Die Chimäre ist eines von vier Geschwistern, die es in dieses Buch geschafft haben. Wie ihre Schwestern, die Hydra und die Sphinx, und ihr Bruder, der
Zerberus, war sie in der griechischen Mythologie ein Kind der Ungeheuer Echidna und Typhon. Homer und Hesiod, die ältesten Dichter der Griechen, beschrieben die chimaira als Mischwesen; dem Ersteren zufolge bestand es aus dem Vorderteil eines Löwen, der Mitte einer Ziege und dem Hinterteil einer Schlange. Das griechische Wort, aus dem lateinisch chimaera hervorging, das wiederum Vorbild für unser deutsches Lehnwort Chimäre ist, bedeutet eigentlich ›Ziege‹. Das Substantiv, das heute ein feminines Genus hat, wurde anfangs gelegentlich als Neutrum gebraucht und in deutschen Texten lange wie ein lateinisches Wort dekliniert. Martin Luther gebraucht es 1531 in seinen Tischreden noch mit erkennbarem Bezug auf den antiken Mythos:
Darum sind die Canonisten, des Papsts Heuchler und andere Ketzer ein recht Chimära und gräulich Wunderthier, welches am Angesicht ist wie eine schöne Jungfrau und der Leib ist wie ein Löwe, aber der Schwanz ist wie eine Schlange, das ist, ihre Lehre gleißet schön, scheinet hübsch, und was sie lehren, das gefällt der Vernunft wol und es hat ein Ansehen.
Fast zeitgleich liest man Chimäre schon im übertragenen Sinne von ›Hirngespinst, Wunderding‹ beispielsweise bei Sebastian Franck in seinem »Lob der Torheit«. Der bedeutendste aller Barockdramatiker, Daniel Casper von Lohenstein, sinniert im 1689 veröffentlichtem ersten Teil seines Romans »Großmüthiger Feldherr Arminius oder Hermann«: »Die inbrünstigste Liebe verlieret ihr Wesen / und verwandelt sich in eine Chimere / welche mit der Zeit so gar aus dem Gedächtnüsse verschwindet / wenn es um Ehre und Herrschafft zu thun ist.«
Spätestens im 18. Jahrhundert tauchte die der deutschen Orthografie angepasste Schreibweise Schimäre auf; so schrieben Christoph Martin Wieland und Friedrich Schiller das Wort, während Goethe, der im zweiten Teil des »Faust« Chimären auftreten lässt, Ludwig Tieck und Heinrich Heine die Variante mit Ch am Wortanfang bevorzugten. Inwieweit in Zeiten vor der überregionalen Regelung der Rechtschreibung eventuell dialektbedingte Ausspracheschwankungen zwischen ch und sch eine Rolle für die Schreibung spielten, kann nur vermutet werden.
Relativ jung ist in der medizinisch-biologische Fachsprache der Terminus Chimäre für ein Wesen, das genetisch aus unterschiedlichen Zellen oder Geweben aufgebaut ist. Seit dem 17. Jahrhundert existiert zudem ein Adjektiv zur Substantivbedeutung ›Hirngespinst‹. Goethe benutzte es im Sinne von ›verworren, abstrus‹ und nannte die Reformorthografie seines großen Dichtervorgängers Klopstock »chimärisch«.