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Daniel Kish verlor als Kleinkind beide Augen, weil er an Netzhautkrebs litt.119 Kishs Spitzname ist »Batman«, weil er gelernt hat, sich in seiner Umgebung – ähnlich wie eine menschliche Fledermaus – mithilfe von Echoortung zu bewegen. Dabei klickt er mit der Zunge und erfasst aus dem Echo des Klicklauts die Gegenstände um sich herum. Diese Technik erlaubt es Daniel, alles zu tun, was sehende Menschen tun, zum Beispiel in den Bergen seiner Heimat Kalifornien zu wandern, zu reisen und – was für uns wahrscheinlich am erstaunlichsten ist – Rad zu fahren. Als Daniels Mutter Paulette sich damit abfinden musste, dass ihr Sohn niemals würde sehen können, stand sie, wie sie in einem Interview der Radiosendung This American Life erzählte, vor einer schweren Entscheidung: »Ihn in Watte zu packen, damit er sich nicht verletzte« oder ihre Angst »wegzustecken« und ihn die Welt erkunden zu lassen wie jedes andere Kind. Sie entschied sich für Letzteres. Daniel brachte sich schon sehr früh die Echoortung oder Klicksonartechnik bei (er selbst nennt sie »FlashSonar«120), und Paulette blieb bei ihrer Entscheidung – selbst als ihr Sohn Ärger mit der Polizei bekam, weil er über den Zaun eines Nachbarn geklettert war121 oder sich seine Vorderzähne ausschlug, als er in der Schule gegen einen Pfosten rannte, und auch nachdem er auf dem Rad mit hoher Geschwindigkeit eine Anhöhe hinuntergefahren und gegen einen Laternenpfahl gekracht war. Natürlich fragten alle immer wieder: »Wie können Sie das nur zulassen?« Dann »sah sie in sein lächelndes Gesicht und dachte: ›Wie könnte ich das nicht?‹.«
Wenn Paulette den Mut fand, ihr blindes Kind Rad fahren zu lassen – ein Kind, das später zwei Studienabschlüsse machte und zum Vorbild wurde, zum Lehrer, Medienstar und Redner sowie Gründer und Präsident der Non-Profit-Organisation »World Access for the Blind« –, dann sollten andere Eltern doch wohl den Mut aufbringen können, ihre sehenden Kinder ganz einfache Dinge tun zu lassen – etwa eine Straße in der Nachbarschaft zu überqueren, unbeaufsichtigt im Vorgarten zu spielen oder Zeit mit ihren Freunden zu verbringen, ohne dass Mama oder Papa dabei sind. Diesen Mut bringen aber nicht viele auf. In unserer ängstlichen Gesellschaft werden Eltern dazu gebracht, ihre Kinder übermäßig zu behüten und in jeder Beziehung einzuschränken – von der Erforschung ihrer Umgebung bis zum Treffen eigener Entscheidungen. Wir geben den Kindern nicht genug Zeit, um etwas zu versuchen und zu scheitern und wieder etwas zu versuchen und wieder zu scheitern. Gesellschaftskritiker und sogar die Verwaltungsangestellten der Hochschulen beklagen, dass so eine Generation junger Erwachsener herangezogen wird, die unfähig sind, eine Entscheidung ohne Mama oder Papa zu treffen. Die Freiheit, zu experimentieren und Risiken einzugehen, ist wichtig für die Förderung von Kreativität, innovativem Denken, Mut und Selbstvertrauen – die Merkmale, für die US-Amerikaner bislang bekannt waren. Aber meine Sorge gilt nicht nur dem Verlust unseres Nationalcharakters. Meine Sorge ist vielmehr, dass die zunehmenden Grenzen, die wir unseren Kindern setzen, die Entwicklung ihrer kognitiven und motorischen Fähigkeiten negativ beeinflussen.
Ich habe bereits im dritten Kapitel dargelegt, dass unsere Tendenz, die Bewegungsmöglichkeiten von Babys einzuschränken, zu einem Anstieg des Flachkopfsyndroms um 600 Prozent geführt hat und auch dazu beiträgt, dass es immer mehr übergewichtige Kinder gibt. Aber es geht um noch mehr. Ich musste feststellen, dass immer mehr junge Patienten unter einer asymmetrischen Haltung, Kraftlosigkeit und Gleichgewichtsproblemen leiden. Ohne angemessene Bewegung im ersten Lebensjahr entwickeln sich die motorischen Endplatten – die neurologischen Verbindungen zwischen den Nerven und den Muskeln – nicht richtig; ist die Stimulierung zu gering, können sich die Fast-Twitch-Fasern nicht entwickeln, die für schnelle, reflexhafte Muskelreaktionen nötig sind. Da frage ich mich, ob wir im Lauf der Zeit immer weniger Spitzensportler haben werden.
Am beunruhigendsten ist jedoch, dass bei Kindern ein Anstieg von kognitiven Problemen und Verhaltensstörungen zu verzeichnen ist und es zum Beispiel immer mehr Fälle von übermäßiger Angst, Depressionen und vor allem ADHS gibt. Was ist der Grund? Sicher spielen auch genetische Voraussetzungen eine Rolle, aber warum treten diese Störungen heute so viel häufiger auf als noch zwei oder drei Generationen zuvor? Könnte es mit unserem Essen zusammenhängen? Oder mit der Luftverschmutzung? Nach Meinung vieler Wissenschaftler und Ärzte – und dazu gehöre auch ich – hängt dieser Anstieg mit den kulturellen Veränderungen zusammen, die die Freiheit, die Bewegung und damit die Entwicklung unserer Kinder unterdrücken.
Ich bin überzeugt, dass viele dieser Störungen und vor allem viele der üblichen Probleme in puncto Disziplin gar nicht erst gravierend würden, wenn wir Kindern mehr Möglichkeiten zum freien Spiel geben würden. Tatsächlich gibt es nicht genügend Möglichkeiten dazu. Babys nehmen an Turn- und Spielkursen teil; größere Kinder toben in Indoor-Spielhallen; noch ältere Kinder nehmen an organisierten Sportkursen teil und betreiben nach dem Unterricht Gymnastik, Kampsport oder spielen Fußball. Ja, sie bewegen sich. Aber sie spielen nicht – jedenfalls nicht so, wie Menschen spielen sollten: draußen, frei und ab einem bestimmten Alter ohne ständige Beaufsichtigung. Sogar damals, noch vor den 1950er-Jahren, als von Kindern noch erwartet wurde zu arbeiten, um zum Familieneinkommen beizutragen, konnten diese selbst über ihre freie Zeit bestimmen und ließen sich etwas einfallen, um Spaß zu haben – und das meist außerhalb des Hauses und ohne die Beaufsichtigung durch Erwachsene.
In vielen Fällen sind die Gründe leicht auszumachen, warum Kinder heute weniger draußen spielen. In benachteiligten städtischen Gegenden sind die Gehwege oft in schlechtem Zustand, und es gibt nur wenige öffentliche Freizeiteinrichtungen wie Parks oder Spielplätze, wo die Kinder spielen könnten (die dort lebenden Familien können sich auch keine teuren Sport- und Spielkurse leisten). Wo auf den Straßen Gewalt herrscht, lassen Eltern ihre Kinder verständlicherweise nicht draußen spielen. Aber in gut situierten Gegenden lassen Eltern ihre Kinder aus den im ersten Kapitel dargestellten Gründen ebenfalls nicht draußen spielen; sie haben sich nämlich von sensationslüsternen Medien überzeugen lassen, dass die Gefahr überall lauert. Weil immer mehr Mütter berufstätig sind, verbringen immer weniger Kinder die Nachmittage in ihrer Wohngegend, das heißt, es versammeln sich in Parks oder auf Höfen auch immer weniger Kinder, die in einer Gruppe sicher zusammen spielen könnten. Unsere Kinder befinden sich heute an sieben Tagen in der Woche 24 Stunden unter Aufsicht, und sie sind von morgens bis abends verplant. In der spärlich gesäten freien Zeit greifen sie meist zu einem elektronischen Gerät, um die Leere zu füllen. Damit will ich nicht sagen, dass im Leben der Kinder kein Platz für Technik sein sollte oder dass digitale Unterhaltung grundsätzlich schlecht ist. Aber zu viel davon kann leicht zur Sucht werden, vor allem wenn damit all jene Augenblicke gefüllt werden, in denen Kinder früher einfach ihren Gedanken nachhingen, sich langweilten oder auch ab und zu etwas taten, was sie in Schwierigkeiten brachte. Ohne diese »leeren Momente« und ohne ruhigere Phasen können viele Aspekte verloren gehen, die für die kindliche Entwicklung von Kreativität und die Fähigkeit, Probleme zu lösen oder sozial zu interagieren, entscheidend sind.
Als Kind in Kenia fiel mir auf, dass afrikanische Familien dem Tagesablauf ihrer kleinen Kinder sehr wenig Struktur auferlegten. Während die Männer und Frauen arbeiteten, rannten die Kinder herum und waren mit Spielen beschäftigt, die so wirkten, als seien sie gerade in diesem Moment erfunden worden. Irgendwann setzten sich alle nieder, um gemeinsam etwas zu essen. Es gab keine festgelegten Zeiten und wenige Regeln. Wenn die Kinder aus der Schule zurückkamen, durften sie eine ganze Weile herumrennen und spielen. Ich stand als kleines Mädchen zwar stärker unter Aufsicht als meine afrikanischen Freunde, aber trotzdem mischte man sich nicht in mein Spiel ein. Das Zuhause meiner Großmutter bot ein lebendiges, abwechslungsreiches Umfeld. Es gab Affen, die in ihren Käfigen herumsprangen, Riesenschildkröten, auf denen ich reiten konnte, Papageien, die gerne mit mir sprachen, und viele andere exotische Tiere. Ich verbrachte meine Tage mit diesen Tieren und meinen Freunden, und ich beschloss, wenn ich eines Tages selbst Kinder hätte, ihnen eine ebenso heitere und ungezwungene Umgebung zu bieten, in der Kinder Kinder sein konnten, auch wenn es Erwachsene im Hintergrund gab.
Nach der Geburt meiner ersten beiden Kinder war ich in der afrikanischen Wüste oft allein mit ihnen, wenn mein Ehemann sich als Geologe auf langen Reisen befand. Damals war ich nicht berufstätig, und wir wohnten in einem Wohnwagen mit einem winzigen, mit Propangas betriebenen Kühlschrank, ohne fließendes Wasser und ohne Strom, ganz zu schweigen von Telefon, Waschmaschine oder Geschirrspüler. Ich war rund um die Uhr beschäftigt. Da alles von Hand gemacht werden musste, stellten wir Rachina ein, eine junge Frau, die im Busch aufgewachsen war (im ersten Kapitel – habe ich sie als die Frau vorgestellt, die zu meinem großen Erstaunen ein paar Stunden nach der Geburt ihres ersten Kindes vor meiner Tür stand, um mir zu helfen). Sie zusammen mit meinen Kindern zu beobachten, war das reinste Vergnügen. Es gab keine Straßen, und wir gingen oft spazieren. Rachina blieb immer wieder stehen, um ein Blatt abzubrechen und die Kinder daran riechen zu lassen, oder sie grub in der Erde, um ihnen etwas zu zeigen, dass sich dort bewegte. Sie rannte mit meinem älteren Jungen voraus, tanzte und sang lauthals zu den Liedern, die aus ihrem kleinen Kofferradio tönten. Sie zeigte den Kindern, wie sie sich eine schöne Zeit machen konnten. Während des Tages beaufsichtigten wir die Kleinen abwechselnd, denn in der Gegend gab es viele Schlangen und Skorpione. Wir sorgten dafür, dass sie sicher waren, aber sie hatten immer viel Zeit und Raum, um ziellos umherzustreifen, Löcher in den Sand zu buddeln, Käfer zu jagen und auf der Erde zu liegen und in die Wolken zu schauen.
Ihre Welt veränderte sich dramatisch, als wir die Wüste verließen. Nach einer kurzen Zwischenstation in Großbritannien zogen wir nach Colorado. Mein ältester Sohn war inzwischen vier, sein kleiner Bruder zweieinhalb Jahre und unser Baby Julianne zehn Monate alt. Wir kauften ein Haus, das wir wegen des dazugehörigen großen Gartens ausgesucht hatten, in dem die Kinder weiterhin frei spielen sollten. Doch wir hatten nicht daran gedacht, dass die Jungs in der Wüste, ohne Verkehr und ohne nähere Nachbarn, keinerlei Gespür dafür entwickelt hatten, wie gefährlich es ist, Straßen zu überqueren. Und wie sich herausstellte, kannten sie auch keinen Respekt vor Türen oder Schlössern. Gleich am ersten Tag rannten sie hinaus auf die Straße, ohne auf die Autos zu achten. Ich wollte eine Firma mit der Errichtung eines Zauns beauftragen, doch mir wurde gesagt, dass es frühestens in einem Monat einen Termin dafür gäbe. Ich flehte den Inhaber an, zu kommen und sich selbst ein Bild von der Situation zu machen. Als er das Sicherheitsrisiko erkannte, änderte er seine Meinung. Er verschob seine anderen Aufträge und errichtete innerhalb einer Woche einen Zaun für uns.
Die Kinder lernten schnell, wie man in einer Stadt überlebt. Und auch als unsere Familie sich veränderte und größer wurde – mein Mann und ich ließen uns scheiden, ich heiratete wieder und bekam mein viertes Kind, David –, achteten wir wie alle anderen Eltern damals darauf, unseren Kindern so viele Freiheiten wie möglich zu lassen. Als die Kinder im Schulalter waren, trafen wir eine Vereinbarung. Sobald mein Mann pfiff, sollten sie ebenfalls pfeifen und sofort nach Hause kommen. Fortan fuhren die Kinder auf ihren Rädern mit Freunden los, und wenn es dunkel wurde, ging Jim auf die Veranda und pfiff. Innerhalb von Sekunden hörten wir die vier ebenfalls pfeifen und wussten, dass sie in ein paar Minuten alle zu Hause wären. Wir lebten nicht wie die Waltons auf dem Land, sondern in einem durchschnittlichen, sicheren städtischen Vorort mit Familien aus der Mittelschicht. Aber wir hielten es für wichtig, dass unsere Kinder auch ohne unsere ständige Aufsicht lernten, Situationen zu beurteilen. Sie sollten auf eigene Faust herausfinden, wie sie mit Freundschaften und auftauchenden Problemen klarkommen konnten, und sie sollten ihre körperlichen Grenzen austesten. Damals waren wir nicht die Einzigen, die so dachten. Alle Nachbarskinder durften in einem vernünftigen Rahmen ohne Aufsicht von Erwachsenen frei spielen. (Mir fiel bereits damals auf, dass amerikanische Eltern sehr gestresst sind, aber erst später kam hinzu, dass sie sich ständig Sorgen um die Sicherheit ihrer Kinder machten.)
Das alles waren wichtige Lektionen, die viele Kinder mittlerweile einfach nicht mehr lernen können – trotz der Tatsache, dass sie in diesem Land heutzutage sicherer sind als je zuvor. Heute dürfen Kinder die Nachbarschaft nicht mehr uneingeschränkt erkunden, ihre Spielplätze sind langweilig und ohne jede Herausforderung, der Sport ist organisiert und wird von Erwachsenen geleitet. Eltern verlassen sich darauf, dass Kinder die charakterbildenden Erfahrungen, die früher ganz natürliche Übergangsrituale waren, in Feriencamps und Kursen außerhalb des Unterrichts machen. Wir versichern uns selbst, dass unseren Kindern nichts fehlt, dass Spiel Spiel ist und nicht das Spielen sich verändert hat, sondern nur die Umgebung. Aber das stimmt nicht. Weil das Spielen im Haus und unter unserer ständigen Beobachtung stattfindet, ist es eben nicht mehr dasselbe. Ob etwas gut für Kinder ist, sollte nicht nur daran gemessen werden, wie viel oder wenig Zeit zum Spielen sie haben, sondern auch daran, welche Erfahrungen sie während des Spielens machen können. Es geht nicht nur darum, dass sie sich bewegen; es geht darum, dass man ihnen ermöglicht, sich ohne die Aufsicht von Erwachsenen in ihrer eigenen Welt zurechtzufinden.
Einige westliche Länder haben die Notwendigkeit erkannt, Kindern wieder mehr unstrukturiertes Spielen zu ermöglichen. In Wales werden Abenteuerspielplätze immer beliebter. Sie könnten glatt für Schrottplätze durchgehen, aber dort dürfen Kinder Hütten bauen und sogar Feuer anzünden. Immer häufiger werden auch Orte für Kinder geschaffen, an denen sie ohne die Anleitung von Erwachsenen ihre eigenen Regeln aufstellen können. Tatsächlich aber beobachtet bei diesen Experimenten ein Erwachsener die Kinder von Weitem, ohne dass sie es merken. Die Ergebnisse sind bislang sehr positiv. In Neuseeland wird erprobt, alle traditionellen Spielplatzregeln zugunsten von freiem, unstrukturiertem Spiel abzuschaffen;122 man hat nämlich herausgefunden, dass Kinder, die denken, sie seien an risikoreichen Spielen beteiligt, vorsichtiger waren und sich nicht so häufig verletzten.
Natürlich haben Kinder sich schon immer mit Puppen, Actionfiguren, Kartenspielen und Puzzles beschäftigt oder stundenlang gelesen. Aber darüber hinaus verbrachten sogar schon Kleinkinder einen großen Teil ihrer Zeit draußen und konnten so die großen Muskelpartien trainieren. Der menschliche Körper hat seine großen Muskelgruppen nicht entwickelt, um sich in einem Zimmer mit Spielzeug zu beschäftigen. Kinder sind dafür geschaffen, die meiste Zeit über mit Rennen, Springen, Laufen und Heben zu verbringen, doch zu dieser Art von körperlicher Aktivität werden sie im Haus natürlich nicht ermuntert. Stattdessen regen die Eltern an, dass die Kinder mit kleinen Autos oder Legosteinen spielen. Dabei werden aber nur die feinmotorischen Fähigkeiten ausgebildet. Diese sind zwar auch wichtig, sollten aber den kurzen Ruhephasen vorbehalten sein, die Kinder zwischen den langen Phasen des Herumtobens einlegen. Ansonsten zwingen wir Körper, die eigentlich für Bewegung gemacht sind, dazu, die meiste Zeit stillzusitzen – und das noch, bevor die Kinder überhaupt zur Schule gehen.
Viele von uns werden sich noch an eine Zeit erinnern, in der der erste Schultag nicht das Ende aller Spiele bedeutete. Im Kindergarten und in den Vorschulen wurde gebastelt, gesungen, man spielte gemeinsam und hatte freie Zeit, um zu tun, was man wollte. Und heute? Zusätzlich dazu, dass man Drei- bis Fünfjährigen beibringt, Wörter richtig zu benutzen und ihre Schuhe zuzubinden, sollen sie oft auch schon lesen lernen. Aber um welchen Preis? In einem Artikel für die Website Scholastic/Teacher beklagt eine Erzieherin: »Während die Testergebnisse von Schulkindern in den Fächern Rechnen und Lesen immer besser werden, wird vernachlässigt, welche Folgen der hohe Stellenwert schulischer Leistungen für die Lernmotivation der Kinder hat, für deren Kreativität, ihre motorischen und sozialen Fähigkeiten und ihr Selbstwertgefühl. Es besteht das Risiko, dass Kinder durch den hohen Leistungsdruck schon aufgerieben sind, bevor sie in die dritte Klasse kommen. Die Schule sollte den Kindern aber Spaß machen, und Kinder lernen durch Spielen. Daher sollte es in den höheren Klassen mehr Zeit zum Spielen geben und in den unteren Klassen keinesfalls weniger.«123
Schön wär’s. Aber obwohl die USA bei schulischen Leistungen im internationalen Vergleich immer schlechter abschneiden, benennen Erziehungsreformer und Politiker nicht die wirklichen Schuldigen, nämlich Armut, unzureichende Voraussetzungen für die Zulassung von Erziehern und Lehrern und den mangelnden Respekt des Landes gegenüber den Lehrern und der Schule im Allgemeinen. Stattdessen kürzen diese Leute weiterhin die Schulpausen und den Sportunterricht, streichen den Mittagsschlaf in Kindertagesstätten und beschränken die Essenszeiten – all das zugunsten von schulischer Strenge und Disziplin.
Interessant ist dabei, dass in vielen der Länder, die uns in puncto schulische Leistungen überlegen sind, Kinder im Schulalltag mehr Zeit zum Spielen haben als bei uns. In Finnland zum Beispiel, das sich in den letzten Jahrzehnten immer auf den ersten Plätzen der Rankings befand, gehen die Kinder erst mit sieben Jahren zur Schule,124 und zwischen den 45 Minuten dauernden Unterrichtsstunden haben Schüler und Lehrer jeweils 15 Minuten Pause. Der Schultag von asiatischen Grundschülern ist ähnlich strukturiert. Um Chinas Konkurrenzfähigkeit zu erhalten, hat das dortige Erziehungsministerium als Maßnahme zur Steigerung von Kreativität und innovativem Denken angeregt, mehr Spiele in den Schultag aufzunehmen, zum Beispiel durch eine Partnerschaft mit Lego Education, »um ›Lernen durch Spielen‹ zu ermöglichen«.125 Außerdem wurden Eltern und Schulen angewiesen, Schritte zu unternehmen, um »die Belastung der Kinder zu verringern und ihnen mehr Zeit zum Spielen zu geben«.126
Unsere Nation ist besessen davon, die kognitiven Fähigkeiten von Kindern zu verbessern, damit sie in einem immer härter werdenden Kampf um Ressourcen, akademische Rangstufen und Karrierechancen bestehen können. Es ist jedoch nicht sinnvoll, das freie Spiel zugunsten von kognitiven Übungen einzuschränken. Die Entwicklung des jungen, unausgereiften Gehirns hängt eng mit der körperlichen Entwicklung zusammen. Die motorische und muskuläre Entwicklung und die damit einhergehenden Verknüpfungen mit dem zentralen Nervensystem sind entscheidend für die gesamte Entwicklung eines Kindes – vom Gleichgewichtssinn bis zur Logik. Spielen und grobmotorische Bewegungen sind genauso bedeutend für die kognitive Entwicklung eines 18 Monate alten Kleinkinds wie laut vorgelesene Gutenachtgeschichten und das Hören von Musik. Von der motorischen profitiert immer auch die kognitive Entwicklung. Sie müssen einen Mittelweg zwischen den beiden finden.
Es ist nicht sinnvoll, das freie Spiel zugunsten von kognitiven Übungen einzuschränken.
Die formale Ausbildung bis ins achte Lebensjahr zu verschieben, damit Kinder mehr Zeit zum Spielen haben, ist in unserem Land nicht möglich. Es gibt jedoch Wege, wie Eltern ihren Kindern mehr Zeit für freies Spielen einräumen können, wenn nötig unter Aufsicht, wenn möglich unbeaufsichtigt.
Noch einmal: Fernseher, Tablet & Co.
Meine erste Empfehlung ist sicher keine große Überraschung für Sie: Lassen Sie Ihre Kinder möglichst wenig Zeit vor Bildschirmen verbringen. Wie ich bereits geschrieben habe, sollten Kinder unter zwei Jahren am besten gar nicht vor dem Fernseher oder dem Computer sitzen. Es ist einfach nicht gut für die Entwicklung des zentralen Nervensystems. Aber ein älteres Kind wird ganz bestimmt irgendwann fernsehen wollen, und Sie möchten es ihm sicher auch erlauben. Junge Eltern mögen den Moment herbeisehnen, an dem ihr Kind alt genug ist, um sich am Wochenende eine Schüssel Cornflakes zu machen und sich vor den Fernseher zu setzen, damit sie selbst ausschlafen können. Aber wir sind zu einer Gesellschaft geworden, die Kinder ganz bewusst und zu jeder Tageszeit vor irgendwelche Bildschirme setzt, um sie ruhigzustellen. Oft brauchen wir diese Phasen, um so viel wie möglich zu erledigen, zum Beispiel Essen zu kochen, Sport zu machen oder in letzter Minute eine Präsentation für die Arbeit fertigzustellen. Und unsere Kinder verbringen nicht nur ab und zu eine Stunde vor dem Fernseher, Laptop, Tablet oder Smartphone – im Durchschnitt verbringen Kinder unter acht Jahren täglich zwei Stunden mit diesen Geräten.127 Das allein wäre noch kein Problem, wenn sie den Großteil ihrer übrigen Freizeit draußen verbringen oder in Bewegung sein würden. Aber das sind sie nicht. Kinder müssen öfter Gelegenheit bekommen, ihre grobmotorischen Fähigkeiten zu trainieren, nicht nur ihre Feinmotorik, die auch durch die vorm Computer verbrachte Zeit verbessert werden kann. Etwas Zeit vor dem Bildschirm zu verbringen, ist aber in Ordnung. Zur Sprechstunde im Krankenhaus kamen häufig auch kleine Kinder mit Smartphones oder Tablets. In einer Arztpraxis kann es sogar eine gute Idee sein, ein elektronisches Gerät mitzubringen, weil es Kinder ablenkt und ihnen so etwas Angst nimmt. Dennoch sollten sie generell öfter mit anderen Menschen spielen – in direktem Kontakt, ohne einen zwischengeschalteten Bildschirm. Sie müssen Bälle werfen, hopsen, rennen und aus vollem Hals schreien können.
Wenn Kinder zu Hause sind, sollten sie in der realen Welt spielen, nicht in der virtuellen. Oft werden Tablets, Smartphones und Fernseher eingesetzt, um Kinder vor Gefahren zu schützen, weil die Erwachsenen zu beschäftigt sind, um sie fortwährend zu beaufsichtigen. Aber wenn Sie die richtigen Vorkehrungen getroffen haben, um die Umgebung des Kindes abzusichern, brauchen Sie nur ab und zu nach ihm zu sehen. Natürlich müssen Sie auf ein kleines Durcheinander vorbereitet sein. Vielleicht findet ihr Kleines großen Spaß daran, das Toilettenpapier abzurollen und auszuprobieren, wie weit es durch den Flur reicht. Machen Sie ein Foto – es sieht lustig aus, geben Sie’s zu! – und rollen Sie es dann so gut wieder auf, wie es eben geht. Das Toilettenpapier lässt sich durchaus noch benutzen. Wenn Sie nicht möchten, dass Ihre ganze Küche auf den Kopf gestellt wird, bringen Sie an den Schränken kindersichere Verschlüsse an (vor allem am Schrank unter der Spüle); lassen Sie einen Schrank mit Plastiksachen offen, damit Ihr Kind dort etwas zu erforschen hat.
Als ich noch in der Ausbildung war, musste ich zu Hause oft dafür lernen. Anstatt von meinen Kindern zu fordern, sich drinnen zu beschäftigen und sich dabei ruhig zu verhalten, ließ ich sie selbstständig im Garten spielen. Ich setzte mich mit meinem Computer oder Buch entweder unter einen Baum oder auf die Terrasse, sodass ich den Garten überblicken konnte. Ab und zu sah ich auf und beobachtete die Kinder beim Spielen, ohne mich einzumischen. Wenn ein Kind mir etwas zeigen oder vorführen wollte, konnte ich ihm bestätigend zulächeln. Und so hielt ich es die meisten Tage, auch wenn das Wetter nicht perfekt war. Die Kinder störte schlechtes Wetter nicht, solange sie entsprechend angezogen waren.
Doch welche Sicherheitsrisiken für Ihr Kind sollten Sie wirklich ernst nehmen? Die tatsächlichen Gefahren, mit deren Folgen ich in meiner 25-jährigen Erfahrung als Kinderärztin immer wieder konfrontiert wurde, lassen sich an einer Hand abzählen.
Stürze
Die meisten Eltern wissen, wie sie ihr Zuhause absichern können, sobald sich ihr Kind auf irgendeine Weise selbstständig fortbewegt, aber einige meiner kleinen Patienten, die ich wegen Gehirnerschütterungen oder schweren Kopfprellungen behandelte, konnten noch nicht einmal krabbeln. Viele dieser Unfälle passieren, weil gerade bestimmte Vorrichtungen, die unsere Kinder schützen sollen, den Eltern ein falsches Sicherheitsgefühl vermitteln. Mama oder Papa bringen ihre Kleinen angeschnallt im Kindersitz aus dem Auto ins Haus und stellen den Sitz dann auf einem Tisch oder Bett ab. Aber diese Kindersitze sind instabil, sobald sie nicht mehr im Auto fixiert sind. Wenn das Baby schon etwas größer ist und sich darin bewegt, kann der Sitz mitsamt dem Kind verkehrt herum auf den Fußboden fallen. Manchmal ist das Baby auch gar nicht angeschnallt und fällt bei einer Drehbewegung aus dem Sitz. Dabei können sich die Kleinen schlimme Kopfverletzungen oder komplizierte Arm- oder Beinbrüche zuziehen. Ich behandelte ein fünf Monate altes Baby wegen einer schrecklichen Beule am Kopf, die es sich beim Sturz auf den harten Fliesenboden zugezogen hatte. Seine Eltern hatten es in einen Bumbo gesetzt – einen niedrigen, weichen Sitz, der es Babys ermöglicht, aufrecht zu sitzen – und diesen auf einen Stuhl gestellt, von dem das Baby dann hinunterfiel.
Mein persönlicher Sicherheitstipp
Transportieren Sie Ihr Baby im Auto ausschließlich im Kindersitz. Wenn Sie den Kindersitz auch als Babyschale nutzen, um das Kind ins Haus zu tragen, stellen Sie ihn nirgendwo anders ab als auf dem Fußboden. Außerdem – wie bereits im dritten Kapitel dargelegt – sollten Kinder möglichst nur während einer Autofahrt länger im Kindersitz verweilen.
Verbrennungen
Allen Eltern ist es wohl in Fleisch und Blut übergegangen, kleine Kinder immer wieder zu ermahnen, während des Kochens vom Herd wegzubleiben, und sie von kochendem Wasser fernzuhalten. (Achten Sie auch darauf, wohin Sie das Abtropfsieb mit den heißen Nudeln stellen.) Aber während man im Allgemeinen an den heißen Kochtopf denken, vergisst man oft die Tasse mit dampfendem, heißem Kaffee oder Tee. Kleine Kinder stoßen schnell einmal eine Tasse am Rand des Küchentisches um, vor allem, wenn sie sich bei den ersten Gehversuchen am Tisch festhalten.
Wenn Sie einen Lockenstab benutzen, achten Sie darauf, wo sie ihn ablegen. Toilettentische im Badezimmer sind ziemlich niedrig, und Kinder können leicht den Schaft umfassen. Es kann auch passieren, dass sie auf das herabhängende Kabel treten und der heiße Stab ihnen auf den Kopf oder ins Gesicht fällt.
Die meisten Menschen fühlen sich von der tanzenden Glut eines Kaminfeuers angezogen, und in besonderem Maße gilt dies für Kinder, die es auf Augenhöhe vor sich haben. Stellen Sie sicher, dass die Abschirmung, die Sie um den Kamin herum aufgebaut haben, verschlossen und unbeweglich ist, sonst könnte sie auf Babys und Kleinkinder fallen, die daran ziehen. Wenn Sie einen Gaskamin mit Glastür kaufen, wählen Sie einen mit Gitter, damit die Kinderhände nicht das Glas berühren können – die Glastür kann so heiß werden, dass sich die Haut ablöst und Verbrennungen dritten Grades entstehen.
Mein persönlicher Sicherheitstipp
Solange Sie sich nicht vom Gegenteil überzeugt haben, sollten Sie immer davon ausgehen, dass alle Hitze ausstrahlenden Geräte eingeschaltet sind. Gewöhnen Sie sich an, mit allen Töpfen und Tassen so umzugehen, als enthielten sie heiße Flüssigkeiten.
Vergiftungen (einschließlich Hautreizungen)
Kinder sind neugierig. Sie möchten überall herumstöbern, hineinsehen und alles erforschen, zunächst mit den Händen, später oft auch mit dem Mund. Flaschen in leuchtenden Farben, gefüllt mit interessanten (giftigen) Flüssigkeiten, und Behälter mit rieselndem (ätzendem) Pulver sind für die Kleinen wie Magnete. Manche Medikamente haben hübsche Farben, riechen süß oder laden zu näherer Untersuchung ein. Auch Katzenstreu, durch die Toxoplasmose übertragen werden kann, reizt kleine Kinder zum Hineingreifen.
Mein persönlicher Sicherheitstipp
Stellen Sie Ihre Reinigungsmittel an einen Ort, an den kleine Kinder nicht herankommen. Das Gleiche gilt für Reinigungstabs, etwa für die Spülmaschine, an denen Kinder sogar schon erstickt sind. Medizinschränkchen müssen abgeschlossen sein, auch wenn sie über dem Waschbecken hängen – Kinder finden Wege, um dort hinaufzuklettern, wenn sie erforschen wollen, was sich hinter den Schranktüren befindet. Wenn Sie eine Katze haben, vor allem wenn diese nach draußen kann, wechseln Sie die Einstreu des Katzenklos täglich und stellen Sie es an einen für Kinder unzugänglichen Platz.
Ertrinken
Ein kleines Kind kann auch dann ertrinken, wenn das Wasser nur wenige Zentimeter tief ist. Ich kenne Fälle, in denen Eltern, während das Kind in der Wanne saß, nur eine Minute hinausliefen – und bei ihrer Rückkehr war es mit dem Gesicht unter Wasser geraten. Nichts ist so wichtig, dass es nicht warten kann, bis die Badezeit vorbei ist.
Unfälle in Schwimmbecken kommen leider oft vor. Einige städtische Badeanstalten verlangen bei Kindern unter sechs Jahren, dass pro Kind mindestens eine erwachsene Begleitperson dabei sein muss. Auch wenn es im privaten Swimmingpool im Garten nicht so viele Ablenkungen gibt, sollten Sie diese Regel vielleicht auch dort anwenden. Allerdings ertrinken Kinder manchmal auch deshalb in Pools, weil niemand weiß, dass sie sich überhaupt dort aufhalten. Kinder beschließen einfach, im Garten spielen zu gehen, und fallen dann aus Versehen hinein. Oder sie wollen auf eigene Faust im Pool oder in dem des Nachbarn baden. Daher sollte ein Swimmingpool im Garten eingezäunt und der Zugang mit einem abschließbaren Tor gesichert sein. Zusätzlich ist es sinnvoll, eine Abdeckung über dem Pool anzubringen, wenn er nicht benutzt wird, oder ein Alarmsystem zu installieren, das Sie informiert, sobald etwas oder jemand ins Wasser fällt.
Meine persönlichen Sicherheitstipps
Lassen Sie Kinder unter vier Jahren niemals im Badezimmer allein, während das Wasser in die Badewanne einläuft. Keine Ausnahmen.
Lassen Sie Kinder unter vier Jahren niemals unbeaufsichtigt in der Badewanne, auch nicht im Sicherheitssitz oder der Babywanne. Keine Ausnahmen.
Leeren Sie die Badewanne sofort nach Beendigung des Bades. Keine Ausnahmen.
Lassen Sie ein Kind niemals unbeaufsichtigt in der Nähe des Swimmingpools zurück, auch nicht, wenn es schon schwimmen kann (Kinder können ausrutschen und bewusstlos sein, wenn sie ins Wasser fallen), und auch dann nicht, wenn ältere Kinder dabei sind. Nicht einmal eine Minute. Keine Ausnahmen.
Hundebisse
Laut der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC werden jedes Jahr 4,5 Millionen Amerikaner von Hunden gebissen; in der Hälfte der Fälle handelt es sich bei den Opfern um Kinder. Zwar kann jeder Hund plötzlich und unerwartet aggressiv werden, auch das eigene Haustier, aber die meisten Hundebisse resultieren aus dem Kontakt mit einem fremden Hund. Es gibt keinen Grund, Kindern Angst vor Hunden zu machen, aber Sie sollten immer gut aufpassen, wenn ein kleines Kind sich in der Nähe eines fremden Tiers aufhält.
Mein persönlicher Sicherheitstipp
Informieren Sie sich, wie Sie am besten mit dem Familienhund umgehen, wenn ein neues Baby ins Haus kommt. Haustiere können anfangs eifersüchtig reagieren. Bringen Sie Ihrem Kind bei, wie es mit dem Haustier sicher umgeht, und passen Sie immer auf, wenn sehr kleine Kinder in der Nähe des Tieres sind. Auch sanftmütige Hunde können beißen, und Katzen können kratzen, wenn sie unerwartet oder gegen ihren Willen angefasst werden.
Jede dieser fünf häufigen Unfallursachen bei Kindern kann mit ein paar einfachen Sicherheitsvorkehrungen behoben werden.
Die Industrie für Baby- und Kleinkindprodukte will uns weismachen, dass wir Unsummen ausgeben müssen, um jede Oberfläche, jede Tür und jeden Einrichtungsgegenstand kindersicher zu machen. Ich habe Ihnen hier eine Liste mit den wenigen Produkten zusammengestellt, die Sie wirklich brauchen, sobald Ihr Baby anfängt zu krabbeln, sich hochzuziehen und zu laufen:
Um ganz sicherzugehen, dass Sie auch keinen Gefahrenbereich übersehen haben, lassen Sie sich auf Hände und Knie nieder und schauen Sie sich in Ihrer Wohnung oder Ihrem Haus aus der Perspektive eines kleinen Kindes um. Haben Sie hohe Möbel oder einen sehr großen Fernseher, verankern Sie die Gegenstände an der Wand, damit sie nicht auf Ihr Kind kippen, falls es beschließt, daran hochzuklettern. Neben zusätzlichen Vorkehrungen, die Sie eventuell für Ihre individuelle Wohnsituation brauchen, und einem Autokindersitz ist das wirklich alles, was Sie kaufen müssen, um eine sichere Umgebung für Ihr Kleines zu schaffen. Das bedeutet nicht, dass es sich nicht wehtun wird. Das wird es ganz sicher. Kinder zwischen zwölf und 18 Monaten haben oft kleine Beulen und Platzwunden, das ist normal! Lassen Sie sich nicht von Ihrer Fantasie verrückt machen, dann werden Sie und Ihre Kinder ruhiger, zufriedener und selbstsicherer sein. Kinder kommen auf alle möglichen Ideen, also müssen Sie natürlich wachsam sein. Und selbst wenn keine ernsthaften Probleme daraus entstehen, kann es ab und zu schmerzhaft, stressig und eventuell auch teuer werden.
Sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind jeden Tag nach draußen kommt. Immer mehr Studien weisen darauf hin, dass das Spielen an der frischen Luft Kindern nicht nur die Möglichkeit gibt, sich auszutoben, sondern auch der geistigen Erholung dient und die kognitiven Fähigkeiten fördert. (Denken Sie daran, dass finnische Schüler, die im internationalen Vergleich so besonders gut abschneiden, in der Schule täglich 75 Minuten frei spielen können, und das normalerweise draußen, wenn es nicht gerade eiskalt ist.128) Wenn Sie einen großen, für Kinder gesicherten und demnach ungefährlichen Garten haben, sollte das natürlich kein Problem sein. Ist Ihr Kind erst einmal vier oder fünf Jahre alt, können Sie es dort allein spielen lassen. Sie können ab und zu durchs Fenster schauen, um nach ihm zu sehen, oder Sie setzen sich nach draußen und geben ihm das Gefühl, die Welt auf eigene Faust zu erforschen, bevor Sie sich zu ihm gesellen und zusammen Spaß haben. Draußen zu sein wirkt entspannend auf Eltern und Kinder, und wenn ich Ihnen mit diesem Buch eine Botschaft vermitteln möchte, dann ist es die, dass weniger Stress, Angst und Reizüberflutung zu einem glücklicheren Leben führt. Planen Sie die Zeit, die Sie zu Hause mit Ihren Kindern verbringen, nicht um Erledigungen und Kurse herum, sondern lassen Sie den Aufenhalt im Freien zum Höhepunkt des Tages werden, der wichtiger als alle Verpflichtungen ist. Besuchen Sie Parks in der umliegenden Gegend; machen Sie Spaziergänge mit dem Hund; machen Sie Spaziergänge ohne den Hund; tun Sie alles Mögliche, um Orte zu finden, an denen man herumstreifen, wandern und etwas erforschen kann.
Natürlich ist dieser Rat für nicht berufstätige Eltern viel leichter zu beherzigen als für diejenigen, die zur Arbeit müssen. Aber gerade bei diesem Thema können auch gute Betreuungseinrichtungen oder der Besuch eines Hortes nach dem Unterricht hilfreich sein, auch wenn Ihr Kind dort jeden Tag nur einige Stunden verbringt. In solchen Einrichtungen nämlich wird meist darauf geachtet, dass sich ruhiges Spielen im Haus und Herumtoben im Freien abwechseln. Und gerade weil das Verhältnis zwischen Betreuungsperson und Kind dort anders ist als zu Hause, haben die Kleinen schon frühzeitig die Möglichkeit, ihre Welt auch einmal alleine zu erforschen und Beziehungen ohne die Unterstützung ihrer Eltern aufzubauen. Die Tochter von Ahn aus Vietnam ging eine Zeit lang in den Kindergarten, und Ahn erzählte mir, dass sie ihre Kleine nie glücklicher gesehen hätte. »Sie konnte dort spielen und herumrennen, so viel und so lange sie wollte. Aber dann wurde mir der Kindergarten zu teuer.« Fortan bezahlte Ahn eine Verwandte dafür, dass sie zu ihr nach Hause kam und auf das Mädchen aufpasste. Ahn wusste, dass ihre Tochter gut und liebevoll betreut wurde, aber sie war sicher, dass der Kindergarten eine bessere Erfahrung für sie gewesen wäre.
Von wem auch immer Ihre Kinder betreut werden, sorgen Sie dafür, dass sie jeden Tag nach draußen kommen, egal ob es regnet oder die Sonne scheint, ob es kalt oder heiß ist. Und wenn Sie selbst Ihr Kind betreuen, befolgen Sie dieselbe Regel. Es muss nicht für lange sein, aber frische Luft ist ein großartiges Stärkungsmittel für jeden, ob jung oder alt.
Betrachten Sie diese Auszeit mit Ihrem Kind als ein Workout. Falls Sie wenig Zeit haben, aber etwas für Ihre körperliche Fitness tun wollen, könnten Sie, statt regelmäßig Sport zu machen, mit Ihren Kindern im Garten Ball spielen oder Rad fahren. Ich garantiere Ihnen, dass Ihr vierjähriges Kind Sie ins Schwitzen bringen wird. Als mein Ältester sechs Jahre alt war, konnte ich kaum noch mit den Kindern mithalten; nach dem Spielen im Garten war ich durchgeschwitzt und total erschöpft. Machen Sie sich schon frühzeitig zur Gewohnheit, mit Ihren Kindern draußen zu sein, möglichst schon, wenn sie noch kleine Babys sind und nur auf einer Decke im Gras herumrollen. Gewöhnen Sie die Kleinen früh daran, viel an der frischen Luft zu sein, dann wird es ihnen zum Bedürfnis und zu einem selbstverständlichen Teil ihres Tagesablaufs werden, den sie nicht als aufgezwungene Maßnahme empfinden. Und wahrscheinlich werden auch Sie diese besondere Pause bald sehr schätzen. Sie stärkt Körper und Geist und wirkt wie geistige Entspannung beim Yoga und Ausdauertraining auf dem Laufband in einem. Außerdem haben dabei sowohl Kinder als auch Eltern ihren Spaß. Wenn man kleinen Kindern hinterherjagt, kommt man schnell ins Schwitzen, und die Pulsfrequenz steigt. Ist das nicht viel besser, als Gewichte zu stemmen oder im Fitnessstudio auf dem Rad zu sitzen?
Manchmal werden Sie einfach nicht in der Stimmung zum Spielen sein, aber ich rate Ihnen dringend, sich dennoch zu überwinden, genauso wie man sich manchmal selbst dazu überreden muss, ins Fitnessstudio zu gehen. Sie werden erstaunt sein, wie beim Fangenspielen mit Ihren Kindern der Stress von Ihnen abfällt und wie wohl Sie sich danach körperlich fühlen. Kindern zu ermöglichen, zum Spielen häufig in der Natur zu sein, wirkt sich auch positiv auf das Familienleben aus. Wenn die Kinder älter sind, wird ihnen das Lernen leichter fallen, und es werden Personen sein, mit denen man gern zusammen ist. Das sollte Ihnen als Ansporn ausreichen.
Fördern Sie die Risikobereitschaft
Wenn die Kinder älter werden, sollten Sie sie darin bestärken, mutig zu sein und kleine Risiken in Kauf zu nehmen. Kinder lernen besser, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen, wenn sie die Gelegenheit haben, ihre Grenzen auszutesten. Ermutigen Sie vor allem die Mädchen, beim körperbetonten Spiel nicht zimperlich zu sein. In unsere Klinik kamen viel mehr Mädchen mit Knochenbrüchen als Jungen, weil sie einfach nicht so viel Erfahrung mit körperlicher Aktivität hatten. Im Allgemeinen toben Jungen mehr und sind geübter, wenn sie fallen – sie rollen sich ab. Mädchen hingegen strecken oft den Arm aus, um einen Sturz abzufangen, wobei sie sich einen Knochenbruch zuziehen können. Ermutigen Sie alle Ihre Kinder grundsätzlich, ihre Grenzen zu erkennen und sicher darin zu werden, für ihren eigenen Schutz zu sorgen.
Ich weiß, dass diese Forderung den Eltern heutzutage viel abverlangt. Wir leben in einer Welt, in der es häufig zu Schadensersatzklagen kommt. Die Spielplatzgeräte, die viele von uns als Kinder kannten – Karussells, lange Rutschen, Wippen –, sind in den USA mittlerweile fast gänzlich verschwunden. Aber indem wir verhindern wollen, dass unsere schlimmsten Albträume wahr werden, schränken wir nicht nur die motorischen Fähigkeiten unserer Kinder ein, sondern auch ihr kognitives und emotionales Wachstum. Gleichzeitig setzen wir das Leben unserer Kinder bei jeder Autofahrt einem höheren Risiko aus, als wenn wir sie auf den Spielplatz oder in einen nahe gelegenen Park schicken.
Kinder werden das Risiko suchen, egal wie sehr Sie sie davor beschützen wollen. Wenn Sie sehen, dass Ihr Kind ein körperliches Risiko eingeht, holen Sie tief Luft und fragen Sie sich, wie gefährlich es wirklich werden kann. Nehmen Sie Ihrem Kind nicht die Gelegenheit, wichtige Lektionen fürs Leben zu lernen. Der Umgang mit der Angst und dem Risiko muss erst einmal trainiert werden. Sollte ein kleinerer Unfall passieren, geben Sie sich nicht die Schuld und werfen Sie auch Ihrem Kind kein Fehlverhalten vor. Es war eine Lektion, die ihm nützen wird.
Ich werde Ihnen nicht weismachen, dass Ihre Kinder sich nie verletzen werden, wenn Sie sie auf diese Art erziehen – wahrscheinlich werden sie es. Kinder tun sich weh, und sie verletzen sich, wie sehr Sie auch versuchen werden, sie davor zu beschützen. Wir alle lernen auf diese Art – wir fallen und wissen, dass wir wieder aufstehen können. Unsere Fantasie lässt manchen von uns glauben, dass an jeder Ecke eine Katastrophe lauert. Wenn wir jedoch jedes Risiko vermieden, würden wir nie etwas Interessantes tun.
Wir sollten unsere negative Einstellung nicht auf unsere Kinder übertragen. Ein gelassener Umgang mit kleinen Beulen und Prellungen ist wichtig, um nicht ständig in Angst zu leben. Noch wichtiger ist, dass wir das auch unseren Kindern beibringen. So werden sie stärker und klüger. Geben Sie ihnen die Freiheit, stark, unabhängig und furchtlos zu werden; diese Fähigkeiten werden ihnen später helfen, ein erfolgreiches Leben zu führen. Und nehmen auch Sie sich mehr Zeit zum Spielen, ob allein oder mit Ihren Kindern. Je mehr Stress die Eltern abbauen und je mehr Zeit wir den Kindern zum Spielen geben, desto eher werden wir ohne die seltsamen und belastenden Probleme leben können, unter denen Familien heutzutage leiden.