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Holly-Jane Rahlens Everlasting Der Mann, der aus der Zeit fiel Roman Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Für Noah und seine Zukunft …
Vorbemerkung «Everlasting» wurde 2265 in nordamerikanischem Englisch (NAE) verfasst. Die folgende Übertragung ins Deutsch des frühen 21. Jahrhunderts entstand als Übersetzungsübung im Rahmen des Fachseminars «Die toten Sprachen und ihre Kulturen – Deutsch, Teil II». Einige englischsprachige Begriffe wurden im Original belassen, da es nicht möglich war, adäquate deutsche Äquivalente zu finden. Die Übersetzerin dankt ihrem Mentor, Dr. Nelhar N. Suiled, für seine Hilfe bei der Entschlüsselung einiger schwieriger Passagen und Wörter. Bella Tema Mo Wald Fachbereich Andere Sprachen/EU Berlin 4. Juni 2450
1 Die Insel Finn setzte den Moon Zoomer auf und schaute in den tiefen Nachthimmel. Zwischen den schwach glitzernden Sternen konnte er einen Space-Racer ausmachen, der Geologen zum Mars brachte. Oder waren sie auf dem Weg nach Hause? Aus dieser Entfernung war das schwer zu erkennen. Oh! – die Scheinwerfer des Racers blinkten grün. Vielleicht ein Grußsignal für den Sonnenkreuzer weiter rechts, vollbesetzt mit Bungee-Jumpern, vermutete Finn. Er mochte sie nicht, diese Sprünge in die Schwerelosigkeit, diese Suche nach dem ultimativen kosmischen Kick. Sehr viel tiefer schwebte der Elf-Uhr-Citygleiter. Er flog eine geräuschlose Schleife landeinwärts und segelte über Finn hinweg, ehe er hinter ihm, auf der anderen Seite der Bucht, sanft auf dem Long Island Metroport landete. Und das Meer rauschte weiter. Die Wellen rollten heran. Und wieder hinaus. Vor und zurück. Das Wasser stieg. Und fiel. Die Luft war noch bleiern von der Hitze des Tages, von Salz, Gischt und dem Duft von Jasmin im Nachbar
2 Doc-Doc Für das Holocasting räumte Finn extra das Familienzimmer auf. Man konnte schließlich nie wissen – vielleicht würde der Direktor der Europäischen Bibliothek ihm einen spontanen Besuch abstatten. Bei Doc-Doc – wie Dr. Dr. Rirkrit Sriwanichpoom von seinen Mitarbeitern nicht ohne einen gewissen Spott genannt wurde – musste man auf alles gefasst sein. Finn öffnete die Vorhänge. Der Mond schwebte wie ein dicker weißer Ballon über einem glatten Atlantik. Ein ausgezeichneter Hintergrund für ein Holocasting. Finn spürte, wie er immer aufgeregter wurde. Was befand sich nur in diesem Bodden-Koffer? Durfte er sich Hoffnungen auf ein Millennium-Mirakel machen? Die letzte große Entdeckung einer Handschrift in Deutsch lag fast 130 Jahre zurück. 2136 hatten Arbeiter in Kalifornien, die ein verwahrlostes Haus für den Abriss vorbereiten sollten, eine wurmstichige Eichentruhe gefunden, die eine Stahlkassette enthielt. Darin befand sich ein Stapel handschriftlich beschriebener Seiten. Die Expert
3 Das Onyx-Kästchen Als Finn erwachte, fiel Sonnenlicht durch sein Fenster. Er blieb einen Augenblick still im Bett liegen, studierte das Spiel der Schatten in seinem Zimmer und lauschte dem Klang der Brandung. Er hatte nur wenige Stunden geschlafen. Der Tod seiner Familie vor gerade mal zwei Wochen, Rouges Besuch, das Holocasting mit Doc-Doc und jetzt eine neue Arbeit: Das war einfach zu viel auf einmal. Hoffentlich konnte er auf dem Zweieinhalbstundenflug nach Berlin ein wenig Schlaf nachholen. Hörte er da Rouge im Nebenzimmer? Er stand leise auf, ging zu ihrer Tür und öffnete sie vorsichtig. Aber sie schlief noch und atmete ganz ruhig. Er sah, wie sich ihre Nasenflügel blähten und wieder zusammenzogen, wie der braune Fleck über ihrer rechten Brust sich hob und senkte, hob und senkte. Rouge war schön, wenn sie schlief. In diesem Moment, da die sanfte Rundung ihrer Schulter in das frühmorgendliche blassrosa Licht getaucht war, da ihr Atem so ruhig ging und ihre kupferfarbenen Locken s
4 Der Eisberg Es war ein strahlender Morgen, und von dem Greenway aus gesehen war Greifswald in goldenes Licht getaucht. Alles duftete nach dem Regen der letzten Nacht, nach nassem Laub, feuchter Erde, dem zu erwartenden kühleren Herbstwetter und nach Verheißung. Finn blieb kurz an einem Kiosk stehen und kaufte sich eine Tüte gebrannte Mandeln. Ein Piepston signalisierte ihm, dass der Inkasso-Sensor der Robo-Verkäuferin sich in sein BB-Bankkonto eingeloggt und die Summe abgebucht hatte. Er riss die Tüte auf und kostete die Süßigkeit, während er weiterschlenderte. So leicht war ihm schon seit dem Unfall seiner Familie nicht mehr ums Herz gewesen. Die Aussicht auf die neue Aufgabe – einen Prestige-Job! – hatte seine Stimmung gehoben. Heute würde er das Pinkfarbene Tagebuch – oder genauer gesagt, dessen Tru-Copy – in den Händen halten. Er wandte den Blick hoch zur Europäischen Bibliothek. Das Gebäude ragte turmhoch in den Himmel und beherrschte das Stadtbild von Greifswald, gerade an der
5 Das Pinkfarbene Tagebuch Finn ließ eine Zing-Tablette in seinen dampfenden Ingwertee fallen, wartete bis sie sich auflöste, rührte kurz um, und nippte vorsichtig an dem Gebräu. Heiß. Aber er fühlte sich sofort erfrischt und wach. Er öffnete das Tagebuch und begann seine Arbeit. Donnerstag, 22. Mai 2003 Heute ist mein Geburtstag, (ich bin jetzt 13!), deshalb bin ich total früh aufgestanden, um halb sieben, genauer gesagt, (wir alle, sogar Robert!), weil ich genug Zeit haben wollte, meine Geschenke auszupacken, bevor ich zur Schule musste, und außerdem hatte ich mir von Papa Arme Ritter zum Frühstück gewünscht, was er immer so lecker macht, und er hat gesagt, er würde mir das machen, aber dann hat Mama gesagt, nur wenn ich meine Schulsachen und alles schon am Abend vorher fertig mache und rechtzeitig angezogen bin und nicht rumtrödele, deshalb habe ich schon gestern Abend alles zusammengepackt und so (auch wenn das krasse Erpressung von Mama war) und habe auch meine Klamotten sorg fä
6 Everlasting Finn lehnte sich mit dem Rücken an das Kopfende seines Bettes und feilte an der Übersetzung. Er arbeitete gern, wenn alle schliefen, er mochte die samtige Stille. Aber irgendwer war schon wach, denn ein Plinkblink erschien vor seinem digitalen inneren Auge: Öffne! Dies! Jetzt! Finn öffnete die Nachricht. «Breaking news!», meldete sich Renko. Sein Haar war ungekämmt, und ein dampfendes Glas stand neben ihm. Anscheinend war er eben erst aufgestanden. «Ein Kollege in Johannesburg hat den Namen Alexander Landuris gefunden. Und zwar in Unterlagen, die noch nicht katalogisiert sind.» Diesen Unterlagen zufolge war der arbeitslose Systemtechniker Landuris, geboren am 27. Juli 1989 in Berlin, Deutschland, am 17. April 2020 an der Grenze zwischen Südafrika und Namibia aufgegriffen und festgenommen worden. Kurz darauf wurde ihm die Einreise nach Südafrika erlaubt, wo sich seine Spur verlor. War das derselbe Alexander Landuris, der E an ihrem 13. Geburtstag eine Kopfnuss verpasst hat
7 Das Spiel Finn war mit Dr. Dr. Rirkrit Sriwanichpoom zum Nachmittagstee in der Katakombo-Kantine verabredet. Hostess Henriette GFW-loe22 nahm ihn in Empfang, eine zierliche Brünette in einer pastellfarben geblümten Damastschürze. Sie geleitete Finn ins Französische Speise-Séparée Nr. 5 und wies ihm einen Platz am Tisch zu. Finn war zum ersten Mal in einem der Séparées im Eisberg. So saß er da, etwas angespannt, rutschte auf dem Stuhl herum und wartete auf den Direktor. Der Raum war sonnendurchflutet und mit hübschem Mobiliar im Landhausstil ausgestattet. Es machte plink!, und eine Speisekarte mit dem Angebot an Süßspeisen und Erfrischungen kam auf seinem BB an. Die Liste war riesig und umfasste alles von Madeleines, über Meringues bis hin zu Mousses. «Oder hätten Sie lieber Tartelettes oder Tartes, Monsieur?», fragte Henriette, die seine Unschlüssigkeit spürte. «Wenn Sie nach unten scrollen, sehen Sie, dass wir auch Petits Fours servieren, Pasteten und Parfaits, ebenso wie Sorbets un
8 Der Zufallsreisende «Zappel doch nicht so», sagte Rouge und schob sich den Trageriemen der ramponierten schwarzen Umhängetasche über den Kopf, bis er ihr quer über der Brust hing. «Das liegt an diesen dummen Jeans», sagte Finn und zog sich die Hose höher. Finn und Rouge schritten im flotten Tempo über das Schnelllaufband 5 im neunten Untergeschoss des Olga-Zhukova-Instituts für Angewandte Physik in Berlin. «Sie passt nicht richtig», klagte Finn und zog sich die Hose erneut hoch. Sobald er losließ, rutschte sie wieder nach unten, sodass eine bunt karierte Unterhose zum Vorschein kam. Er musste lachen. «Der Bund ist zu weit. Und der Schritt hängt zu tief», bemerkte Rouge. «Klug beobachtet, Einstein, klug beobachtet. Den Stil nennt man ‹Baggy›, hat der Ausstatter gesagt.» Rechts und links kreuzte GoWay-22 P3. «Noch zwei Kreuzungen», verkündete Rouge. «Bis R3. Dann sind wir da.» Sie warf einen Blick auf Finns Gürtel. «Kannst du den nicht enger schnallen, damit die Hose oben bleibt?» Sie
9 Science-Fiction für Lovers Finn entspannte sich im Sessel vor dem Panoramafenster, las ein Buch und wartete auf den 16-Uhr-22-Schneefall. Am Vormittag war er Ski gelaufen, und es war genau so gewesen, wie es im Dezember in den Alpen sein sollte – perfekt. Jungfräulicher Pulverschnee, blendend weiß, das Licht gleißend hell, der Himmel klar. Besonders hatte er die Fahrt durch den Kiefernwald genossen, die Stille, nur durchbrochen vom Zischen der Skier, das leichtes Klopfen der Stöcke, dann und wann das Knacken eines Asts, der unter seiner Schneelast brach, und das gedämpfte Plätschern eines Baches, der unter einer dünnen Eisschicht floss. Nach dem Mittagessen blieb Finn im Hotel und las zum fünften Mal eines seiner Lieblingsbücher, Arnaud Djatengs epische Coming-of-Age-Erzählung von 2199, Ein Bongo auf dem Kwango. Finn war ansonsten recht sparsam, aber Bücher wie dieses, extra für ihn gedruckt, waren der Luxus, den er sich gönnte (Skilaufen war ein weiterer). Dieses spezielle Buch war
10 In Zeiten des Caffè Latte Finn fühlte sich diesmal wohl in dem historischen Kostüm, das man extra für ihn angefertigt hatte. Rouge und er hatten sich für die Moderichtung «konservativ-leger–bequem» entschieden. Mit den riesigen Schulterpolstern seines Lederblousons fühlte er sich zwar etwas seltsam, fast wie ein amerikanischer Footballspieler, aber seine nougatfarbene Bundfaltenhose war angenehm bequem geschnitten, und sie rutschte nicht ständig herunter. Das war auch gut so, denn der Minislip, den man ihm verpasst hatte, sah ausgesprochen komisch aus. Er war mit dicken roten Lippen und den Worten «Kiss Me» übersät. «Steht auf deiner Unterwäsche auch ‹Kiss Me›?», wollte Finn von Rouge wissen. «Meine Güte, nein.» «Gut so.» «Bei mir auf dem Slip steht ‹Eat Organic.›» Auch Rouge wirkte in ihrer ledernen Patchworkjacke wie eine Footballspielerin, ansonsten stand ihr der kurze, knappe Rock hervorragend. Man hatte sie gebrieft, sie wussten, was sie auf Level 2 erwartete. Einige Wochen zuv
11 Frohes neues Jahr Finn musste aufstoßen, und der Geschmack des Kaugummis stieg ihm unangenehm in den Mund. Professor Grossmann, heute wieder im braunen Cordanzug, sagte, das sei zu erwarten gewesen. «Aber wie kann das denn sein?», fragte Finn, etwas abgelenkt von dem Bolotie des Professors, dessen Brosche ihn anfunkelte. Sie war von eleganter Schönheit, ein glänzend polierter und in Gold gefasster Topaz. Daran hingen beigefarbene Ledersenkel mit Goldspitzen. «Es war doch bloß eine Vision, oder?», fuhr Finn fort. «Wenn wir im Traum ein Glas Wein trinken, wachen wir doch nicht betrunken auf.» «Die Macht der Suggestion in ‹Projekt Zeit› darf man nicht unterschätzen», erklärte der Professor. «Deshalb gehen wir äußerst vorsichtig vor.» Er zwinkerte Finn väterlich zu. Finn hatte Professor Grossmann seine Gedanken über das Spiel gleich bei seiner Ankunft mitgeteilt. Der ältere Mann hatte aufmerksam zugehört, seine Vermutungen aber weder bestätigt noch von sich gewiesen. Und Finn war zu müd
12 Folge deinem Herzen Finn saß im Sand, die Sonne brannte ihm im Gesicht. Es war einer dieser merkwürdigen Januartage, die er noch von seiner Kindheit in Erinnerung hatte: ein plötzlicher, kurzlebiger warmer Anflug von Frühling. Sein Vater kam dann mit dem Citygleiter zum Mittagessen nach Hause, und sie machten ein Picknick am Strand, zogen sich die Socken aus, tauchten die Zehen ins Meer … Finn hörte Möwen kreischen und erinnerte sich daran, wie gern Lulu sie gejagt hatte. Sie war hinter allem hergerannt, das Flügel hatte – bloß um es fliegen zu sehen. Wie sie gequietscht hatte, vor lauter Freude einfach nur zu sein, Kind zu sein, ein Kind, das lief und quietschte und sich wünschte, fliegen zu können. Wie paradox, dass sie beim Fliegen ums Leben gekommen war – obwohl, wenn er recht darüber nachdachte, war ihr die kindliche Lebensfreude, die sie einst empfunden hatte, bereits fast ausgetrieben worden. Ab dem Alter von sechs Jahren wurden alle Kinder dazu angehalten, sich zu beherrsche
13 Was nun? Finn ging über den inzwischen kalten Sand zum Haus. Er musste nicht sofort eine Entscheidung treffen. Die Frage «Was nun?» konnte noch ein wenig warten. Auf jeden Fall bis nach dem Abendessen. Koch Carlo Canelli hatte netterweise Abendessen für Finn zubereitet. Der Roboter wurde von einer Gruppe Fire Islander gemeinsam benutzt und gepflegt und galt als echte Perle. Seine Kochkunst, vor allem sein talento für italienische Küche, wurde allseits gerühmt. An diesem Abend hatte er Vermicelli mit Jakobsmuscheln und einen frischen Salat hingezaubert. Finn aß allein oben im Wohnzimmer an dem großen Walnussholztisch mit den Sonnenblumenmotiven. Mitten auf dem Tisch, wo die Sonne aufgemalt war, lag seit Tagen die Tru-Copy von Elianas drittem Tagebuch. Er hatte seit dem Neujahrstag vor fast einer Woche nicht mehr hineingeschaut. Warum hatte er das Tagebuch nicht mehr angefasst? Wovor hatte er Angst? Dass das Tagebuch ihm eine Antwort geben würde auf seine Frage ‹Was nun›? Ja, er hatte
14 Die Fliege an der Wand Finn graute vor der Beerdigung. Auch in seiner Welt waren Beerdigungen nicht völlig unbekannt, aber er war noch nie auf einer gewesen. Von Zelluloids – seiner wichtigsten Informationsquelle für derlei Ereignisse – wusste er jedenfalls, dass sie ungemein emotional waren. Doch Finn spürte, dass er hinmusste. Er ahnte, dass die Antwort auf seine Frage «Was nun?» in der Vergangenheit lag. Was genau er tun würde, wenn er dort war, ob er Eliana überhaupt ansprechen würde, wusste er nicht. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass sie sich überhaupt noch an ihn erinnerte – immerhin hatten sie sich seit über einem Jahr nicht gesehen. Vermutlich würde er sich nur irgendwo im Hintergrund halten und das Geschehen von dort aus beobachten. Professor Judd Grossmann hatte Finn eingehend nach den Gründen für seine Entscheidung befragt und darauf hingewiesen, dass die Dinge schwierig werden könnten, falls er der jungen Dame ein weiteres Mal begegnete. Finn räumte dabei ein, dass
15 Finn lernt schreiben Finn fand es in den Tiefen des Eisbergs, in den Katakomben, Untergeschoss 5. Es stand in einem fast vergessenen Raum mit unkatalogisierten Sachbüchern aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, die sich mit dem Herstellen von Büchern befassten. Die Regale waren gefüllt mit Leitfäden zur Drucktechnik und zur Kunst der Farbmischung, mit Handbüchern zu Layout und Typographie und mit Schriftmusterbüchern. Finn stieß auf Präsentationsordner mit unzähligen Mustern unterschiedlichster Papiere, mit verschiedenen Färbungen, Oberflächen und Dicken. Daneben lagerten Mappen mit seidigen Lesezeichen und Kapitalbändern. Es gab Ringbücher mit Vorsatzpapieren in vielen Farbschattierungen und bunten Kartons. Schwere stoffbezogene Schachteln, die sich kunstvoll ausklappen ließen, zeigten Baumwoll- und Leinenmuster mit den vielfältigsten Strukturen und Farbtönen. Was für Schätze! Finn fühlte sich wie ein Kind im Spielzeugladen. Er hatte die Regale schon etliche Stunden durchforstet, a
16 So viele Erden und eine Sonne Finn und Rouge mussten sparen. Professor Grossmann, Leiter von «Projekt Time», war vom Finanzverwalter des OZI, Mr. Ciucurescu, zurechtgewiesen worden: «Die Institutsbestände an klassischen Euros sind besorgniserregend geschrumpft. Wir können solche Extravaganzen wie Bargeschenke von 497 Euro an Menschen, denen man zufällig auf der Straße begegnet, oder Designerkleidung von Jil Boss und Hugo Sanders nicht länger billigen. Und Tru-Copys von Geldscheinen können wir auch nicht leisten.» Rouge war alles andere als begeistert, nahm die Kürzungen aber letztendlich hin, was blieb ihr anderes übrig? Zum Ausgleich erhielt sie Zugang zur Abteilung für historische Kleidung und Accessoires im Museum der Europäischen Kulturen, wo sie Kleidungsstücke für sich und Finn aussuchen durfte. Sie widmete sich dieser neuen Aufgabe mit der für sie typischen Sorgfalt und Begeisterung. Rouge wählte für sich ein graugrünes Oberbekleidungsstück mit Kapuze aus – der Ausstatter bez
17 Atmosphärische Störungen Rouge wusste sofort, dass irgendwas nicht stimmte. Finn war nicht mal daran interessiert, etwas über das Erotik-Museum zu hören. «Hast du denn nicht mal ein akademisches Interesse daran?», fragte sie. Hatte er nicht. Die Heimreise ins Berlin des Jahres 2265 war turbulent, aber Finn nahm es kaum wahr. Eliana liebte einen anderen. Nichts konnte schlimmer sein als das. Professor Grossmann und seine Assistentin Dr. Yuka Shihomi machten die Standardkontrolltests. Sie maßen Finns Blutdruck und seine Größe, luden seine Erinnerungen herunter, überprüften seinen Muskeltonus und spähten ihm in die Ohren. «Und wie geht’s Ihnen gefühlsmäßig? Sie sind, hoffen wir, ihrem Herzen gefolgt?», wollte der Professor von Finn wissen. «Sir, bei diesen Budgetkürzungen war es uns kaum möglich, uns ein Sirloin-Steak zu gönnen», entgegnete er knapp. «Wir arbeiten daran.» Finn stand auf. «Wäre das dann alles?» «Sie wirken ein wenig indisponiert.» Finn zuckte die Achseln. «Die Heimrei
18 Krach! Knack! Platsch! Irgendwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Auf dem Weg nach Berlin-2009 war zuerst alles ganz normal gelaufen. Finn erlebte seinen «Moment davor», dieses eigenartige Gefühl von Angst und gespannter Erwartung, und dann hatte er, wie immer, gespürt, wie er gedehnt wurde, mehr und mehr, bis er dünner als eine Spaghettinudel war, und dann – wusch! – wurde er durch ein winziges Loch in einen langen Tunnel gesaugt. Aber als er diesmal wieder aus dem Tunnel herauskatapultiert wurde und zurück in seinem eigenen Körper war, war es nicht wie sonst – so als würde er schweben. Stattdessen wurde er hochgehoben und gegen eine Wand geschleudert. Klatsch! Einmal. Zweimal. Dreimal. Sein Magen revoltierte. Sein letzter Gedanke galt Eliana: Sie wusste nicht einmal, dass er sie liebte. Sie würde es nie erfahren. Finn schlug die Augen auf. Er lag mit seinem Gesicht in einer Wasserpfütze. Nein – es war eine Urinpfütze. Er roch etwas Säuerliches und wusste, es war sein eigenes E
19 Das Ich meines Herzens Man flickte Finn zusammen. Am ersten Tag verpassten sie ihm einen brandneuen kleinen Finger für die linke Hand, fügten zwei mittlere Rippen zusammen, implantierten einen Ersatzschneidezahn, richteten die Nase und fixierten das zweifach gebrochene Schlüsselbein. Am zweiten Tag waren die Platzwunden im Gesicht fast verheilt. Am dritten Tag reduzierten die Ärzte die Sedativa. Am vierten Tag erwachte Finn aus seinem gedopten Nebel mit einem klaren Kopf und völlig intakten Erinnerungen. Seine menschliche Betreuerin, Schwester Bettina, wurde durch eine Robo-Hilfe ersetzt, Schwester Ursula-BER-MV-MedC49. Er genas, aber nur mit dem doppelt gebrochenem Schlüsselbein haperte es noch. Die Ärzte rieten Finn dazu, in den nächsten Tagen vorsichtig damit umzugehen und auch vom Lachen abzusehen. Da Finn in absehbarer Zeit kaum einen Grund zum Lachen sah, rechnete er fest damit, bald wieder auf den Beinen zu sein. Nach einem frühen Mittagessen ging es Finn so weit wieder gut,
20 Sonnenblumen Rouge und ich kamen sicher in Berlin an. Aber war es auch das richtige Berlin – und der richtige Ort? Immerhin war ich wohlbehalten gelandet, diesmal nicht mit dem Gesicht in einer Urinpfütze. Bei meinen Sneakern lag die Sache anders, aber das war ja sozusagen Berufsrisiko. Wir befanden uns am Ludwigkirchplatz in Berlin-Wilmersdorf, am 2. August 2011 – zumindest hoffte ich das. Von hier aus war es nur ein fünfzehnminütiger Fußweg zu der Zweizimmer-Ferienwohnung, die das OZI uns besorgt hatte und die gleich um die Ecke vom Wohnhaus der Familie Lorenz lag. Der letzte Eintrag in Elianas Tagebuch, den ich zu sehen bekommen hatte, war vom 22. Juni 2011. Eliana war einundzwanzig und studierte Architektur. Sie wohnte noch zu Hause, überlegte aber, mit ihren Freundinnen Renée und Fritzi zusammenzuziehen. Sie ging hin und wieder mit diesem oder jenem Typen aus, war aber nicht in einer festen Beziehung. Falls es ein weiteres, achtes, Tagebuch gab, so hatte ich es noch nicht geseh
21 Der Bodden Der Himmel über Brandenburg hing tief und sah grau und bedrohlich aus, als der Zug in Richtung Rostock an der Ostsee fuhr, wo Robert uns abholen würde. Ich war seit zwei Tagen im Jahr 2011 unterwegs und hatte inzwischen auch meine ersten Kaugummiblasen zustande gebracht. Eliana schmiegte sich an mich und schloss die Augen. Wir waren erschöpft. Die letzten beiden Tage hatten wir überwiegend im Bett verbracht – aber kaum geschlafen. Tags zuvor, Mittwoch, war Eliana für ein paar Stunden aufgestanden, um zur Arbeit zu fahren, und ich war um die Ecke gegangen, um mich bei Rouge zu melden, frische Sachen anzuziehen und Vorräte an Kaugummis und an Kondomen zu kaufen. Tja – ich hatte mich an viele Dinge zu gewöhnen. «Erzähl mir was von dir, das ich nicht weiß und das richtig schräg ist», sagte Eliana mit geschlossenen Augen. Ihre Stimme war rau vor Müdigkeit. «Was denn zum Beispiel?», fragte ich. «Wie soll ich dir das sagen, wenn ich nicht weiß, was es ist?» Sie war kurz davor, e
22 Das Geschenk Sonntag, 7. August 2011. Fast wäre ich nicht aus dem Bett gekommen. Es war eine Mischung aus Zeitlag und Overkill. Gewaltige Fragen lasteten auf mir, Fragen, die derartig kompliziert zu beantworten waren, dass es mich schon sämtliche Energiereserven kostete, sie nur zu stellen: Was genau war eigentlich meine Mission im einundzwanzigsten Jahrhundert? Hatte die Entdeckung der Ursprünge meiner Familie etwas mit meiner Mission zu tun? Es schien, als wären die Schritte, die ich in meinem Leben gegangen war – und die Schritte, die meine Ahnen vor mir gegangen waren –, einer komplizierten Choreographie durch die Zeit gefolgt, die wir ahnungslos tanzten. Wohin würde dieser Tanz die Familie Lorenz führen – und mich? «Finn?» Eliana rüttelte mich. «Finn?» Ich schlug die Augen auf, brauchte aber einen Moment, bis ich klar sehen konnte. «Guten Morgen.» Sonnenlicht durchflutete das Zimmer, Lichtflecken umflirrten uns im Rhythmus der Brise, die durch die wehenden Gardinen drang. Blätt
23 Amorivirus nordstromi Professor Grossmann schüttelte meine Hand so kräftig, dass sein Bolotie nach vorne schwang und ihm mit einem Klonk zurück gegen die Brust schlug. «Willkommen zu Hause, Mr. Nordstrom! Willkommen zu Hause! Wie fühlen Sie sich?» «Bestens. Gut. Glänzend sogar.» Ehrlich gesagt, fühlte ich mich ein wenig desorientiert, wie meistens bei meiner Rückkehr. Es war ein bisschen so, wie wenn man mitten in einem Traum aufwacht, sich peu à peu an die Einzelheiten erinnert, mal an das eine, mal an das andere Detail, und dann versucht, daraus schlau zu werden. Doch was für ein wunderbarer Traum war das gewesen! «Gut gemacht!» Der Professor grinste. Ich zuckte die Achseln und verstand nicht so ganz, wofür der Professor mich lobte. Sein Blick glitt über mein Gesicht. «Meine Güte! Was ist passiert? Sie wirken so … beschwingt.» Was passiert war? Die Liebe war passiert. Aber das konnte ich natürlich nicht sagen. Er würde es nicht verstehen. «Dieser Reisende hat Bekannte besucht, die
24 Sternschnuppe im Schmetterlingsnetz Nur mein Zorn hielt mich davon ab, zusammenzubrechen und mich in Nichts aufzulösen. Auf dem ganzen Weg nach Greifswald und dann fünfunddreißig Kilometer weiter nach Nordwesten bis Stralsund hielt ich mich mit meinem letzten Nanogramm Kraft an diesem Zorn fest. Einen Forscher wegen eines vertraulichen Projektes aufzusuchen – noch dazu ohne den eigenen Vorgesetzten zu informieren – war ein schwerer Verstoß gegen das Protokoll. Aber gerade jetzt, fand ich, hatte das Protokoll einen schweren Verstoß verdient. Außerdem, so schien mir, benötigte die Europäische Bibliothek meine Dienste nicht mehr. Die Bibliothek und das OZI hatten mich, seit ich an diesem Projekt mitgearbeitet hatte, ständig hintergangen. Jetzt brauchte erst einmal ich eine ehrliche Antwort auf das Geheimnis, das die Tagebücher umgab. Ich hatte Glück. Dr. Cornelius Beyer arbeitete gerade an einer Ausgrabung auf der Insel Rügen, die ganz leicht über eine Brücke von Stralsund aus zu erre
Epilog Die große Verführung Im Mai 2266, zehn Monate nach Finns Verschwinden, klopfte es an Rouges Rubik-Tür. Seltsam, dachte sie. Gäste kündigten eine bevorstehende Ankunft immer mit einer BB-Nachricht an. Sie riss sich mit einem Seufzer von ihrer Arbeit los. Vielleicht hatte JoeJoe der Hausmeister mal wieder einen Defekt und wusste nicht, wo er hinsollte. «Was ist denn jetzt schon wieder los?», fragte Rouge unwillig, als sie die Tür aufmachte. Es war aber nicht JoeJoe. Verdutzt sah Rouge einen Mann und einen kleinen Jungen vor sich stehen. Der Mann hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit JoeJoe – nur ohne Bart. Sein markantes Gesicht und sein attraktiver Körperbau, bei einer Maschine wie JoeJoe schon auffällig, waren bei einem lebenden Menschen schlichtweg überwältigend. Selten war Rouge einer derartigen Maskulinität begegnet. Gleichzeitig hatte der Mann aber auch etwas Sanftes an sich. Vielleicht war es die beschützende Art, mit der er die Hand des Jungen hielt. Dann bemerkte Rouge
Danksagung Ich danke Judith Grossmann, einer wunderbaren Freundin, die es auf sich genommen hat, etliche frühe, spätere und noch spätere Fassungen meines englischen Manuskriptoriginals auch kapitelweise zu lesen und zu kommentieren; Katharina Naumann für ihre erstaunliche Fähigkeit, den redaktionellen Prozess geduldig zu begleiten und fast zum Vergnügen werden zu lassen; Christiane Steen für ihre frühen und anhaltenden Ermutigungen; Ulrike Wasel und Klaus Timmermann für ihre Begeisterung und ihr behutsames Herangehen an die Übersetzung; Kate Gladstone für ihre beeindruckenden Kenntnisse, was die Kunst und Geschichte der Handschrift angeht; Dr. Wolfgang Cron für seine Auskünfte über die Kartenabteilung der Berliner Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße; allen First Readers für ihre Kommentare, wissenschaftlichen Anregungen, ihre Ermunterungen und ehrliche Kritik: Noah Delius, William Grossmann, Wiebke Hellenbrand-Perleth, Marion Hübinger, Lisa Mannack, Tania Oster, Joachim Pietzsch,
Informationen zum Buch Entscheide dich – für die Liebe oder für die Zukunft Stell dir vor, du verliebst dich. Stell dir vor, sie erwidert deine Liebe. Aber in deiner Welt gibt es keine Liebe. Und auch kein Ich. Wie sagst du «Ich liebe dich»? Stell dir vor, sie ist 250 Jahre vor dir geboren – und ihre Welt ist dem Untergang geweiht. Setzt du dein Leben für sie aufs Spiel?
Informationen zur Autorin Holly-Jane Rahlens kam nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Theater Arts aus ihrer Heimatstadt New York nach Berlin. Mit Funkerzählungen, Hörspielen und Solo-Bühnenshows machte sie sich dort in den achtziger und neunziger Jahren einen Namen. Außerdem arbeitete sie als Journalistin, Radiomoderatorin und Regisseurin. Ihr Jugendbuch «Prinz William, Maximilian Minsky und ich», das 2003 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis prämiert wurde, kam 2007 in einer Drehbuchadaption der Autorin ins Kino. Der Film gewann zahlreiche Preise und wurde für den Deutschen Filmpreis 2008 nominiert. Holly-Jane Rahlens lebt heute mit Mann und Sohn in Berlin-Charlottenburg.
Impressum «Everlasting» wurde mit einem Stipendium der Stiftung Preußische Seehandlung Berlin gefördert. Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2012 Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc. Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart ISBN Buchausgabe 978 - 3 - 8052 - 5016 - 0 (1. Auflage 2012) ISBN Digitalbuch 978 - 3 - 644 - 20911 - 4 www.rowohlt-digitalbuch.de
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