Erkenne also: Selbst ein großer Feigenbaum ist gewachsen,
und genauso hat auch der Durst bestimmt eine Wurzel.
Wo anders aber könnte er seine Wurzel haben als im Wasser?
So sollst du forschen und immer auf die Wurzel zurückgehen,
mein Lieber.
(Uddālaka Āruni zu seinem Sohn Shvetaketu)3
Die Entwicklung des Yoga über fünf Jahrtausende – von den Yogis und Yogahaltungen auf den Siegeln des Industals über Geheimlehren, Yoga-Sūtra und Hatha-Pradīpikā bis hin zu Yoga-DVDs und Unterricht am PC per Internet-Livestream – ist ein an Brüchen und Reformen reiches Geflecht von Wegen. Dies führte in verschiedenen Epochen und Kulturkreisen zu unterschiedlichen Interpretationen, Ausprägungen und Schulrichtungen.
Im Westen ist Yoga im Verhältnis zur gesamten Zeitspanne seiner Geschichte ein relativ junges Phänomen, das zunächst eher auf Ablehnung stieß und partiell sogar bekämpft wurde. Inzwischen ist Yoga jedoch als Methode zur Entwicklung von Körper und Geist weltweit anerkannt. Kritiker aus den Kreisen der Sektenpfarrer und pietistischen Missionare, die hinter dem Yoga eine heimliche Verschwörung fanatischer Hindus oder eine »Sterbekunst alter Männer«4 vermuten, lassen sich mittlerweile an einer Hand abzählen – hier hat sich in den letzten Jahren ein Wandel in Richtung Toleranz, Verständnis und Differenzierung vollzogen.
Bei vielen Praktizierenden und Yogainteressierten entsteht im Verlauf der Zeit das Bedürfnis, sich mehr und intensiver mit der yogischen Weltanschauung zu befassen – oder, um im bildhaften Sinne der Struktur dieses Buches zu sprechen: den Weg über einen Zweig und den entsprechenden Ast hin zum Stamm und zu den Wurzeln, den Ursprüngen des Yoga, anzutreten und zugleich von der Oberfläche, der Rinde, in die Tiefe, ins Mark, vorzudringen. Die enorme Vielfalt der Yogatraditionslinien und -schulen macht dies jedoch nicht immer leicht. Daher ist ein wesentlicher Punkt, an dem mir mit diesem Buch gelegen ist, in dieser Fülle der Ausprägungen die Einheit und die gemeinsame Basis aufzuzeigen. Andererseits sollen natürlich die feinen Nuancen und Unterschiede erkennbar sein und jeweils herausgearbeitet werden.
Ich bin zuversichtlich, dass einzelne Facetten des faszinierenden Yogaspektrums manch einen dazu anregen werden, selbst zu praktizieren. In anderen wiederum mag der Wunsch aufkommen, die bereits eingeschlagene Übungsmethode (sādhana) zu vertiefen oder zu variieren, sich als Bestandteil der vielfältigen Yogaformen und -aspekte, als »dazugehörig«, zu erleben und zugleich das Gesamtbild des Yoga als Basis und Hintergrund des eigenen Weges wahrzunehmen. Denn einer der Vorzüge des Yoga ist es, dass es von Anfang an um die Frage geht: Was hat dieses Problem, dieser Hinweis, diese Erkenntnis mit mir zu tun? Denn Yoga ist in all seinen verschiedenen Prägungen durchaus kein abstraktes Denkkonstrukt, kein Konvolut von Thesen, sondern es gilt, den theoretischen Impuls in praktische Erfahrung umzusetzen bzw. diesen Impuls in die Praxis zu integrieren.
Das Buch als Inspirationsquelle und Orientierungshilfe zu nutzen, den eigenen Standort oder Weg ins Verhältnis zu setzen zur Fülle der Wege und Standorte, zu den verschiedenen Vernetzungen – dies ist das Angebot an Sie, liebe Leserin, lieber Leser. Dass diese »Landkarte« in keiner Weise die Landschaft oder die Reise durch die Landschaft ersetzen kann, liegt auf der Hand. Auch das beste Yogabuch ersetzt nicht die eigene Praxis.
Von der Gegenwart in die Vergangenheit –
das Stammbaum-Prinzip
Die Beschreibung der Entwicklung des Yoga in der Gegenwart zu beginnen schien mir von Anfang an sinnvoll, denn die Praxis des Yoga bezieht sich stets auf den gegenwärtigen Augenblick und die persönliche Erfahrung. Wobei gerade hier die Charakterisierung der Gegenwart von Aurelius Augustinus (354–430 n. Chr.) zutrifft: »Die Zeit besteht aus einer dreifachen Gegenwart: der Gegenwart, wie wir sie erleben, der Vergangenheit als gegenwärtiger Erinnerung und der Zukunft als gegenwärtiger Erwartung.«5
Das Konzept dieses Yogastammbaums entspricht der Vorgehensweise einer Person, die sich mit dem eigenen Stammbaum auseinandersetzt: Bei der Gegenwart und dem eigenen persönlichen Umfeld beginnend, geht sie Generation für Generation zurück in die Vergangenheit, hin zu den Wurzeln der eigenen Herkunft.
Bei einem Familienstammbaum mag es für die eigene Entwicklung und Erfahrung letztlich unerheblich sein, wie sich die Urahnen profilierten. Bei einem Stammbaum, der die verschiedenen Traditionslinien des Yoga zurückverfolgt, ist es dagegen aus meiner Sicht durchaus von Bedeutung, über die Mitglieder der Yogafamilie, über die vorherigen Generationen und die jeweilige Herkunft Bescheid zu wissen und so das Wesen und die Grundlagen des eigenen Tuns besser zu verstehen.
Dadurch, dass im Begriff »Stammbaum« die Symbolik des Baums enthalten ist, ergeben sich zudem direkte Bezüge zum Yoga: zum einen zur Gleichgewichtshaltung vrikshāsana (Baumhaltung), ein klassisches Āsana, das bereits auf dem im 7. Jahrhundert entstandenen Flachrelief »Herabkunft der Gangā« (Mamallapuram, Südindien) dargestellt wurde; zum anderen zu B. K. S. Iyengars primär philosophischem Werk Der Baum des Yoga.
Entsprechend der Vorgehensweise, die Entwicklung von den aktuellen Trends bis zu den im Neolithikum liegenden Wurzeln zurückzuverfolgen, ist das erste Kapitel dem Thema »Yoga in Medien und Werbung« gewidmet. Die wachsende Verbreitung des Yoga innerhalb verschiedener sozialer Schichten in Ost und West lässt sich nicht nur an der steigenden Anzahl von Personen ablesen, die an Yogakursen teilnehmen, sondern auch an der Fülle entsprechender Veröffentlichungen und in der Verwendung von Yogasymbolen oder -elementen in der Werbung.
In den weiteren Kapiteln werden Teilaspekte behandelt, die zum positiven Ruf des Yoga beigetragen haben: zum einen der Einsatz des Yoga bei hyperaktiven Kindern, zum anderen in der Therapie von (Drogen-)Süchtigen (Kap. 2). Auch die Verwendung von Yogaelementen im Tanz wird zunehmend populär (Kap. 3).
Dem vierten Kapitel liegen persönliche, auf vier Indienreisen gewonnene Erfahrungen zugrunde, die einen Einblick in die dortige Yogapraxis ermöglichen und veranschaulichen, worin sich die Übungspraxis im Westen von den Gepflogenheiten im Indien der Gegenwart unterscheidet und welche Gemeinsamkeiten bestehen. Nach diesem Erfahrungsbericht widmet sich das nachfolgende fünfte Kapitel, das zugleich das umfangreichste des Buches ist, den Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, die zum heutigen Verständnis des Yoga maßgeblich beigetragen haben: durch Vorträge, durch Forschung, durch Veröffentlichungen und durch ihre Lehrtätigkeit, aus der wiederum neue Stile und Schulen hervorgingen.
In den Kapiteln 6, 7 und 8 geht es um die Verfasser und Inhalte jener Schriften, auf die sich nahezu alle ernsthaft Yogapraktizierenden seit Jahrhunderten beziehen; Klassiker, die bis heute immer wieder kommentiert und interpretiert werden. In diesem zweiten Teil, der dem Stamm des Yogastammbaums zuzurechnen ist, geht es neben dem Blick auf das Wesentliche dieses Zeitraums um neue Aspekte, wie zum Beispiel um die Ikonographie Patañjalis, die in vergleichbaren Publikationen nicht oder nur am Rande behandelt werden.
Das letzte Kapitel schließlich legt im wahrsten Sinne des Wortes die Wurzeln des Yoga frei, denn es handelt sich bei den hier größtenteils erstmalig veröffentlichten Belegstücken um archäologische Funde, die Jahrtausende im Erdreich des Industals verborgen lagen und seit 1921 kontinuierlich freigelegt werden. Bei näherer Betrachtung und nach Auswertung der Funde hinsichtlich ihres Bezugs zum Yoga tritt eine weit fortgeschrittene Yogapraxis zutage, die zusammen mit anderen Eigenheiten von einer hoch entwickelten Kultur zeugt.
Mir geht es in meiner Darstellung stets primär um Menschen, die Yoga lehren, lernen, künstlerisch darstellen, anwenden und vermitteln, also weniger um Theorien und philosophische Konzepte als um Gurus und Meister, Rishis und Asketen,Yoginis und Yogis, um Forscher, Wegbereiter und Institutsgründer verschiedener Stile, Nationalitäten und Ansprüche.
Was sie alle verbindet, ist das Innehalten und die Ausrichtung nach innen, ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung und die Fähigkeit, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen.
»Es ist von größter Wichtigkeit, das gemeinsame Ziel zu ehren, das Yogis durch die Jahrhunderte vereint hat: die Suche nach dem Erwachen. Seit Tausenden von Jahren trachteten Yogis danach, die leuchtende Quelle allen Seins zu erreichen. Und insbesondere für Hatha-Yogis ist das Medium, um den unbegrenzten Geist zu berühren, der begrenzte menschliche Körper. Jedes Mal, wenn wir die Übungsmatten betreten, können wir die Tradition ehren, indem wir unsere Ziele und Intentionen an die Weisen der alten Zeit ›anjochen‹ – dies ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ›Yoga‹.«6
Mit diesen Sätzen bringt die Journalistin Anne Cushman zum Ausdruck, in welcher Weise wir in die Geschichte des Yoga eingebunden sind und uns dessen bewusst sein sollten.
Wenn wir etwas vertiefen, erlangen wir eine solide Basis wie auch Klarheit über die Zusammenhänge. Und im Erkennen der Verbindungen und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Wege und Ziele lernen wir zugleich zu unterscheiden. Es geht also um beides: um Erkennen und Erfahren von Einheit sowie um genaues Differenzieren. Im Yoga-Sūtra 3.53 heißt es dazu: »Höchste Klarheit ermöglicht es, deutlich die Verschiedenheit von Dingen zu erkennen, die scheinbar gleich sind und sich nicht einmal nach den üblichen Unterscheidungskriterien wie Gattung, Merkmal und Ort voneinander trennen lassen.«
Dies ist der Anspruch aller, die ernsthaft suchen und Yoga praktizieren, und ihre gemeinsame Aufgabe.