Diese Art des Umgangs mit den Upanishaden führt auch dazu, dass diese insgesamt als göttliche Offenbarung, als heilige Schriften oder als östliche Weisheit verstanden werden, obwohl in vielen Fällen nur einzelne Abschnitte wiedergegeben und kommentiert, umstrittene oder missliebige Passagen aber unterschlagen werden, ohne dass dies explizit gesagt wird.251 Neben der Aufforderung zur Geheimhaltung sind dies beispielsweise die Verachtung alles Angenehmen,252 die Verachtung des Prozesses der Schwangerschaft und alles Körperlichen253 sowie destruktive Ansätze wie beispielsweise in der Taittirīya-Upanishad,254 in der sich deutlich die Geisteswelt der kriegerischen Indoarier artikuliert.

Da in den Upanishaden die Denkweisen ihrer jeweiligen Epoche bewahrt sind und diese sich in einem Wandlungsprozess befanden, sind in ihnen teilweise ganz unterschiedliche, auch widersprüchliche Aussagen enthalten. Zwei Beispiele zu folgenden Themen:

Friede oder Krieg?

Im ersten Kapitel der Taittirīya-Upanishad steht zu Beginn und am Ende: »OM! Friede, Friede, Friede!« Satya Sai Baba kommentiert dies folgerichtig: »Nur in einer Atmosphäre des Friedens können solche heiligen Grundsätze umgesetzt werden.«255 Am Ende dieser Upanishad ist die verheißene Konsequenz entsprechender (vorausgegangener) Verehrung jedoch keineswegs mehr Frieden, sondern Gewalt: »Verehrt man Brahman als Zerstörer, so werden alle Feinde, die einem übel wollen, und alle Gegner, die man hasst, zerstört.« (Taittirīya-Upanishad 3,10, 4)

Im Vorwort zu einer 1921 erschienenen Upanishaden-Ausgabe stellt der Indologe und Religionswissenschaftler Helmuth von Glasenapp256 fest: »Ebenso wenig lässt sich ein den Upanishaden mehr oder weniger zugrunde liegendes einheitliches System feststellen; vielmehr treten uns in ihnen Gedanken sehr verschiedener Prägung entgegen, die teilweise noch an die phantasievollen Spekulationen der Naturvölker erinnern.«257

Enthaltsamkeit oder Sinnlichkeit?

Die unterschiedlichen Denk- und Bewertungsansätze sind auch bei den Themen Enthaltsamkeit und Sinnlichkeit zu finden. Die folgenden Zitate sind exemplarisch, das heißt, auch in anderen Upanishaden finden sich ähnliche oder vergleichbare gegensätzliche Aussagen.

Zu Beginn258 der Maitri-Upanishad – auch Maitrāyani-Upanishad genannt – wird der Körper als übelriechende Sammlung von Fleisch, Samen, Blut, Schleim, Tränen, Eiter, Kot usw. bezeichnet und die Frage gestellt, was einem da die »sogenannten Freuden des Lebens nützen«. Und auch am Ende derselben Upanishade259 werden Personengruppen aufgelistet, die die »himmlische Wahrheit« nicht verdienen: Unter anderem »Menschen, die immer ausgelassen sind; die regelmäßig Geschlechtsverkehr haben«; des Weiteren »Leute, die (…) für Unbefugte heilige Rituale durchführen (…), und solche, die als nicht Eingeweihte die heiligen Schriften kennen« (sic!), sowie Schauspieler, Söldner und Schausteller und solche, die als Diener des Königs versagt haben, »denn das sind alles eindeutig verachtenswürdige Diebe, die die himmlische Wahrheit nicht verdienen«.260

iamge

Yogi, Miniaturmalerei, Indien

Andererseits ist in der Taittirīya-Upanishad 3,10,3 von »der Freude in den Fortpflanzungsorganen« die Rede, und dies als göttliches Zeichen der Erquickung! Paul Deussen ist darüber derart verblüfft und verärgert, dass er anmerkt: »Dieses Satzglied scheint sich aus der psychischen Reihe, zu der es gehört, in die kosmische verirrt zu haben. Übrigens ist der Gebrauch von Ānanda261, nach allem was darüber in der Ānandavalli und Bhriguvalli262 vorgekommen [ist], in dem hier zu verstehenden Sinne ein wahres Ärgernis.«263

Diese konträren Standpunkte wahrzunehmen und zu akzeptieren, dass stellenweise sehr unterschiedliche Ansichten und Traditionen in den Text eingeflossen sind, sollte für jeden Anhänger des Vedānta wie auch für jede Leserin und jeden Leser der Upanishaden eine Anregung sein, nach den Gründen für diese widersprüchlichen Ausführungen zu fragen und sich an der Toleranz zu erfreuen, die darin zum Ausdruck kommt, dass unterschiedliche Standpunkte nahezu gleichberechtigt dargelegt werden und jeglicher Anspruch, im Besitz der wirklichen oder einzigen Wahrheit zu sein, sich dadurch relativiert.

Historische und aktuelle Ausgaben

Laut Zählung des deutschen Indologen Albrecht Weber (1825–1901) existieren insgesamt 235 Upanishaden; der Sprachforscher und Begründer der Sanskrit-Forschung Friedrich Max Müller (1823–1900) zählte 149, in Umlauf sind seit Jahrzehnten 108. Die umfangreichste Sammlung im deutschsprachigen Raum ist noch immer die von Paul Deussen aus dem Jahre 1897, Sechzig Upanishads des Veda, im F. A. Brockhaus Verlag Leipzig erschienen. Diese Ausgabe enthält auch elf der sogenannten Yoga-Upanishaden, die allesamt im 14. und 15. Jahrhundert entstanden und vom Vedānta geprägt sind: Brahmavidyā-, Kshurikā-, Cūlikā-, Nādabindu-, Brahmabindu-, Amritabindu-, Dhyānabindu-, Tejobindu-, Yogacikhā-, Yogatattva-, und Hamsa-Upanishad.

Den Yoga-Upanishaden wird im Allgemeinen wenig Bedeutung beigemessen, da sie kaum neue Gedanken oder Konzepte zum Ausdruck brachten.

Die von Mikel Burley in seinem Buch Hatha Yoga aufgestellte These, Yoga sei das zentrale Thema aller Upanishaden, »jedenfalls wenn man Yoga als die Einheit von Ātman und Brahman und den Weg zur Realisierung dieser Einheit betrachtet«, ist irreführend und unzutreffend. Ebenso ließen sich die Schriften des Buddhismus oder die Predigten des christlichen Mystikers Meister Eckhart unter Yogaliteratur subsumieren, wie im Grunde jegliche Schrift, in der die Erfahrung der Einheit oder das Vermeiden von Leid thematisiert wird.

Die klassischen oder auch »großen« Upanishaden sind philosophisch-literarische Extrakte des Brahmanismus bzw. des Vedānta, die über längere Zeiträume ausschließlich mündlich übermittelt wurden (und partiell immer noch auf diese Weise weitergegeben werden), bis es dann zur Niederschrift kam. Die Textsammlungen des in Einzelsitzungen weitergegebenen geheimen Wissens sind jeweils mit dem Namen der Person verknüpft, der diese Upanishad zugeschrieben wird, oder mit einem Begriff, der einen Schwerpunkt der jeweiligen Upanishad umreißt.

Aktuelle Ausgaben klassischer Upanishaden umfassen in der Regel eine einzelne oder drei bis elf Upanishaden, zumeist mit Kommentaren des Herausgebers oder einer Person mit »spiritueller« Ausrichtung. Sowohl Übersetzungen als auch kommentierende Ausführungen sind im Allgemeinen geprägt von der jeweiligen persönlichen Perspektive und Ansicht, zumeist im Sinne hinduistischer Gläubigkeit und entsprechender Religiosität, wofür häufig als Synonym der ebenso unscharfe wie unverfängliche Begriff »Spiritualität« verwendet wird. Von »spirituell« oder »Spiritualität« ist immer dann die Rede, wenn es um Erfahrungen oder Beobachtungen geht, die sich auf etwas jenseits des Materiellen und Manifestierten beziehen (Gebete, Andachten, Kontemplation, Meditationen, Rituale, Pilgerfahrten, gemeinsames Singen religiöser Lieder und/oder Schwitzhüttenerlebnisse) – auch in nichtreligiösem Kontext. Der Begriff »Spiritualität« fungiert aber auch als Alternativwort für Religion, mit der man sich – zumindest teilweise – identifiziert. Mitunter werden auch beide Formen der Spiritualität praktiziert oder kombiniert, die nichtreligiöse, esoterische und die religiöse. In Bezug auf die Rezitation und Verehrung der Upanishaden als heilige, geoffenbarte (und damit hinsichtlich kritischer Einwände unantastbare) Texte ist es sowohl eine religiöse, dem Vedānta verbundene, als auch eine esoterische Haltung, jeweils im Sinne einer vertieften Beziehung zum Absoluten respektive zum Göttlichen – oder zumindest das Bemühen darum.

Wie auch im Bezug auf Yoga zutreffend, repräsentieren die Upanishaden – schon ihrer Vielschichtigkeit und diversen Lehransätze wegen – zwar keine Religion an sich; manche fassen ihre Inhalte jedoch als religiös auf, da die Upanishaden auch Teile enthalten, die eine solche Interpretation fördern.

Zugleich sind die meisten Aussagen und Verheißungen der Upanishaden universell verständlich und nachvollziehbar in ihren Grundaussagen, womit sie (mit einigen Einschränkungen) auch Andersgläubigen zugänglich sind.

Yoga in den klassischen Upanishaden

In der Fülle der überlieferten Upanishaden und der diversen Sammlungen, die zwischen drei und 108 Upanishaden umfassen, ragen vier klassische Upanishaden mit deutlichem Yogabezug heraus. Sie gehören zum Yajurveda, eine der vier vedischen Schriften oder Sammlungen (samhitā), die das Wissen (veda) von den Gebeten und Opferformeln (yajus) enthält, das die Brahmanenpriester für die religiösen Rituale bis heute benutzen. Die vier Upanishaden mit deutlichem Yogabezug gehören zum sogenannten Schwarzen Yajurveda, den Deussen als ungeordnet bezeichnet, weil dort, anders als im Weißen Yajurveda, Mantras, Brahmanam (eine spezielle Schriftgattung), Opfersprüche und Anleitungen in einem Werk vereint sind.

• Die jüngste der vier hier vorzustellenden Upanishaden ist die Maitrāyanīya-Upanishad, die im sechsten Kapitel einen sechsstufigen (shad-anga-yoga) Yogaweg und somit einen Vorläufer zu Patañjalis achtstufigem Pfad skizziert. Die Maitrāyanīya-Upanishad wird dem 2. Jahrhundert v. Chr. zugeordnet und gehört zur Gruppe der mittleren Prosa-Upanishaden.

• Die Shvetāshvatara-Upanishad beschreibt im zweiten Kapitel (Vers 8–13) die Praxis des Yoga. Sie entstand ca. 300 v. Chr.

• Die Katha-Upanishad entstand etwa 500 v. Chr. und ist die älteste in Versen verfasste Upanishad. Im Vers 11 des sechsten Kapitels wird Yoga als »Zustand, in dem man die Sinne vollkommen beherrscht«264 definiert. Es ist Freiheit als Unabhängigkeit durch Selbstdisziplin.

• In der Taittirīya-Upanishad, die zu den frühen, vorbuddhistischen Upanishaden des 6. Jahrhunderts v. Chr. gehört, wird der Begriff Yoga erstmalig im Sinne einer Technik verwendet, bei der es um Versenkung geht.

Die Unterweisungen des ehrwürdigen Maitri

In der Maitrāyanīya-Upanishad, die zum Schwarzen Yajurveda (Skt. »Wissen von den Opfersprüchen«, eine der vier vedischen Sammlungen) zählt und auch Maitri- oder Maitrāyani-Upanishad genannt wird, schildert Maitri, wie der Maharaja Brihadratha von dem selbstverwirklichten Meister Shākāyana unterwiesen wird.

Als König Brihadratha die Vergänglichkeit seines Körpers bewusst wird, übergibt er die Regierungsgeschäfte an seinen Sohn und sucht Zuflucht im Wald. Er übt sich in Askese. Nach eintausend Tagen erscheint Shākāyana und gewährt ihm einen Wunsch. Der König wünscht Erkenntnis über den Ātman, die ihm nach einer ersten Zurückweisung vermittelt wird:

»›Er, der ohne Unterbrechung ausatmend nach oben steigt, sich zugleich bewegt und nicht bewegt und die Finsternis vertreibt, der ist der Ātman.‹ So hat ihn der ehrwürdige Maitrī beschrieben.«265

In einer zweiten Ebene wird die Lehre des Maitri mittels der Geschichte von Kratu-Prajāpati näher ausgeführt. Kratu-Prajāpati ist einer der zehn Herrscher über die Lebewesen, der die enthaltsamen Vālakhiliyas unterweist. Die Themen dieser Belehrungen sind vielfältig. Es geht um den Atem und die Lebenskraft (prāna) und die Grundeigenschaften der materiellen Welt (gunas), die Notwendigkeit asketischer Lebensweise, die Bedeutung des Gāyatrī-Mantras266, um den Feuergott Agni und um Yoga als Methode, die Vereinigung mit dem Einen zu erreichen.

Der sechsstufige Yoga und vom Nutzen der Yogaübungen

Bevor im Vers 18 des sechsten Kapitels vom sechsstufigen Yoga die Rede ist, wird acht Verse zuvor bereits benannt, wer ein Yogi ist, nämlich jemand, der zugunsten des Ātmans der Welt entsagt (im Sinne eines Samnyāsin) und selbst einer verführerischen Frau widersteht.

Im Vers 18 geht es schließlich um Methoden, die Einheit mit dem Einen zu erreichen. Dies sind Prānāyāma, Pratyāhāra, Dhyāna, Dhāranā, Tarka267 und Samādhī. »Zusammen werden diese auch der sechsgliedrige Yoga genannt. Wenn man diesen Yoga praktiziert, dann geschieht Folgendes: Schaut ein Sehender ihn, den goldenen Schöpfer, den Herrscher, den Purusha, das reine Bewusstsein, das Brahman, den Ursprung –, dann ist er weise und gibt beides auf, Gutes und Schlechtes, und bringt alles zu einer Einheit im Höchsten, dem Unzerstörbaren.«268

Was Yoga dem Wesen nach bedeutet, wird im Vers 25 desselben Kapitels beschrieben: »Das Einssein von Atem, Denken und allen Sinnen sowie das Loslassen von allem, was es gibt, das wird Yoga genannt.«269

Bevor dies nun als ursprüngliche oder früheste Definition des Yoga durch den weisen Maitri eingestuft wird, sollte beachtet werden, dass es zu Beginn dieses Verses (wie auch bei den vorherigen und den nachfolgenden Versen) heißt: »Und wiederum anderswo heißt es …« Das bedeutet, diese Definition des Yoga ist ein Zitat, dessen Quelle allerdings nicht angeführt wird.

Nachdem Shākāyana seine Unterweisungen unterbrochen hatte, um zu meditieren, verbeugte sich König Brihadratha vor ihm, und Shākāyana setzte seine Belehrung fort: »Durch die Übungen des Yoga wird man zufrieden, man überwindet alle Gegensätze und erlangt inneren Frieden.«270

Dieses positive Versprechen hält Shākāyana allerdings nicht davon ab, in den folgenden Versen auf eben jene eigentlich zu überwindenden Gegensätze dergestalt hinzuweisen, dass er festlegt, wem diese Erkenntnisse enthüllt werden dürfen und wem nicht. Bei Deussen liest sich dies wie folgt: »›Dieses Allergeheimnisvollste‹«, fuhr er fort, ›soll man keinem kund machen, der nicht Sohn oder Schüler und der noch nicht beruhigt ist. Wer aber keinem anderen (als dem Lehrer) anhängt und mit allen Tugenden geschmückt ist, dem mag man es mitteilen.‹«271

Tugend und Traditionswahrung sind die Werte, an die das Weitergeben der vedischen Erkenntnisse geknüpft werden. Tugendhaftigkeit und Traditionsbewusstsein spielen auch heute noch, mehr als 2000 Jahre nach dieser Niederschrift, eine wichtige Rolle im spirituellen Leben Indiens wie auch in der Vermittlung des Yoga, des Vedanta oder religiös geprägten Alltag des Hinduismus.

Die Unterweisungen des Shvetāshvatara

Shvetāshvatara ist der Philosoph, der diese Upanishad verkündet hat. Der Name bedeutet wörtlich »Retter oder Überbringer des glänzenden Schimmels« oder »Das hellweiße Pferd rettend bzw. überwindend«.

Die Thematik Pferde gehört kulturhistorisch zu den indoarischen Ursprüngen und steht insbesondere in Verbindung mit den Sonnen- und Planetengöttern. So war das Vahana (»Fahrzeug«, Reit- und Symboltier eines Gottes) von Indra anfangs ein weißes Pferd. Doch Pferde wurden auch geopfert – das größte vedische Ritual war das Pferdeopfer.

Wie in kaum einer anderen Upanishade finden wir in der Shvetāshvatara-Upanishad ganz unterschiedliche, geradezu konträre Ansichten und Aussagen. Doch wie in anderen Upanishaden auch, ist die Ausdrucksweise ein Fest der Superlative. Es geht selten um weniger als das Höchste oder etwas, das über die Herrscher herrscht und alle Gottheiten übertrifft;272 ebenso finden wir erneut die Formulierung »subtiler als das Subtilste und größer als das Größte«, die auch in der Katha-Upanishad vorkommt. Auffällig ist, das jedes der sechs Kapitel einem anderen Thema gewidmet ist.

Das erste Kapitel befasst sich mit dem Ātman, während das zweite Kapitel Yoga zum Gegenstand hat. Erstaunlich ist der Kontrast zwischen dem dritten Kapitel, das sich auf Rudra, den »furchterregenden« Gott des Veda, bezieht, und dem nachfolgenden vierten Kapitel, das Elemente der Sāmkhya-Lehre, aber auch des Advaita behandelt, sich auf den Sonnengott Sāvitrī bezieht und im letzten Vers geradezu ängstlich Rudra anruft, der den Kindern, den Kühen und Pferden kein Leid zufügen und auch die Gesundheit nicht beeinträchtigen möge.

Die beiden letzten Kapitel der Shvetāshvatara-Upanishad beziehen sich jeweils auf das Göttliche. Im fünften Kapitel heißt es: »Jede Form ist seine Form.«273 Und: »Das Göttliche hat weder Anfang noch Ende und erschafft mitten im Chaos die vielfältige Welt.«274 Die Aussagen zum Göttlichen im sechsten Kapitel widersprechen partiell den zuvor getroffenen Feststellungen. Dort heißt es in Vers 5, das Göttliche sei der Anfang und auch die Ursache der Welt. Auch wird der Formulierung, wonach jede Form eine Form des Göttlichen ist, indirekt widersprochen, wenn es in Vers 7 heißt: »Das Göttliche herrscht über alle Herrscher und übertrifft alle Gottheiten«,275 es sei denn, dass mit »herrschen über« ausdrücklich Selbstbeherrschung gemeint ist, was aber eher unwahrscheinlich ist.

Wieder ist zu erkennen, dass ganz konträre An- und Einsichten, kulturelle Prägungen und Einflüsse hier Eingang gefunden haben – orthodoxes Brahmanentum und Schamanismus, Götterglaube und Überwindung dieses Glaubens, die Welt als Illusion und die Natur als objektive Täuschung, andererseits die Welt als reale, schützenswerte, ewige Schöpfung des Göttlichen.

So wurde Shvetāshvatara »durch die Macht seiner Entsagungen und durch göttliche Gnade« (6.21) zu einem, der die unterschiedlichsten Strömungen des damaligen Zeitgeistes kompilierte und diese teils religiösen, teils philosophischen Lehren und Denkweisen gleichberechtigt stehen ließ, ohne die einzelnen Aussagen einander gegenüberzustellen und zu bewerten.

Die von Shvetāshvatara beschriebene Yogapraxis

Nach einer Anrufung des Sonnengottes Sāvitrī, die fünf Verse umfasst und zur Vorbereitung eines Feuerrituals dient, wird in Vers 8 eine aufrechte Körperhaltung beschrieben, also etwas, das wir im Allgemeinen mit dem Wort Āsana bezeichnen. Zwar leitet sich die Grundbedeutung von Āsana von ās ab, was für »sitzen, verharren, sich setzen« steht, doch der Gebrauch des Wortes Āsana wird von alters her ebenso für verschiedene Körperhaltungen verwendet, nicht nur im Kontext des Yoga, sondern auch in Handbüchern für Ringer und Bogenschützen.

»Man soll die drei Bereiche des Körpers (Rumpf, Kopf, Nacken) aufrecht halten und aufeinander ausrichten. Dann soll man die Sinne, Gedanken und Gefühle im Herzen einschließen.« (2.8)

Da es weder zur Haltung der Beine noch zur Position der Arme eine Aussage gibt, kann es sich sowohl um eine Sitz- als auch um eine Standhaltung handeln. Die Auf- und Ausrichtung der Wirbelsäule ist das Wesentliche. Der Rest wird freigestellt, und so wäre ebenso eine aufrechte Sitzhaltung auf einem Hocker, einem Podest oder Thron möglich. Zum Ort der Übung werden lediglich die folgenden Anforderungen gestellt: Er soll eben und sauber, frei von Steinen, Sand, Wasserlachen und Geräuschen sein: »Dort, wo den Geist nichts beunruhigt und nichts das Auge verletzt, dort soll man sich in einer windgeschützten Höhlung für diese Yogaübungen hinsetzen.« (2.10)

An dieser schlichten Anforderung hat sich immer noch nichts geändert, wobei Höhlung nun durch Wohnung oder Wohnraum zu ersetzen wäre.

Im vorhergehenden Vers 9 wird bereits eine Aussage getroffen, die wir aus heutiger Sicht dem Prānāyama zuordnen würden: »Wer sich nach göttlicher Vereinigung sehnt, soll seinen Atem kontrollieren und durch die Nase ausatmen.« Auch diese Anweisung ist geradezu minimalistisch und auf das Wesentliche beschränkt; die detaillierten Angaben bleiben dem unterrichtenden Lehrer Vorbehalten.

Vergleichsweise viel Raum nehmen in den Versen 11 bis 14 die Verheißungen bzw. Beschreibungen der Folgen und Konsequenzen des Yogapraktizierens ein. Als mögliche Folgen und Begleiterscheinungen werden übersinnliche Wahrnehmungen und Visionen von Nebeln, Kristallen und Leuchtkäfern beschrieben.276 Bei regelmäßiger und fortgeschrittener Praxis verschwinden Krankheit, Altern und Tod, da der Yogi nun in einem subtilen Körper lebt.277 Schließlich wird ein Zustand wunschlosen Glücks erreicht, der mit Wohlgeruch, Wohlklang und einer attraktiven Erscheinung einhergeht, womit die erste Stufe des Yoga erreicht ist.278

Bemerkenswert an diesen abschließenden Versen ist die Einordnung der Phänomene und Äußerlichkeiten, die sich doch wieder auf die sinnliche Wahrnehmung beziehen, sowie die Einstufung des immensen Fortschritts als Beginn.

Die Unterweisungen des weisen Katha

Der als Verfasser dieser Upanishad geltende Heilige Katha war ein Schüler von Vaishampāyana. Dieser wiederum war Schüler des legendären Vyāsa, der das Epos Mahābhārata verfasst haben soll.

Die Katha-Upanishad wird auch Kāthaka-Upanishad genannt, was auf den Erzähl- und Mitteilungscharakter dieser Upanishad verweist, denn wörtlich übersetzt ist der Kāthaka ein Erzähler.

Geprägt ist die Katha-Upanishad durch das Gespräch zwischen Naciketas und dem Todesgott Yama. Naciketas äußert hintereinander drei Wünsche. Erstens: Er möchte, dass sein Vater Frieden findet und ihm, Naciketas, nicht mehr grollt. Dieser Wunsch wird umgehend erfüllt. Zweitens: Naciketas möchte Wissen über das Feuer erlangen. Auch dieser Wunsch wird ihm gewährt. Beim dritten Wunsch jedoch reagiert Yama zurückhaltend. Naciketas möchte von ihm wissen, was geschieht, wenn ein Mensch stirbt. Yama versucht, ihn mit alternativen Vorschlägen von dieser Frage abzubringen. Er empfiehlt Ruhm und Reichtum als Wunschobjekte. Doch Naciketas beharrt so lange auf seiner ursprünglich gestellten Frage, bis Yama einlenkt und ihn für seine Beharrlichkeit lobt: »Aber du, Naciketas, hast über die angenehmen und bezaubernden Freuden der Welt nachgedacht und sie aufgegeben. Ich habe sie dir angeboten, aber du hast dieses Meer des Reichtums abgelehnt, in dem so viele Menschen untergehen.« Bereits in den vorherigen Versen wird das Bessere (shreyas) dem Angenehmeren (preyas) gegenübergestellt und postuliert, dass jene den Sinn des Lebens verfehlen und sich töricht verhalten, die sich für das Preyas, das Angenehmere, entscheiden, was sich wiederum auf Reichtum bezieht.279

Schließlich offenbart Yama das Mysterium des Sterbens bzw. der Sterblichkeit, insbesondere durch Verheißungen: Wer das Brahman erkennt, wird nicht geboren und stirbt nicht, wenn der Körper stirbt (2.18); sterben und töten sind letztlich Irrtümer (2.19), aber Ātman ist subtiler als das Subtilste und größer als das Größte (2.20); Ātman ist das Beständige an allem Vergänglichen (2.22); diesen Ātman zu erkennen bedeutet, vom Tod befreit zu werden (3.15).

Jenes unendlich Farb- und Formlose, das den Menschen innewohnt, ist unsterblich, heißt es weiter, und eben darin liegt der Trost – auch wenn der Körper als Geformtes vergeht, existiert etwas, das ihn überdauert und das es zu erkennen gilt. Will man die Todesfurcht überwinden, gilt es, »das Dauerhafte nicht im Vergänglichen« (4.2) zu suchen.

Gezügelte Sinne und Wandlung – der Yoga, wie ihn Katha definiert

Nachdem im dritten Abschnitt bereits das Zügeln und Beherrschen der Sinne als Voraussetzung zum Erreichen des Ziels beschrieben worden ist und dies mit Pferden, die den Zügeln des Wagenlenkers folgen, verglichen wurde, wird im abschließenden sechsten Abschnitt wiederum auf die Sinne Bezug genommen. Hier geht es jedoch nicht mehr um das Zügeln der Sinne, sondern darum, dass die Sinne wie auch der Intellekt ruhen, die Gedanken und Gefühle still werden, was als höchster Zustand bezeichnet wird. Es geht um einen Zustand, den man Yoga nennt, es ist der Zustand vollkommener Selbstbeherrschung (6.11), der nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden sollte.

Bei Deussen liest sich das so:

»Das ist es, was man nennt Yoga,

Der Sinne starke Fesselung,

Doch ist man nicht dabei lässig:

Yoga ist Schöpfung und Vergang.«

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Und er merkt dazu an, dass Lässigkeit (pramāda) eines der neun Hindernisse des Yoga ist. Schließlich versinkt die Welt im Yoga, doch dann entsteht eine neue Welt.

Bei dem Begriff Pramāda geht es im heutigen Sprachverständnis weniger um »Lässigkeit« als um Nachlässigkeit und Vernachlässigung im Sinne von Unbesonnenheit. Im Yoga-Sūtra 1.30 taucht der Begriff wiederum bei den Hindernissen auf, die der Entwicklung von Klarheit in unserem Geist entgegenwirken. T. K. V. Desikachar übersetzt ihn dort mit »fehlende Umsichtigkeit aufgrund von Hast« – so formuliert im Grunde das Gegenteil von Lässigkeit.

Wunschlos glücklich zu sein macht aus einem Sterblichen einen Unsterblichen (6.14 und 15), dieses Fazit steht am Ende der Upanishad des Katha und wurde so auch von Shvetāshvatara formuliert.

Die Unterweisungen des Lehrers Tittiri

Über Autor und Entstehungszeit der ebenfalls zum Schwarzen Yajurveda zählenden Taittirīya-Upanishad schreibt Feuerstein, dass diese zu den drei ältesten Upanishaden gehört und die darin enthaltenen esoterischen Unterweisungen auf den Begründer der Taittirīya-Schule zurückgehen. Klaus Mylius ordnet sie der Zeit vor Buddha zu; zumeist wird das 6. Jahrhundert v. Chr. als Entstehungszeit angegeben.

Der Name Tittiri bedeutet einerseits Rebhuhn und ist andererseits auch der Name eines Schlangendämons. Für sich genommen mag dieser letztgenannte Umstand ohne Bedeutung sein, doch gibt es am Ende der Taittirīya-Upanishad eine Stelle, die mit der Bezeichnung Schlangendämon dahingehend korrespondiert, dass Schlangen als Symbol für Fruchtbarkeit stehen.

In Vers 3 des 10. Abschnitts des 3. Kapitels werden die göttlichen Zeichen (brahmans) unter anderem als »Fortpflanzung, Unsterblichkeit, Freude in den Fortpflanzungsorganen, als alles im Raum«280 beschrieben.

Dass hier das Wort Glückseligkeit (ānanda) für irdische Freuden verwendet wird, sprengt in der Tat den gewohnten Rahmen der Upanishaden. Doch zum »Ärgernis« (wie zum Beispiel für P. Deussen, vgl. S. 255) kann dies nur für jene werden, die in der Sexualität und Diesseitsbezogenheit ein Hindernis, nicht aber ein Werkzeug auf dem spirituellen Weg sehen.

Offenbar hat sich in dieser frühen Upanishad ein Element der Industalkultur manifestiert, in der Muttergottheiten und Symbole der Fruchtbarkeit eine große Rolle spielten und die vorherrschenden Ansichten nicht einer elitären Schicht vorbehalten, sondern jedermann zugänglich waren – zumindest lassen die zahlreichen Funde bildlicher Darstellungen dieser Epoche Letzteres vermuten: Frauen mit freiem Oberkörper, Phallusskulpturen, Abbildungen von Schlangen auf Siegeln.

Die in drei Kapitel gegliederte Taittirīya-Upanishad zeichnet sich insgesamt noch stark durch Opferkulte und die Unterwerfung unter die Macht der Götter aus. Jedes Kapitel beginnt mit einem von Furcht geprägten Gebet, dessen Fazit lautet: »Mögen die Götter uns gnädig sein!« Die Götter werden einzeln aufgeführt, und es wird festgelegt, wer der größte unter ihnen ist: Es ist Indra, der wichtigste Gott des vedischen Hinduismus, ein kriegerischer Gott, der die indoarischen Nomaden von Sieg zu Sieg führte und den Beinamen Purandara, »Zerstörer der Städte« trug.

An zweiter Stelle in der patriarchalisch geprägten vedischen Hierarchie stehen die Mittler zu den Göttern, die Priester, ehrwürdige Brahmanen, deren besonderer Status mehrfach festgehalten wird: »Mit OM gibt der Brahmanen- Priester seine Zustimmung.« (9.1) – »Du sollst den Brahmanen, die über uns stehen, einen Sitz anbieten.« (11.3) – »Im Zweifelsfall sollst du dich verhalten wie die Brahmanen dort.« (11.4)

Doch neben den Anknüpfungen an vedische Gebräuche, Werte und Vorstellungen finden wir in der Taittirīya-Upanishad die Ethik der Krieger und philosophische Aussagen zur Nahrung als Voraussetzung für Leben, als Mittel zum Lebenserhalt; und letztlich geht jedes Lebewesen mit dem Ableben in den Nahrungskreislauf ein und wird danach selbst zur Nahrung. Eine weitere Besonderheit ist die Darstellung der verschiedenen Körperhüllen (koshas), die auch in der gegenwärtigen Vermittlung des Yoga im Westen wieder eine wichtige Rolle spielen.

Der Begriff Yoga, wie er von Tittiri erstmalig in
Schriftform verwendet wurde

Im zweiten Kapitel wird neben der Glückseligkeit Brahmans die Verkörperung des Selbst in Gestalt eines Menschen beschrieben, dessen Körperteilen ethische Prinzipien zugeordnet werden: dem Kopf Glauben (shraddā), der rechten Seite Recht (rita), der linken Seite Wahrheit (satya), dem Rumpf Yoga (im Sinne von Versenkung) und dem Unterleib Größe (mahada).

Der Begriff Versenkung wird in der Taittirīya-Upanishad stets in Verbindung mit dem Rumpf genannt. Zum Rumpf gehören aber das Herz, die Lungen und die Wirbelsäule, allesamt essenzielle und funktionelle Bestandteile, die in der Yogapraxis eine große Rolle spielen. Dies deutet auf ein Yogaverständnis hin, das über die rein symbolische Zuordnung des Begriffes Yoga hinausgeht.

Yoga im Sinne von Versenkung meint sowohl die Bewegungsrichtung von der Oberfläche in die Tiefe als auch etwas Andauerndes, etwas, das Zeit in Anspruch nimmt. Bemerkenswert sind die vier anderen Termini, die die Begriffe Yoga und Rumpf rahmen: Shraddā, Rita, Satya und Mahada. Hier ist bereits angelegt, was uns in der Shvetāshvatara Upanishad als sechsstufiger und in Patañjalis Yoga-Sūtra als achtstufiger Yogaweg begegnet.

Die Versenkung bzw. der Vorgang des Sichversenkens, der dem Rumpf des Menschen zugeordnet wird, entfaltet sich erst im Zusammenspiel mit (innerer) Größe, mit Rechtschaffenheit, Wahrhaftigkeit und Glauben (Vertrauen), die mit den anderen Körperregionen symbolisch verknüpft werden; zusammen bilden sie ein funktionales Ganzes.

Als Basis und Rahmen für jenen Yoga werden innere Werte und Verhaltensmaßstäbe genannt, die an die ersten beiden Stufen Yama und Niyama im Yoga-Sūtra des Patañjali erinnern. Und für das, was dort mit īshvara pranidāna und mit Shraddā beschrieben wird, verwendet auch Tittiri den Begriff Shraddā (Glauben).

Voller Vertrauen und mit dem Glauben an Wertvorstellungen begibt sich der Suchende in die Tiefe, indem er sich zurückzieht und auf das Selbst fokussiert.