Wenn ein Text allzu sehr mäandert, ist er das Gegenteil von luzid und
konzis. Was man bei Flüssen und Bächen heute als erstrebenswert ansieht und durch die Renaturierung begradigter Ufer wieder ermöglichen möchte, ist in geschriebener Rede eher unerwünscht: Dass sich die Sätze schlängeln, krümmen und winden – denn genau das ist die Bedeutung des Wortes.
Das Verb mäandern ist abgeleitet vom Substantiv Mäander als Bezeichnung einer Flussschlinge oder -krümmung, die in natürlichen, langsam fließenden Gewässern durch Ablagerung von Sedimenten oder natürliche Hindernisse wie Felsen entsteht. Das Substantiv geht zurück auf den Namen des Flusses Maiandros in Kleinasien, der in der Antike für seine auffällig vielen Windungen bekannt war. Schon 1691 wird in Kaspar von Stielers Wörterbuch »Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs« meander – die lateinische Form des griechischen Flussnamens – nicht mehr nur als Bezeichnung des konkreten Gewässers in Phrygien angeführt, sondern als bedeutungsgleich mit ›krummer Fluss‹ im Allgemeinen angegeben. Im 18. Jahrhundert bedeutete das Substantiv dann wie heute ›Flussschlinge‹. In Justus Wilhelm Friedrich Zachariaes Libretto zu Telemanns 1757 uraufgeführtem Kantatenzyklus »Die Tageszeiten« ist im vierten Teil »Der Abend« die Rede vom »Feldbach, / Welcher sich still in die Au mit krummen Mäandern hinabschlingt«.
Bereits einige Jahre zuvor hatte der Schriftsteller und Literaturtheoretiker Christoph Otto von Schönaich das Wort Mäander auf die Beschreibung von Texten übertragen. In seinem polemischen Werk »Neologisches Wörterbuch oder die Aesthetik in einer Nuß« aus dem Jahr 1754 schreibt er:
Meander. Dieses soll ein Fluß in Kleinasien seyn, der in seinem Laufe mancherley Krümmen und Wendungen machet. […] So geben wir hiermit, kraft unsers Kunstrichteramtes, allen denen, die nur zum Dichten, und Hexametrisiren einigen Beruf fühlen, freye Macht und Gewalt, ihren Strömen und Bächen, an denen sie wohnen, gleiche Ehren zu erweisen.
In dem Text, der schon nach damaligen Maßstäben selbst bis zur Unverständlichkeit mäandert – und nach heutigen erst recht –, wirft Schönaich seinem Zeitgenossen Klopstock jene von ihm ironisch empfohlene Schreibweise vor. Das entsprechende Verb, das auch in der Form mäandrieren existiert, kam aber erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts auf – zunächst in der geografischen, dann in der übertragenen Bedeutung.
Heute wird das Wort genauso im Sinne von ›abschweifen‹, ›ziellos umherwandern‹ oder ›hin und her schwanken zwischen zwei Zuständen‹ gebraucht. In Bernhard Schlinks Weltbestseller »Der Vorleser« aus dem Jahr 1995 ist zu lesen: »Zuerst scheute ich mich, auf dem Heimweg durch die Dörfer des Elsaß zu mäandern und ein Restaurant fürs Mittagessen zu suchen.« Und in der Fachzeitschrift »Golf Post« bescheinigt 2021 ein Autor dem Profigolfer Rory McIlroy, dass er »mäandert zwischen Attacke und Aussetzern, genial und gruselig, unbesiegbar und unterirdisch«. Man sieht: Die Bedeutung von mäandern mäandert deutlich über das hinaus, was die relativ engen Definitionen in verschiedenen Wörterbüchern erfassen.