Seit dem Frühjahr 2020 beherrschen die als ›Lockdown‹ bezeichneten administrativen Kontakt- und Mobilitätsbeschränkungen die öffentliche Debatte des Pandemiealltags. Sie fördern autoritäre Tendenzen und setzten elementare Grundrechte außer Kraft. Zudem beeinträchtigen sie das soziale, kulturelle und private Leben in erheblichem Ausmaß. Zur Begründung wird angeführt, dass diese Restriktionen ein notwendiges Übel darstellen, da sie zur Eindämmung der Pandemie unbedingt erforderlich seien. Dieses Argument soll im Folgenden überprüft und unter Zuhilfenahme einiger inzwischen publizierter quantifizierender Studien beantwortet werden. Dabei werde ich auch die unbeabsichtigten schädlichen Nebeneffekte der Lockdowns auf die allgemeine Gesundheitsversorgung der Bevölkerung (›Kollateralschäden‹) erörtern.
Wer die Mobilität stark einschränkt, öffentliche und private Veranstaltungen verbietet und das kulturelle Leben herunterfährt, kann davon ausgehen, dass sich die durchschnittliche Ausbreitungsgeschwindigkeit der Pandemie verringern wird. Daraus lässt sich auf eine entsprechend geringere Quote der schweren und tödlichen Krankheitsverläufe rückschließen, und dies verhindert wiederum eine Überlastung der Hospitäler und ihrer Intensivabteilungen. Je konsequenter der Lockdown durchgeführt wird, desto größer scheint die Erfolgsgarantie.
Soweit die Standardargumentation der Befürworter eines möglichst umfassenden Lockdowns. Sie wirkt auf den ersten Blick einleuchtend. Zudem kann niemand den Gegenbeweis antreten, weil völliges Nichtstun nicht zur Disposition steht und die von den Kritikern alternativ geforderten gezielten Präventions- und Schutzkonzepte nicht praktisch erprobt werden. Die epidemiologisch und gesundheitswissenschaftlich versierten Lockdown-Kritiker erhielten zu den Krisenstäben keinen Zutritt.
Indessen ist Covid-19 keine ›Killer-Pandemie‹, bei der – bei gleichhohem Ansteckungsrisiko – ein Drittel der Infizierten schwer erkrankt und mehr als 5 % dahingerafft werden. In einer solchen Konstellation gäbe es zu einem allgemeinen, mit gezielten Präventions- und Schutzmaßnahmen kombinierten Lockdown keine Alternative, solange noch keine wirksamen pharmazeutischen Gegenmittel existieren. Eine solche Konstellation ist bei Covid-19 jedoch nicht gegeben. Die Mehrheit der Infizierten bleibt unerkannt, weil sie nicht oder nur geringfügig erkrankt. Deshalb ist es nur begrenzt möglich, die Ausbreitung des Erregers nachhaltig einzudämmen. Da er aber gleichzeitig bestimmte soziale Gruppen gefährdet, wäre es effizienter, die Prioritäten umzukehren. Durch einen pauschal greifenden Lockdown wird zwar die diffuse Ausbreitung des Erregers verlangsamt, die gefährdeten chronisch Kranken und Alten bleiben jedoch ungeschützt. Würde ihrer Abschirmung durch gezielte Präventions- und Schutzkonzepte absoluter Vorrang gegeben, dann würden die Hospitalisierungen und Sterbefälle rasch zurückgehen. Parallel dazu könnten die Selbstschutzmaßnahmen der Bevölkerung durch die Bereitstellung diagnostischer und infektionshygienischer Ressourcen sowie eine adäquate Aufklärung über die Eigenschaften der Pandemie unterstützt werden. Durch ein derartiges Vorgehen würde die Dynamik von Covid-19 wesentlich wirksamer abgebremst als durch pauschale Restriktionen und politische Symbolpraktiken.
Leider waren diese Argumente zu keinem Zeitpunkt mehrheitsfähig. Statt die dringend nötige Diskussion der bisher gemachten Fehler – man denke nur an die leeren Vorratslager der Infektionshygiene, die anfängliche Hotspot-Situation der Krankenhäuser und das Massensterben in den Altenheimen – zuzulassen, wurden hektische Lockdown-Maßnahmen durchgesetzt. Darüber hinaus wurde jegliche Kurskorrektur blockiert, indem das Scheitern der bisherigen Eindämmungsstrategie auf realpolitische Halbheiten zurückgeführt und in Unkenntnis der spezifischen Eigenschaften der Pandemie eine noch härtere Gangart eingefordert wurde. Man berief sich dabei offen oder implizit auf den erfolgreichen Umgang der Volksrepublik China mit Covid-19. Dabei hatten diejenigen, die so argumentierten, nur die rigorosen Abschottungspraktiken des inneren und äußeren ›Cordon Sanitaire‹ im Blick, nicht aber die damit verbundenen massiven epidemiologischen Interventionen. Diese waren meines Erachtens erfolgsentscheidend, nicht aber der damit einhergehende Shutdown, der in dieser Krisensituation vor allem die absolute Macht der regierenden Kaderpartei unter Beweis stellen sollte. Die Regierungen einiger fernöstlicher Länder scheinen dieses Doppelcharakter des chinesischen Vorgehens genau wahrgenommen zu haben. Sie haben die spezifische epidemiologische Situation der Pandemie verstanden und im Wesentlichen auf gezielte Präventions- und Schutzmaßnahmen gesetzt. Zumindest in den ersten sechzehn Pandemie-Monaten erwies sich dieser Kurs als erfolgreich. Bis Anfang Mai 2021 starben in der westlichen Pazifikregion deutlich weniger Menschen an Covid-19 als während einer durchschnittlichen Influenza.1
Spätestens hier stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien der Erfolg oder Misserfolg der Konzepte zur Eindämmung von Covid-19 beurteilt werden soll. Wer die Verringerung der Infektionshäufigkeit für vorrangig hält, benötigt Informationen darüber, auf welche Weise sich die Erkrankten vor beziehungsweise nach dem Greifen der pauschalen Maßnahmenpakete infiziert haben. Und wer die Entwicklung der Sterbefälle für den entscheidenden Gradmesser hält, wird vor allem die Mortalitätsstatistik zu Rate ziehen. Eine weitere Frage bezieht sich auf das von den Epidemiologen gefürchtete Phänomen der paradoxen Effekte: Waren die besonders drakonischen Varianten des Lockdowns die unbeabsichtigten Wegbereiter der zweiten Pandemiewelle? Mit allen diesen Problemen wird sich die medizinhistorische Forschung in den kommenden Jahrzehnten intensiv auseinandersetzen. Im Rahmen dieser Studie muss ich mich auf einige Schlaglichter und Hypothesen beschränken.2
Zunächst zur Beeinflussung der Infektionszahlten durch den Lockdown. Vor dem Inkrafttreten der Maßnahmenpakete infizierten sich die meisten Personen vor allem in ihrer engsten familiären Umgebung und während ihrer Reisen, die weiteren sozialen Kontakte (öffentlicher Nahverkehr, Veranstaltungen, berufliche Tätigkeit usw.) rangierten an dritter Stelle. Nach der Verlängerung des Lockdowns verschob sich diese Skala noch stärker auf die privaten Haushalte, während die Faktoren ›soziale Kontakte‹ und ›Reisen‹ mäßig bis drastisch zurückgingen. Es fand somit eine Verschiebung der Risiken statt, die zugleich den weiteren Rückgang der schon zuvor deutlich reduzierten Infektionshäufigkeit zur Folge hatte. Aus den späteren Epizentren USA und Lateinamerika liegen vergleichbare Daten noch nicht vor. Einzelberichte deuten jedoch auf erhebliche Unterschiede hin und führen die kontinuierlich anhaltende Infektionshäufigkeit auf den geringer ausgeprägten Selbstschutz und den mangelnden Zugang der Armutsbevölkerung zu den Ressourcen der elementaren Basishygiene zurück.
Letztlich steht und fällt die Legitimität der Maßnahmenpakete des Lockdowns mit dem Nachweis ihrer Auswirkungen auf die Sterbefälle. Sie waren gering, weil sie die Krankenhäuser und Seniorenheime erst dann einbezogen, als sich in ihnen massive Infektionsherde ausgebreitet und unter den betagten und überwiegend schwerkranken Menschen ein Massensterben ausgelöst hatten. Dies traf auch auf solche Länder zu, die wie etwa der schwedische Krisenstab auf die Hygiene-Selbstdisziplin der Bevölkerung setzten, aber die in diesem Fall besonders wichtigen Vorkehrungen zum Schutz der Seniorenheime extrem vernachlässigten. Alle diese Differenzierungen ändern jedoch nichts daran, dass die Lockdown-Pakete der Regierungen der Transatlantikregion ihr immer wieder beschworenes Hauptziel verfehlt haben. Sie waren nicht in der Lage, die vorangegangenen Fehler der epidemiologischen Frühintervention auszugleichen und die Bevölkerung bei ihren infektionshygienischen Eigenaktivitäten zu unterstützen.
Beunruhigend sind drittens die paradoxen Effekte der Lockdowns. Ihr infektionsverzögernder Effekt steht nicht in Abrede. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Komponenten der allgemeinen Maßnahmenpakete diesen dämpfenden Effekt haben. Manche behördlichen Anordnungen verfehlen diese Wirkung, in anderen Fällen waren sogar ausgesprochene Verstärkereffekte zu beobachten. Beispielsweise ließen die Krisenstäbe weltweit die Parks und andere ›grüne Lungen‹ der städtischen Agglomerationen schließen, verboten den Aufenthalt im Freien gänzlich oder für die Nachtstunden und riegelten die Innenstädte ab. Das hatte zur Folge, dass sich die Menschen überwiegend in geschlossenen und häufig wenig belüfteten Räumen aufhielten. Dies geschah – und geschieht bis heute, obwohl längst bekannt war, dass SARS-CoV-2 durch ausgeatmete oder abgehustete Schwebeteilchen (Aerosole) übertragen wird, die sich im Freien rasch verflüchtigen oder nach oben steigen. In geschlossenen und schlecht belüfteten Räumen halten die Viren sich dagegen bis zu mehreren Stunden in den Aerosolen und werden mit ihnen inhaliert. In einigen Ländern wurde den Menschen jedoch der Aufenthalt im risikolosen Freien auf vielfältige Weise erschwert. Die ihnen aufgezwungene Internierung in ihren Wohnungen und anderen geschlossenen Räumlichkeiten erhöhte somit das Infektionsrisiko erheblich. Eine Untersuchung zur Klärung der Frage, inwieweit dieser Teil der administrativen Restriktionen die Ausbreitung der Pandemie begünstigte, wurde bis jetzt noch nicht veröffentlicht.
In der südlichen Hemisphäre wurden diese Praktiken häufig mit Polizeistaatsmethoden durchgesetzt. Hier waren die Schließungen der Märkte und öffentlichen Plätze und die Absperrungen der Slum Cities besonders folgenreich: Das Vorgehen der polizeilichen Exekutive begünstigte nicht nur die Entstehung neuer Infektionsherde, sondern lieferte auch die in den informellen Sektoren lebende Armutsbevölkerung dem Hunger aus.3 Die Entwicklung einer Hungerkatastrophe konnte durch breit gestreute Geldzahlungen und Lebensmittelverteilungen hinausgeschoben werden. Der dadurch erreichte Zeitgewinn verstrich jedoch aufgrund verspäteter oder gänzlich unterbliebener epidemiologischer Interventionen ungenutzt. Erinnert sei beispielsweise an das Seuchenregime des indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi, der zunächst Millionen von Wanderarbeitern per Dekret in den großen Agglomerationen festhielt und dann schlagartig in ihre Heimatregionen entließ. Auf diese Weise gelangten die zunächst in den großstädtischen Hotspots zirkulierenden blinden Passagiere in die entlegensten Winkel des Subkontinents und konnten sich dort ungehindert ausbreiten.4 Ähnliche Entwicklungen waren auch in Bangladesch, im Iran,5 in Südafrika6 und anderen Ländern der südlichen Hemisphäre zu beobachten. Aufgrund ihrer ungewollt paradoxen Effekte legten die Maßnahmenpakete des Lockdowns in diesen Weltregionen den Grundstein für die zweite Pandemiewelle.
Ab März 2020 hatten die linearen Modellrechnungen eine Hochkonjunktur durchlaufen, und ihre Worst-Case-Szenarien hatten wesentlich zur Legitimation der Mobilitätsbeschränkungen und des sozio-kulturellen Stillstands beigetragen.7 Aber nun hatte sich die Beweislast umgekehrt. Nun musste nachgewiesen werden, dass die Lockdowns des Frühjahrs die Katastrophe tatsächlich verhindert und eine erhebliche Eindämmung der Pandemie bewirkt hätten. Dabei agierte die am Londoner Imperial College tätige Arbeitsgruppe des Epidemiologen Neil M. Ferguson erneut als Impulsgeberin. Am 8. Juni 2020 veröffentlichte sie in ›Nature‹ eine Studie über die Effekte der nicht-pharmazeutischen Maßnahmen, die bis zum 4. Mai in elf europäischen Ländern zur Eindämmung von Covid-19 ergriffen worden waren.8 Zu diesem Zweck erstellte sie eine Modellrechnung, um von der Zahl der registrierten Sterbefälle auf die in den Wochen zuvor erfolgte Ausbreitung der Infektionen zurückschließen zu können. In einem zweiten Schritt korrelierten die Autoren diese Daten länderübergreifend mit den dazu gehörigen Reproduktionszahlen, um sie mit den Zeitskalen der in den betroffenen Ländern ergriffenen Maßnahmen (Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren usw.) abgleichen zu können. Das Ergebnis fiel positiv aus: In allen untersuchten Ländern sei es mithilfe der Lockdowns gelungen, die effektive Reproduktionszahl unter 1 zu drücken und das Pandemiegeschehen unter Kontrolle zu bringen.
Methodisch wies die Studie jedoch erstaunliche immanente Defizite auf. Ihre Datenbasis (Mortalitätsziffern) war unzureichend. Es wurden Parameter unterdrückt, die wie beispielsweise die Ausblendung der freiwilligen Selbstschutzmaßnahmen der Bevölkerung zugunsten der behördlichen Restriktionen das Ergebnis schon im Vorfeld verfälschten. Es gab aber auch fundamentale Fehler, die den Gesamtansatz der Untersuchung beeinträchtigten. Das Team bemühte sich nicht um eine Schätzung des Eintrittsdatums der Todesfälle, sondern ging von ihrem Meldedatum bei den Gesundheitsbehörden aus. Das Sterbedatum hatte jedoch mehrere Tage bis Wochen vorher gelegen, sodass die mit den Zeitskalen der Lockdowns abgeglichenen Verlaufskurven der Virusausbreitung eine erhebliche Zeitverzögerung abbildeten. Damit ist der Versuch des Ferguson-Teams, die Wirksamkeit der Lockdowns nachzuweisen, gescheitert. Das Hauptproblem ist jedoch die legitimationswissenschaftliche Orientierung des Modells selbst, wie mehrere Kritiker bemerkten: Es schloss die Möglichkeit aus, dass sich die Maßnahmenpakete der Regierungen auch als wirkungslos erweisen könnten.
Einen Monat später veröffentlichte eine Arbeitsgruppe des Göttinger Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation eine weitere Modellrechnung, die ebenfalls erhebliches Aufsehen erregte. Dabei wollte die Arbeitsgruppe die Frage beantworten, wie sich die während der ersten Pandemiewelle in Deutschland ergriffenen behördlichen Maßnahmen zur Eindämmung der ersten Pandemiewelle ausgewirkt hatten.9 Auch sie kam zu eindeutig positiven Ergebnissen, die auf den ersten Blick durchaus überzeugend wirkten. Bekanntlich hatte es in Deutschland im März 2020 drei kurz aufeinander folgende behördliche Gegenmaßnahmen gegeben,10 die am 20. April teilweise wieder aufgehoben worden waren: Ein Verbot von Großveranstaltungen am 8.3., am 16.3. die Schließung der Schulen und Kindertagesstätten, und am 22.3. eine weitreichende Kontaktsperre. Diese drei Wendepunkte führten den Untersuchungsergebnissen zufolge zu einem Rückgang der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Erregers um jeweils etwa 40 %. Dabei schwächte sich der exponentielle Anstieg zunächst nur ab. Der entscheidende Durchbruch sei nach dem dritten Wendepunkt erfolgt, denn erst jetzt lag die Rate der Genesenen über derjenigen der Neuinfizierten (Reproduktionszahl <1).
Wie das Team des Imperial College benutzte die Göttinger Arbeitsgruppe die Parameter eines linearen biomathematischen Rechenmodells (SIR), um die Auswirkungen der behördlichen Interventionen auf die Zahl der täglichen Neuinfektionen berechnen zu können. Dabei unterlief auch ihr ein Fehler: Sie modellierte die Infektionsdynamik anhand des Datums der Infektionsmeldung bei den Gesundheitsämtern. Das tatsächliche Infektionsereignis lag in der zweiten Märzhälfte jedoch 13–14 Tage vorher, worauf Mitarbeiter des Robert Koch-Instituts schon im April hingewiesen hatten:11 Nicht alle Infizierten entwickeln Symptome, nicht alle Erkrankten suchen einen Arzt auf, dort werden keineswegs alle getestet, und nicht alle positiv Getesteten gehen in die Statistik ein. Zwischen diesen Schritten liegt eine Zeitspanne von insgesamt etwa einer Woche, und zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass mindestens weitere vier Tage verstreichen, bevor ein Infizierter einen weiteren (oder auch mehrere) Menschen angesteckt hat. In einem als ›Nowcasting‹ bezeichneten Verfahren korrigierte das Robert Koch-Institut seither die Schätzung der Reproduktionszahlen, um dieser Zeitverzögerung gerecht zu werden. Trotz dieser Korrektur hielt die Göttinger Arbeitsgruppe an ihrem Modell fest, als sie der Kurve des Infektionsverlaufs die Zeitachse mit ihren drei Wendepunkten hinzufügte. Dadurch entging ihr, dass die Reproduktionszahl schon vor dem Einsetzen der Gegenmaßnahmen unter 1 gesunken war und auch nach den ›Lockerungen‹ mehrere Monate lang auf diesem niedrigen Niveau verharrte.
Wegen der offenkundigen Diskrepanz zu den Schätzungen des Robert Koch-Instituts setzte die Kritik rasch ein. Später veröffentlichte die Arbeitsgruppe eine ›Technical Note‹, in der sie diesen Fehler korrigierte und damit implizit zugab, dass sich kein Zusammenhang zwischen der Infektionsdynamik und den behördlichen Restriktionen hatte nachweisen lassen. Für den Verlauf der ersten Welle waren andere Faktoren maßgeblich, die sich dem linearen Rechenmodell entzogen.
In den folgenden Monaten wurden weitere Modellrechnungen veröffentlicht, die die Effizienz der ›Lockdowns‹ trotz einiger Abstriche zu bestätigen suchten. Auch sie vermochten wegen ihres problematischen methodischen Ansatzes, der lückenhaften Datengrundlagen und des nicht ausreichend qualifizierten Umgangs mit den Besonderheiten der Virusausbreitung nicht zu überzeugen.12
Mit einer gewissen Verzögerung erschienen die ersten empirischen Studien zur Evaluierung der Lockdown-Effekte. Von den biomathematischen Modellrechnungen unterschieden sie sich erheblich: Ihr Umgang mit den Datengrundlagen war systematisch durchdacht. Statt der hierarchisch-linearen Modelle stützten sich die Autorinnen und Autoren zunehmend auf multivariable Regressionsanalysen. Darüber hinaus kombinierten sie das Paket der behördlichen Eingriffe mit weiteren Variablen, deren Einfluss auf die Virusausbreitung von Bedeutung war. Diese alternative Vorgehensweise hatte zur Folge, dass die wirklichen Probleme der Pandemie, nämlich die schweren und tödlichen Krankheitsverläufe, in den Fokus gerückt wurden. Bis Frühjahr 2021 erschienen mehrere Untersuchungen, die umfassend angelegt waren und die globale bzw. regionale Dynamik der Pandemie mithilfe komparativer Stichproben abzubilden versuchten. Aus der inzwischen recht ansehnlich gewordenen Forschungsliteratur kann ich in diesem Kontext nur einige besonders markante Beiträge herausgreifen.
Eine der ersten empirischen Studien stammte aus dem US-amerikanischen National Bureau of Economic Research.13 Die Autorengruppe untersuchte die Entwicklung der pandemiebedingten Sterblichkeit in 25 US-Bundesstaaten und weiteren 23 Ländern, in denen mehr als 1.000 Menschen dem Virus zum Opfer gefallen waren, und setzte sie zu den jeweiligen behördlichen Interventionen in Beziehung. Dabei stellte sie fest, dass die Sterblichkeit in allen Ländern und Weltregionen innerhalb der ersten 30 Tage zurückging, sobald mehr als 25 Tote zu beklagen waren. Danach blieb sie entweder konstant oder sank leicht weiter. Auch die länderübergreifende Standardabweichung war rasch rückläufig und verharrte anschließend auf niedrigem Niveau. Dieser Befund traf auf alle Länder und Weltregionen der Stichprobe zu, und zwar unabhängig davon, ob während der ersten Pandemiewelle ›harte‹, ›weiche‹ oder überhaupt keine Lockdown-Maßnahmen ergriffen worden waren. Infolgedessen äußerten die Autorinnen und Autoren erhebliche Zweifel an den Erfolgsversprechen der nicht-pharmazeutischen Interventionen. Sie waren der Auffassung, dass die spontanen Hygieneschutzmaßnahmen der Bevölkerung, die Netzwerkstruktur der menschlichen Interaktionen und die Eigenschaften der Pandemie selbst eine weitaus wichtigere Rolle bei der Eindämmung der ersten Pandemiewelle gespielt hätten.
Diese Überlegungen regten weitere vergleichende Untersuchungen über den Einfluss der Lockdowns und anderer Faktoren auf die Entwicklungsdynamik schwerer bzw. tödlicher Krankheitsverläufe in den besonders betroffenen Weltregionen an. Dabei fungierte eine französische Studiengruppe als Schrittmacherin, indem sie die politischen Interventionen mit vier weiteren Domänen korrelierte, nämlich mit demografischen Faktoren, dem Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens, der Wirtschaftsleistung und den Umweltverhältnissen.14 Dabei bezog sie alle 160 Länder ein, in denen während der ersten acht Monate des Jahrs 2020 mehr als 10 Covid-19-Todesfälle registriert worden waren. Sie kam zum Ergebnis, dass die Lebenserwartung, das Gesundheitsniveau der Bevölkerung, die Wirtschaftsleistung und Umweltfaktoren (Durchschnittstemperaturen, geografische Lage usw.) das Ausmaß der pandemiebedingten Sterblichkeit bestimmten. Dagegen ließ sich wie in der US-amerikanischen Studie keine Korrelation der öffentlichen Interventionen mit der pandemiespezifischen Mortalität nachweisen: unabhängig von den sehr unterschiedlichen Regierungsmaßnahmen verliefen die Infektions- und Sterblichkeitskurven in allen Ländern sehr ähnlich.
Fast zeitgleich meldete sich eine zweite Forschergruppe zu Wort, die weitere Faktoren in ihre Analyse einbezogen hatte. Als komparativen Ausgangspunkt hatte sie diejenigen 50 Länder gewählt, die weltweit am 1. Mai 2020 die höchsten Infektionszahlen auswiesen. Auch ihre Datenbasis war erheblich erweitert, und die von ihr angewandte multivariable Regressionsanalyse gestattete einen noch genaueren Blick auf das Regierungshandeln in den meisten betroffenen Ländern.15 Auf diese Weise konnten Phänomene quantifiziert werden, die die in den vorliegenden Analysen thematisierten wirklichen Ursachen des Desasters in den Fokus rückten: die völlig unzureichenden Vorkehrungen gegen das Pandemieereignis, den zerrütteten Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens und den restriktiven Einsatz der Testverfahren. Einen wesentlichen Einfluss auf den Anteil schwerer und tödlicher Krankheitsverläufe hatten neben diesen länderspezifischen sozioökonomischen Parametern die Altersstruktur und die Lebensweise der Bevölkerung, insbesondere starkes Übergewicht, chronische Massenkrankheiten und Nikotinkonsum. Dagegen ließ sich kein Einfluss der unterschiedlich intensiven Varianten des ›Lockdowns‹ auf die schweren und tödlichen Krankheitsverläufe nachweisen.
Diese Überblicksstudien wurden durch die Untersuchung spezifischer Aspekte ergänzt. Dabei stand häufig die Frage im Vordergrund, welche Auswirkungen die als besonders gravierend empfundenen Ausgangsbeschränkungen auf den bisherigen Pandemieverlauf und die Mortalitätsentwicklung gehabt hatten. Das Ergebnis war durchgängig negativ. Besonders überzeugend war ein Forschungsbericht, der sich auf diejenigen Länder konzentrierte, in denen bis August 2020 mehr als 100 Todesfälle registriert worden waren.16 Sie konnten keinen Effekt der Ausgangssperren nachweisen. Auch die Verfasser einer weiteren Untersuchung, die von den Daten des European Centre for Disease Control (ECDC) sowie anderer Länder ausgingen und biomathematische Modellierungen mit regressionsanalytischen Verfahren kombinierten, kamen zu diesem Ergebnis.17 Sogar Analysen, deren Verfasser einigen behördlichen Restriktionen wie Versammlungsbeschränkungen, Schulschließungen usw. einen gewissen Effekt bescheinigten, bewerteten die Ausgangsbeschränkungen als wirkungslos.18 Last but not least sei auf einen Mitte November 2020 veröffentlichten Forschungsbericht verwiesen, dessen Verfasser die Zeitskalen des deutschen Lockdowns mit den tatsächlichen Wendepunkten der ersten Pandemiewelle abglich.19 Dabei kombinierte der Wissenschaftler die bislang vorliegenden kritischen Schätzungen mit einem mehrdimensionalen Verfahren der Regressionsanalyse, um die Inkubationszeit und die Latenzzeit zwischen dem Infektionsbeginn und dem Meldezeitpunkt des positiven Testergebnissen exakt berücksichtigen zu können. Nach seinen Erkenntnissen lagen die signifikanten Wendepunkte am 3., 8. und 10. März, ab dem 19.3. bewegte sich die Reproduktionszahl um den Faktor 1. Die Stabilisierung war somit auf kleinere, spezifische Interventionen und die Selbstschutzmaßnahmen der Bevölkerung zurückzuführen, nicht aber auf den erst einige Tage danach verordneten Lockdown.
Diese kritischen Rückblicke auf die erste Welle und die Zwischenetappe der Pandemie vermochten die Verfechter eines harten Lockdowns nicht zu beeindrucken. Ende März 2021 legte eine britische Autorengruppe eine weitere Modellrechnung vor, die sich an den methodischen Vorgaben des Imperial College orientierte.20 Auch ihre Zielsetzung war identisch: Sie wollte die europäischen Regierungen bei ihrem Vorgehen gegen die sich anbahnende dritte Pandemiewelle beraten, indem sie ihnen eine erste Auswertung der Auswirkungen der Kontakt- und Mobilitätsbeschränkungen während der zweiten Welle präsentierte. Zu diesem Zweck sammelte sie ›subnationale‹ Meldedaten, die 114 Regional- und Kreisbehörden in Deutschland, England, Italien, den Niederlanden, Österreich, Tschechien und der Schweiz über die Entwicklung der Infektionshäufigkeit und der Sterbefälle von Covid-19 ins Internet gestellt hatten. Diesen Datensatz korrelierte sie mit einer Chronologie der nicht-pharmazeutischen Interventionen, die die Behörden in diesen Gebieten in der Zeit von 1. August 2020 bis 9. Januar 2021 angeordnet hatten.21 Hierfür benutzten die Autoren ein lineares biomathematisches Übertragungsmodell und schätzten die Auswirkung der ihres Erachtens wichtigsten 17 nicht-pharmazeutischen Interventionsschritte auf die Ausbreitungsdynamik (effektive R-Zahl) des Virus. Die Entwicklung der Mortalität blieb hingegen unerörtert. Es ging den Verfassern ersichtlich darum, die Bremswirkung der besonders markanten Restriktionen nachzuweisen: Geschäftsschließungen erbrachten nach ihrer Schätzung eine Reduktion der effektiven R-Zahl um 35 %, die Stilllegung der Gastronomie 12 %, die zusätzliche Schließung der Einzelhandels- und körpernahen Dienstleistungsbetriebe weitere 12 %, und so weiter. Diese einzelnen Maßnahmen summierten sich im Rechenmodell zu einem imposanten Effizienznachweis. Sie bremsten die Infektionsdynamik um 65 % ab, die R-Zahl fiel diesen Schätzungen zufolge von anfänglich durchschnittlich 1,7 auf 0,7.
Das war eine klare Botschaft an die Adresse der ›politischen Entscheidungsträger‹. Um sie zu einem noch härteren Vorgehen in der dritten Welle zu animieren, simulierten die in der Oxford-Idylle tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch gleich noch die Effekte einer Kontaktbeschränkung auf eine Person und der Reduktion der innerfamiliären Begegnungen auf drei Personen.22 Für die Lockdown-Befürworter kam sie denn auch » zur richtigen Zeit« und wurde als »sehr bedeutsam« eingestuft: »Methodisch kann man das nicht besser machen.«23
In dieser – noch nicht evaluierten – Studie finden sich alle methodischen Defizite wieder, die ich am Beispiel des Arbeitspapiers der Ferguson-Gruppe vom Mai 2020 diskutiert habe. Das hierarchisch-lineare Rechenmodell vermochte das komplexe Pandemiegeschehen nicht abzubilden. Durch seine Fokussierung auf die Entwicklung der Infektionshäufigkeit blieben gravierende Probleme, so etwa die schweren und tödlichen Krankheitsverkäufe, ausgeblendet. Genauso unerörtert blieben die gesundheitlichen Kollateralschäden, die die Isolierungsmaßnahmen bewirkten. Gleichzeitig führte die Einbeziehung von Variablen, die mit den behördlichen Eingriffen nichts zu tun hatten, zu einer Überbewertung der Lockdown-Effekte. Diese Fehldeutung wurde noch dadurch verstärkt, dass die Autoren ihrer Korrelationsrechnung nicht die tatsächlichen Infektionszeitpunkte zugrunde legten, sondern die erst 8–11 Tage später erfolgten Meldedaten der Gesundheitsbehörden. Immerhin gaben die Autoren zu, dass fast die Hälfte (34–49 %) der von ihnen errechneten Eindämmungserfolge überhaupt nichts mit diesen behördlichen Eingriffen zu tun hatte. Sie verdankten sich vielmehr den Selbstschutzmaßnahmen der Bevölkerung, den Sicherheitsprotokollen der Infektionshygiene und anderen Effekten.24
Zu den Auswirkungen der Lockdowns auf den Pandemieverlauf gehören auch die unbeabsichtigten gesundheitlichen Nebeneffekte, die die Mobilitäts- und Kontaktbeschränkungen für breite Bevölkerungskreise mit sich brachten.25 Vor allem solche soziale Gruppen waren betroffen, die seit längerem mit körperlichen und psychischen Krankheitssyndromen zu kämpfen hatten und auf eine adäquat strukturierte und dauerhaft wirksame medizinisch-therapeutische Betreuung angewiesen waren. Die war jedoch seit dem Beginn der Coronapandemie häufig in Frage gestellt.
Die Beeinträchtigungen kamen nicht von ungefähr. Durch die Deregulierungspolitik der letzten Jahrzehnte wurden die Gesundheitssysteme weltweit ökonomischen Effizienzkriterien unterworfen und verschlankt.26 Unter Normalbedingungen sind sie in großen Teilen der entwickelten Weltregionen und der Schwellenländer einigermaßen funktionsfähig. Für den Fall von Ausnahmesituationen existieren jedoch auch in diesen ›privilegierten‹ Weltgegenden keine Kapazitätsreserven, sodass auch sie im Fall weltweiter Gesundheitskrisen in Turbulenzen geraten. Als mit Covid-19 eine solche Konstellation eintrat und über ein Jahr lang anhielt, wurden weltweit massive personelle und materielle Umschichtungen zugunsten der Behandlung der Covid-19-Patienten vorgenommen. Und da die Weltöffentlichkeit die strukturbedingte Überlastung der medizinischen Versorgungskapazitäten nur noch am Beispiel der Covid-19-Patienten wahrnahm, verstärkte sich die Wechselwirkung zwischen den Lockdowns und den strukturellen Mängeln der Gesundheitsversorgung.
Die negativen gesundheitlichen Folgen der Lockdowns wurden rasch sichtbar. In den Entwicklungs- und Schwellenländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas waren sie besonders gravierend.27 Hier versperrten die Ausgangs- und Reisebeschränkungen und die Umsteuerung des rudimentären Gesundheitswesens Millionen von Kranken den Zugang zu den diagnostischen Einrichtungen, zu Arzneimitteln und zur klinischen Betreuung. Die Folge war ein dramatischer Wiederanstieg der besonders tödlichen Infektionskrankheiten Tuberkulose, Malaria und HIV/AIDS.28 Jährlich sterben 1,5 Millionen Menschen an Tuberkulose. Die WHO schätzte, dass eine Unterbrechung der Betreuungskette von drei Monaten zusätzlich 400.000 Patientinnen und Patienten das Leben kosten könnte; andere Studien rechneten im Fall einer Wiederherstellung normaler Behandlungsbedingungen innerhalb von zehn Monaten mit zusätzlich 6,3 Millionen Tuberkuloseerkrankungen und 1,4 Millionen Todesopfern. Ähnlich dramatische Entwicklungen wurden auch bei den anderen infektiösen Massenkrankheiten befürchtet, sobald bekannt wurde, dass wie bei der Tuberkulose 80 % der Netzwerke zur Bekämpfung der Malaria und der HIV-Erkrankung unterbrochen waren. In Afrika brach die Verteilung von Moskitonetzen, Insektiziden und Vorbeuge-Medikamenten zusammen, sodass die WHO für 2020 mit 261,6 Millionen Infektionen und 768.000 Todesfällen rechnete. Auch bei der HIV-Infektion wurde ein rasanter Wiederanstieg befürchtet, weil jedem vierten Erkrankten der Zugang zur anti-retroviralen Behandlung verwehrt war und viele Spezialeinrichtungen in Covid-19-Kliniken umgerüstet worden waren.
Es gab aber auch Einschränkungen in der Gesundheitsversorgung, die sich weltweit auswirkten. Dazu gehörten die in den vergangenen Jahrzehnten von den internationalen Großstiftungen vorangetriebenen Impfprogramme zum Schutz der Kleinkinder.29 Sie wurden während der Pandemiewellen in 70 Ländern monatelang unterbrochen und teilweise auch ganz ausgesetzt. Aufgrund der sozialen Isolationsmaßnahmen erhielten 2020 mehr als 89 Millionen Kinder ihre Schutzimpfungen verspätet oder auch gar nicht. Die Folge war ein rascher Wiederanstieg der infektiösen Kinderkrankheiten, insbesondere von Poliomyelitis und Masern.
Auch in den hochentwickelten Weltgegenden und insbesondere der Transatlantikregion manifestierten sich die negativen gesundheitlichen Nebeneffekte der Lockdowns gleich zu Beginn der ersten Pandemiewelle. Sie betrafen jedoch gänzlich andere neuralgische Punkte des Gesundheitswesens, denn hier wurden vor allem die Funktionsketten zur Akut- und Dauerversorgung von Menschen mit nichtinfektiösen Massenkrankheiten beeinträchtigt oder unterbrochen. In den Bereichen der Akutversorgung kam es zu einem auffälligen Rückgang der Notfalleinweisungen von Patienten mit akutem Koronarsyndrom und Schlaganfällen.30 Bei den akuten Herzerkrankungen wurde er insbesondere in Norditalien, Österreich, Großbritannien und den USA beobachtet und erreichte nach der Einführung der Lockdowns bis zu 40 % weniger als im Vorjahr. Hier lagen die Ursachen am Beginn der medizinischen Interventionskette: Die Patienten (und manchmal auch die Ärzte) missdeuteten die Krankheitssymptome wegen ihrer Ähnlichkeit zu Covid-19 oder scheuten aus Angst vor dem Ansteckungsrisiko den Weg in die Klinik. Da 40 % aller unbehandelten Infarktpatienten sterben und die Mortalität bei verspäteten Einweisungen rasch ansteigt, wurden in mehreren Ländern die in den letzten Jahrzehnten erreichten Erfolge der kardiologischen Frühintervention zunichte gemacht. Ähnliche Rückschläge wurden auch bei der Behandlung von Patienten mit akuten Schlaganfällen beobachtet, denn auch hier sind die Erfolge von einer möglichst rasch einsetzenden klinischen Behandlung abhängig. Bis zu 40 % der Patienten mit leichteren Schlaganfällen und 15 % mit schweren Symptomen gelangten nicht oder mit einer folgenreichen Verspätung in die Behandlungszentren.
Im Bereich der Onkologie war hingegen die gesamte Funktionskette betroffen, wobei die Umsteuerung der personellen, apparativen und klinischen Kapazitäten zugunsten der Pandemiebehandlung eine maßgebliche Rolle spielte.31 Die öffentliche und private Finanzierung der Krebsforschung wurde weltweit eingeschränkt. Auch die Screening-Verfahren zur Früherkennung wurden heruntergefahren, ein erheblicher Rückgang der Zahl der diagnostizierten Krebserkrankungen war die Folge. Nicht weniger folgenreich war die Einschränkung im therapeutischen Sektor. Während der Pandemiewellen wurden die chirurgischen Eingriffe um mehrere Monate verschoben. Chemotherapie-Serien wurden ausgesetzt und die Fraktionen der Strahlenbehandlung reduziert. Sogar im Palliativbereich kam es zu Einschränkungen, weil das Pflegepersonal teilweise in andere Abteilungen versetzt wurde.
Während sich diese Umschichtungen zu Lasten der Nicht-Covid-19-Patienten im Stillen vollzogen, gab es kritische Reflexionen über die Folgen der individuellen und sozialen Isolierung auf die psychisch Labilen und Kranken.32 Sie waren erheblich. In einigen Ländern stieg die Zahl der an schwerer Depression Erkrankten auf das Fünffache. In einer italienischen Studie, an der in der Zeit von März bis Mai 20.720 Menschen aus der Durchschnittsbevölkerung teilnahmen, berichteten 12,4 % über das Auftreten schwerer depressiver Symptome und 17,6 % über Angststörungen.33 Studien und Berichte aus anderen Ländern bestätigten diese Befunde und verwiesen ergänzend auf einen dramatischen Anstieg der Sterblichkeit unter den Demenz-Kranken. Die Zahl der Suizidgefährdeten erhöhte sich deutlich. 2020 nahmen sich in Japan 15 % mehr Frauen das Leben als im Vorjahr. Die Zahl der Drogen- und Alkoholtoten stieg in zahlreichen Ländern im Vergleich zu den Vorjahren zwischen 15 und 50 %. An der Peripherie des Weltsystems kam es zu einen markanten Wiederanstieg der wichtigsten infektiösen Massenkrankheiten, während in den hoch entwickelten Zentren psychische Störungen und Krankheitssyndrome zunahmen.
Soweit eine erste Übersicht über die negativen gesundheitlichen Folgen der Lockdowns. Bei der Berechnung der Übersterblichkeit werden zusätzlich zu den direkten Opfern der SARS-CoV-2-Pandemie auch diejenigen Menschen berücksichtigt, die ihr Leben aufgrund der verschlechterten Gesundheitsversorgung verloren haben. Dabei werden die in einer bestimmten Zeitspanne erwarteten Sterbefälle mit der tatsächlich beobachteten Mortalität verglichen.34 Dies ist aufgrund der schwierigen Datenlage nur für die Transatlantikregion möglich, aber auch diese begrenzten Ergebnisse sind aufschlussreich.35 Während der ersten Pandemiewelle starben bis Mai 2020 in England und Wales 74 %, in Schottland 68 %, in den Niederlanden 58 %, im Bundesstaat New York 49 %, in Italien 39 % und in Deutschland 5,9 % mehr Menschen als erwartet. Von ihnen waren zwischen 53 % (Niederlande) und 81,6 % (Deutschland) dem Coronavirus zum Opfer gefallen. Eine für die USA insgesamt durchgeführte Schätzung bezifferte die bis zum 1. August 2020 beobachtete Übersterblichkeit auf 20 % und konnte für nur 67 % der unerwartet Gestorbenen eine vorangegangene Covid-19-Erkrankung nachweisen. Aufschlussreich ist auch die Entwicklung der Übersterblichkeit während der mehr als doppelt so langen zweiten Welle, die wir am Beispiel Deutschland untersucht haben (vgl. Tabelle 6 in Kapitel III.3). Im Vergleich zur ersten Welle erhöhte sich die Übersterblichkeit erheblich, gleichzeitig ging der Anteil der im Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbenen von 81,6 % auf 73,4 % zurück. Dieser Trend dürfte auf die gesamte Transatlantikregion zutreffen. Sicher handelt es sich in allen Fällen um Annäherungswerte, bei denen die unerkannt gebliebenen Covid-19-Opfer genauso wenig berücksichtigt sind wie die fälschlich den Corona-Toten Zugerechneten.36 Trotzdem machen sie den wachsenden Anteil derjenigen Menschen deutlich, die den negativen Folgen der Lockdowns zum Opfer gefallen sind. In den Entwicklungs- und Schwellenländern ist dieser Anteil wahrscheinlich noch größer.
Es ist noch nicht möglich, die Auswirkungen des ›Großen Lockdowns‹ und seiner späteren Varianten auf die SARS-CoV-2-Pandemie abschließend zu beurteilen. Es lässt sich jedoch schon jetzt sagen, dass sich die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt haben. Sicher hatte er abschwächende Effekte auf die Infektionshäufigkeit während der Höhepunkte der Pandemie, aber hier waren die eigenständigen Schutzvorkehrungen der Bevölkerung und die gezielten Präventionsmaßnahmen der Infektionshygiene wirksamer. Auf die Entwicklung der schweren und tödlichen Krankheitsverläufe hatten die pauschalen Restriktionen hingegen keinen Einfluss, denn der Schutz der besonders gefährdeten sozialen Gruppen wurde erst seit der zweiten Welle in den Maßnahmekatalogen der ›Corona-Kabinette‹ berücksichtigt. Hinzu kamen gravierende gesundheitliche Nebeneffekte: eine wachsende Zahl von Nicht-Covid-Erkrankungen und Sterbefällen, weil wichtige medizinische Funktionsketten unterbrochen wurden. Zu bedenken sind darüber hinaus die psychischen Folgen der sozialen Isolation und der dramatische Wiederanstieg der infektiösen Massenerkrankungen in der südlichen Hemisphäre, der Millionen von Menschenleben gefährdete.
Mittelfristig dürfte die Bilanz der pauschalen Kontakt- und Mobilitätsbeschränkungen somit negativ ausfallen. Sie sollten die zu Beginn der Pandemie sichtbar gewordenen strukturellen Defizite und Engpässe des Gesundheitswesens verschleiern und eine Diskussion über den schnellstmöglichen Aufbau eines belastungsfähigeren öffentlichen Gesundheits- und Pflegesektors gar nicht erst aufkommen lassen. Aus dem Bestreben zur Erhaltung des Status quo resultierte eine fatale Wechselwirkung zwischen politischem Aktionismus und neoliberaler Gesundheitspolitik, die die Bekämpfung der Pandemie in einen Circulus vitiosus hineinführte. Die tieferen Ursachen der Pandemiekrise werde ich im übernächsten Kapitel erörtern.