist vor allem der konträre, destruktive Umgang mit der Symbolik der Schlange, die für Fruchtbarkeit steht, als Zeichen kosmischer Energie gilt und das weibliche Prinzip symbolisiert. Allerdings handelt es sich bei dem Kundalini-Konzept lediglich um die Imagination einer feinstofflichen Substanz, die, je nach Vorstellung, zum Aufsteigen oder eben zum Verschwinden gebracht werden kann, damit die Lebensenergie (prāna) frei fließt. Wer in der Kundalini jedoch ein quasi reales Lebewesen oder ein göttliches Wesen sieht, wird sich mit diesem Konzept nicht anfreunden können.
Goraksha (Gorakshanātha) (10. Jh. n. Chr.)
Zweifellos ist Goraksha einer der großen Meister des Hatha-Yoga, für einige ist er gar der Begründer und Meister des Hatha-Yoga schlechthin. Seine Name bedeutet »Rinder hütend, Rinderhirt« (Skrt.: Gorakshaka), was auf seine Tätigkeit in der Jugendzeit verweist. Oft wird sein Name mit nātha erweitert, was 1. Herr bzw. Gatte und 2. Hilfe bzw. Zuflucht bedeutet und ein Ehrentitel ist; zudem wird seine Name gelegentlich in Hindi wiedergegeben, was dann als Gorakhnāth zu lesen ist. Der Dichter Kabir (1440–1518) pries Goraksha als den Meister, der die Verbindung mit dem Göttlichen fand.
Goraksha stammt, wie sein Lehrer Matsyendra (siehe unten), aus Bengalen, jener ostindischen Provinz, die nach der Aufspaltung der britischen Kolonie zu Pakistan gehörte und 1971 zur Volksrepublik Bangladesh proklamiert wurde. Überliefert ist zudem, dass Goraksha in seiner Jugend mit dem Hüten der Rinder verbrachte, was, wie gesagt, auch sein Name zum Ausdruck bringt. Die Umstände seiner Geburt sind in einer Legende beschrieben:
Während der mit übernatürlichen Fähigkeiten begabte Matsyendra von Haus zu Haus zog, um zu betteln, traf er eine Frau, die sehr traurig war. Der Grund ihrer Traurigkeit war die Tatsache, dass sie noch kein Kind bekommen hatte. Matsyendra versprach ihr, das Problem zu lösen, und gab ihr Asche, die sie essen sollte – dies würde sie zur Mutter machen. Als sie dies den Nachbarn erzählte, lachten diese sie aus und erklärten ihr, dass man Yogis nicht trauen solle. So warf sie die empfangene Asche auf einen Heuhaufen.
Als Matsyendra zwölf Jahre später wieder an ihr Haus kam, fragte er die Frau nach dem Befinden ihres Kindes. Völlig verdutzt sagte sie: »Ich habe nie ein Kind zur Welt gebracht!« Matsyendra erinnerte sie an die Begegnung zwölf Jahre zuvor und daran, dass er ihr Asche gegeben habe, die sie verzehren sollte. Die Frau berichtete ihm vom Spott der Nachbarn und ihren Zweifeln und zeigte Matsyendra jene Stelle, wo sie sich der Asche entledigt hatte. Matsyendra schritt zum Heu, teilte es und förderte dort einen zwölfjährigen Jungen zutage, der gerade meditierte. Die wohlhabende Frau freute sich über ihren Nachwuchs und wollte mit ihm ins Haus gehen, aber Matsyendra verweigerte dies. Er selbst machte seinen Anspruch auf den Jungen geltend und nahm ihn mit sich als seinen Schüler, unterwies ihn in Yoga und Meditation und verlieh ihm übernatürliche Kräfte.190
Wie alle Mythen und Legenden enthält auch jene Geschichte Spuren einer wahren Begebenheit und gibt wichtige Hinweise auf das Leben Gorakshas und den Beginn der Beziehung zu Matsyendra. Vielleicht liegt in dieser Legende auch der Schlüssel zu dem Umstand, dass Goraksha Zeit seines Lebens eine stark ablehnende Haltung gegenüber Frauen hatte und für ihn »jede Frau bloß Mutter, nichts weiter«191 war.
Eine weitere Legende stellt genau dies in den Mittelpunkt:
Sowohl Goraksha als auch Matsyendra sollten in ihrer Tugendhaftigkeit auf die Probe gestellt werden. Eine junge Frau verführte alle anwesenden Yogis und hatte bei allen ein leichtes Spiel. Nur einer blieb standhaft und erlag der Schönen nicht: Goraksha. Er wurde in ihren Armen zum Säugling und wollte nur gestillt werden(!). Da aber Matsyendra, sein Lehrer, der schönen Frau erlegen war und mit ihr in das männerlose Land Kadalī reiste, sah es Goraksha als seine Pflicht an, seinen Lehrer wieder auf den Pfad der Tugend zurückzubringen. Um überhaupt eingelassen zu werden, musste er sich als Tänzerin verkleiden. Auf diese Weise verschaffte er sich Zugang. Durch ein Lied gelang es Goraksha, den seine Sinnlichkeit auslebenden Matsyendra zu erreichen und umzustimmen. Plötzlich erkannte er in Kadalī192 die Stadt der Illusionen (māyāpurī).
In einer variierten und im Detail veränderten Erzählweise dieser Legende reiste Matsyendra nach Ceylon und verliebte sich in die dortige Königin. Sie lud ihn ein, in ihrem Palast zu leben, und bald schon hatte sich Matsyendra an das Leben am Hofe der Königin gewöhnt. Als Goraksha davon hörte, nahm er die Gestalt einer Frau an, reiste nach Ceylon und gelangte in den königlichen Harem. Auf diese Weise stellte Goraksha seinen Lehrer zur Rede und bewegte ihn zur Rückkehr nach Indien.
In all den Legenden, mit Ausnahme derjenigen, die den Beginn der Schülerschaft thematisiert, wird Goraksha als tugendhafter, diszipliniert und asketisch lebender Yogin beschrieben, der seinem Lehrer in punkto spiritueller Standfestigkeit und sittsamer Enthaltsamkeit deutlich überlegen war.
Trotz einer gemeinsamen Basis liegen dem zwei unterschiedliche Orientierungen zugrunde. Während Matsyendra ein Tantriker der Kaula-Linie war, bei dem die Shakti-Verehrung dominierte, war Goraksha ein puritanischer Nāthasiddha-Yogin (siehe unten), der im Shivaismus seine Basis fand und vehement gegen tantrische Praktiken der linken Hand zu Felde zog.
Nātha-Yoga, Nātha-Yogins,
Nāthasiddha-Sampradāya
Möglicherweise gehörte Goraksha dem traditionellen Orden der Nātha-Yogins nicht nur an, sondern war sogar sein Initiator. Zumindest wird er immer wieder – zusammen mit seinem Lehrer Matsyendra – als Begründer des Nātha-Yoga-Ordens angeführt. Die Nātha-Yogins selbst nennen als wahren Begründer jedoch Ādinātha, womit Shiva gemeint ist, sowie Nātha-Gurus wie Ude und Rudraga, die vor Goraksha und Matsyendra lebten.
Der von Hatha-Vidya und Kundalini-Yoga geprägte Nātha-Yoga war eine Reformbewegung, die der brahmanischen Orthodoxie keine Bedeutung beimaß und umso mehr Zuspruch und Anhängerschaft von Menschen der unteren Kasten erhielt. Der Orden Nāthasiddha-Sampradāya war die Siddha-Tradition193 schlechthin, innerhalb derer es zahlreiche Untergruppierungen gab. Auch die Nātha-Yogins bilden heute noch eine eigene Gruppe, deren Mitglieder sich Kānphatās nennen und an den großen, runden Ohrringen zu erkennen sind. Das Wort Kānphatā bezieht sich auf die durchlöcherten Ohren. Mit dem doppelschneidigen »Bhairavi-Messer« werden die Knorpel in der Mitte beider Ohrenmuscheln durchstochen,194 und im zweiten Schritt der Initiation werden große runde Ohrringe angebracht, die man darshans oder kundal nennt. Vor diesem Vorgang werden Nātha-Yogis noch Aughārs genannt, was »unfertig, unvollendet« bedeutet und sich von an gadh ableitet: ohne (an) festen Halt bzw. festhalten (gadh).
Dass die Nāthas oder Nāthasiddhas frei waren vom Dogma orthodoxer Brahmanen, ohne sektiererischen, alleinigen Wahrheitsanspruch, und sich von daher leicht von verschiedenen Seiten vereinnahmen ließen, ist auch den Schriften ihres Meisters Goraksha anzumerken (siehe S. 217 ff.).
Angaben zum Zeitpunkt und zu den Umständen des Todes von Goraksha gibt es trotz der Fülle an Legenden und Hinweisen auf seine Person und seine Wirkungsstätten nicht. Dass dies so ist, ist sicher kein Zufall und auch kein Versäumnis der Chronisten und Geschichtenerzähler.195 Vielmehr entspricht es Gorakshas Ruf als Mahāsiddha. Einem großen, vollkommen befreiten Yogi wie ihm wird zugetraut, dass er aufgrund seiner übernatürlichen Fähigkeiten unter Umständen noch unter den Lebenden weilt. Es gibt aber auch die Legende, dass Goraksha mit Hilfe seiner zaubermächtigen Meditationsmatte lebendig in den Himmel gelangt ist.
Gorakshas Schriften
Von den verhältnismäßig zahlreichen Texten, die Goraksha zugeschrieben werden, ragen zwei heraus: das Goraksa-Shataka sowie die Siddha-Siddhānta-Paddhati.
Die Siddha-Siddhānta-Paddhati196 ist ein 353 Verse umfassendes und in sechs Kapitel gegliedertes Werk. In wörtlicher Übersetzung und heutigem Sprachgebrauch lautet der Titel »Wie man vollkommen wird – ein methodisches Lehrbuch« oder »Vollkommenheit als höchstes Ziel – ein Leitfaden«.
Die beiden Begriffe Siddha und Siddhi, die darin eine große Rolle spielen und von daher den Titel prägen, leiten sich von der Wurzel sidh her, was 1. vertrieben und 2. vollendet, vollkommen heißt. Ein Siddha ist also ein Vollendeter, ein Heiliger, zugleich aber auch ein Zauberer, jemand, der über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt, weshalb das Sanskritwort für Hexe auch Siddhayogini ist.
In der Siddha-Siddhānta-Paddhati finden sich Ausführungen zu Themen aus verschiedenen Bereichen, so zum Beispiel zur Kosmologie, Philosophie, Psychologie und natürlich auch zur subtilen (feinstofflichen) Physiologie. Teile des Textes sind deutlich tantrisch, und so spielen nicht nur die »dreifach geteilte Shakti und deren Ausdehnungen und Kontraktionen« eine wichtige Rolle, sondern auch der Lingam, das Symbol für Fruchtbarkeit, auf den man laut Vers 4 der zweiten Unterweisung meditieren soll. Am Ende wird andererseits gelobt, wer die Sinne züchtigt und verbrennt.
Ausführlich wird die Lehre von den neun Cakren, den sechzehn Ādhāras (Konzentrationspunkte), den drei Lakshya (Objekte oder Zeichen der Meditation) und den fünf Vyoman (Himmel, Äther) im menschlichen Körper ausgeführt. Des Weiteren enthält die Siddha-Siddhānta-Paddhati eine Einführung in die zwei Zustände der Kundalini-Shakti, die unmanifestiert (kosmisch) und manifest (individuell) und im letztgenannten Zustand schlafend oder erwacht sein kann.
Wie im Yoga-Sūtra wird der achtgliedrige Yoga vorgestellt, und die einzelnen Glieder werden von Goraksha erläutert. So heißt es zu Āsana: »Sitzhaltung bedeutet, die Selbstform erreicht zu haben (samāsannatā). Svastikāsanam, Padmāsanam und Siddhāsanam – aus deren Mitte wähle man einen nach Belieben und verweile gesammelt in ihm. – Dies ist die Definition der Sitzhaltung.«197 Der wörtlich wiedergegebene Sanskritbegriff Sāmāsannatā bedeutet symmetrisch, gleichmäßig zusammensitzen und auf ebenem Boden sitzen. Das ist von der enormen Vielfalt der Stand-, Dreh-, und Umkehrhaltungen in den Yogapraxisbüchern des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart weit entfernt. Goraksha stellt drei Sitzhaltungen zur Auswahl, von denen eine gewählt werden soll.
Gemäß der Definition in Vers 31 des zweiten Kapitels ist nur derjenige ein echter Yogi, der die oben aufgeführte feinstoffliche Anatomie (neun Cakras, sechzehn Energiepunkte etc.) kennt. Die Vereinigung dieses echten Yogis mit dem Höchsten ist das, was von diesem selbst erkannt werden muss und nicht äußerlich zu vermitteln ist. So lautet der Beginn der fünften Unterweisung. Im Mittelteil dieser Unterweisung werden die Fortschritte und besonderen Fähigkeiten des Siddhayogin beschrieben, die sich im Verlauf von zwölf Jahren des Übens einstellen. Dieser Prozess beginnt mit der Freiheit von Krankheiten und allgemeiner Beliebtheit im ersten Jahr und endet mit Allwissenheit im elften und Gleichstellung mit Shiva im zwölften Jahr.
Bevor zum Schluss genau dargelegt wird, wem und unter welchen Umständen dieses Lehrbuch zugänglich gemacht werden darf und wem und unter welchen Umständen nicht, fasst Goraksha zusammen, was einen Siddhayogin auszeichnet:
»Wer vollkommen erfüllt und heiteren Gemüts ist, wer allen Glückseligkeit bringt und weise ist, wer in rechter Weise getragen ist von Gedanken des Wohlwollens gegenüber allen und allem, der mag ein hoher Siddhayogin sein. Der Yogin trauert nicht über das Vergangene und Verlorene, begehrt nicht Reichtum und Macht und empfindet keine Freude über das Erlangte. Voll der Glückseligkeit, aufgegangen in der eigenen Erkenntnis, wird er niemals behindert durch den Bereich der Zeit.« (Kapitel 6.70 und 71)198
In »Die hundert Verse des Goraksha«199, der einzigen auch in Deutsch vorliegenden Schrift von Goraksha200, ist besonders spürbar, dass es sich bei jenem Text, der als Vorlage für spätere Werke des Hatha-Yoga diente, um eine Art Protokoll und Unterstützung des mündlichen Unterrichts handelte. So wird es auch heute in der Viniyoga-Tradition praktiziert, in der die Lehrperson nach dem Einzelunterricht ein Schriftstück mit Skizzen und den wesentlichen Anweisungen anfertigt und dem Schüler aushändigt. Die 101 Verse des Goraksha-Shataka beschreiben ein sechsgliedriges Yogakonzept, das mit Āsana beginnt und mit Samādhi endet. Der mit Yama und Niyama benannte ethische Komplex, mit dem die acht Glieder201 des Yoga-Sūtra des Patañjali beginnen, fehlt hier. Diese Grundlage wurde von Goraksha offenbar vorausgesetzt und in einem Satz komprimiert: »Ein guter Mensch vertraut auf Yoga.« (Vers 3)
Was dann folgt, sind vor allem praktische Anleitungen, man könnte es auch als die Zusammenfassung des vorangegangenen persönlichen Unterrichts verstehen: In den Versen 5 bis 9 werden Siddhāsana und Padmāsana als die wichtigsten Haltungen genannt und kurz beschrieben. Die folgenden Verse benennen die Energiezentren (cakra) und -kanäle (nadī) des Körpers sowie die sogenannten »Winde« (vāyu).
Die Kundalini wird mit den Versen 30 und 31 bedacht, dem schließen sich Kurzbeschreibungen der Bandha202, des Mahāmudrā203 und des Khecarī-Mudrā an. Relativ viel Raum nehmen die Verse über Prānāyāma ein (38–53); es folgen die Umkehrhaltung Viparīta-Karanī, die dazu dienen soll, die Sinne zurückzuziehen (pratyāhāra), sowie Dhāranā, Dhyāna und Samādhi. In den letzten beiden Versen wird als höchstes Stadium das Wissen von der Einheit genannt sowie Muktisopāna, die Treppe der Befreiung (mukti) bzw. Erlösung.
Das nach Goraksha benannte Āsana
Das Gorakshāsana ist eine anspruchsvolle Gleichgewichtshaltung, die selbst von B. K. S. Iyengar als schwierig bezeichnet wird. Aus der Haltung des Lotossitzes (padmāsana) heraus werden die Hüften vom Boden gehoben und der Oberkörper nach oben gestreckt, der gesamte Körper wird auf den Knien balanciert, die Hände liegen in der Grußhaltung Namasté vor der Brust. Es ist eine Übung für Fortgeschrittene, die Konzentration und Ausgeglichenheit fördert. Der Name dieser Haltung wie auch das Bemühen, sie zu meistern, ist eine Hommage an den Yogameister Goraksha. Dieser wandte sich, wie andere Mystiker des indischen Mittelalters nach ihm, einerseits gegen Äußerlichkeiten wie Rituale, gegen eine Einteilung in höher- und minderwertige soziale Gruppen sowie gegen den Dünkel der Schriftgelehrten und trat andererseits dafür ein, dass die persönliche und praktische Erfahrung der inneren Freiheit (frei von Schmerz, frei von Gegensätzen und frei von Hilfestellung durch andere) und das Wissen von der Einheit jedermann zugänglich sein sollte. Allerdings waren damit nur die männlichen Mitglieder der Gesellschaft gemeint, denn wie bereits oben ausgeführt, hatte Goraksha Zeit seines Lebens eine stark ablehnende Haltung gegenüber Frauen, und so findet man bis heute keine Frauen in den Sādhu-Orden oder im Umfeld der Nātha-Yogis. Die wenigen bekannten Ausnahmen bestätigen die Regel, und der Stellenwert dieser wenigen Frauen innerhalb des Ordens ist entsprechend niedrig.
Dort, wo Matsyendra in der Sekundärliteratur als Guru von Goraksha auftaucht, wird mitunter behauptet, dass seine Historizität weniger gesichert sei204 oder – wie jene von Goraksha – zwar »möglich« sei, aber vor allem eine symbolische Bedeutung habe.205
Dies ist nur bedingt richtig. Neben den zahlreichen Mythen und Legenden, die sich um Matsyendra ranken, gibt es auch ganz konkrete Angaben und Quellen zu seiner Herkunft und seinem Leben.
Matsyendra gehörte zur Kaste der Kaivartas und soll als Fischer in Candradvīpa, an der Küste Ostbengalens, gelebt haben. Er ist auch bekannt unter dem Namen Mīna. Beide Namen deuten auf seinen Beruf hin: »Herr der Fische«. In Bengalen hatte er auch die meisten Anhänger, und im nordöstlich an Bengalen angrenzenden Assam soll er seine ersten Unterweisungen erteilt haben. Die Legenden berichten von sechs Söhnen, von denen er zwei mit der Königin von Sri Lanka gezeugt haben soll: Nimnāth und Parashnāth.
In der indo-tibetischen Tradition der 84 Siddhas führt er die Siddhas unter dem Namen Lui-pa an und wird zeitlich vor den buddhistischen Lehrern Tilopa und Naropa eingeordnet. Nach Angaben von Georg Feuerstein und Geshe Michael Roach ist er bei den Tibetern auch unter dem Namen Jowo Dzambling Karpo (»Weißer Herr der Welt«) bekannt. In Nepal wird er mit dem roten Bugama Avalokiteshvara identifiziert und genießt den Ruf einer Schutzgottheit.
Laut Mircea Eliade findet sich die erste Erwähnung Matsyendras im Text Kaula-Jñāna-Nirnaya. Die von Eliade gemeinte Handschrift stammt aus dem 11. Jahrhundert. Jyotishman Dam bezeichnet diesen Text als das wichtigste erhaltene Werk von Matsyendra und übersetzt es mit »Darlegung des Wissens der Kaulas«. Die tantrische Kaula-Tradition, als deren Begründer Matsyendra gilt, zeichnete sich durch die Verehrung der Shakti aus; darüber hinaus waren die Kaulas Anhänger Shivas. Das Wort »Kaula« leitet sich von kula ab, was 1. Herde, Schwarm, 2. Geschlecht, Familie, 3. Wohnung, Haus bedeutet; zugleich wird es in den Tantras wie auch in Gorakshas Siddha-Siddhānta-Paddhati für die Shakti beziehungsweise für den »verkörperten Kosmos« verwendet.
Weitere Werke, die Matyendra zugeschrieben werden, sind das Akulavīra-Tantra und die vor einigen Jahren erst entdeckte Matsyendra-Samhitā.
Neu entdeckt: Die Textsammlung Matsyendra-Samhitā
Auf der Suche nach unveröffentlichten Manuskripten des Tantra in verschiedenen britischen Bibliotheken fand der an der Kurukshetra-Universität lehrende Sanskritprofessor Debrata Sensharma ein Matsyendra zugeschriebenes Manuskript. Den ersten Teil dieses Textes veröffentlichte er zusammen mit einer ausführlichen Einführung 1994.206 Es handelt sich um einen bedeutenden tantrischen Text, der auch die Yogapraxis der Kaula-Tradition behandelt, die zur Trika-Schule207 gehört.
Die Matsyenda-Samhitā ist in Versen verfasst. Matsyendra, der ein Analphabet war, sang sie dem König Colendranātha vor, der sie anschließend öffentlich zugänglich machte, damit die Menschen Siddhi erlangen oder sich spirituell vervollkommnen konnten. Enrica Garzilli208 zufolge ist die Textausgabe mit den umfangreichen Erläuterungen von Debrata Sensharma eine Mischung aus westlicher Geisteswissenschaft und religiös gefärbter indischer Tradition. Die in diesem ersten Teil der Matsyendra-Samhitā enthaltenen Geschichten sind ebenso in den Purānas zu finden wie etwa die von Matsyendra im Bauch des großes Fisches.209
Legendäre Begebenheiten, die Matsyendra betreffen
Die bekannteste und in verschiedenen Variationen erzählte Legende thematisiert den Empfang bzw. die Offenbarung des göttlichen Wissens durch Shiva, woraus sich oft die Identifizierung Matsyendras mit Shiva ableitet. Der älteste Mythos stammt aus dem erwähnten Text Kaula-Jñāna-Nirnaya:
Shiva hielt sich mit seiner Gefährtin Pārvatī auf der bengalischen Insel Candradvīpa auf. Während dieses Aufenthalts stahl Shivas Sohn Kārttikeya dessen heiliges Lehrbuch, das Shāstra, und warf es ins Meer. Shiva nahm nun die Gestalt eines Fischers (Matsyendra) an und fuhr hinaus auf das Meer. Er fing jenen Fisch, der das Lehrbuch verschlungen hatte, und brachte ihn an Land. Shiva in der Gestalt Matsyendras schlitzte dem Fisch den Bauch auf, entnahm das Shāstra und rettete somit den Kanon heiligen Wissens. Doch sein Sohn stahl das Lehrbuch ein zweites Mal und warf es wieder ins Meer, wo es aufs Neue von einem großen Fisch verschlungen wurde. Shiva wob daraufhin ein Netz spiritueller Kräfte und fing diesen Fisch darin, doch es gelang ihm nicht, ihn an Land zu bringen, denn der Fisch war Shiva in Gestalt Matsyendras an Kraft ebenbürtig. So legte Shiva seine Status als Brahmane ab und wurde Fischer, um den Fisch besser fangen zu können. Zum Schluss bekennt Shiva, dass er zum Fischer wurde und wie ein solcher fischte, um den Kanon der Kaulas zu retten.210
Gemäß einer tibetischen Version211 der Legende belehrte Shiva seine göttliche Gattin Umā unter Wasser, damit niemand die geheimen Unterweisungen mithören konnte.
An den vielen Fischen, die Shiva und Umā im Meer umgaben, störten sich beide nicht. Dass sich im Bauch eines dieser Fische Mīna alias Matsyendra befand, der die Unterweisungen aufmerksam verfolgte, entging beiden. Als Umā während der Belehrung einschlief und Shiva fragte: »Hörst du mir noch zu?«, antwortete anstatt Umā nun Mīna alias Matsyendra spontan mit: »Ja, ich höre.« Daraufhin nahm Shiva mit Hilfe seines dritten Auges jenen im Bauch des Fisches wahr. Doch statt verärgert zu reagieren, war Shiva geradezu begeistert von diesem Aufwand und der Aufmerksamkeit Mīnas und sagte: »Nun weiß ich, wer mein wahrer Schüler ist!« Und zu Umā sagte Shiva: »Weißt du, unter diesen Umständen möchte ich lieber ihn als dich in die Geheimnisse einweihen.« Mīna nahm die Einladung dankend an und widmete sich in den nächsten zwölf jahren der spirituellen Praxis, die ihm von Shiva selbst vermittelt wurde – im Bauch eines Fisches.
Nach zwölf jahren fing ein anderer Fischer jenen Fisch, in dem Mīna alias Matsyendra all die Jahre verbracht hatte. Als er ihn öffnete, fand er ihn darin als vollkommenen Meister, der erkannt hatte, worauf es ankommt und was wirklich zählt.«212
Was diese Legende in all ihren verschiedenen Variationen auszeichnet, von denen viele erstmals im Kaula-Jñāna-Nirnaya sowie in den Bengali-Werken Mīnacetana (»Die Erweckung der Fische«), Goraksa-Vijaya (»Der Sieg des Goraksha«) und in dem Bengali-Gedicht Gopīcandrer Pāmcālī schriftlich niedergelegt wurden, ist erstens die göttliche Offenbarung des (geheimen) Wissens und zweitens die Symbolik des Meeres, des Fisches und des Fischers.
Das Motiv, wie das göttliche Wissen empfangen wird, taucht in verschiedenen, auch älteren Mythen immer wieder auf: Jemand wird Zeuge einer Belehrung, die den Charakter einer Initiation hat, und dieser Zeuge wird mit göttlichem Beistand zum Boten und Vermittler der Lehre.
Da der Fisch in verschiedenen Kulturen für Wachstum und Fortpflanzung steht und das Element, in dem er sich bewegt, als Ursprung allen Lebens gilt, steht der Herr der Fische (matsyendra) folgerichtig für Wachstum und Fortpflanzung. Das verträgt sich gut mit der tantrischen Tradition, zumal der Fisch durch seine Form auch als Phallussymbol gedeutet wird. Letzteres wiederum korrespondiert mit der Symbolik der Induskultur, in der Fische häufig als Zeichen auf Siegeln abgebildet wurden und die kultische Verehrung von Lingam-Steinen (Phallus-Steinen) belegt ist.
Auch in einer aus Nepal stammenden Legende geht es in der Grundaussage um Fruchtbarkeit. Wieder spielt Wasser eine Rolle, diesmal in Gestalt des Regens:
Matsyendra hielt sich häufig in Nepal auf und verweilte dort auf dem Berg Kamari. Goraksha wollte seinen Meister sehen, doch der Berg Kamari war schwer zugänglich. So zwang Goraksha neun Schlangengötter (nāga) unter eine Schildkröte und setzte sich auf diese, wodurch der Himmel wolkenlos blieb. In der Folge regnete es nicht mehr im Tal, und die Bewohner litten unter der Dürre und an Hunger. Matsyendra erbarmte sich, sorgte für Regen, und das Land wurde gerettet.
Die zweite Variante dieser Geschichte enthält ebenfalls interessante Aspekte:
Goraksha war zornig, weil ihm in Nepal nicht der große Empfang zuteil geworden war, den er erwartet hatte. Aufgrund seiner okkulten Kräfte hielt er die Wolken unter sich fest, so dass es in der Folgezeit nicht mehr regnete. Nun bat man Matsyendra um Hilfe und holte ihn nach Nepal. Als dieser an seinem Schüler Goraksha vorüberging, musste Goraksha seinem Meister die übliche Ehrerbietung erweisen und sich erheben. Die Wolken waren frei, und es regnete im Übermaß.
Neben dem Aspekt der Fruchtbarkeit, für die Matsyendra eintritt – was wiederum dessen spiritueller Herkunft und Orientierung entspricht – wird auch der Unterschied zu Goraksha und der Umgang der beiden miteinander deutlich.
In verschiedenen Legenden (wie zum Beispiel der im Abschnitt über Goraksha wiedergegebenen Geschichte) wird der Meister durch seinen Schüler belehrt oder gar gerettet, eine in der Summe der Beispiele ungewöhnliche Situation. Goraksha, der Schüler, ist mit der Lebensweise oder den Entscheidungen Matsyendras, seines Lehrers und Meisters, nicht einverstanden oder gar erzürnt über dessen Lebenswandel, und sogleich reagiert und interveniert er. Mal spricht er bei Yama, dem Gott des Todes, vor und droht diesem mit der Zerstörung seiner Stadt, um den Namen seines Meisters aus der Liste der zum Tod Bestimmten streichen zu lassen; mal tötet er zwei Söhne Matsyendras, wäscht deren Eingeweide, hängt ihre Häute an einem Baum auf und erweckt sie auf Matsyendras Wunsch hin wieder zum Leben. Ein anderes Mal erscheint Goraksha vor einem von Matsyendra wiederbelebten König und erinnert ihn und damit im Grunde Matsyendra selbst, der durch seine Lebendigkeit den König zu neuem Leben erweckt hatte und in dessen Körper steckte, an seine wahre Identität.
All diese legendären Geschichten und Mythen213 verweisen auf schamanische Praktiken und auf ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, bei dem der Schüler keine Gelegenheit auslässt, seine Stärke oder gar seine Überlegenheit zu demonstrieren. Während bei Goraksha stets sein von tapas geprägtes Durchsetzungsvermögen und eine autoritäre Haltung zu spüren sind, zeichnet sich Matsyendra eher durch Güte, Geduld, Nachsicht und Weltzugewandtheit aus.
Das nach Matsyendra benannte Āsana
Die dem legendären Yogameister Matsyendra gewidmete Haltung besteht aus einer Drehung des Rumpfes im Sitzen. In der Hatha-Pradīpikā wird dieses Āsana im Vers 27 wie folgt beschrieben: »Bringe den rechten Fuß an den Ursprung des linken Oberschenkels und den linken Fuß außerhalb des rechten Knies. Halte den rechten Fuß mit der linken Hand und den linken Fuß mit der rechten Hand, und dann drehe den Kopf vollständig zur Linken. Das ist Matsyendrāsana.«214 Die Beschreibung klingt einfacher, als die Haltung tatsächlich durchzuführen ist. Deshalb gibt es eine ganze Reihe von Variationen dieser Drehhaltung, die in der Bezeichnung dann mit Ardha, dem Sanskritwort für »halb« und »Hälfte«, ergänzt werden.