Paradigma

In einer Zeichnung aus den Achtzigerjahren karikiert der Künstler und Dichter Robert Gernhardt zwei Akademiker im Gespräch. Die Bildunterschrift dazu lautet: »Neulich in der Uni: ›Entschuldigen Sie bitte – wissen Sie zufällig, wo ich hier mein Paradigma wechseln kann?‹« Da war das Gerede von den Paradigmenwechseln vor allem in den geisteswissenschaftlichen Fächern gerade auf seinem Höhepunkt angelangt.

Schuld daran war der amerikanische Physiker und Philosoph Thomas S. Kuhn, der 1962 in seinem Buch »The Structure of Scientific Revolutions« eine Theorie darüber aufgestellt hatte, wie sich umwälzende neue Erkenntnisse in der Wissenschaft durchsetzen und es zum paradigm shift kommt. Gemeint war damit ein fundamentaler Wandel in den grundlegenden Konzepten und den experimentellen Praktiken einer Wissenschaft. Als Paradigma bezeichnete Kuhn den verbindlichen Kanon von Konzepten und Denkfiguren, zu dem Theorien ebenso gehören wie Forschungsmethoden, Axiome und Standards für das, was man als Beiträge innerhalb der jeweiligen Disziplin anerkennt. Das wohl berühmteste Beispiel ist die sogenannte kopernikanische Wende im 16. und 17. Jahrhundert, also der Übergang von einem Weltbild, bei dem die Erde den Mittelpunkt des Universums darstellt, hin zur Erkenntnis, dass unser Planet um die Sonne kreist. 1967 wurde Kuhns Buch im Suhrkamp Verlag auf Deutsch unter dem Titel »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« veröffentlicht. Von da an war die Karriere von Paradigma und Paradigmenwechsel im intellektuellen Jargon nicht mehr aufzuhalten.

Das Wort Paradigma existierte zu diesem Zeitpunkt im Deutschen bereits für mindestens 350 Jahre. 1610 ist das auf den gleichlautenden griechisch-lateinischen Terminus zurückgehende Paradigma erstmals in einem deutschsprachigen Text nachzuweisen. Im Fremdwörterbuch »A la Mode-Sprach der Teutschen« von Sperander wird es 1727 als »ein Exempel, Beyspiel« erläutert. Vor allem galt es als grammatischer Fachausdruck: »Paradigma sind in der Grammatique die Exempel derer Decliniatonium und Conjugationium«, heißt es in Benjamin Hederichs »Schul-Lexicon« von 1731.

Zunächst blieb das Wort selten. Noch 1942 sah Otto Basler Paradigma genau wie das Adjektiv paradigmatisch überwiegend als grammatisches Fachwort an. In einem nicht grammatischen Sinne findet es sich immerhin bei Jean Paul, Rudolf Virchow und Jacob Burckhardt. Letzterer erläutert 1860 in seiner »Cultur der Renaissance in Italien« zum Benimmtheoretiker Baldassare Castiglione und dessen Theorie des Witzes: »Dann folgt aber, nicht bloß zum Wiedererzählen, sondern als Paradigma für künftige Witzbildner, eine reiche Sammlung von Sach- und Wortwitzen, methodisch nach Gattungen geordnet, darunter viele ganz vortreffliche.«

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert konnte man Paradigma zwar häufiger lesen, aber immer noch im Sinne von ›Beispiel‹ oder ›grammatische Beugungsmuster‹. Erst durch die Rezeption von Kuhns Buch steigt die Verwendung des Wortes dann seit 1970 nachweisbar an. Außerdem tritt eine dritte Bedeutung hinzu, die vom DWDS mit ›Summe der in einem Bereich geltenden Grundsätze; grundsätzliche Weltsicht‹ definiert wird, ohne dass die Verwendung synonym zu ›Beispiel‹ ganz außer Gebrauch kommt.

In den Belegen – von denen bei Großdenkern wie Habermas oder Luhmann sehr viele zu finden sind – ist nicht immer ganz genau erkennbar, wie die Autoren das Wort meinen. Man darf das wohl als Beweis für sein endgültiges Angekommensein in der allgemeinen Bildungssprache deuten. Herta Müller erweitert den Sinngehalt von Paradigma noch in Richtung von ›Deutungsmuster, Erklärmodell‹, wenn sie 2003 in »Der König verneigt sich und tötet« schreibt: »Je genauer ich Gegenwart betrachte, um so zudringlicher wird sie zum Paradigma für Vergangenes.«

In der trivialpsychologischen Ratgeberliteratur wird der Ausdruck neuerdings – etwa bei dem kanadischen Selbsthilfeautor Bob Proctor und seinen Epigonen – auch für die »mentale Programmierung« eines Menschen benutzt. Damit ist dann allerdings das Feld der Unbildungssprache erreicht, die nicht Thema dieses Buchs ist.