Raffael in Rom
Im Monat April des Jahres 1508 war Raffael noch immer in Florenz, aber spätestens seit September desselben Jahres hielt er sich in Rom auf und erhielt sogleich einen Auftrag des Papstes. Das für ihn von Julius II. bestimmte Werk war besonders glanzvoll, da Raffael, während Donato Bramante mit der Neuerrichtung des Petersdoms und Michelangelo mit dem päpstlichen Mausoleum und der Deckenausgestaltung der Sixtinischen Kapelle beauftragt waren, die Gestaltung des apostolischen Palastes zugedacht war.
Als zweimalige Hauptstadt der Welt und Wiege zweier Zivilisationen, die nacheinander über die Menschheit herrschten, war Rom die schönste aller Städte. Die Antike und das Mittelalter glänzten dort gleichermaßen, während die Renaissance dabei war, eine neue Welt neben der alten zu errichten. Als Raffael in die Ewige Stadt zog, war Rom nicht nur die Hauptstadt der Wissenschaften, sondern auch der Lenker Europas. Militärische Größe kam seit alters her dem spirituellen Zentrum der Welt hinzu. Italien zitterte vor Julius II. und auch Spanien, England, Frankreich und Deutschland suchten entweder seine Freundschaft oder spürten die Wucht seines Missfallens. Er, der nach dem jungen Maler aus Urbino geschickt und diesem so viel ermöglicht hatte, war der tatkräftigste aller Herrscher, der brennendste Gegner und der mutigste Anführer – ein Soldat in der Verkleidung eines Papstes.
Er hatte nur wenig für Literatur übrig. „Wozu mich mit einem Buch in der Hand darstellen?“, sagte er zu Michelangelo. „Ich bin kein Gelehrter, gebt mir ein Schwert.“ Seiner geringen Begeisterung für Literatur stand ein verschwenderisches Mäzenatentum für Künstler gegenüber. Er liebte die Kunst beinahe zu leidenschaftlich und die größten Ideen waren ihm gerade gut genug. Als Michelangelo darauf hinwies, dass der Bau des Mausoleums 1 000 000 Dukaten kosten würde, erwiderte er achselzuckend: „Ihr dürft das doppelte ausgeben.“ Er ahnte die Fähigkeit Raffaels voraus und entließ gleichzeitig alle im Vatikan angestellten Maler – Signorelli, Perugino, Pinturricchio und andere, die er ein paar Monate zuvor versammelt hatte, um nun das Feld zu räumen und dem Neuankömmling zu überlassen; doch während er Architekten, Maler und Bildhauer mit Wohltaten und Aufträgen überhäufte, förderte er Goldschmiede, Sticker und Schmuckmacher nur in geringem Maße.
Donato Bramante, Michelangelo und spätere Architekten, Petersdom, 1505 - spätes 17. Jahrhundert. Vatikanstadt.
Es ist leicht verständlich, dass diese zweitrangigen Künste, an denen seine Vorgänger einen so großen Gefallen gefunden hatten, versagten, die Aufmerksamkeit eines Papstes zu erlangen, der mit der Neuerrichtung des Petersdoms beschäftigt war. Dieses gigantische Unterfangen beeindruckte selbst Julius, aber er sah, dass er, würde er es vollenden, alle Päpste der Renaissance in den Schatten stellen würde. Obwohl er den schönen Hof des Belvedere schuf, die Via Giulia eröffnete, die Kirche Santi Apostoli und die Kirche San Pietro in Vincoli ausbaute und vergrößerte und so viele weitere Gebäude, die mit seinem Namen verbunden sind, bauen ließ, obwohl er Michelangelo beauftragte, die Sixtinische Kapelle zu malen und seinen Moses zu meißeln, und Raffael, um die Camera della Segnatura auszugestalten, wird er nur aufgrund des Neubaus des Petersdoms in einem Atemzug mit einigen der größten Kunstförderer der Renaissance genannt. Man weiß, dass die Ideen Julius II. im Zuge der Neuerrichtung des Petersdoms mehreren Veränderungen unterliefen. Aus Angst, das gewaltige, im Namen Nikolaus V. gelegte Fundament dafür zu benutzen, zog er zunächst in Betracht, sein Mausoleum darauf zu errichten und verlangte von Bramante und Giuliano da Sangallo die Frage zu untersuchen. Nach und nach nahm das Projekt größere Ausmaße an bis man schließlich ein endgültiges, von den Plänen Nikolaus‘ abweichendes Konzept erarbeitet hatte, das aber nicht weniger gigantisch war – der Neubau der gesamten Basilika im Stil der Renaissance.
Am 6. Januar 1506 schrieb Julius II. an den König von England, um ihm von seiner Entscheidung zu berichten und seine Unterstützung zu erbitten; am 8. April wurde die Grundsteinlegung mit gebührendem Prunk gefeiert. Ganz Europa war berührt von der Ankündigung, und während einige die Zerstörung so vieler Relikte der Vergangenheit beklagten, befürworteten die meisten den Schritt. Summen wurden gespendet; ein einzelner Franziskanermönch brachte 27 000 Dukaten.
Dennoch entfremdete das Vorhaben, das die Bande zwischen der Kirche in Rom und der Christenheit auf der ganzen Welt stärken und den höchsten Triumph des Papsttums aufzeigen sollte, Millionen Gläubige von der Kirche. Die zur Finanzierung der großen Basilika angewandte Praxis wurde zur direkten und unmittelbaren Ursache der Reformation.
Innerhalb des Kardinalskollegiums, das zu dieser Zeit dreißig Mitglieder zählte – die Gesamtzahl wurde unter Leo X. auf achtundvierzig erhöht – fanden sich einige Kardinäle, die für ihren Luxus und ihre Liebe zur Kunst berühmt waren. Der Dekan des Kollegiums, Raffaele (Sansoni) Riario, der seit der Amtszeit Sixtus‘ IV. das Purpurgewand trug, stellte eine wahrhaft königliche Pracht zur Schau, aber vor allem als Förderer Peruginos, Baldassare Peruzzis und Bramantes, und als Auftraggeber Raffaels für die Madonna di Loreto (Bd. 2, S. 113) wurde er gefeiert; mit dem Bau des großen Palazzo della Cancelleria machte er sich unsterblich.
Der venezianische Kardinal Domenico Grimani gründete ein Museum und eine Bibliothek mit über 8 000 Bänden in der Kirche San Marco, deren Bestand er letztendlich der Stadt Venedig vermachte. Er liebte alte Handschriften und flämische Gemälde; er besaß auch einen Raffael, da es ihm gelungen war, den Teppichkarton (heute verloren) einer der Sixtinischen Wandteppiche zu ergattern, Das Damaskuserlebnis, der einzige, der jemals wieder nach Italien kam.
Die Kurie leistete einen noch höheren Beitrag als das Kardinalskollegium, den päpstlichen Hof zum feinsten und geistreichsten der Welt zu machen. Dazu zählten vor allem Mitglieder wie Leonardo Bruni d’Arezzo, Poggio Bracciolini und seine Kollegen Antonio Loschi, Bartolomeo Platina und Hans Burkhard von Straßburg. Ein wenig später, zur Zeit von Raffaels Ankunft, waren außerdem Bernardo Dovizi da Bibbiena, Pietro Bembo, Tommaso Inghirami, Johannes Goritz und Baldassare Turini, die allesamt zu seinen engen Freunden werden sollten, Teil der Kurie. Die zwei erstgenannten hatte er kurz zuvor in Urbino kennengelernt. Ludovico da Canossa, ein weiteres Mitglied der Gruppe aus Urbino, war seit der Herrschaft Guidobaldos in Rom, und Julius II. ernannte ihn 1511 zum Bischof von Tricarico und in dieser Funktion nahm er auch am Laterankonzil teil. Obwohl sich Ludovico eher für seltene Bücher und Manuskripte interessierte, vernachlässigt er die bildenden Künste nicht, und so befand sich die als La Perla bekannte Heilige Familie (Bd. 2, S. 185), eines der Meisterwerke Raffaels, das heute im Madrider Prado zu sehen ist, lange Zeit im Palazzo Canossa in Verona.
Tommaso Inghirami verdankte sein Vermögen, wie Bibbiena, Lorenzo I. de‘ Medici (genannt der Prächtige). 1470 in Volterra geboren, weil er, als er gerade zwei Jahre alt war, in den Palast Lorenzos aufgenommen wurde, nachdem seine Heimatstadt geplündert worden war. Dort erfuhr er eine ausgezeichnete Bildung, bis Lorenzo ihn nach Rom schickte, wo er von Alexander VI. freundlich empfangen wurde, und im Laufe der Zeit machten ihn sein Taktgefühl und seine Belesenheit zu einer angesehenen Persönlichkeit.
Auch Sigismondo de‘ Conti aus Foligno, Privatsekretär Julius II. gebührt ein Rang unter den Vertretern der Wissenschaft in Rom, obwohl er kein Gelehrter im engeren Sinn war. Seine Verdienste waren gegen Ende des vorigen Jahrhunderts von Raffaels Vater in einem Gedicht gefeiert worden, und durch einen Zufall war es Conti, für den Raffael eines seiner großartigsten Bilder schaffen würde, die Madonna von Foligno (Bd. 2, S. 118), die zunächst für die Kirche Santa Maria in Aracoeli gedacht war.
Der „Kanzler der Heiligen Römischen Kirche”, Baldassare Turini aus Pescia in der Toskana, scheint wie die meisten seiner Kollegen nicht nach literarischem Ruhm gestrebt zu haben, dafür war er ein großer Freund der Kunst und ganz im Besonderen Raffaels.
Turini war seit 1508 mit Raffael bekannt, was aus einem Brief hervorgeht, den letzterer an Francia schrieb, er erwies dem Künstler fortwährend Dienste oder drängte ihn dazu, mit seiner Arbeit fortzufahren.
Raffael hatte soviel Vertrauen in ihn, dass er ihn sogar zu seinem Nachlassverwalter ernannte, und Turini rechtfertigte diese Wahl durch sein Bemühen, die Erinnerung an den Künstler aufrechtzuhalten. Er war es, der von den Nachfahren Raffaels die Madonna del Baldacchino (Bd. 2, S. 65) erwarb und in der Kirche seiner Heimatstadt Pescia aufhängte.
Während der Herrschaft Julius II. war Goritz von Luxemburg, der sich selbst als Römer sah, der Meister der Heiterkeit und des guten Humors, und einmal im Jahr, zum Fest der heiligen Anne, seiner Schutzheiligen, gab er ein großes Bankett, zu dem alle Gelehrten Roms geladen waren. Das Coryciana, ein 1524 veröffentlichtes Pamphlet, erinnert an diese hohen Feierlichkeiten und trug in gleichem Maße zu seiner Berühmtheit bei wie die schöne Marmorgruppe, mit der Andrea Sansovino die Kirche Sant’Agostino dekorierte oder das Fresko des Propheten Jesaja, das Raffael für ihn auf eine Säule derselben Kirche malte.
Bembo war einer der gebildetsten Schriftsteller der Renaissance, der sich gleichermaßen auf Italienisch und Latein ausdrücken konnte. Er war außerdem ein Kunstkenner von ausgezeichnetem Geschmack und sein Interesse an der Kunst war so echt wie kultiviert. Er mochte die Antike genauso wie die Werke der Renaissance, und seine Bewunderung für die griechische und römische Skulptur hinderte ihn nicht daran, an das Genie Raffaels zu glauben. Seine Briefe belegen, wie nahe sich die beiden standen.
Nach Raffaels Tod war er es, der in seiner Grabinschrift die Trauer ganz Italiens ausdrückte, die die berühmte Zeile „ILLE HIC EST RAPHAEL“ enthält.
Auch Ludovico Ariosto, der glänzendste der italienischen Dichter, kam während der Amtszeit Julius II. nach Rom und machte die Bekanntschaft Raffaels. Sein Herrscher, Herzog Alfonso von Ferrara, entsandte ihn zweimal als Botschafter zum Papst (das erste Mal im Dezember 1509), wo er allerdings unfreundlich empfangen wurde. Einmal erzürnte sich der Papst gegenüber dem Herzog und seinem Gesandten dermaßen, dass er drohte, letzteren ins Wasser zu werfen. Während er in die diplomatischen Verhandlungen eingebunden war, suchte Ariosto die Nähe von Künstlern und seiner literarischen Brüder.
Ein Brief verrät, dass Raffael, während er den Disput über das Sakrament malte, Ariostos Rat suchte, welche Personen in die Komposition eingefügt werden sollten.[5] Auch die lateinische Grabinschrift, in der der Dichter den frühen Tod des Künstlers betrauert, ist ein Zeichen ihrer Freundschaft. Ariosto kehrte schon bald nach Amtsantritt Leos X. nach Rom zurück und wurde vom neuen Papst gütigst empfangen; dieser half dem Knienden auf und küsste ihn auf beide Wangen. Allerdings war das das Einzige, das von ihrem Treffen blieb, und so verließ der Dichter Rom mit der Absicht, niemals zurückzukehren und ließ seinem Ärger freien Lauf, indem er einen gleichsam beißenden und geistreichen Prolog verfasste.
Zu diesen bedeutenden Persönlichkeiten, die Raffael mit ihrer Freundschaft ehrten, gesellte sich auch der niederträchtigste Autor dieser Zeit, dessen Name zu einem Synonym für Erpressung sowie für moralische und intellektuelle Verdorbenheit geworden ist – Pietro Aretino. Geboren 1492 in Arezzo, kam er als junger Mann nach Rom, um dort sein Glück zu suchen. Zunächst trat er in den Dienst Agostino Chigis, wo er mit Raffael bekannt gemacht wurde, und behauptete, dass der Bankier den Maler auf seine Empfehlung hin angestellt habe, um seine Villa auszugestalten. Wegen Diebstahls von Chigi entlassen, fand er Zuflucht im Vatikan und verweilte dort, bis Julius II. ihn des Vatikans verweisen ließ. Unter Leo X., der ihm unverdientermaßen größere Güte entgegenbrachte, hatte er mehr Glück. Es war ohne Zweifel zu dieser Zeit, dass er vertrauter mit Raffael wurde, und seine Teilhabe an den berühmten, von Giulio Romano entworfenen und von Marc Antonio geschnittenen Drucken, Raffaels ausgezeichnetem Porträt von ihm und seine Korrespondenz mit Giovanni da Udine zeigen, dass es Aretino gelang, die Gunst der Freunde Raffaels zu erlangen. Bezüglich des Verhältnisses zwischen Raffael und Michelangelo erweisen sich Aretinos Zeugnisse von höchstem Wert.
Francesco Marias Mutter, die Herzogin Joanna della Rovere, genannt die ‚Prefettessa‘, scheint sich gegen Ende ihres Lebens in Rom niedergelassen zu haben, wo sie 1514 starb. Sie hatte bereits ihr Bestes getan, um Raffael 1504 zu unterstützen, auch mit Hilfe ihres Schwagers Julius II.
Die Forschungen Camporis in den Mantuaer Archiven haben belegt, dass Raffael auch die Marchesa Isabella di Mantova kannte und für sie arbeitete, so wie es sein Vater fünfzehn Jahre zuvor getan hatte. Ihrem ältesten Sohn, Federico, der von 1510 bis 1513 in Rom als Geisel gefangen war, stattete sie mehrere Besuche ab; so begann Raffael zweifelsohne auf ihren Wunsch hin mit der Arbeit an einem Porträt des Jugendlichen, dessen Schönheit und vielversprechender Charakter ihn sehr beliebt machten und fügte ihn sogar in seine Schule von Athen (Bd. 2, S. 82-83) ein.
Raffael (Entwurf), Giovanni de Udine und Giulio Romano (Ausführung), Loggia des Piano nobile, begonnen um 1518. Villa Madama, Rom.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch die Bekanntschaft Raffaels mit Herzog Alfonso von Ferrara, dem Ehemann von Lucrezia Borgia, in die Zeit Julius II. fällt, da sich der Fürst zunächst 1512 und erneut 1513 in Rom aufhielt, obwohl es keinen Beleg für jeglichen Kontakt zwischen den beiden vor 1517 gibt.
Die römische Aristokratie, noch immer der Tradition des Mittelalters treu, scheint nicht dem Beispiel des ausländischen Adels gefolgt zu sein, da nicht ein einziger Vertreter der illustren Familien, wie die der Savelli, der Orsini, der Gaetani und der Capraniche, Raffael einen Auftrag erteilte; einzig Kardinal Colonna beauftragte ihn zu einem Johannes der Täufer, wovon eine Replik im Louvre zu finden ist.
Agostino Chigi, der aufgrund seines Reichtums und seiner Größe den gleichen Beinamen wie Lorenzo de‘ Medici erhalten hatte, wurde 1465 in Siena geboren. Er kam in jungen Jahren nach Rom und gründete im Alter von zwanzig Jahren eine Partnerschaft mit dem ebenfalls aus Siena stammenden Stefano Ghinucci. Von nun an lebte er zwar in Rom, vergaß aber nie seine Heimatstadt und fügte seinem Familiennamen stets die Worte „aus Siena“ an.
Als Arbeiter in der sich im Besitz des Heiligen Stuhls befindlichen Alaun-Mine, Maishändler, Bankier und Geldverleiher[6] häufte er schnell ein beträchtliches Vermögen an, das ihn zum wohlhabendsten Mann Italiens machte. Als ihn Leo X. einmal zur Höhe seines Vermögens befragte, antwortete dieser, er habe aufgrund der vielen Transaktionen, an denen er beteiligt war, keine Vorstellung und er nur sagen könne, dass er einhundert Handelsniederlassungen in Europa und dem Orient besäße, dass seine Flotte einhundert Schiffe zähle und er 20 000 Mann Anstellung gebe. Das Einkommen dieses großen Finanziers, der Karl VIII., Cesare Borgia, der Republik Venedig und sogar dem sparsamen Julius Geld lieh, wurde auf über 70 000 Florins geschätzt.
Den Reichtum, den Chigi angesammelt hatte, verprasste er wie ein König. Seit Kardinal Pietro Riario, dem berühmten Neffen Sixtus‘ IV., war kein größerer Prunk mehr gesehen worden. Agostino Chigi strebte danach, seine Zeitgenossen in Bezug auf jegliche Zurschaustellung zu überstrahlen. Raffael fand 1510 bei Chigi eine Anstellung, allerdings malte er für ihn erst zur Zeit des Pontifikats Leos X. den Triumph der Galatea (Bd. 2, S. 125), die Vier Sibyllen (Bd. 2, S. 133), die Kuppel der Chigo-Kapelle (Bd. 2, S. 173), die Loggia der Psyche (S.184-189) und andere Werke.
Der einflussreichste Künstler, den Julius II. an die Spitze seiner gewaltigen Unternehmungen stellte, war ein Landsmann und vielleicht Verwandter Raffaels – Donato Bramante aus Urbino. Nachdem er die Lombardei mit so vielen Arbeiten bereichert hatte, kam Bramante nach Rom, wo er durch seine Kanzlei Berühmtheit erlangte und später von Alexander VI. dazu ernannt wurde, stellvertretend den Bau der Brunnen auf der Piazza Trastevere und des Petersdoms zu begleiten. Julius II. stellte ihn sowohl als Architekt als auch als Militärtechniker an, gab ihm allerdings zuerst die gewaltige Aufgabe, den Petersdom neu zu errichten. Die meisten Künstler wären geradezu überfordert gewesen, aber Bramante fand die Zeit, all die anderen Unternehmungen Julius II. auszuführen. Nachdem er den Cortile del Belvedere (Hof des Belvedere) im Vatikan beendet hatte, begann er mit dem der Loggia und arbeitete anschließend an einem Palast in der Via Giulia.
Sandro Botticelli, Die Versuchungen Christi, 1481-1482. Fresko, 345 x 555 cm. Sixtinische Kapelle, Musei Vaticani, Vatikanstadt.
Im Laufe der Zeit war er mit der Aufsicht von allen Bauarbeiten des Vatikans betraut. Bramante hatte lange Zeit in Armut gelebt, ohne den rechten Glauben zu verlieren, weshalb ihn sein Schüler Cesare Cesariano den „patiente figlio di paupertate“ nannte. Glaubt man Caesariano, sah sich Julius II. genötigt, auf Drohungen zurückzugreifen, um ihn dazu zu bringen, die Pfründe und die lukrative Anstellung eines ‚piombatore‘, oder ‚frate del piombo‘ anzunehmen – sprich ein Mitglied der Gruppe zu werden, die die päpstlichen Bullen besiegelte. Nachdem er seinen Reichtum angesammelt hatte, verlieh Bramante seiner Freizügigkeit ungehindert Ausdruck indem er sein Haus zu einem Treffpunkt für die bedeutendsten Künstler machte, die er an seinem Tisch versammelte.
Bramante war Raffael nicht nur ein treuer Freund, sondern diente ihm auch als Führer und Lehrer. Er führte ihn nicht nur in die Prinzipien der Architektur ein, sondern skizzierte für ihn auch, als dieser die Schule von Athen ausführte, den schönen Portikus, der die Szene einschließt. Laut Lomazzo gab er ihm auch einige ausgeklügelte Modelle des menschlichen Körpers und eines Pferdes; auf seinem Sterbebett empfahl er ihn schließlich dem Papst als Nachfolgearchitekten des Petersdoms.
Bramante war von einer ganzen Heerschar an Architekten, Bauvermessern und Bildhauern umgeben. Einige waren verdiente Männer, darunter Giuliano Leno, ein Kunstkenner, der mit verwalterischen Aufgaben beauftragt war. Er war mehr als nur ein gewöhnlicher Mitarbeiter Bramantes und Bauleiter im Petersdom unter Raffael. Ein weiterer Architekt, der Feldmesser des Bauprojekts, war in ganz Europa als Bildhauer und Architekt bekannt: Andrea Sansovino, dessen Lieblingsschüler Jacopo Sansovino sich ebenfalls in beiden Disziplinen betätigte.
Vasari geht detailliert auf die Dienste, die Antonio da Sangallo der Jüngere Bramante erwies, ein. Er lieferte die Zeichnungen, die die zitternde Hand des alternden Architekten nur noch in groben Zügen ausführen konnte, und beaufsichtigte die Ausführung seiner Anweisungen. Einige Jahre später kritisierte er aufs Strengste den von Raffael beim Bau der Basilika eingeschlagenen Weg, was allerdings keinen Einfluss auf ihr Freundschaft gehabt zu haben scheint, und als Raffael die ihm übertragene Aufgabe als zu schwer erachtete, stellte der Papst ihm Antonio als Kollegen zur Seite.
Giuliano da Sangallo, der wichtigste unter den Künstlern der Gruppe um Michelangelo und Begründer der illustren Dynastie der Sangallo, wurde von Papst Paul II. als Vermesser des Palastes von San Marco und der Tribüne des Petersdoms angestellt. Obwohl er nicht in der Gunst Sixtus‘ IV. stand, protegierte ihn dessen Neffe Julius II. als er noch Kardinal war; dieser begleitete seinen Förderer nach Frankreich, wo er einen Palast für Karl VIII. entwarf. Bramante hatte Giuliano als Petersdom-Architekten verdrängt, was diesen derart traf, dass er, nachdem er so lange im Dienst des Papstes gestanden hatte, kaum noch für ihn arbeitete. Der Amtsantritt Leos X. begünstigte ihn erneut, da seine Familie schon lange mit dem Haus der Medici verbündet war. Er sollte Raffael beim Bau des Petersdoms als Architekt assistieren, konnte seine Aufgabe allerdings nicht mehr antreten, da er schon bald darauf an Altersschwäche starb.
Pietro Perugino, Jesus übergibt Petrus die Schlüssel, 1481-1482. Fresko, 335 x 550 cm. Sixtinische Kapelle, Musei Vaticani, Vatikanstadt.
Raffael und Werkstatt, Madonna mit dem Kandelaber, um 1513. Öl auf Holz, 65,7 x 64 cm. The Walters Art Museum, Baltimore.
Unter den ausländischen Künstlern, die Raffael in Rom vorausgegangen waren, belegte Baldassare Peruzzi, selbst Architekt und Maler, einen der vordersten Plätze. Geboren 1481, war er noch sehr jung, als er Siena, nachdem er bei Sodoma und Pinturicchio studiert hatte, verließ, um nach Rom zu gehen, wo er um das Jahr 1503 ankam. Die Fresken in der Kirche von Sant’Onofrio al Gianicolo und die Mosaike in der unterirdischen Kapelle von Santa Croce in Gerusalemme brachten ihm bald einen guten Ruf ein. Julius II. beauftragte ihn, das dem Gebäude zugehörigen Aviarium mit Bildern der zwölf Monate und den entsprechenden Pflichten auszuschmücken, um anschließend die Stanze des Heliodor zu gestalten. Er wurde nahezu unmittelbar von Raffael abgelöst, der dessen Arbeiten innerhalb des zentralen Deckenabschnitts allerdings nicht veränderte, und sein Landsmann Agostino Chigi stellte ihn alsbald in seinen Dienst. Der Bau und die Ausschmückung des seitdem Villa Farnesina genannten Anwesens brachten Baldassare erneut mit Raffael zusammen, der seine Galatea für einen Raum malte, dessen Decke von Peruzzi ausgestaltet wurde. Auch in der Kirche Santa Maria della Pace war es Peruzzi, der die Gemälde für die Ponzetti-Kapelle anfertigte, nicht weit davon entfernt, wo Raffael seine Sibyllen gemalt hatte. Glücklicherweise hatte Peruzzi ein edles und zurückhaltendes Gemüt, sodass es zwischen den beiden nie zu einer Meinungsverschiedenheit kam. Zu Beginn der Herrschaft Julius II. gab es nur wenige gute Maler, denn Antonazzo war alt und starb bereits kurz darauf, und Pietro d’Amalio, Pietro Turini aus Siena und Michael aus Imola wurden nur mit zweitrangigen Arbeiten betraut, aber die Ausschmückung des päpstlichen Palastes in den Jahren 1507 und 1508 zog Sodoma, Perugino, Pinturicchio, Signorelli, Bramantino, Lorenzo Lotto, Lo Spagna, Jan Ruysch den Flamen, Andrea Veneto und andere an. Seit der Herrschaft Sixtus‘ IV. war eine so erlesene Zusammenkunft an Künstlern nicht mehr gesehen worden. Alle machten jedoch letztendlich den Weg für Raffael, „den Fürst der Maler“, frei. Perugino mag sich geehrt gefühlt haben, seinen Schüler in dieser illustren Gesellschaft vorzufinden, allerdings muss er zutiefst gedemütigt gewesen sein, als er für ihn das Feld räumen musste, und der Papst das junge Genie dazu anwies, die Kompositionen seines Meisters zu übermalen.
Raffael im Dienste Julius II.
Raffael hielt sich am 5. September 1508 in Rom auf, da ein auf diesen Tag datierter und an Francia adressierter Brief bezeugt, dass Raffael in Korrespondenz mit einigen Prälaten, unter anderem Kardinal Riario, stand und ein Atelier mit mehreren Schülern und Lehrlingen leitete. Der Brief lautet wie folgt:
Sehr geehrter Messire Francesco, ich habe soeben Euer Porträt erhalten, welches mir von Bazotto sicher und nahezu unversehrt überbracht wurde. Mein herzlichster Dank: es ist so gelungen und lebensnah, dass es mir scheint, ich erblicke Euch und höre Euch sprechen. Ich hoffe Ihr werdet mir nachsehen und verzeihen, dass ich so lange brauche, das meinige zu schicken, aber meine fortwährenden und wichtigen Verbindlichkeiten haben es mir bisher nicht erlaubt, es wie verabredet selbst zu malen. Ihr wäret nicht erfreut gewesen, wenn ich Euch eines von einem meiner Schüler gemalten und von mir ausgebesserten geschickt hätte; oder sollte ich nicht vielmehr sagen, dass dies die geeignete Methode gewesen wäre, da ich somit meine Unfähigkeit eingestanden hätte, dem Eurigen gleichzukommen.
Ich bitte, mir gegenüber nachsichtlich zu sein, da auch Ihr wisst, wie es ist, der eigenen Freiheit beraubt und von anderen abhängig zu sein. In der Zwischenzeit sende ich Euch über selbigen Boten, der in sechs Tagen zurückreisen wird, eine weitere Zeichnung, eine Anbetung der Hirten, die sich, wie Ihr sehen werdet, sehr von dem Bild, das ich gemalt habe, unterscheidet und über das Ihr in so gütigen Worten gesprochen habt. Immer lobt Ihr mein Werk, was mich erröten lässt, genauso wie der Gedanke, Euch diese Kleinigkeit zu schicken.
Ihr werdet es schlicht als Zeichen meiner Ergebenheit und Zuneigung ansehen, und falls Ihr mir im Gegenzug Eure Geschichte der Judith zuschickt, werde ich ihr einen Platz unter meinen wertvollsten Objekten geben. Der Datarius erwartet seine kleine Madonna mit der gleichen Ungeduld mit der Kardinal Riario seine große erwartet, wie Ihr von Bazotto erfahren werdet. Ich soll auch diese Gemälde mit der gleichen Sympathie und Zufriedenheit betrachten wie ich sie von all Euren Werken erfahre, da ich nichts schöneres, heiligeres oder besser ausgeführtes kenne. Seid in der Zwischenzeit frohen Mutes, scheitert nicht an der Euch üblichen Geduld und seid gewiss, dass ich Eure Sorgen teile, als wären sie meine eigenen. Liebt mich, wie ich Euch liebe – von ganzem Herzen.
Für immer und gänzlich in Eurem Dienst,
Euer Raffael Sanzio.[7]
Rom, 5. September 1508.
Gerechtigkeit, 1508-1511. Deckenfresko, Durchmesser: 180 cm. Stanza della Segnatura, Palazzi Pontifici, Vatikanstadt.
Poesie, 1508-1511. Deckenfresko, Durchmesser: 180 cm. Stanza della Segnatura, Palazzi Pontifici, Vatikanstadt.
Zusammen genommen lässt sich vermuten, dass Raffael von diesem Moment an für Julius II. arbeitete. Laut Vasari wurde er auf Wunsch Bramantes nach Rom bestellt, was glaubhaft erscheint, da Bramante ein Landsmann, wenn nicht sogar Verwandter Raffaels war. Außerdem mögen ihm auch die Empfehlungen des Hofes von Urbino und des Herzogs Francesco Maria I. della Rovere, des Neffen des Papstes, geholfen haben, denn so bezaubernd seine Werke auch sind, so hätte er, der bis dahin noch nichts von monumentaler Größe gemalt hatte, doch kaum so viele Rivalen übertrumpft ohne die Unterstützung des leitenden Architekten des Petersdoms und des nächsten Verwandten des Papstes.
Julius II., der von den frühen Arbeiten Raffaels ergriffen war, zeigte gegenüber den Arbeiten seiner Vorgänger keine Gnade und ordnete an, sie auszulöschen. Zur Verteidigung Raffaels soll angeführt werden, dass er für mutig für sie kämpfte und es ihm gelang, einige der Kompositionen Peruginos, Peruzzis und Sodomas zu retten. Die Zimmerdecken der Stanza di Eliodoro, der Stanza dell’Incendio di Borgo und der Stanza della Segnatura zeigen noch immer einige Figuren und Ausschmückungen dieser Künstler. Von den Fresken, die zerstört wurden, fertigte er Kopien an, womit es ihm gelang, die Porträts, mit denen Piero della Francesca die Wände dekoriert hatte, zu reproduzieren. Es wäre interessant zu wissen, wie Raffael bezahlt wurde und ob Julius II. ihm mehr als seinen Rivalen zahlte. Aller Wahrscheinlichkeit nach erhielt er für die Ausgestaltung der Stanza della Segnatura dieselbe Summe wie für die der Stanza dell’Incendio di Borgo, sprich 1 200 Dukaten. Julius II. war großzügig aber nicht verschwenderisch und oftmals knapp an Geld.
Philosophie, 1508-1511. Deckenfresko, Durchmesser: 180 cm. Stanza della Segnatura, Palazzi Pontifici, Vatikanstadt.
Porträt Kardinal Alessandro Farneses, 1509-1511. Öl auf Holz, 139 x 91 cm. Museo di Capodimonte, Neapel.
Dennoch vermittelt die eigentliche Bezahlung in Geld eine sehr unvollständige Vorstellung von der Lage der Künstler, die für den Papst arbeiteten, da viele von ihnen ihren Lebensunterhalt bezogen, der die geldliche Entlohnung um einiges erhöhte oder in einzelnen Fällen auch anstelle von ihr stand.
Zur Zeit Nikolaus V. erhielt der von ihm bevorzugte Architekt Leon Battista Alberti einen großen Erlös aus Pfründen, viele andere bekleideten zudem sehr lukrative Ämter wie Waffenträger oder Ritter des Papstes, oder auch wie Bramante die noch begehrtere Position eines ‚piombatore‘. Leo X. machte Giulio Romano zum Präfekten des Tibers, eine Position, die er jemand anderem für die jährliche Summe von neunzig Dukaten übertrug. Michelangelo wurden die Abgaben der Po-Region zugesichert, während Leonardo da Vinci das Privileg erhielt, Wasser aus dem Kanal des heiligen Christopherus in Mailand zu beziehen. Die am Hof des Papstes versammelten Künstler erhielten gelegentlich Sachgeschenke – einen Mantel, einen Wams oder Tuch für einen Rock.
Raffael erhielt zweifelsfrei Zuwendungen dieser Art, aber es ist sicher, dass er nur aufgrund seiner erstaunlichen Emsigkeit, die es ihm ermöglichte, zur gleichen Zeit die Gestaltungsarbeiten innerhalb des Vatikans fortzuführen, den Bau des Petersdoms zu überwachen und für Privatpersonen zu arbeiten, lange gebraucht hätte, um ein Vermögen anzusammeln. Bevor man die wunderbare Serie der Stanzen betrachtet, ist es notwendig die Anordnung der Kammern zu beschreiben, mit deren Ausgestaltung Raffael betraut war. Die vier als Stanzen bekannten Räume variieren sowohl bezüglich ihrer Formen als auch ihrer Abmessungen. Während die gewaltige Kammer Konstantins nur von einer Seite erleuchtet wird, haben die Kammer der Segnatura und die Kammer des Heliodor jeweils Fenster zu zwei Seiten.
In der vierten, der Kammer des Incendio di Borgo, oder Karls des Großen, sind die Fenster nicht deckungsgleich; während sich das eine mit Blick auf den Belvedere in der Mitte der Wand befindet, befindet sich das andere an einem Ende der gegenüberliegenden Wand. Es scheint, als hätte der Architekt in jeder Kammer außer der des Konstantins absichtlich jede für einen Maler denkbare Schwierigkeit mit eingebaut, sowohl was schlechtes Licht als auch Unregelmäßigkeit der Linien betrifft.
Raffaels einzige damalige Erfahrung in der Freskomalerei stammte aus der Kapelle San Severo in Perugia, wo er Jahre zuvor gearbeitet hatte. Anhand der Vatikanbilder lässt sich seine Entwicklung Schritt für Schritt verfolgen. Der Disput über das Sakrament weist noch Anzeichen von Unerfahrenheit auf.
Doch in der Schule von Athen zeigt sich bereits die Sicherheit der Handführung, die ihn zum besten Freskomaler aller Zeiten machte. Raymond Baize, ein mit seinem Werk wohl vertrauter Künstler, macht einige Beobachtungen, die es wert sind, betrachtet zu werden. Raffael begann mit dem Zeichnen der Figuren, die er in seine Komposition miteinbauen wollte, am lebenden Modell – bevorzugt mit Rötel. Diese übertrug er anschließend auf Leinwand oder Karton. Der Karton, der dann auf einen Bogen Papier gespannt war, wurde entlang den Linien der Komposition mit einer Nadel durchstochen. Der dadurch erhaltene Umriss wurde wiederum mit Zeichenkohle entweder auf die Wand oder die Tafel übertragen. Sobald die Zeichnung fertig war, konnte sie durch leichte Pinselstriche gerichtet, präzisiert oder verbessert werden. Dieser endgültige und wichtigere Schritt wurde meistens von Raffael persönlich durchgeführt und manchmal nutzte er die Gelegenheit, um seinen Originalentwurf zu verändern.
Was das Malen der Fresken angeht, so trug der Maurer den Mörtel früh am Morgen, den von Raffael am Vorabend erteilten Anweisungen folgend, auf. Dieser begann natürlich am oberen Ende, sodass der tropfende Mörtel keine bereits trockenen Stellen beschädigen würde. Als nächstes mussten die Zeichnungen auf den frischen Mörtel übertragen werden, was mithilfe einer Eisennadel geschah. Danach begann Raffael damit, die hellen Stellen zu malen.
Die Farben wurden dazu in kleine Töpfe, wie sie auf einem der Loggia-Fresken und dem Bild in der Accademia di San Luca zu sehen sind, gefüllt. Raffael richtete es ein, in einer Sitzung alle Partien einer Figur oder Gruppe zu malen, die von ‚gleichem Wert‘ waren; wenn er seine Arbeit unterbrochen hätte, hätte er kaum einen Bruch des Farbtons vermeiden können. Es ist unmöglich zu sagen, wieviel Zeit Raffael in seine Zeichnungen und Skizzen investierte, was allerdings die Wandmalereien selbst betrifft, so erlauben die abgeschrägten Kanten der Arbeit eines Tages – eine Vorgehensweise, die notwendig war, damit der Mörtel sich mit dem des Folgetags verbinden konnte – dem Ablauf Schritt für Schritt zu folgen. Berechnungen haben ergeben, dass die große, aus vier überlebensgroßen Figuren bestehende Gruppe auf der linken Seite des Incendio di Borgo in einer Woche gemalt wurde. Die Figuren in der Schule von Athen benötigten jeweils weniger als einen Tag.
Die architektonischen Bestandteile wurden in einer erstaunlichen Geschwindigkeit ausgeführt, und da Raffael den Maurer normalerweise eine sehr große Oberfläche bearbeiten ließ, war der Mörtel oftmals noch zu feucht, als Raffael zu malen begann, was zur Folge hatte, dass der Portikus an einigen Stellen tiefe Risse aufweist.
Die Nachbesserungen müssen ein Mehr an Arbeit bedeutet haben, was sich besonders am Parnass (Bd. 2, S. 86-87) erkennen lässt, dessen Himmel als Fresko gemalt ist, während die Lorbeerbäume, die ihren Schatten auf die Musen werfen, in Tempera gemalt sind, was zur Folge hatte, dass sich die Farbe bei der kleinsten Berührung ablöst. Bis ins Jahr 1506 war Raffael schließlich so geübt in der Freskomalerei, dass er die Grundfläche nur selten ein zweites Mal bearbeiten musste.
In seiner Galatea sind die Bruchlinien zwischen den verschiedenen Teilen des Freskos sehr deutlich und eine Untersuchung lässt darauf schließen, dass die gesamte Komposition zwischen zwölf und vierzehn Tage in Anspruch nahm. Dadurch lässt sich erklären, wie es Raffael gelang, zwischen zwölf und fünfzehn Fresken oder Bilder in einem Jahr anzufertigen – im Jahr 1508 sogar zwanzig oder zweiundzwanzig. Während Raffaels Geist mit der Schaffung der Fresken für die Stanza della Segnature beschäftigt war, bewegten Gefühle anderer Art sein Herz. Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er, was es heißt zu lieben und strebte danach, seine Gefühle in Reimform auszudrücken. Drei der zu dieser Zeit komponierten Sonette existieren noch immer; sie stehen auf der Rückseite der Zeichnungen für den Disput über das Sakrament. Raffael versuchte sich vermutlich zum ersten Mal an der Dichtkunst, denn sein Stil wirkt schwer und seine Ideen oftmals verworren. Es ist auch offensichtlich, dass er stets Probleme mit der Reimform hatte, da in einer Ecke eines Blattes neben einer Zeile, die auf „polo“ endet, eine Reihe an Wörtern wie „solo, volo, dolo“ zu finden ist, während neben einer Zeile, die auf „luce“ endet Wörter wie „conduce, riduce, aduce“ stehen.[8]
Die Ausgestaltung der Stanzen hätte ausgereicht, um das gesamte Leben eines weniger begabten und erfahrenen Künstlers auszufüllen, aber die Fresken im päpstlichen Palast bilden nur einen kleinen Teil der Arbeiten, die Raffael zwischen 1508 und 1513 schuf. In dieser Zeit beendete er mehrere Altarbilder wie die Madonna von Foligno (S. 368), Madonna di Loreto (S. 363) und Madonna mit dem Fisch (S. 380) und die Heilige Familie von Neapel, zudem Staffeleigemälde wie Madonna Alba (S. 367), Madonna Garvagh (S. 364) und Madonna mit dem Diadem; des Weiteren ein von Goritz für die Kirche Sant’Agostino in Auftrag gegebenes Fresko, Den Prophet Jesaja, die Porträts Julius II. (S. 371) und Bindo Altovitis (S. 387), die wundervollen Zeichnungen für Lucretia und das Massaker an den Unschuldigen. Raffael war außerdem mit Architekturarbeiten beschäftigt. Die Anzahl der von Raffael in Rom gemalten Porträts war gering, und es heißt, er habe sein Talent als Porträtmaler für die Päpste und seine engen Freunde reserviert. Es fällt schwer, ein einziges Porträt eines Fremden zu nennen, mit Ausnahme des Violonista und eines Jungen Mannes im Louvre. Julius II., Herzog Guidobaldo, Federico Gonzaga, Leo X., Giuliano und Lorenzo de‘ Medici und Johanna von Aragon waren alle entweder Förderer oder Freunde Raffaels. Bindo Altoviti, Inghirami, Bibbiena (S. 391), Beazzano, Navagero, Tebaldeo, Castiglione (S. 388) und die Fornarina (S. 439) bildeten seine Entourage.
Die Übrigen konnten nur darauf hoffe, von ihm als Nebencharaktere in eines seiner Fresken eingebaut zu werden. Am Massaker an den Unschuldigen, dessen Vorzeichnungen sich heute in der Wiener Albertina befinden, arbeitete er zur gleichen Zeit wie am Urteil des Salomo, sprich um 1510. Darin kehrte Raffael zu einem Thema zurück, das ihn bereits in seiner frühen Jugend beschäftigte. Diese Verbundenheit gegenüber einmal entwickelten Ideen ist bezeichnend für seinen Charakter.
Der Winter 1513 war für Raffael eine traurige Phase. Am 20. Februar starb der größte seiner Förderer und der größte aller Päpste, Julius II.; der erste, der ihm eine Arbeit entsprechend seiner Fähigkeiten übertragen hatte; derjenige, der, anderen mit Strenge und Härte begegnend, Raffael mit beinahe väterlicher Zuneigung bedachte. Raffael hatte über viereinhalb Jahre im Dienste des Soldaten-Papstes gestanden. Die bloße Zusammenfassung der in dieser kurzen Zeit ausgeführten Werke erzeugt Bewunderung und Erstaunen.
Heilige Familie mit dem kleinen Johannes, um 1513-1514. Öl auf Pappelholz, 154,5 x 114 cm. Kunsthistorisches Museum Wien, Wien.