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1 Als Kelsey den Brief aus ihrem Briefkasten nahm, konnte sie nicht ahnen, daß er von einer Toten stammte. Das cremefarbene Briefpapier, die ordentlich von Hand geschriebene Adresse und der Poststempel des Staates Virginia erschienen ihr so alltäglich, daß die den Brief einfach mitsamt der restlichen Post auf den alten Teetisch unter ihrem Wohnzimmerfenster legte, während sie aus ihren Schuhen schlüpfte Dann ging sie in die Küche und schenkte sich ein Glas Wein ein. Das wollte sie in aller Ruhe genießen, ehe sie ihre Post öffnete. Nicht daß sie den Drink gebraucht hätte, um sich für das Lesen der Post in dem schmalen Umschlag, die Reklamesendungen, die Rechnungen oder die bunte Postkarte, die ihr eine Freundin von einer Urlaubsreise in die Karibik geschickt hatte, zu wappnen. Das kleine Päckchen, das den Absender ihres Rechtsanwaltes trug, hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Es konnte nur ihre Scheidungsunterlagen enthalten; die offizielle Urkunde, die Kelsey Monroe wieder in Kel
2 Manchmal war es am besten, einem Impuls zu folgen. Nun, vielleicht nicht gerade am besten, korrigierte sich Kelsey, als sie die Route 7, die durch die Berge Virginias führte, westwärts fuhr – aber äußerst befriedigend. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, noch einmal mit ihrem Vater zu reden, alles noch einmal gründlich zu überdenken. Doch Kelsey hatte sich entschieden, einfach ins Auto zu steigen und zur Three-Willows-Farm zu fahren, um die Frau zur Rede zu stellen, die sich zwei Jahrzehnte lang totgestellt hatte. Meine Mutter, dachte Kelsey, die Mörderin. Um das häßliche Bild zu verscheuchen, drehte sie das Radio auf; Rachmaninoff erklang. Es war ein herrlicher Tag für eine Autofahrt, hatte sie sich immer wieder eingeredet, seit sie am Morgen eilig ihr einsames Apartment verlassen hatte. Und auch als sie die Karte studierte, um den schnellsten Weg nach Bluemont zu finden, hatte sie sich das Ziel ihrer Fahrt nicht eingestanden. Niemand wußte, daß sie kam. Niemand wußte, wo sie hin
3 Es stimmte, Kelsey kannte Naomi Chadwick nicht, aber sie beabsichtigte, sie kennenzulernen. Ihre Hochschuljahre waren keine Zeitverschwendung gewesen. Wenn es etwas gab, das sie beherrschte, war es das Sammeln von Hintergrundinformationen. Egal zu welchem Thema. Und auch Naomi bildete da keine Ausnahme. Die nächsten zwei Wochen verbrachte Kelsey größtenteils in der öffentlichen Bibliothek und in Zeitungsarchiven, wo sie eifrig Mikrofilme studierte. Zuerst fand sie in der Gesellschaftsspalte die Verlobungsanzeige von Naomi Anne Chadwick, einundzwanzig, Tochter von Matthew und Louise Chadwick, wohnhaft Three-Willows-Farm in Bluemont, Virginia, und Professor Philip James Byden, vierunddreißig, Sohn von Andrew und Milicent Byden aus Georgetown. Die Hochzeit sollte im Juni stattfinden. Dann entdeckte Kelsey die Heiratsanzeige mit einem Foto. Es versetzte ihr einen regelrechten Schock, ihren Vater so jung, sorglos und glücklich zu sehen, eine Rosenknospe im Knopfloch und Hand in Hand mit N
4 Das Dinner im Familienkreis war von jeher eine äußerst zivilisierte Angelegenheit. Stilvoll wurde dabei ausgezeichnetes Essen serviert – wie eine Henkersmahlzeit, dachte Kelsey, als sie ihre Lauchsuppe löffelte. Sie wollte den Abend im Hause ihre Vaters weder als Verpflichtung noch, was schlimmer war, als Verhör betrachten. Doch sie wußte, daß beides zutraf. Philip betrieb beiläufig Konversation, doch sein Lächeln wirkte aufgesetzt. Seit Kelsey ihm von ihrem bevorstehenden Besuch auf Three Willows erzählt hatte, ließ ihn die Vergangenheit nicht mehr los. Obwohl er es Candace gegenüber als illoyal empfand, konnte er kaum an etwas anderes denken als an seine erste Frau. Nachts wälzte er sich schlaflos von einer Seite auf die andere, da ihn seine Erinnerungen peinigten. Obwohl er sich selbst sagte, daß er sich wie ein Narr verhielt, quälte ihn der Gedanke, er könne das Kind verlieren, um das er so erbittert gekämpft hatte. Doch dieses Kind war inzwischen zur Frau gereift. Er brauchte si
5 Kelsey überließ ihrer Mutter und der geschäftig herumwuselnden Gertie die Erste Hilfe. Sie hätte ja vorgeschlagen, in die Notaufnahme eines Krankenhauses zu fahren, aber niemand schien an ihrer Meinung sonderlich interessiert zu sein. Offenbar wurden Stichwunden hier mit solcher Ruhe hingenommen und selbst verarztet. Sobald Gabes Arm gesäubert und verbunden war, wurde Hühnersuppe mit heißem Toast aufgetischt. Das Gespräch drehte sich ausschließlich um Pferde, Stammbäume, Rennen und Bestzeiten, für Kelsey Bücher mit sieben Siegeln. So beschränkte sie sich auf die Rolle der Zuhörerin und hing ihren eigenen Gedanken nach. Aus Naomis Beziehung zu Gabriel Slater wurde sie immer noch nicht schlau, aber sie schienen sehr vertraut miteinander zu sein. So stand zum Beispiel er auf und schenkte Kaffee nach, nicht seine Gastgeberin. Und dann berührten sie sich ständig wie unabsichtlich, strichen mit den Fingerspitzen über den Arm des anderen, legten die Hände ineinander. Das ging sie nun wirkli
6 Die Rennbahn in der Morgendämmerung entsprach ganz und gar nicht Kelseys Erwartungen. Zur Welt des Pferderennsports gehörten ihrer Meinung nach Buchmacher und Wettende, dicke Zigarren und schlechtsitzende Anzüge, der Geruch nach schalem Bier und dem Schweiß der Verlierer. Der betrunkene Pferdepfleger, den Gabe am Tag zuvor gefeuert hatte, paßte genau in ihr Bild von dieser Welt. Die Realität jedoch sah anders aus. Die Rennbahn lag in dichtem Nebel, als sie mit Naomi dort ankam. Die Pferde waren schon früher eingetroffen, damit sie in Ruhe ausgeladen, gesattelt und auf die Trainingsläufe vorbereitet werden konnten. Es herrschte eine ruhige, beinahe heitere Atmosphäre; die Stimmen klangen gedämpft durch den Nebel, und die hier und da aufgetauchten Gestalten wirkten wie Geister. Am Geländer rund um die Bahn lehnten Männer und nippten an dampfenden Pappbechern. »Das sind Zeitnehmer«, erklärte Naomi. »Sie bleiben stundenlang hier, messen die Zeiten, beurteilen das Gewichtshandicap der Pfe
7 Naomi zog gerade den Gürtel ihres Morgenmantels enger zu, als sie hörte, wie die Vordertür schlug. Der heftige Knall erschreckte sie, aber sie zögerte einen Moment, ehe sie in die Diele ging. War es richtig, überlegte sie, Kelsey nach den Erlebnissen des Abends zu fragen? Sie wußte es nicht. Wenn sie Kelseys Teenagerjahre miterlebt hätte, die Zeit der nächtlichen Gespräche und Diskussionen, der Probleme, Tragödien der Pubertät, dann wüßte sie, was zu tun wäre. Aber sie hatte keine Erfahrung damit und konnte sich nur auf ihren Instinkt verlassen. Sie hörte Kelsey die Treppe hinaufstürmen und öffnete ihre Zimmertür. Sie würde möglichst unpersönlich sein, nicht fragen und sich nur auf ein flüchtiges »Na, wie war der Abend?« beschränken. Doch als sie das Gesicht ihrer Tochter sah, änderte sie ihre Absicht. »Was ist passiert?« Ohne nachzudenken faßte sie Kelseys Arm. »Ist alles in Ordnung?« Kelsey, deren Temperament bei dieser Frage wieder mit ihr durchging, ging augenblicklich zum Angrif
8 Er wußte, daß er sich wie ein Narr benahm. Dennoch schaute Philip ständig auf die Uhr, während er seinen Weißwein trank. Kelsey war nicht zu spät dran, er war zu früh. Es war verrückt zu glauben, sie könne sich in den zwei Wochen, die sie nun schon fort war, irgendwie verändert haben. Ihn jetzt mit anderen Augen betrachten. Oder ihn für einen Schwächling halten – ein Vorwurf, den er sich selbst machte, seit er tatenlos zugeschaut hatte, wie man die Frau, die er einmal geliebt hatte, ins Gefängnis steckte. Aber er hatte nichts dagegen unternehmen können. Doch sooft er sich das auch einredete, es half ihm nicht. Das seit Jahren an ihm nagende Schuldgefühl konnte er nur dadurch etwas mildern, daß er seiner Tochter besonders viel Liebe gab. Sogar heute noch, nach zwei Jahrzehnten, sah er Naomis Gesicht klar und deutlich vor sich; so, wie sie ausgesehen hatte, als er sie zum letztenmal besuchte. Von Washington nach Alderson in West-Virginia zu gelangen hieß, eine sechsstündige Autofahrt i
9 Der Pferdepfleger hieß Mick. In Virginia geboren und aufgewachsen, prahlte er gern damit, mehr über Pferde vergessen zu haben als die meisten je lernten. Und damit lag er gar nicht so falsch. In seinen fünfzig Berufsjahren hatte er sich von der Pike auf hochgearbeitet, war zuerst Stallbursche gewesen, und dann Jockey. Gern erzählte er, daß er während Mr. Cunninghams Glanzzeit für ihn im Sattel gesessen hatte. Bis zum Alter von zwanzig Jahren war er klein und leicht genug gewesen, um als Jockey zu arbeiten, obwohl er nie beim eigentlichen Rennen reiten durfte. Aber er hatte die Stallfarben getragen, und das ließ er immer wieder durchblicken. Für kurze Zeit hatte er auf einer kleinen Farm in Florida einen Trainerposten übernommen und sogar ein Jahr lang selbst einen Wallach gehabt – oder zumindest fünfzehn Prozent davon. Zwar hatte sich das Tier als Niete erwiesen, schnell im Training und langsam im Rennen, aber Mick hatte sich zu den Pferdebesitzern zählen dürfen. Er war auf die Cunni
10 Selbst der Tod konnte die tägliche Routine auf einem Gestüt nicht erschüttern, egal, ob es der Tod eines Pferdes oder eines Menschen war. Morgendämmerung hieß Beginn des Trainings, die Pferde mußten versorgt, die Ställe gesäubert werden. Obwohl man sich auf den Koppeln und in den Ställen über den grausamen Tod des alten Mick unterhielt, blieb der Tagesrhythmus wie immer. Man mußte sich um ein Fohlen mit einem bösen Ekzem kümmern, ein Jährling duldete immer noch keinen Reiter im Sattel, und eine hoffnungsvolle Jungstute sollte erstmals bei einem Rennen starten. So trauerte man um Mick und tauschte seine Vermutungen aus, während Futterkrippen aufgefüllt und Pferde warm gemacht wurden. »Möchten Sie Pride nicht lieber selbst die Stallbandagen umlegen? Die Beine hab’ ich ihm schon abgespritzt.« Boggs’ Gesicht war ausdruckslos, und unter seinen Augen lagen tiefe Ringe, doch er ging wie jeden Tag seinen Pflichten nach. Er hielt Kelsey die Zügel hin. »Es scheint ihm lieber zu sein, wenn Sie
11 »Und du willst ganz bestimmt keine Augenbinde?« Kelsey legte einen Arm um Channing, »oder eine letzte Zigarette?« Channing nahm seine rotgerahmte Sonnenbrille ab. »Manchmal nervst du ziemlich, Kel.« »Also wirklich, ich komme mir vor, als ob ich dich ohne seelischen Beistand zu deiner Hinrichtung schicke.« »Mit Mom werde ich vertig«, er nahm seinen Helm vom Rücksitz der Harley, »und der Prof. ist kein Problem.« »Und Großmutter?« Channing schnitt eine Grimasse und stülpte den Helm auf. »An mir prallen sämtliche Giftpfeile seit Jahren ab. Und solange mein brillanter Verstand mich unter den zehn besten meiner Jahrgangsstufe hält, habe ich nichts zu befürchten.« »Der Schutzschild der Höchstpunktzahl, verstehe.« Darauf hatte sie sich selbst auch immer verlassen. »Was ist mit den Sommerferien?« »Mom wird sich daran gewöhnen müssen, daß ich nicht immer nur über Büchern hocken kann.« »Mein Bruder, der Dickkopf.« Grinsend tippte sie mit den Fingern gegen seinen Helm. »Naomi hat mir für den So
12 Jack Moser führte ein ordentliches Haus. Gut, einige seiner Gäste mieteten schon mal ein Zimmer nur für eine Stunde, doch das interessierte ihn nicht. Hinter verschlossenen Türen spielte sich immer das gleiche ab, sei es in seinem Hotel oder im Ritz. Im Ritz war der Spaß bloß teurer. Bei ihm gab es keine Wanzen, er duldete nach Mitternacht keinen Lärm mehr, und er hatte für seine Gäste Kabelfernsehen legen lassen. Da waren neunundzwanzig Dollar pro Person und Nacht nicht zu teuer. Kinder unter achtzehn Jahren waren frei. Moser bot seinen Gästen einige Annehmlichkeiten. In den Bädern gab es riesige Badetücher und stets frische Seife. Außerdem lieferte ein nahe gelegenes Schnellrestaurant auch nach sechs Uhr abends und vor zehn Uhr morgens Mahlzeiten ins Haus. Und wenn er bei Barzahlung die Einnahme nicht immer der Steuer meldete, dann war das seine Sache. Die Bettwäsche war immer frisch, das Bad desinfiziert, und jede Tür hatte ein sicheres Schloß. Moser hatte den Sommer am liebsten,
13 Die Tage flogen schnell dahin. Kelsey hatte ein eigenes Pferd, eine vielversprechende Romanze mit einem faszinierenden, wenn auch unberechenbaren Mann und eine Mutter, die ihr nahestand und die sie allmählich zu lieben begann. Das hatte sie nicht erwartet. Naomi zu respektieren vielleicht, denn mit einer Frau wie Naomi so eng zusammenzuleben, ließ die widersprüchlichsten Gefühle entstehen. Ihr blieb jedoch nicht viel Zeit, um lange darüber nachzugrübeln. Die Eröffnung des entscheidenden großen Derbys rückte näher, und sowohl auf Three Willows als auch auf Longshot ging es zu wie in einem Taubenschlag. Obwohl sie es nie zugegeben hätte, sah Kelsey im Geiste schon Honor als Sieger aus vielen Derbys hervorgehen. Heute würden sie beide einen wichtigen Schritt in diese Richtung tun. Draußen auf dem Übungsplatz von Three Willows hatte man eine originalgetreue Startbox aufgebaut. Obwohl sich der eisige Griff des Winters langsam lockerte, war die Luft noch kühl. Kelsey zupfte nervös an ihre
14 Die Fahrt von Virginia nach Maryland dauerte länger, als Kelsey sie im Gedächtnis hatte. So blieb ihr viel Zeit zum Nachdenken. Sie zweifelte nicht daran, da sie auf Widerstand stoßen würde, auf heftigen Widerstand. Es sei denn, die Dinge hätten sich in den letzten Wochen drastisch geändert. Candace hatte Milicent garantiert mitgeteilt, daß Kelsey zu ihnen unterwegs war. Es war auch besser, der ganzen Familienversammlung gegenüberzutreten. Dann wären alle schockiert, enttäuscht und würden in Rage geraten. Eine treffende Beschreibung, dachte sie mit einem gequälten Lächeln: Candace würde schockiert sein, ihr Vater enttäuscht und ihre Großmutter in Rage. Und sie selbst wäre hoffentlich glücklich und erleichtert. Als sie die Auffahrt entlangfuhr, sah sie ihren Vater, der an einem Blumenbeet arbeitete. Er trug einen alten Pullover mit Flicken an den Ellbogen und erdige Stiefel und pflanzte die bereits knospenden Azaleen. Plötzlich von Liebe zu ihrem Vater überwältigt, sprang Kelsey aus
15 Als Naomi von Kelseys Entscheidung, das Team nach Kentucky zu begleiten, erfuhr, stellte sie keine Fragen. Sie hatte sich zwar so sehr gewünscht, ihre Tochter möge mitkommen, doch wollte sie das nicht als selbstverständlich nehmen. Für Naomi war nichts mehr im Leben selbstverständlich. Die einzige Unstimmigkeit kam auf, als Kelsey darauf bestand, ihre Auslagen selbst zu bezahlen. Das nagte an Naomi, während sie packte und ihre Vorbereitungen traf, während des Fluges und beim Einchecken im Hotel. Und als sie Kelsey zu sich ins Zimmer bat, machte sie ihrem angestauten Ärger Luft. »Das ist doch absurd!« Erregt lief sie im Zimmer auf und ab und ignorierte die leichte Mahlzeit und den Wein, den sie bestellt hatte, um die Auseinandersetzung erfreulicher zu gestalten. »Du bist als eine Mitarbeiterin von Three Willows hier und hilfst Boggs mit Pride. Betrachte es als Spesen.« »Ich bin hier«, berichtigte Kelsey, »weil ich mir um nichts in der Welt die Bluegrass Stakes oder das Derby entgehen
16 Das tragische Ereignis hatte Gabe die Freude über den Sieg vergällt. Der goldene Pokal und der riesige Strauß blutroter Rosen bedeuteten ihm nichts mehr. Alle Kameras waren auf den Derbysieger, den Champion mit den rotweißen Stallfarben, gerichtet. Der Jockey beugte sich über Doubles schweißglänzenden Hals, um seinen Blumenstrauß entgegenzunehmen, doch sein Gesichtsausdruck wirkte eher grimmig als triumphierend, als er den siegreichen Hengst streichelte. »Mr. Slater«, war alles, was er hervorbrachte, als Gabe ihm die Hand schüttelte. »Ach, Mr. Slater.« Gabe nickte nur. »Du bist ausgezeichnet geritten, Joey. Ein neuer Derbyrekord.« Joeys Augen, die noch von einem Schmutzkranz umgeben waren, wo die Schutzbrille gesessen hatte, zeigten bei dieser Nachricht keine Freude. »Was ist mit Reno und Pride?« »Ich weiß noch nichts Genaueres. Genieß den Augenblick, Joey. Du und Double, ihr habt es euch verdient.« Ungeachtet des Schweißes und Schmutzes schlang Gabe dem Hengst die Arme um den Hals.
17 »Es war niemals die Rede davon, das Pferd zu töten«, sagte Cunningham zu Rich und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Noch nie hatte er soviel geschwitzt wie in den letzten Tagen, als er vor den Kameras stehen mußte, ein dümmliches Grinsen auf dem Gesicht. Bei den anschließenden Partys, wo man ihm auf die Schulter klopfte und einen Drink nach dem anderen spendierte. Und dann nachts im Bett, wo er schlaflos an die dunkle Decke starrte und im Geist die letzten Sekunden des Derbys wieder und wieder durchlebte. So verzweifelt er sich den Sieg auch gewünscht hatte, am Ende war er mehr als dankbar für den zweiten Platz. Aber der Preis, den er dafür zahlen mußte, war höher, als er erwartet hatte. »Keinen Ton hast du gesagt«, beharrte er, während ihm der Schweiß nun aus allen Poren brach und ihm unangenehm den Rücken herunterrann. »Disqualifizieren wolltest du ihn, damit Sheba eine Chance hat, sich zu plazieren.« »Die Einzelheiten hast du mir überlassen«, erinnerte ihn Rich. Er trank gera
18 »Ich bin immer mehr davon überzeugt, daß ich dich nur in einem Hotel ins Bett bekomme.« »Hmm.« Kelsey drehte den Strauß gelber Wicken, den Gabe für sie vom Tafelschmuck der letzten Preakness-Party mitgenommen hatte, in den Händen. »Die letzten Tage waren ziemlich turbulent. Außerdem warst du ja damit beschäftigt, Interviews zu geben.« »Und morgen werde ich noch mehr davon geben.« »Ich liebe Männer mit ausgeprägtem Selbstbewußtsein.« Gemeinsam gingen sie durch die Hotelhalle zum Fahrstuhl. »Und Double ist in Box dreizehn untergebracht. Bist du abergläubisch, Slater?« »Und ob.« Er betrat den Fahrstuhl und zog sie mit sich. Noch ehe die Türen sich schlossen, lag sein Mund schon auf dem ihren. »Der Knopf«, keuchte sie, während sie, ohne auf die Blumen zu achten, beide Hände unter sein Hemd gleiten ließ. »Du hast vergessen, den Knopf zu drücken.« Fluchend tastete er nach der Knopfleiste und schaffte es sogar, die richtige Etage zu drücken. »Ich hatte die Hoffnung, dich irgendwann einmal
19 Kelsey spielte mit dem Gedanken, Gabe einzuweihen. Es konnte doch noch kein Zeichen von Abhängigkeit sein, wenn man einem Mann, zu dem man eine so intime Beziehung hatte, von seinen Absichten erzählte. Es war auch bestimmt kein Zeichen von Schwäche, wenn man ihn bat, mitzukommen und moralische Unterstützung bei der Vergangenheitsbewältigung zu leisten. Aber dann hatte sie ihm doch nichts gesagt, denn sie wäre sich abhängig und schwach vorgekommen. Und schließlich war es ja ihr Problem. Er hatte sowieso keine ruhige Minute mehr, denn es gab nicht jedes Jahr einen ernsthaften Bewerber um die Triple Crown, der bereits zwei Zacken erworben hatte. Ihm schwirrte der Kopf, die Presse bedrängte ihn, und seine Tage waren damit ausgefüllt, das Training zu überwachen. In drei Wochen fanden die Belmont Stakes statt. Auf keinen Fall wollte sie ihn von seinem Weg zum Ziel ablenken, ein Ziel, von dem sie wußte, daß es ihm viel mehr bedeutete als Geld und Ruhm. Für Gabe würde der Sieg beim Triple C
20 »Ist schon lange her, Roscoe.« Tipton schüttelte Rossi die Hand. »Wie kommt’s, daß du noch nicht auf meinem alten Stuhl sitzt?« »Ich arbeite dran, Captain.« »Komm, setz dich, und wir trinken einen Schluck.« Tipton machte es sich in einem Schaukelstuhl bequem und bediente sich aus einer kleinen Kühlbox, in der ein Sechserpack Budweiser stand. »Wie geht’s deiner Frau?« Rossi nahm die Dose, die Tipton ihm reichte, und riß sie auf. »Welcher?« »Ach ja, ich vergaß. Du bist ja ein doppelter Verlierer.« Kichernd stieß Tipton mit seiner Dose die von Rossi an und trank einen Schluck. »Scheidung ist schon fast eine Berufskrankheit, stimmt’s? Na ja, ich hatte Glück.« »Wie geht’s Mrs. Tipton?« »Frisch und munter wie eh und je.« In Tiptons rauher Stimme schwang eine tiefe Zuneigung mit. »Zwei Wochen nachdem ich in Pension gegangen bin, hat sie einen Job angenommen.« Belustigt schüttelte er den Kopf. »Behauptet, sie bräuchte Beschäftigung, jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind. Dabei wissen wir b
21 Moses sah zu, wie die Stuten im sanften Morgenlicht ihre Fohlen zum Wasser führten. Er kannte die Rangordnung so gut wie die Tiere. Zuerst kam wie immer die hochmütig mit dem Schweif schlagende Big Bess, dann Carmen, die eigenwillige Fuchsstute, gefolgt von Trueheart, bis hin zu der scheuen, zurückhaltenden Sunny, die das Schlußlicht bildete. Die Fohlen tollten sorglos und ausgelassen um ihre Mütter. Sie konnten nicht ahnen, dachte Moses wehmütig, daß sie in einigen Wochen entwöhnt und von der Mutterstute getrennt würden. Einige würden zu Galoppern ausgebildet, andere auf Jährlingsauktionen versteigert werden. Vielleicht zeigte auch eines der Fohlen ganz andere Anlagen und konnte zum Springreiten oder zur Dressur verwendet werden. Von Dressur hielt Moses wenig, es erschien ihm so oberflächlich wie Schönheitswettbewerbe. Einige der Hengstfohlen würden kastriert werden, andere durften ihre Anlagen weitergeben. Und vielleicht hatte eines der Fohlen das Zeug zu einem echten Champion. Es
22 Dieses Pferd durfte keinesfalls gewinnen. Rich bediente sich großzügig mit Cunninghams Scotch. Ein Mann sollte in jeder Hinsicht flexibel bleiben, ob es sich nun um Schnaps, Frauen oder Spiel handelte. Das hatte sein Junge nie begriffen, dachte er, als er einen doppelten Whisky hinunterkippte und sofort nachschenkte. Nichts, aber auch gar nichts hatte diese kleine Ratte von ihm gelernt. Nun, diesmal würde er ihm eine Lektion erteilen, die er nie vergessen würde. Dieses Jahr würde es für Gabe keine Triple Crown geben, o nein. Dafür wollte er schon sorgen. Zwar war er ursprünglich nur gekommen, um einen Job zu erledigen, aber wenn er nebenbei auch noch seine Rachegelüste befriedigen konnte, um so besser. Rich machte es sich in Cunninghams Sessel bequem und legte seine auf Hochglanz polierten neuen Slipper von Gucci auf die Fußbank. Langsam erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. Das war der Lebensstil, der ihm zustand. Schon sah er sich als Gutsherr, Besitzer eines feudalen Landsitze
23 Niemand ließ zu, daß sie bei der Arbeit half. Während der ersten zwei Tage in New York wurde Kelsey mit allen Tricks von der Rennbahn ferngehalten, und jeder, angefangen von Gabe bis zum kleinsten Stallburschen, bemühte sich, ihr jeden Handgriff abzunehmen. Anscheinend hatte sie mit der Durchsetzung der Reise ihren einzigen Sieg errungen. Also hatte sie viel Zeit zur Verfügung, die sie meistens allein verbringen mußte. So blieben ihr zwei Möglichkeiten, entweder sie drehte langsam durch oder sie nutzte diese ihr aufgezwungene Untätigkeit als kurzen Urlaub. Sie entschied sich für den Urlaub. So ging sie jeden Morgen in den Pool des Hotels und schwamm einige Runden, damit die Muskeln, die sie in den letzten paar Monaten entwickelt hatte, nicht wieder erschlafften. Sie unternahm ausgedehnte Einkaufsbummel, trainierte im Fitneßclub und kämpfte ständig gegen die Langeweile an. Die Party, die Gabe am Vorabend des Belmont im Ballsaal des Hotels geben wollte, war da die richtige Beschäftigu
24 Reno trug einen schiefergrauen Anzug, dazu einen rötlichbraunen Schlips, und seine Stiefel aus weichem italienischem Leder waren auf Hochglanz poliert. Die gertenschlanke Frau an seiner Seite überragte ihn um Haupteslänge und drehte ihr kunstvoll geschminktes Gesicht so oft wie möglich den Kameras zu. Reno wußte um das abgedroschene Klischee vom kleinnen Mann, der seine Männlichkeit unter Beweis stellen muß, indem er großgewachsene, auffallende Frauen wählt. Heute gab er keinen Pfifferling darauf. Gerade jetzt mußte er sich dringend beweisen, daß er ein Mann war. Ein vollwertiger Mann. Die Schlinge um seinen Arm paßte farblich genau zu seiner Seidenkrawatte. Es war die einzige Seide, die er heute tragen würde. Lächelnd stellte er sich in Positur, genauso gierig auf die Aufmerksamkeit der Reporter wie seine Begleiterin. Bereitwillig beantwortete er alle Fragen über seinen Gesundheitszustand, die nächste Saison, seine Aussichten auf ein Comeback, doch hinter der selbstsicheren Fassade
25 »Ich sag’ dir, Gabe, es hat mir fast das Herz gebrochen.« Kelsey saß auf seinem langen, bequemen Sofa, ein Glas Wein in der Hand, und zog die Beine an. Es war ein warmer Abend, Türen und Fenster standen weit offen, und ließen die leichte Brise, die einen süßlichen Blumenduft mit sich brachte, herein. Doch Kelsey hatte noch immer die abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit vor Augen, die Renos Gesicht gezeigt hatte, als er Honor ansah. »Er muß wieder in den Sattel.« Gabe, der sich auch auf dem Sofa ausgestreckt und die Füße in Kelseys Schoß gelegt hatte, blies genüßlich Rauchwolken an die Decke und erwiderte nichts. Zwar hatte er für Renos mißliche Lage durchaus Verständnis, aber er war jetzt einfach zu erschöpft, um sich darüber Gedanken zu machen. Wie hätte er ahnen sollen, daß sich seine Berühmtheit, die sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet hatte, die Besprechungen, Telefonate und Einladungen anstrengender waren als harte körperliche Arbeit? Im Moment hätte er eine Mistgabel und einen schw
26 Es bestand kein Zweifel, irgend etwas stimmte nicht. Nach Einbruch der Dunkelheit war sie zu ihm gekommen und hatte nur gesagt, sie wolle bei ihm sein. Gabe wünschte, er könnte glauben, daß es so einfach war, daß es der Wahrheit entsprach. Doch in ihren Augen lag ein abwesender Ausdruck, ihr Lächeln wirkte künstlich, und ihr Verlangen, das ihn stets von neuem entzückte, war zu heftig. Unter ihrer hingebungsvollen Leidenschaft lauerte Verzweiflung. Als ob sie sich von irgend etwas befreien wollte, dachte Gabe, als Kelsey still neben ihm lag. Sein Körper hatte auf sie reagiert wie sonst, doch nun, als sich Schweigen zwischen ihnen ausbreitete, schien ihm, daß sie beide nicht befriedigt waren. »Bist du jetzt bereit?« fragte er. Kelsey drehte den Kopf, um auf dem warmen Laken nach einer kühleren Stelle zu suchen. »Bereit?« »Mir zu erzählen, was dich belastet.« »Was sollte mich denn belasten?« Ihre Stimme klang tonlos und erschöpft. »Vor ein paar Tagen hat sich ein Mann, den ich kannte u
27 »Eine reizende Familie hast du da, Liebling.« Als Gabe den Wagen in der Einfahrt von Three Willows geparkt hatte, stieg Kelsey aus und schloß betont behutsam die Tür. »Okay, Gabe, das ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um anzüglich zu werden.« »So war das auch nicht gemeint. Ich habe dich die eine Hälfte der Fahrt Gift und Galle spucken und die andere Hälfte vor dich hinbrüten lassen. Ich finde, jetzt reicht’s.« Sie war aber noch lange nicht fertig. »Es ging ja nicht nur um mich. Im Grunde genommen ging es überhaupt nicht um mich, sondern um dich.« »O Mann.« Mit einer ganz selbstverständlichen Bewegung legte er ihr den Arm um die Schulter. »Man hat mich schon mit viel mehr Dreck beworfen. Sie hat noch nicht einmal die Tänzerin in Reno oder diese Geschichte in El Paso zur Sprache gebracht.« »Darum geht es ja gar nicht.« Auf der ersten Treppenstufe blieb Kelsey plötzlich wie angewurzelt stehen. »Was für eine Tänzerin?« »Da horchst du auf, was?« Er drückte sie versöhnlich an sich. »Jed
28 »Fährst du bitte rechts ran?« Eine halbe Meile von Longshot entfernt lenkte Gabe den Wagen an den Straßenrand. »Ist dir wieder schlecht?« »Nein.« Jedenfalls nicht so, wie er meinte. »Ich möchte mich nur eine Minute etwas bewegen, können wir ein Stück gehen?« Ohne seine Antwort abzuwarten, sprang sie aus dem Wagen. Eine wundervolle Nacht, dachte sie. Die klassische Sommernacht auf dem Lande, der Himmel eine sternenübersäte Kuppel. Nicht eine einzige Wolke störte das Bild. Der Duft des Geißblatts, das die Felder zu überwuchern drohte, hing in der Luft. Im hohen Gras zirpten die Grillen, und der Boden gab beim Gehen unter Kelseys Füßen leicht nach. »Es ist zuviel«, murmelte sie. »Zu viel auf einmal. Wie soll ich es ihr nur sagen, Gabe?« Sie wandte sich mit ausgestreckten Armen rat- und haltsuchend nach ihm um. »Wie kann ich meiner Mutter beibringen, daß alles manipuliert war? Daß alles, was geschehen ist, Teil eines Planes war, der ausgearbeitet wurde, um sie von mir fernzuhalten?« »Al
29 Kelsey blieb vor Schock und Schmerzen die Luft weg, als sie sich an einem Glassplitter die Hand verletzte. Blut quoll aus der Wunde. »Vorsichtig, mein Täubchen.« Rich schlenderte gemächlich auf sie zu. »Schneid dir nicht das Fingerchen ab.« Er pustete auf ihre Wunde, dann bot er ihr galant sein Taschentuch an. »Wollt’ dich nicht so erschrecken, aber ’s ist an der Zeit, daß wir uns mal unterhalten. Schließlich wärmst du ja meinem Jungen schon seit einiger Zeit das Bett.« »Sie sind Gabes Vater!« Kelsey raffte sich hoch, aber sie war nicht schnell genug. Richs Hand schloß sich um ihren Arm. »Die Fämilienähnlichkeit ist nicht zu übersehen, was? Die Damen behaupten immer, mein Junge und ich geben ein hübsches Bild ab.« Seine Augen glänzten vom Alkohol, er schaute sie an und sagte: »Aus der Nähe betrachtet bist du ja noch hübscher, Püppchen. Kein Wunder, daß mein Junge um dich herumscharwenzelt. Nein, ehrlich nicht.« Er legte ihr das Taschentuch auf die blutende Hand. »Bind dir das drum.«
30 Tau glitzerte auf dem Gras wie Tausende von kleinen Diamanten. Von ihrem Stuhl auf der Veranda sah Kelsey ihn funkeln. Bald würde die Sonne genug Kraft haben, um ihn verschwinden zu lassen. Unten beim Stall wurde mit den Pferden gearbeitet, Ställe ausgemistet und Tröge gefüllt. Ihr Körper schmerzte noch immer stark genug, daß sie froh war über die einwöchige Ruhepause, die ihr der Arzt verordnet hatte. Als sich die Tür hinter ihr öffnete, drehte sie sich um und lächelte ihre Mutter fragend an: »Gertie?« »Es geht ihr besser. Sie will unbedingt schon aufstehen.« Seufzend nahm Naomi Platz und streckte die Beine aus. Der Gedanke, sich aus der Kaffeekanne, die Kelsey auf den Tisch gestellt hatte, zu bedienen, war verlockend, doch sie konnte sich nicht dazu aufraffen. »Ich habe ihr gesagt, sie soll noch ein, zwei Tage im Bett bleiben. Wenn sie aufsteht, mache ich mir Sorgen.« »Sehr gut.« »Hauptsache, es hilft. Im Moment kauft sie die Versandhäuser leer. Wie geht es dir?« »Solange ich nich
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