Selten war wohl eine Familie zu ihrer Zeit so gefürchtet und verhasst wie die Ungeheuer Echidna und Typhon mit ihren Kindern – und führten dann in der Erinnerung ein ebenso langes wie vornehmes Nachleben. Wie die Namen ihrer Geschwister Chimäre, Sphinx und
Zerberus wird Hydra heute in der Bildungssprache übertragen gebraucht und bezeichnet ein unübersichtliches, kaum beherrschbares Übel.
Die Allgegenwart und Beliebigkeit des Wortes bestätigt 1913 Kurt Tucholsky in seinem Feuilleton »Der Mann, der keine Zeitungen mehr las«:
Wenn ein findiger Kopf herausgefunden hatte, daß unser Publikum eine gewisse Kinomüdigkeit befallen habe, und hinzugefügt hatte, daß trotzdem die Hydra des Kino überall ihr Haupt erhebe, so konnte man darauf wetten, daß man gleichmäßig im »Morgengebet«, im »Hinkenden Politischen Boten« und beim Aufrollen der »Arbeiterfahne«, der von Bildung zeugenden Bemerkung mit der Hydra begegnen würde.
Bildung signalisiert die Verwendung des Wortes Hydra, weil sie Vertrautheit mit der griechischen Mythologie beweist oder der Sprecher zumindest so tut, als habe er Hesiod und Gustav Schwabs »Sagen des klassischen Altertums« gelesen.
Die Hydra – ihr griechischer Name bedeutet so viel wie ›Wasserschlange, Wasserungeheuer‹ – lauerte in Sümpfen und kroch von dort aus an Land, um Viehherden zu reißen. Die Tötung der Bestie war die zweite von zwölf Aufgaben, die König Eurystheus dem Halbgott Herkules aufgetragen hatte. Dabei musste man sich nicht nur vor dem Giftatem der Schlange in Acht nehmen, sondern vor allem vor ihren neun Köpfen, die immer wieder nachwuchsen, wenn man sie abgeschlagen hatte. Herkules löste das Problem, indem er die Halswunden mit brennenden Baumstämmen ausglühte, sodass die Köpfe nicht neu wuchern konnten.
Spätestens seit der frühen Neuzeit ist die Hydra ein politisches Symbol. Der Reformator Martin Luther etwa wird 1519 auf einem Holzschnitt von Hans Holbein als deutscher Herkules dargestellt, der mit einer Keule dem vielköpfigen Schlangenungeheuer der römischen Kirche die Schädel einschlägt. Auch in der Französischen Revolution zeigen propagandistische Grafiken den Adel als Hydra, dem das Volks als Herkules entgegentritt.
Als sprachliche Metapher für etwas unbeherrschbar Wucherndes ist hydra schon vor 1789 im Französischen allgegenwärtig; seit der Mitte des 18. Jahrhunderts taucht es im Deutschen auf, zunächst in deutschen Ausgaben französischer Werke wie beispielsweise der »Theodizee« von Leibniz. In einer 1749 von Johann Christoph Gottsched übersetzten Geschichte der Pariser Akademie der Wissenschaften wird die Weitschweifigkeit des Gräzisten Jean Boivin charakterisiert: »Die allergemeinste Frage verwandelte sich unter seinen Händen in eine stets wachsende hydra, und gab zu ewigen Wortgezänken Anlaß.«
Seit dem 19. Jahrhundert wird Hydra dann auch in deutschen Texten zur politischen Metapher: die »tausendköpfige Hydra [des Judentums]« in dem berüchtigten antisemitischen Werk »Die Judenschule« von Hartwig von Hundt-Radowsky, die Hydra der Revolution, die Hydra des Faschismus; in Bundestagsdebatten über verbotene leistungsfördernde Mittel im Sport ist sogar mehrfach von der »Hydra Doping« die Rede.