Das perfekte Leben meiner Schwester

Familiendrama

Sophie Edenberg

Für die Schwester,
die ich nie hatte

Inhalt

Titelseite

Widmung

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

KAPITEL 50

KAPITEL 51

KAPITEL 52

KAPITEL 53

KAPITEL 54

KAPITEL 55

KAPITEL 56

KAPITEL 57

KAPITEL 58

KAPITEL 59

KAPITEL 60

KAPITEL 61

KAPITEL 62

KAPITEL 63

KAPITEL 64

KAPITEL 65

KAPITEL 66

KAPITEL 67

KAPITEL 68

KAPITEL 69

KAPITEL 70

KAPITEL 71

KAPITEL 72

KAPITEL 73

KAPITEL 74

FEEDBACK

ÜBER SOPHIE EDENBERG

IMPRESSUM

KAPITEL 1

Emma.

M it zusammengekniffenen Brauen starrte Emma auf das vergilbte Blatt. In der staubigen Scheibe des Schranks sah sie ihr Spielbild aufleuchten – lange, dunkle Haare, zu einem lockeren Zopf geflochten, die Augenbrauen über den schokoladenbraunen Augen zusammengezogen.

Sie beugte sich vor, um genauer hinzusehen. Doch sie hatte richtig gelesen, da stand es, schwarz auf weiß, auf dem als Abstammungsurkunde betitelten Dokument.

Mutter: Ekaterina Moldova. Der Name sagte ihr nichts.

Sie blätterte weiter. Endlich fand sie, was sie gesucht hatte. Da war sie ja, ihre Geburtsurkunde.

Eltern: Lukas und Silvia Schneider.

Merkwürdig. Vorsichtig ließ sie den zerschlissenen Aktenordner aufschnappen und hielt beide Schriftstücke nebeneinander. Das konnte doch nicht sein.

Unvermittelt flog die Tür hinter ihr auf. Emma, die auf den Knien am Boden gesessen hatte, spürte einen dumpfen Schmerz, als ihr die Türkante in den Rücken stieß. Sie fuhr herum und erblickte ihren Vater, der im Türrahmen aufgetaucht war. Er hatte die Arme vor dem eindrucksvollen Bierbauch verschränkt – ein Zeugnis der vielen Fernsehabende auf dem Sofa.

„Was zum Teufel hast du in meinem Arbeitszimmer zu suchen?“

Emma drückte schützend die beiden Blätter an die Brust. „Ich habe nur meine Geburtsurkunde gesucht.“

Zwischen seinen Brauen hatte sich eine steile Zornesfalte gebildet. „Und wofür brauchst du die, wenn ich fragen darf?“

„Für die Anmeldung zur Führerscheinprüfung“, gab sie kleinlaut zu.

Der Wutausbruch ihres Vaters folgte wie das Amen im Gebet. „Wie oft soll ich es dir noch erklären? Vergiss den Führerschein. Du brauchst ihn nicht. Deine Mutter und ich werden keinen Cent für diesen unnötigen Schwachsinn ausgeben!“

Emma senkte den Blick. Bevor sie noch etwas erwidern konnte, riss er ihr den Aktenordner von den Knien und zerrte sie auf die Beine. „Und jetzt raus aus meinem Arbeitszimmer. Du hast hier nichts verloren!“

Mit hängendem Kopf trat sie den Rückzug in ihr Zimmer an. Der Raum maß keine sechs Quadratmeter und wurde von dem schmalen Bett und dem alten IKEA Pax, der nur von ein paar vereinzelten Schrauben zusammengehalten wurde, fast vollständig ausgefüllt. Die Dachschrägen verstärkten das Gefühl der Beengtheit noch. Emma zog die Zimmertür hinter sich zu und ließ sich schwer atmend auf die Matratze fallen. In ihrem Kopf rumorten die Gedanken.

Wer zum Teufel war diese Ekaterina Moldova? Was hatte ihr Name auf ihrer Abstammungsurkunde zu suchen? Und was war das überhaupt, eine Abstammungsurkunde?

Sie langte unters Bett und zog ihren Laptop hervor. Dr. Google würde ihr die Antwort schon liefern. Während sie ihn aufklappte, achtete sie darauf, das Display nicht zu berühren. Der Bildschirm des alten Lenovos war von einem tiefen Sprung durchzogen – das Ergebnis der Unachtsamkeit ihres jüngeren Bruders Julian. Er hatte daraufhin zum Geburtstag einen neuen bekommen, weshalb Emma das alte Gerät hatte übernehmen dürfen. Von dem optischen Makel und einigen Schrammen einmal abgesehen, funktionierte er jedoch noch einigermaßen.

Emma tippte die Begriffe „Abstammungsurkunde“ und „Geburtsurkunde“ in die Suchmaschine und rief die Seite von Wikipedia auf.

Die Abstammungsurkunde ist eine Personenstandsurkunde nach deutschem Recht zum Nachweis der Geburt eines Kindes.

So weit so gut. Sie scrollte weiter und fand die gewünschte Information.

Bedeutsam ist der Unterschied zwischen Geburts- und Abstammungsurkunde, wenn jemand adoptiert worden ist und heiraten will: In der Geburtsurkunde stehen nur die Adoptiveltern, in der Abstammungsurkunde hingegen sind die biologischen Eltern angeführt. Mit dem Personenstandsrechtsreformgesetz zum 1.1.2009 wurde die Abstammungsurkunde abgeschafft.

Während sie las, zitterten ihre Hände so heftig, dass sie kaum den Cursor stillhalten konnte. Ihr Verstand hatte Mühe, die soeben gelesenen Informationen zu verarbeiten. Adoptiveltern ? Sie, Emma, sollte adoptiert worden sein?

Sie schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn. Sie war immer davon überzeugt gewesen, dass sie das Ergebnis einer ungewollten Schwangerschaft war. Ihre Eltern ließen schließlich keine Gelegenheit aus, ihr zu sagen, was für eine Belastung sie war, sodass die Schlussfolgerung naheliegend gewesen war. Wer adoptierte denn ein Kind, wenn er es doch nicht wollte?

Emma zwang sich, tief durchzuatmen und Ruhe zu bewahren. Alles der Reihe nach, mahnte sie sich. Sie würde ihre Mutter darauf ansprechen. Bestimmt konnte sie ihr mehr verraten.

Resolut klappte Emma den Laptop zu und eilte in die Küche, wo Silvia Schneider mit dem Rücken zur Tür am Herd stand und geschäftig in einem Topf rührte. Sie trug eine altmodische Schürze mit Blümchenmuster, die sich über ihren ausladenden Körper spannte. Ihre ergrauten Haare wurden von einer breiten Spange zusammengehalten, aus der sich vereinzelte Strähnen gelöst hatten. Der unverkennbare Geruch von Linseneintopf lag in der Luft. Emma rümpfte die Nase. Sie konnte Linseneintopf nicht ausstehen.

Sie räusperte sich geräuschvoll. „Mama, hast du einen Moment? Ich würde dich gerne etwas fragen.“

Diese stöhnte auf. „Siehst du nicht, dass ich gerade koche? Was machst du überhaupt noch hier? Solltest du nicht längst im Nexos sein? Fürs Abendessen habe ich dich nicht eingeplant.“

„Meine Schicht beginnt heute erst später, ich muss erst in einer Stunde dort sein.“

Als Silvia ihr immer noch keine Beachtung schenkte, fügte sie hinzu: „Bitte, es ist wichtig!“ Die Dringlichkeit in ihrer Stimme erzielte den gewünschten Effekt, denn ihre Mutter wandte sich widerwillig zu ihr um. Unwirsch strich sie sich die Haare aus der Stirn, wobei sich Linsenklümpchen in ihrem Haaransatz verfingen.

„Was gibt’s denn, das nicht warten kann?“

Emma wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht. „Das muss jetzt überraschend für dich kommen, aber … bin ich adoptiert? Also ich meine, sind du und Papa meine leiblichen Eltern?“

Vor Schreck ließ Silvia den Kochlöffel fallen. Spritzer des klebrigen Eintopfs sprenkelten Boden und Wände. Fluchend bückte sie sich nach dem Küchengerät. „Wie kommst du denn auf diese Idee?“, stammelte sie, Emmas Blick ausweichend.

„Lukas, Schatz, komm doch mal bitte!“, rief sie dann mit lauter Stimme in Richtung Arbeitszimmer.

„Geht es schon wieder um den Führerschein? Ich will kein Wort mehr davon hören!“, polterte dieser, als er Emma neben seiner Frau erblickte.

„Emma hat mich gerade gefragt, ob sie adoptiert wurde“, erläuterte Silvia mit einem bedeutungsschweren Blick auf ihren Ehemann.

„Wie bitte? Was soll der Unsinn?“

Wortlos ließ Emma ihre Abstammungsurkunde auf den Esstisch gleiten, sodass ihre Eltern sie sehen konnten.

Lukas Schneider schnappte hörbar nach Luft. „Setz dich“, knurrte er.

Emma tat wie ihr geheißen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Atemlos kaute sie auf ihren Fingernägeln.

„Es ist wahr“, stieß ihr Vater schließlich hervor. „Du bist nicht unsere leibliche Tochter.“

„Wir wollten es dir eigentlich gleich nach deinem Abitur im Juni sagen, aber irgendwie war nie der richtige Moment dafür“, ergänzte Silvia leise. Nervös trat sie von einem Bein aufs andere, während sie das Mädchen angstvoll musterte.

Emma konzentrierte sich auf die Linsenspuren in Silvias Haar und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Sie wartete darauf, dass der Schmerz einsetzte. Ihre ganze Welt hatte sich gerade auf einen Schlag unwiederbringlich verändert, das fühlte sie genau. Aber seltsamerweise blieb der Schmerz aus. Stattdessen hatte sie das Gefühl, als wäre irgendetwas in ihrem Inneren an den richtigen Platz gerückt. Als hätte sie es im Grunde ihres Herzens immer schon gewusst.

„Ihr habt mich also mein ganzes Leben lang belogen.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. Betretenes Schweigen senkte sich über die Anwesenden.

„Wer sind meine leiblichen Eltern?“, ergriff Emma nach einer Weile wieder das Wort. „Was wisst ihr über eine Frau namens Ekaterina Moldova? Ihr Name steht auf meiner Abstammungsurkunde.“

Silvia und Lukas Schneider tauschten verwirrte Blicke. Vermutlich hatten sie sich eine andere Reaktion von ihr erwartet. Schreien, Weinen, einen Tobsuchtsanfall. Irgendetwas Dramatisches.

Seufzend ließ sich jetzt nun auch ihre Mutter am Küchentisch nieder. Gedankenverloren fegte sie ein paar Krümel von der Tischplatte. „Nicht viel. Wir haben sie nur ein einziges Mal gesehen. Sie wollte die Adoptiveltern ihres ungeborenen Kinds kennenlernen, obwohl es offiziell eine geschlossene Adoption war. Ich denke, sie wollte sichergehen, dass es ihrer Tochter bei uns gut gehen würde. Vielleicht auch Kontakt halten, was weiß ich. Nach der Geburt muss sie es sich anders überlegt haben, denn wir haben nie wieder etwas von ihr gehört. Wir haben ein oder zweimal versucht, sie anzurufen, doch sie hatte ihre Telefonnummer geändert, sodass wir sie nicht erreichen konnten. Ich vermute einmal, es war zu hart für sie.“

„Und mein Vater? Wisst ihr, wer er ist?“

„Nein. Wir haben natürlich nach ihm gefragt, wollten wissen, wie er aussieht und so weiter. Frau Moldova hat uns nur so viel über ihn verraten, dass sie ungewollt von ihrem Vorgesetzten schwanger geworden sei. Und dass seine Ehefrau nie etwas davon erfahren dürfe. Daher auch die Adoption“, brummte Lukas.

„Sie war so jung. Selbst noch fast ein Kind! Und es schien, als würde ihr die Entscheidung wirklich schwerfallen“, brach es aus Silvia hervor. „Sie hat uns so leidgetan, das arme Ding!“

„Und Julian? Ist er auch adoptiert?“

„Nein. Erinnerst du dich nicht mehr an meine Schwangerschaft? Du warst damals ganz aus dem Häuschen. Wir hatten die Hoffnung auf ein leibliches Kind schon aufgegeben. Aber als du vier Jahre alt warst, klappte es auf einmal doch. Julian ist unser kleines Wunder. Ein Geschenk des Himmels.“

Emma nickte kaum merklich mit dem Kopf. Das ergab Sinn. Ihr unfehlbarer Bruder, das Wunder, war nicht adoptiert. Natürlich nicht.

Eine lange drückende Stille entstand. Plötzlich stieg Emma der Gestank von angebranntem Essen in die Nase.

„Ach Mist, der Linseneintopf!“, fluchte ihre Mutter und eilte zum Herd.

KAPITEL 2

Emma.

E mma zupfte am Saum ihres schwarzen Tanktops, sodass die Spitze ihres BHs zum Vorschein kam. Sie hatte früh gelernt, dass sich das Trinkgeld bei ihrem Job als Barkeeperin im Nexos direkt proportional zur Tiefe ihres Dekolletees verhielt. Und das konnte sie brauchen – das lächerlich geringe Grundgehalt lohnte die Mühe nicht. Sie trug einen Hauch Lipgloss auf und warf einen letzten prüfenden Blick auf ihr Spiegelbild, das ihr zweigeteilt durch den quer verlaufenden Sprung in der staubigen Oberfläche entgegenblickte. Dann betrat sie den engen Zwischenraum hinter der Theke, wo Fiona bereits fleißig Cocktails mixte.

Der Spelunke hätte eine Renovierung gewiss nicht geschadet, die Farbe an den Wänden war teilweise abgeblättert und die Ecken über dem Gläserregal waren von Spinnweben überzogen. Dennoch verströmte der Raum, nur vom Licht der Kerzen an den Sitzgruppen erhellt, auf schummrige Weise eine angenehme Atmosphäre.

„Hi, Em.“

„Hi, Fi. Viel los heute?“

„Langsam wird‘s“, entgegnete ihre Freundin über das Lärmen der Eismaschine hinweg. „Da hinten sitzt eine Gruppe Jungs. Sind gerade gekommen. Übernimmst du die?“

Emma schnappte sich einen Stapel Cocktailkarten und zog los. Die Ablenkung von den Erkenntnissen des Tages würde ihr guttun.

***

Müde strich sich Emma die von der Anstrengung feuchten Haare aus der Stirn. Die Stunden waren wie im Flug vergangen, die Bar zum Brechen voll gewesen. Gut für die Brieftasche, schlecht für ihre armen Füße, die ob des ständigen Hin- und Herlaufens empfindlich pochten. Fiona ließ sich stöhnend neben ihr auf einen Barhocker fallen.

„Keine üble Ausbeute heute“, bemerkte sie und begutachtete den Inhalt ihrer Börse.

Emma zuckte die Achseln. Sie war völlig erschöpft, körperlich wie emotional. Das Gespräch mit ihren Eltern hatte sich nicht so leicht aus ihrem Kopf verbannen lassen, wie sie gehofft hatte.

„So, jetzt reicht es mir! Sag endlich, was mit dir los ist!“, fuhr Fiona sie unvermittelt an. „Den ganzen Abend hast du kein Wort mit mir gesprochen. Wo bist du nur mit deinen Gedanken?“

Emma schwieg, was ihr einen Stoß in die Seite einbrachte.

„Ist ja gut“, hob sie beschwichtigend die Hände und rieb sich die schmerzenden Rippen. „Ich weiß bloß nicht, wo ich anfangen soll.“

„Geht es wieder um deinen Onkel? Ich schwöre dir, wenn mir dieses Schwein je unter die Augen kommt, mach‘ ich ihn fertig!“

Emma seufzte. Erst kürzlich hatte sie Fiona in einem schwachen Moment von den sexuellen Übergriffen ihres Onkels und ihrer Angst vor dessen Aufenthalten bei den Schneiders erzählt. Aber ausnahmsweise war nicht er es, der sie in ihren Gedanken heimsuchte.

„Nein, nein, es ist nicht wegen Phil. Den habe ich zum Glück schon seit einer Weile nicht mehr gesehen. Es ist … ich ... ich hatte heute ein sehr aufschlussreiches Gespräch mit meinen Eltern.“

„Und weiter?“

„Ich habe erfahren, dass ich adoptiert worden bin“, ließ Emma die Bombe platzen.

„Wie bitte?!“, keuchte Fiona auf, was den Barhocker, auf dem sie saß, gefährlich ins Wanken brachte. Im letzten Moment konnte sie ihren Sturz verhindern, indem sie sich mit den Händen an der Theke festklammerte.

„Ja“, bekräftigte Emma.

„Ok. Wow! Und das erzählst du mir erst jetzt?“

„Tut mir leid. Ich schätze, ich musste erst meine Gedanken sortieren. Das alles fühlt sich so ... unwirklich ... an.“

Fiona setzte eine mitleidige Miene auf. „Wie kam es denn zu dieser Offenbarung? Weißt du, wer deine leiblichen Eltern sind? Willst du sie kennen lernen? Weiß Julian davon? Und was das Wichtigste ist, wie geht es dir damit?“

Emma wartete geduldig, bis der Redeschwall versiegt war. Aus Erfahrung wusste sie, dass es sinnlos war, ihre Freundin zu unterbrechen, wenn diese einmal losgelegt hatte. Als Fiona schließlich verstummt war und sie erwartungsvoll anblickte, berichtete Emma in kurzen Sätzen von den Ereignissen des Tages.

„Du hast immer noch nicht gesagt, wie es dir damit geht.“ Fionas Stimme hatte einen sanften Tonfall angenommen.

Emma seufzte achselzuckend. „Ich weiß es nicht. Ich hätte gedacht, dass mir diese Information den Boden unter den Füßen wegreißen würde, aber irgendwie ist es nicht so. Instinktiv habe ich gewusst, dass meine Eltern Julian mehr lieben als mich. So oft habe ich mich gefragt, woran das liegt, ob ich irgendetwas falsch gemacht habe, weshalb ich es nicht wert bin, von ihnen mit ebenso viel Aufmerksamkeit bedacht zu werden wie er. Jetzt kenne ich zumindest den Grund dafür. Und ich weiß, dass ich mir das nicht bloß eingebildet habe.“

„Das kann ich verstehen. Und was willst du tun? Suchst du deine leiblichen Eltern?“

„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht“, erwiderte sie ausweichend. „Ich glaube, ich belasse es dabei. Wenn meine biologische Mutter Kontakt mit mir hätte haben wollen, hätten wir welchen, oder? Ich sollte ihre Entscheidung respektieren.“ Mit einem schiefen Lächeln fügte sie hinzu: „Immerhin weiß ich jetzt, dass ich nicht genetisch vorbelastet bin, eines Tages so fett zu werden wie Mama.“

„Na wenigstens hast du deinen Sinn für Humor nicht verloren. Aber bist du denn überhaupt nicht neugierig? Willst du gar nicht wissen, wer deine leiblichen Eltern sind? Ich finde, jedes Kind hat ein Recht darauf, seine Wurzeln zu kennen.“

Emma schwieg.

„Ich mach dir einen Vorschlag: Ich rede mit Paul. Die Polizei hat bestimmt Mittel und Wege, mehr in Erfahrung zu bringen. Vielleicht kann er herausfinden, wo diese Ekaterina lebt und wer dein biologischer Vater ist. Danach kannst du immer noch entscheiden, was du mit der Information anfangen willst. Und mal im Ernst – schlimmer als mit deiner Adoptivfamilie wirst du es kaum treffen.“

Emma dachte über Fionas Vorschlag nach. Ihr älterer Bruder Paul arbeitete am örtlichen Polizeirevier und hatte eine Schwäche für sie. Einen Versuch war es allemal wert.

„Aber sag ihm, er soll nicht zu viel Zeit investieren. Keine groß angelegte Suchaktion. Wenn er etwas in Erfahrung bringt – gut. Wenn nicht, ist das auch in Ordnung für mich und ich belasse es dabei“, nickte Emma schließlich zustimmend.

Fiona strahlte. „Alles klar!“

***

Pauls Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Schon in der darauffolgenden Woche hielt Fiona Emma ein braunes Kuvert vor die Nase, kaum, dass sie die Schwelle des Nexos übertreten hatte.

„Los, mach auf“, drängte sie.

„Das ging aber schnell“, erwiderte Emma überrascht.

„Du weißt doch, dass mein Bruder dir nichts abschlagen kann. Wenn du verlangen würdest, dass er auf einem Bein im Kreis hüpft und dabei die Europahymne pfeift, würde er bloß fragen: Auf welchem Bein?“

Emma lachte. „Paul ist echt ein Schatz.“ Vorsichtig öffnete sie den Umschlag und zog mehrere lose Blätter heraus.

„Ich habe schon reingeschaut“, gab Fiona schuldbewusst zu. „Ich war einfach zu neugierig. Wie es scheint, ist deine leibliche Mutter ein Jahr nach deiner Geburt nach Wien gezogen.“

„Wien?“

„Ja, Wien. Und …“, Fiona ließ eine dramatische Pause entstehen. Sie schien ihren Informationsvorsprung zu genießen. „Es sieht so aus, als würde sie immer noch für deinen Vater arbeiten. Das ist ihre Adresse.“ Sie tippte auf eines der Blätter, auf dem eine österreichische Anschrift abgedruckt war.

„Wie hat Paul das bitte herausgefunden? Und warum ist er sich so sicher, dass dieser …“, sie las den Namen laut vor, „Ferdinand von Lauderthal, mein Vater ist?“

„Paul meinte, es war eigentlich ziemlich einfach. Die Adresse in München, an der Ekaterina zur Zeit deiner Geburt gewohnt hat, stand im Melderegister. Bei der Sozialversicherung war sie als Angestellte eines gewissen Ferdinand von Lauderthal gemeldet. Sie war deren Nanny, Köchin oder so ähnlich und lebte in deren Haus. Als die Lauderthals im Jahr 2001 aus Deutschland weggezogen sind, lag der Schluss nahe, dass es sie nach Österreich verschlagen hat. Die Lauderthals sind ein altes österreichisches Adelsgeschlecht. Und siehe da, eine Anfrage beim österreichischen Melderegister hat ergeben, dass die Familie mitsamt deiner Mutter jetzt in Wien lebt. Die Wahrscheinlichkeit ist also groß, dass Ferdinand Lauderthal dieser Vorgesetzte ist, von dem Ekaterina erzählt hat. Er war und ist mit einer gewissen Inés von Lauderthal verheiratet.“

Emma sah ihre Freundin beeindruckt an. „Wow. Danke. Bitte sag Paul, dass er etwas bei mir guthat.“

„Ach geh, waren doch nur ein paar Anrufe“, erwiderte Fiona mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Aber wenn du wirklich so dankbar bist, fällt Paul sicher ein, wie du dich revanchieren kannst“, ergänzte sie mit einem anzüglichen Grinsen.

Emma boxte Fiona spielerisch in die Seite. „Das hätte er wohl gerne“, lachte sie.

„Das Beste kommt aber erst noch“, fuhr diese mit glänzenden Augen fort.

„Und das wäre?“

„Die Lauderthals müssen stinkreich sein. Ich habe ein bisschen gegoogelt. Sie wohnen in einem der teuersten Viertel Wiens. Ihnen gehört eine Immobilienfirma, in der dein Vater als Geschäftsführer tätig ist.“

Emma schwieg. Sie brauchte Zeit, das Gehörte zu verarbeiten und ihre Gedanken zu sortieren.

„Wir sollten uns an die Arbeit machen. Auf Tisch neun sind ein paar Gäste eingetroffen“, bemerkte sie und ließ ihre Freundin alleine an der Bar zurück.

„Wie gehen wir jetzt weiter vor?“, drängte Fiona, nachdem Emma mit der Getränkebestellung zurückgekehrt war.

„Wieso wir? Was hast du eigentlich davon?“

Fiona zog gekränkt den Kopf ein. „Mensch, Em, du musst endlich dein Vertrauensproblem in den Griff bekommen. An deiner Stelle würde ich mich über ein wenig mentale Unterstützung freuen. Dafür hat man doch Freunde, oder etwa nicht?“

Emma wandte beschämt den Blick ab. „Du hast ja recht, entschuldige. Es ist nur … Was soll das alles bringen? Es ändert ja doch nichts. Wenn ich das perfekte Leben meines reichen Vaters und seiner Familie sehe, führt mir das doch nur umso mehr vor Augen, in was für einem Scheißleben ich selbst feststecke. Ich sitze dann immer noch in diesem elenden Kaff fest, komme als Barkeeperin gerade einmal so über die Runden und versuche meinem pädophilen Onkel aus dem Weg zu gehen. Und offensichtlich wollen sie keinen Kontakt. Ich glaube nicht, dass ich ihre Zurückweisung ertragen könnte.“

„Jetzt sei doch nicht so negativ. Ich bin mir sicher, sie werden sich freuen, dich wiedergefunden zu haben. Du wirst nie wissen, wie sie reagieren, wenn du ihnen nicht die Chance dazu gibst. Außerdem – würdest du es dir nicht dein Leben lang vorwerfen, wenn du es nicht zumindest versucht hättest? Würdest du dich nicht ewig fragen, ob nicht vielleicht doch alles anders geworden wäre?“

„Ich weiß nicht, Fi, ich glaube, du bist da zu naiv. Die sind die letzten neunzehn Jahre gut ohne mich klargekommen.“

„Und selbst wenn sie sich nicht freuen und sich herausstellt, dass deine leiblichen Eltern schreckliche Menschen sind, weißt du zumindest, woran du bist. Und wir haben ja noch Berlin. Sobald wir genug Geld beisammenhaben, hauen wir ab. Wir suchen uns gemeinsam eine Wohnung und machen unsere eigene Bar auf. So wie wir es immer geplant haben. Dann sind wir endlich frei!“

Emma schmunzelte. Der Gedanke an diesen Traum hatte sie die letzten Jahre bei Verstand gehalten und sorgte bei ihr stets für bessere Laune – und Fiona wusste das.

„Aber das Allerwichtigste ist“, fuhr ihre Freundin fort, „ich war noch nie in Wien. Das wäre doch eine wunderbare Gelegenheit für einen Ausflug!“

Ein breites Lächeln stahl sich auf Emmas Gesicht. Die Begeisterung, die Fiona an den Tag legte, war rührend. Wie ein Kind, das um einen Besuch in Disneyland bettelte.

Schließlich gab sie sich geschlagen. „Meinetwegen. Wir fahren nach Wien.“ Bevor ihre Freundin losjubeln konnte, hob sie jedoch warnend den Zeigefinger. „Das Ganze läuft nach meinen Regeln. Ich habe das Sagen. Und wenn ich genug habe, reisen wir ab. In Ordnung?“

„In Ordnung.“

KAPITEL 3

Emma.

F iona pfiff anerkennend durch die Zähne. „Wahnsinn. Ich habe schon vermutet, dass die Lauderthals wohlhabend sein müssen, aber das ist ja ein Palast!“

„Bist du sicher, dass das die richtige Adresse ist?“ Emma kramte in ihrer Tasche nach Pauls Unterlagen und trat nervös von einem Bein aufs andere.

„Ja, ganz sicher. Oberer Schreiberweg 112a, 1190 Wien. Da sind wir.“

Fiona balancierte auf den Zehenspitzen und reckte sich in dem vergeblichen Versuch, über das majestätische grüne Einfahrtstor zu spähen. Mit ihren knapp ein Meter sechzig ein sinnloses Unterfangen.

„Willst du einfach klingeln?“

„Nein, besser nicht. Was mache ich denn, wenn sich Frau Lauderthal meldet?“, überlegte Emma laut und deutete auf die Überwachungskamera über dem Tor.

„Und das wäre so schlimm, weil …?“

„Was, wenn sie die Ähnlichkeit zwischen mir und ihrem Mann erkennt? Ich will doch nicht ihre Familie zerstören! Mit viel Pech kostet das Ekaterina am Ende noch ihren Job.“ Sie schüttelte vehement den Kopf. „Nein, auf keinen Fall.“

„Meinst du nicht, dass du etwas paranoid bist?“

„Mag sein, aber sicher ist sicher. Du läutest an und lässt Ekaterina holen. Du kannst ja sagen, es gehe um eine Privatangelegenheit. Ich warte so lange dort drüben außer Sichtweite.“

Fiona verdrehte die Augen. „Das ist umständlich. Aber wie du willst.“ Entschlossen betätigte sie den Klingelknopf, während Emma ein paar Schritte zur Seite trippelte.

Einige Sekunden vergingen, dann war ein Knacken zu hören.

„Ja bitte, wer ist da? Sarah, bist du‘s?“, meldete sich eine Frauenstimme an der Gegensprechanlage.

„Ich möchte zu Ekaterina Moldova. Ist sie zu sprechen?“

Die Stimme am anderen Ende zögerte einen Moment. „Nein, Frau Moldova ist verreist. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?“

„Es geht um eine Privatangelegenheit. Wissen Sie, wann sie wiederkommt?“

„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Sicher aber erst in einigen Wochen. Soll ich ihr etwas ausrichten?“

„Vielen Dank, nicht nötig.“ Fiona wandte sich Emma zu. „Nicht da.“

„Ja, ich habe es gehört. Schade.“

Gerade wollte sie ihre Freundin fragen, was sie mit der gewonnenen Zeit anfangen sollten, da bemerkte Emma den schnittigen schwarzen BMW, der mit hoher Geschwindigkeit auf sie zuhielt. Geistesgegenwärtig zog sie Fiona hinter die nächste Straßenecke. Das Fahrzeug hielt mit quietschenden Reifen. Atemlos beobachteten sie, wie ein dunkelhaariges Mädchen, das Gesicht hinter einer voluminösen Sonnenbrille verborgen, ausstieg und den Klingelknopf betätigte, wie kurz zuvor Fiona. Einen Moment später glitt das Tor zur Seite und der Wagen brauste die Zufahrtsstraße zum Haus hinauf.

Bevor Emma protestieren konnte, packte Fiona sie am Arm und zerrte sie dem BMW hinterher in die Einfahrt. Geräuschlos schloss sich das Tor hinter ihnen.

„Was soll denn das?“, fluchte Emma leise. „Wir können hier doch nicht einfach einbrechen!“

„Klar können wir, siehst du ja. Bist du nicht auch gespannt, das fette Anwesen aus der Nähe zu sehen? Von da draußen konnten wir doch gar nichts erkennen.“

Neugierde und Abenteuerlust blitzte in ihren Augen. Emma verschränkte die Arme vor der Brust. „So hatten wir das nicht abgesprochen!“

Aber ihre Freundin beachtete sie nicht weiter, sondern sah sich staunend um. Der Anblick, der sich ihnen bot, war auch wirklich beeindruckend. Die lange mit Zypressen gesäumte Einfahrt führte eine Anhöhe hinauf zu einem asphaltierten Platz, auf dem mehrere teure Fahrzeuge parkten. Der BMW, dem sie gefolgt waren, hielt und das Mädchen mit der Sonnenbrille stieg aus. Sie musste ungefähr in ihrem Alter sein und trug schicke Sandalen zu einem trägerlosen Sommerkleid, unter dem knallrote Bikiniträger hervorlugten. Fiona und Emma gingen hinter einer Zypresse in Deckung und beobachteten, wie sie die Treppe zur Eingangstür erklomm, die just in diesem Moment aufgerissen wurde. Eine zierliche Gestalt kam zum Vorschein. Von knappen Shorts abgesehen, war sie mit nichts als einem Bikinioberteil bekleidet. In der Hand hielt sie eine Sektflöte.

Ein Quieken war zu hören, als die beiden Luftküsse austauschten.

„Saraaaahh, endlich! Wieso hat das so lange gedauert? Marc und Tobias haben schon den Griller angeworfen, wir wollten gerade den Champagner köpfen. Dad hat das Pool extra für uns auf achtundzwanzig Grad aufheizen lassen. Komm jetzt!“

Mit einem breiten Lächeln warf sie ihre dunkelblonde Mähne über die Schulter und verschwand, gefolgt von ihrer Freundin, im Inneren des Hauses.

Als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, prustete Fiona los. „Von dem affektierten Getue kriegt man ja Ohrenkrebs!“

Emma nickte abwesend. Das musste die Tochter der Lauderthals sein. Ihre Halbschwester. Sie erschauderte. Das Mädchen sah keinen Tag älter als achtzehn oder neunzehn Jahre alt aus. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht.

„Komm, lass uns gehen“, murmelte sie und zupfte an Fionas Arm.

„Nichts da! Jetzt sind wir schon einmal hier. Komm, wir erkunden die Rückseite des Hauses. Da muss auch der Pool sein, von dem die beiden gesprochen haben. Sei keine Spielverderberin!“

Ohne auf Emmas Protest zu achten, lief sie geduckt weiter. Diese folgte ihr widerstrebend. Innerhalb der geschützten Mauern wirkte die Villa sogar noch größer, als sie es von außen vermuten ließ. An den gelb gestrichenen Gemäuern rankte sich Efeu empor, unterbrochen von dunkelgrün gehaltenen Fensterläden. Noch nie hatte sie ein so prächtiges Anwesen aus nächster Nähe gesehen. Sie schlichen an der Hausmauer entlang, bis sich ihnen der Blick auf den hinteren Teil des Gartens eröffnete.

„Das ist ja fast schon ein Park“, japste Fiona.

Die Rückseite der Villa mündete in eine erhöhte Terrasse, von der aus man bestimmt einen atemberaubenden Ausblick auf das Gelände und die umliegenden Weinberge hatte. Unweit des pompösen Swimmingpools standen Liegestühle bereit, beladen mit flauschig aussehenden Badetüchern, vereinzelte Laubbäume spendeten Schatten vor der Hitze. Die gepflegte Rasenfläche, die sich hinter dem Pool erstreckte, war so groß, dass ein Fußballfeld bequem darauf Platz gehabt hätte. Links vom Haus führte ein schmaler Kiesweg in einen anderen Bereich der Gartenanlage, der von ihrem Standpunkt aus zwar nicht einsichtig war, jedoch vermuten ließ, dass es sich ebenfalls um ein weitläufiges Areal handelte.

Wie schön es sein musste, hier aufwachsen zu dürfen, dachte Emma mit einem Anflug von Neid.

Von der Terrasse wehte der verführerische Duft von gebratenen Würstchen und Steaks herüber, wo sich mehrere junge Männer und Frauen eingefunden hatten. Emma lief bei diesem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Ihr Magen erinnerte sie mit einem Grollen daran, dass sie seit ihrem Aufbruch am Morgen nichts mehr gegessen hatte.

Ein Plopp war zu hören, gefolgt von ausgelassenem Johlen und Gelächter. Emma beobachtete, wie die Champagnerflasche in der Hand eines blonden Jungen übersprudelte und sich die teure Flüssigkeit über die Fliesen ergoss. Die Gastgeberin machte sich an der Anlage zu schaffen und High Hopes , Shawn Mendes aktueller Song, ertönte aus den Lautsprechern.

Emma und Fiona ließen sich im Schatten der Bäume ins Gras sinken und beobachteten das muntere Treiben. Emma war zugleich fasziniert und angewidert. Die Szenerie erinnerte sie an eine Folge aus OC California . Mit dem entscheidenden Unterschied, dass das hier die Realität war. Dort oben auf der Terrasse schlürfte nicht irgendein Hollywoodstar Champagner, sondern ihre Halbschwester. Ihr eigen Fleisch und Blut. Das könnte ich sein , schoss ihr durch den Kopf. Das alles könnte mein Leben sein. Rasende Eifersucht machte sich in ihr breit und griff mit klammen Fingern nach ihrem Herz. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als müsste sie jeden Moment ersticken.

„Ich will jetzt gehen. Ich habe genug gesehen“, brachte sie hervor und stand abrupt auf.

Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass es ihr ernst war und Fiona erhob sich widerstrebend. Unentdeckt schlichen sie die Einfahrt zurück und passierten das Tor, das sich zum Glück per Knopfdruck problemlos öffnen ließ. Auf der Straße angekommen schnappte Emma gierig nach Luft. Nach und nach füllten sich ihre Lungen wieder mit Sauerstoff.

„Bist du okay?“ Sorgenvoll blickte Fiona zu ihr hoch.

„Jaja, alles bestens“, erwiderte Emma brüsk. Die Worte klangen nicht einmal in ihren eigenen Ohren überzeugend.

„Bis zu dem Termin mit deinem Vater sind es noch fast zwei Stunden. Das Bürogebäude ist zwar ein ganzes Stück entfernt, aber wir haben mehr als genug Zeit. Willst du dir noch ein paar Sehenswürdigkeiten ansehen?“

Emma antwortete nicht. Zielstrebig folgte sie dem Weg, den sie gekommen waren. Fiona trottete langsamer hinter ihr her, ließ ihr den Raum, den sie jetzt dringend brauchte.

Gedankenversunken ließ Emma die Gegend auf sich wirken, die – wie konnte es anders sein – wunderschön war. Die Straßen waren gesäumt von Villen wie die der Lauderthals, in den Einfahrten standen teure Wagen. Alles sah ordentlich und gepflegt aus. Emma beschleunigte ihr Tempo.

Die Idylle machte ihr zu schaffen. Sie gehörte nicht an einen Ort wie diesen, das wurde ihr auf einen Schlag klar.

KAPITEL 4

Emma.

S ie erreichten das Bürogebäude, in dem Ferdinand Lauderthal arbeitete, fünfzehn Minuten vor dem vereinbarten Termin. Zuvor waren sie in einem Kaffeehaus eingekehrt, wo Emma Jeans und T-Shirt gegen einen engen, knielangen Rock und eine weiße Bluse getauscht hatte. Ihre Füße zierten schwarze Pumps, die sie sich von Fiona geliehen hatte.

Die beiden hatten lange hin und her überlegt, wie Emma mit ihrem Vater Kontakt aufnehmen sollte, ohne gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Fiona hatte schließlich in Erfahrung gebracht, dass in Herrn Lauderthals Firma ein Posten als persönliche Assistentin ausgeschrieben war. Und als solche hatte Emma jetzt ein Vorstellungsgespräch.

„Wie heiße ich nochmal?“, fragte Emma und zupfte nervös am Saum ihres Rocks.

„Emma Hofmann, geboren am 5. Juli 2001, wohnhaft in der Schönbrunner Straße im zwölften Bezirk“, ratterte Fiona die Personalien des gefälschten Lebenslaufs herunter.

Von ihrem Vornamen abgesehen, stimmte keine der Angaben. Bei der Planung hatten sie verschiedene Varianten durchgespielt und entschieden, dass es klüger war, nicht ihre richtigen Daten anzugeben. Vielleicht konnte ihr Vater damit ja etwas anfangen und Emma wollte seine Reaktion mit eigenen Augen sehen. Sie wollte dabei sein, wenn ihm dämmerte, wen er da vor sich hatte.

Emma wiederholte lautlos Namen und Adresse, um sich beides einzuprägen. Ihre Hände zitterten, als sie auf das Klingelschild mit der Aufschrift „Lauderthal Immobilien GmbH“ drückte. Gleich würde sie zum ersten Mal ihrem leiblichen Vater gegenüberstehen!

Die Tür schwang nach innen auf und sie betraten das kühle Treppenhaus. Das Büro von Lauderthal Immobilien war in einem Gebäude im achten Bezirk untergebracht, was – dem Straßenbild nach zu urteilen – ebenfalls eine renommierte Wiener Gegend sein musste. Das Stiegenhaus war frisch renoviert, die Decken des Stiegenaufgangs stuckverziert. Die Beschilderung wies ihnen den Weg in das oberste Stockwerk.

Der Türsummer ertönte und klimatisierte Luft schlug ihnen entgegen. Der Empfangsbereich war von einer blonden Frau mittleren Alters besetzt. Sie begrüßte die Hereinkommenden mit einem offenen Lächeln, das die vielen Fältchen um ihre Augen zum Vorschein brachte.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich habe um sechzehn Uhr ein Vorstellungsgespräch bei Herrn Mag. Lauderthal.“

„Und ich bin als moralische Unterstützung mitgekommen“, ergänzte Fiona.

Die Frau nickte und tippte etwas in ihren Computer. „Ah, da habe ich Sie ja. Emma Hofmann, richtig?“

„Ja genau.“ Emma versuchte sich an einem Lächeln, das vermutlich eher einer Grimasse glich.

„Wunderbar. Darf ich Sie weiterbitten“, forderte die Empfangssekretärin sie auf und stöckelte auf ihren hohen Absätzen voraus.

Vor einem karg möblierten Raum, der an zwei Seiten von Glaswänden begrenzt war, hielt sie schließlich an und deutete auf eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder. An der gegenüberliegenden Wand erspähte Emma eine geschlossene Flügeltüre.

„Bitte setzen Sie sich. Ich gebe Herrn Lauderthal Bescheid, dass Sie da sind. Kann ich Ihnen einstweilen etwas zu trinken anbieten? Kaffee, Tee, Wasser?“

Emma, die zu einer Tasse Kaffee normalerweise nie nein sagte, schüttelte den Kopf. „Nein danke. Wobei … dürfte ich vielleicht doch ein Glas Wasser haben?“, krächzte sie.

Die Frau schmunzelte. „Natürlich. Sie brauchen nicht nervös zu sein. Der Herr Magister beißt nicht. Jedenfalls nicht beim Vorstellungsgespräch“, ergänzte sie und gluckste über ihren eigenen Scherz.

„Danke“, murmelte Emma. Sehr komisch. Der Raum glich einem Glaskäfig, was ihr Gefühl noch verstärkte, auf dem Präsentierteller zu liegen und gleich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen zu werden.

„Und für mich einen Earl Grey, wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht“, verlautete Fiona.

Die Frau nickte und verschwand.

„Entspann dich, Süße. Alles wird gut. Er freut sich bestimmt, dich kennenzulernen. Und wenn nicht, ist er sowieso ein Idiot“, versuchte die Freundin sie zu beruhigen.

Emma wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, da bemerkte sie den Mann, der in diesem Moment den Gang jenseits der Glasfront entlangstolzierte und sie unverhohlen musterte. Er bewegte sich mit raubtierhafter Anmut, seine dunklen Haare, die an den Schläfen bereits von einigen grauen Strähnen durchzogen waren, wippten im Takt seiner Schritte. Mit dem durchdringenden Ausdruck in seinen blauen Augen hatte Emma das Gefühl, als würde er ihr direkt in die Seele blicken. Ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken. Peinlich berührt wandte sie sich ab.

„Hast du den Mann eben gesehen?“, raunte sie Fiona zu, als dieser aus ihrem Blickfeld verschwunden war.

„War kaum zu übersehen. Ein richtiges Sahneschnittchen. Und er hat dich mit den Augen regelrecht aufgefressen!“

Emma spürte, wie sie rot wurde. Sie tat die Bemerkung mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Blödsinn. Aber eine irre Ausstrahlung hatte er. So etwas sieht man nicht oft.“

Bevor Fiona Gelegenheit hatte, einen spöttischen Kommentar abzugeben, tauchte die Sekretärin mit einem Tablett in der Hand wieder auf.

„Ihr Tee“, stellte sie das Getränk vor Fiona ab. „Und Ihnen bringe ich das Wasser gleich ins Büro vom Herrn Magister. Er ist nun bereit, Sie zu empfangen.“

Sie hielt zielstrebig auf die Flügeltür an der gegenüberliegenden Wand zu und Emma folgte ihr. Um eine selbstbewusste Haltung bemüht, reckte sie das Kinn und betrat den dahinterliegenden Raum.

Sofort registrierte sie den hochgewachsenen Mann hinter dem Schreibtisch. Er mochte um die sechzig Jahre alt sein und war braun gebrannt. Trotz seines fortgeschrittenen Alters war er attraktiv, die vollen, ergrauten Haare erinnerten entfernt an Richard Gere.

Ferdinand Lauderthal erhob sich und begrüßte sie mit festem Händedruck. Erst jetzt bemerkte Emma die zweite Gestalt links von ihrem Vater, die ebenfalls aufgestanden war. Er hatte schütteres Haar, neben Herrn Lauderthal wirkte er blass und hager. Emma schüttelte auch ihm die Hand.

Die Sekretärin stellte das Wasserglas vor ihr auf dem Tisch ab und reichte den Herren zwei Tassen dampfenden Kaffees. Dann wandte sie sich zum Gehen. Dabei zwinkerte sie Emma aufmunternd zu. Wenn die wüsste, warum ich wirklich hier bin , dachte Emma und erschauderte.

Sie ließ den Blick durch das geräumige Büro schweifen. Auch dieser Raum war spärlich eingerichtet. Die Wände waren mit Aktenschränken gesäumt, den meisten Platz beanspruchte der pompöse Mahagonitisch, hinter dem ihr Vater thronte. Emma fiel ein silberner Bilderrahmen ins Auge. Das Bild zeigte Herrn Lauderthal auf einer noblen Abendveranstaltung. Er hatte den Arm um eine hübsche dunkelhaarige Frau gelegt. Das musste seine Frau Inés sein. Vor dem Ehepaar erkannte Emma das Mädchen wieder, das im Haus der Lauderthals die Tür geöffnet hatte. Zu ihrer Rechten stand ein junger Mann, den Emma noch nie gesehen hatte, aber seine blauen Augen und die breitschultrige Gestalt ließen darauf schließen, dass er ebenfalls zur Familie gehörte. Alle vier lächelten glücklich in die Kamera.

Das idyllische Bild einer perfekten Familie , dachte Emma mit einem Anflug von Bitterkeit.

Ihr Vater ergriff das Wort und riss Emma jäh aus ihren Gedanken. „Frau …“, er warf einen Blick auf seine Notizen, „… Hofmann, bitte setzen Sie sich.“ Er deutete auf den Stuhl ihm gegenüber. „Mein Name ist Ferdinand Lauderthal. Das ist mein Kollege, Herr Mag. Winkler. Ich habe nur wenig Zeit, daher komme ich gleich zur Sache.

Wie Sie wissen, bin ich auf der Suche nach einer persönlichen Assistentin. Die damit verbundenen Aufgaben reichen von der Koordination und Vorbereitung von Terminen, der Mitwirkung bei der Organisation von Firmenveranstaltungen über die sonstige Unterstützung in administrativen und organisatorischen Belangen. Sie würden Frau Schönhof, die Kanzleisekretärin, die Sie bereits kennengelernt haben, zur Seite stehen“, erklärte er. Er lächelte blasiert und eine Reihe makelloser Zähne kam zum Vorschein.

„Herr Winkler ist Leiter des Bereichs Immobilienverwaltung des Unternehmens und als solcher meine rechte Hand. Ich lege viel Wert auf seine Meinung, weshalb ich ihn in die Wahl meiner Angestellten miteinbeziehe.“ Er legte eine kurze Pause ein.

„Wie Sie sich sicher denken können, gibt es viele Bewerberinnen. Erzählen Sie mir etwas über sich. Was macht gerade Sie so geeignet für den Job?“

Er lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und schlug ein Bein über das andere, während er sie mit unverhohlenem Interesse fixierte.

Emma straffte die Schultern. Die Nervosität, die sie eben noch gelähmt hatte, war auf einmal wie weggeblasen und einer seltsamen Ruhe gewichen. Als sie das Wort ergriff, staunte sie selbst, wie fest und selbstbewusst ihre Stimme klang.

„Herr Mag. Lauderthal, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Mir liegt viel an diesem Termin. Allerdings würde ich gerne vorab etwas Persönliches mit Ihnen besprechen. Wäre es möglich, dass wir uns einige Minuten unter vier Augen unterhalten, bevor wir das Bewerbungsgespräch an dieser Stelle fortsetzen?“

Der Geschäftsführer zog überrascht die Augenbrauen hoch.

Emma spürte, wie sein Blick von ihrem zu einem strengen Zopf gebundenen Haar abwärts wanderte und einen Tick zu lange am Ausschnitt ihrer Bluse hängenblieb. Bedauernd sah er auf seine Uhr und seufzte. „Frau Hofmann, es gibt keine Geheimnisse zwischen mir und Herrn Winkler. Wie gesagt, ich habe einen vollen Terminkalender und anschließend ein Vorstellungsgespräch mit einer weiteren Anwärterin für den Posten. Ich würde es daher bevorzugen, wenn wir sofort fortfahren.“

Emma konnte sich nur mit Mühe ein Augenrollen verkneifen. Was für ein eingebildeter Wicht! Hatte er wirklich gedacht, sie würde versuchen, ihn zu verführen , um diesen Job zu bekommen? Wofür hielt er sich?

Sie warf Herrn Winkler einen raschen Seitenblick zu. Sie hatte es ihrem Vater eigentlich ersparen wollen, unter Beisein eines Kollegen mit seiner unehelichen Tochter konfrontiert zu werden. Aber wenn er es nicht anders haben wollte, sollte es eben so sein.

„In Ordnung. Wenn das so ist, komme auch ich gleich auf den Punkt. Herr Lauderthal, bitte verzeihen Sie, dass ich diesen Weg gewählt habe, aber wie gesagt liegt mir viel daran, persönlich mit Ihnen zu sprechen.“

Sie holte tief Luft und sprach dann die schicksalsschweren Worte aus. „Ich habe kürzlich herausgefunden, dass ich adoptiert worden bin.“

Erwartungsvoll musterte sie ihn. Doch Herr Lauderthal runzelte nur die Stirn. Er schien nicht zu begreifen, worauf sie hinauswollte.

„Das tut mir leid, für Sie, Frau Hofmann. Und inwiefern ist das relevant für Ihre Bewerbung?“

Emma richtete sich kerzengerade auf und blickte ihm direkt in die Augen. Unter Aufbringung all ihres Mutes sprach sie das Offensichtliche aus.

„Herr Lauderthal, ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie mein leiblicher Vater sind.“

Während die Worte ihren Mund verließen, beobachtete sie die Reaktion ihres Gegenübers eingehend. Atemlos registrierte sie, wie alle Farbe aus dem gebräunten Gesicht wich. Seine Miene spiegelte erst Ungläubigkeit, dann Schock, schließlich ereilte ihn die Erkenntnis und die Verwirrung wich kalter Wut. Als er jedoch das Wort ergriff, war von dem Gefühlssturm nichts mehr zu erkennen.

„Das kann ich mir kaum vorstellen“, erwiderte er kühl.

„Ich denke doch“, beharrte Emma. „Meiner Abstammungsurkunde zufolge ist meine leibliche Mutter eine gewisse Ekaterina Moldova. Sie war vor zwanzig Jahren Ihre Hausangestellte und ist es auch jetzt noch, soweit ich informiert bin.“

„Es tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss, Frau Hofmann, aber ich hatte nie eine Affäre mit einer meiner Angestellten“, presste er zwischen zusammengepresste Lippen hervor, doch seine Augen straften seine Worte Lügen. Auch Herrn Winkler schien das nicht entgangen zu sein. Eilig erhob er sich.

„Ferdinand, ich muss leider zum nächsten Termin, wir sehen uns später. In Familienangelegenheiten möchte ich mich außerdem nicht einmischen.“

„Das ist keine Familienangelegenheit. Was nehmen Sie sich heraus, mich mit solch dreisten Anschuldigungen zu belästigen? Karl, bitte bleib! Frau Hofmann wollte sowieso gerade gehen“, zischte er mit einem eiskalten Blick in Richtung Emma.

Herr Winkler nickte nur, verließ jedoch raschen Schrittes den Raum.

„Wie können Sie es wagen, mich in der Firma aufzusuchen und derart bloßzustellen!“, fuhr er Emma an, kaum dass die Bürotür hinter ihm ins Schloss gefallen war. „Wofür halten Sie sich? Sie können doch nicht einfach mit haltlosen Anschuldigungen in das Leben anderer Leute hineinplatzen. Ich bin verheiratet. Ich habe Kinder, Herrgott nochmal! Was auch immer Sie glauben, herausgefunden zu haben, ich kann Ihnen versichern: Ich bin nicht Ihr Vater!“

Die Mischung Entrüstung und kalter Abscheu ließ Emma das Herz in die Hose rutschen. Enttäuschung drohte sie zu übermannen. So hatte sie sich ihre erste Begegnung nicht vorgestellt.

„Es war nicht meine Absicht, in Ihr Leben hineinzuplatzen , wie Sie es nennen, oder Sie vor Ihrem Kollegen bloßzustellen. Weshalb, denken Sie, habe ich um ein Vier-Augen-Gespräch gebeten? Meine Recherchen haben ergeben, dass Sie und Frau Moldova meine leiblichen Eltern sind. Können Sie denn nicht nachvollziehen, dass ich meine Wurzeln kennen möchte?“, beteuerte sie. Ihre Hände zitterten vor unterdrückter Wut und Scham und sie presste die Handflächen fest aufeinander. Sie wollte vor dieser verabscheuungswürdigen Person keine Schwäche zeigen.

„Selbst, wenn ich eine Affäre mit meiner Angestellten gehabt haben sollte – was nicht der Fall ist – bin ich dadurch noch lange nicht Ihr Vater.“

„Würde Sie denn einem Vaterschaftstest zustimmen?“, erbot Emma hoffnungsvoll. „Sie können sich sicher vorstellen, dass auch ich nur Gewissheit haben möchte. Wenn Sie nicht mein Vater sind, hören Sie nie wieder von mir und ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen bereitet habe.“

Herr Lauderthal presste die Kiefer mit solcher Gewalt aufeinander, dass Emma befürchtete, er würde ihr gleich einen seiner Zähne vor die Füße spucken.

„Glauben Sie wirklich, ich ziehe meine Frau und meine Kinder in Ihre Spielchen hinein?“ Ein stählerner Ausdruck war auf sein Gesicht getreten. „Ein Vaterschaftstest wird nicht erforderlich sein.“

Eine kurze Pause entstand, in seinem Kopf rumorte es sichtlich.

„Wie viel?“, knurrte Herr Lauderthal schließlich.

Emma riss die Augen auf. „Wie bitte? Was meinen Sie?“

Ihr Vater verzog spöttisch die Mundwinkel. „Jetzt tun Sie nicht so unschuldig. Sie sind doch nicht dumm. Wie viel kostet mich Ihr Schweigen? Was wollen Sie dafür, dass Sie mich und meine Familie in Frieden lassen?“

Der sonst so schlagfertigen Emma blieb vor Überraschung die Luft weg. Damit hatte sie nicht gerechnet.

„Es geht mir nicht ums Geld“, brachte sie nach einigen Schocksekunden stammelnd hervor.

Herr Lauderthal lachte freudlos auf. „ Natürlich nicht.“

Er beugte sich über den Tisch und fixierte Emma mit seinen kalten blauen Augen. Seine Miene zeigte nicht die geringste Gefühlsregung. Ganz der erfolgreiche Geschäftsmann.

„Liebe Frau Hofmann. Ich bin mir sicher, Sie sind ein nettes Mädchen. Ich habe keine Ahnung, wie Ihr Leben verlaufen ist und was Sie hierhergeführt hat – und um ehrlich zu sein, interessiert es mich auch nicht. Was ich Ihnen aber mit Gewissheit sagen kann, ist, dass ich nicht Ihr Vater bin. Und selbst wenn ich einst eine Affäre mit meiner Angestellten gehabt haben und damit genetisch gesehen Ihr leiblicher Vater sein sollte – was ich für ausgeschlossen halte – ich will und werde nicht die Rolle als Ihr Vater übernehmen. Ich habe Kinder. Kinder, die ich über alles liebe und die ich großgezogen habe. Ich werde meine Familie beschützen, komme was wolle. Deswegen frage ich Sie ein letztes Mal: Was ist Ihr Preis?“

Emma starrte schweigend zu dem Mann hoch, der ihr Vater sein sollte. Versuchte, Ähnlichkeiten zwischen ihnen auszumachen. Ihr Blick wanderte von der markanten Nase über die zusammengekniffenen Lippen zu den Falten um seine Augen. Sie erkannte nichts davon an sich selbst wieder. Sie wog ihre Alternativen ab. Bei Gott, sie konnte das Geld gebrauchen. Sie könnte es als Startkapital nutzen, um endlich aus dem ihr so verhassten Affing wegzukommen. Aber ihr Stolz verbat es ihr, Geld von diesem Mistkerl anzunehmen. Sie war nicht käuflich. Und sie hatte keine Angst vor ihm. Also zwang sie sich, ihren Oberkörper nach vorne zu lehnen. Ihr Gesicht war dem seinen nun gefährlich nahe. Sie bohrte ihren Blick in den ihres Vaters und erwiderte mit fester Stimme, „Ich will Ihr Geld nicht!“

Herr Lauderthal schürzte die Lippen. Seine Wangen hatten einen ungesunden roten Farbton angenommen. „Sind Sie sich da sicher? Schauen Sie sich doch einmal an! Ein paar anständige Kleider, ein neuer Haarschnitt? Kein Interesse? Das ist Ihre einzige Chance. Merken Sie sich das: Entscheidungen, die aus Stolz getroffen werden, sind selten die Richtigen. Machen Sie das Beste aus Ihrem Leben, Mädchen. Nehmen Sie das Geld.“

Auch Emma hatte die Stimme erhoben. „Ich muss mich nicht von Ihnen bestechen lassen.“

„Gut“, knurrte Herr Lauderthal bedrohlich. „Aber ich warne Sie: Halten Sie sich von mir und meiner Familie fern. Glauben Sie mir, jemanden wie mich wollen Sie sich nicht zum Feind machen.“

Emma sprang auf. „Ich finde selbst hinaus.“

Ohne sich noch einmal umzudrehen, wirbelte sie herum und verließ das Büro. Sie konnte die wütenden Blicke ihres Vaters regelrecht spüren, die sich ihr in den Rücken bohrten.

KAPITEL 5

Emma.

W ie war es?“, bestürmte Fiona sie, kaum, dass sie das Bürogebäude hinter sich gelassen hatten.

Emma hielt forschen Schrittes auf die nächstgelegene Straßenbahnstation zu, sodass Fiona mit ihren kurzen Beinen Schwierigkeiten hatte, mit ihr mitzuhalten.

„Er ist ein Arschloch“, knurrte sie. „Ein überhebliches, selbstgefälliges Arschloch.“

„Okay … Aber ein Arschloch, das sich gefreut hat, dich zu sehen?“

„Ein Arschloch, das mich bestechen wollte, damit ich ihn und seine Familie in Ruhe lasse.“

Fiona ließ die Schultern sinken. „Autsch. Tut mir leid.“

„Dieser eingebildete Gockel hat sich aufgeführt, als vergebe er einen Job als Bundeskanzlerin, nicht als Sekretärin!“, wütete sie. „Frauenfeindlich ist er übrigens auch, wenn man bedenkt, wie oft er betont hat, er suche eine Assistentin, er habe so viele Bewerber innen und so weiter. Als würden wir Frauen zu keinem anderen Beruf taugen!“

Die Wut, die Emma den ganzen Tag mühsam unterdrückt hatte, hatte die Oberhand gewonnen.

„Ich habe ihn um ein Vier-Augen-Gespräch gebeten, wie wir es besprochen haben. Und weißt du was? Der Art, wie er mich angegafft hat nach zu urteilen, muss er ernsthaft gedacht haben, dass ich ihn angrabe! Um die Stelle als seine Assistentin zu kriegen. Ist das zu fassen? Lümmelt da mit der teuren Rolex und in einem Designeranzug, der mit Sicherheit mehr gekostet hat als alles, was ich besitze zusammen, und glaubt, ich blase ihm einen, damit ich ihm in Zukunft Kaffee servieren darf?“

Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf, was der Absatz ihres High Heels mit einem beunruhigenden Knacksen quittierte.

Fiona strich ihr beruhigend über den Arm.

„Und, ist er es? Dein leiblicher Vater?“, fragte sie leise.

„Er hat es abgestritten. Aber ja, ich bin mir sicher. Ich konnte es in seinen Augen sehen.“

„Oh Gott, Em, das tut mir so leid. Das ist alles meine Schuld! Ich habe dich gedrängt, hierherzukommen. Bitte verzeih mir, ich hätte mich nicht einmischen sollen.“

„Das ist doch nicht deine Schuld. Der Mann ist ein blöder Wichser, der seine Angestellte geschwängert und nicht die Eier hatte, zu den Konsequenzen zu stehen!“

„Was machst du jetzt wegen Ekaterina? Versuchst du es in ein paar Wochen nochmal?“

„Nein, ich denke nicht“, seufzte Emma. Der Zorn war verflogen und herber Enttäuschung gewichen. „Das bringt doch nichts. Ich werde versuchen, die Sache hinter mir zu lassen. Wie ich das von Anfang an hätte tun sollen. Wie konnte ich auch nur einen Moment glauben, dass es anders laufen würde? Dass er sich freuen würde, mich zu sehen? Pff. Wäre nicht mein Leben.“

Betretene Stille senkte sich über die beiden. Inzwischen hatten sie den Wiener Hauptbahnhof erreicht und im Zug nach München ein Abteil für sich ergattern können. Erschöpft ließ Emma die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe sinken.

Ihre Freundin legte ihr tröstend den Kopf auf die Schulter.

„Ist schon in Ordnung“, murmelte Emma mehr zu sich selbst als zu Fiona. „Wir haben ja immer noch unseren Plan. Wenn wir genug Geld beisammenhaben, verlassen wir dieses elende Kaff in Bayern. Suchen uns eine Wohnung in Berlin. Machen dort eine eigene Bar auf. Ein Neustart. Nur wir beide. Das wird großartig! Wer braucht einen Herrn von und zu Lauderthal, wenn er die beste Freundin der Welt hat?“

Bei diesen Worten huschte ein Schatten über Fionas Gesicht. Sie schien eine Weile mit sich zu hadern, dann begann sie zögerlich zu sprechen. „Was das betrifft – ich muss dir da etwas erzählen.“

KAPITEL 6

Ferdinand.

D iese dumme kleine Hure!

Ferdinand schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. Das hatte ja passieren müssen! Ekaterina hatte ihm Stein und Bein geschworen, dass die Adoption niemals zu ihm zurückzuverfolgen wäre. So viel dazu. Die konnte etwas erleben, wenn sie aus Frankreich zurückkam! Genau aus diesem Grund hatte er auf die geschlossene Adoption bestanden, wo das Weibsstück schon partout nicht hatte abtreiben wollen. Ferdinand schnaubte. Was war da schiefgelaufen? Funktionierte eigentlich nichts, das man nicht selbst in die Hand nahm?

Und wofür hielt sich diese Göre, einfach hier aufzutauchen? Er hoffte inständig, dass sie es nicht auch zu Hause versucht hatte. Nicht auszudenken, was hätte passieren können, wenn sie auf Inés oder die Kinder gestoßen wäre! Seine Frau durfte auf keinen Fall von seinem Betrug erfahren. Ferdinand war sich ziemlich sicher, dass dies das Ende seiner Ehe bedeuten würde. Inés war zwar von Natur aus gutmütig, eine harmlose Liaison würde sie ihm womöglich sogar verzeihen - aber ein uneheliches Kind? Wohl kaum. Wenn sie sich von ihm scheiden ließe, wäre Schluss mit seinem gut situierten Leben. Inés würde ihn aus seiner Funktion als Geschäftsführer von Lauderthal Immobilien entheben, seine Karriere wäre vorbei und damit alles umsonst, wofür er die letzten fünfundzwanzig Jahre gearbeitet hatte.

Unter keinen Umständen wollte er sich mit eingezogenem Schwanz an seinen Bruder wenden müssen. Konstantin hatte als Ältester alles geerbt. Die Ländereien, den Hof, das Schloss. Einfach alles. Und er? Hatte selbst zusehen müssen, wo er blieb. Die Ehe mit Inés war für ihn eine glückliche Fügung des Schicksals gewesen. Das Vermögen ihrer Familie war schier unerschöpflich und an Inés Seite führte er das Leben, das er sich immer erträumt hatte. Das würde er sich nicht nehmen lassen, schon gar nicht von dem Ergebnis einer belanglosen, zwanzig Jahre zurückliegenden Affäre.

Emmas ungläubiger Gesichtsausdruck tauchte vor seinem inneren Auge auf. Was hatte sich das Mädchen bloß erwartet? Dass er ihr um den Hals fallen und sie mit offenen Armen in der Familie willkommen heißen würde? In welcher Welt lebte sie? Sie hatte richtiggehend verletzt ausgesehen. Ferdinand betete, dass er sie hinreichend eingeschüchtert hatte. Er musste dafür sorgen, dass sie ihn, Inés und die Kinder in Ruhe ließ. Er würde einen Privatdetektiv beauftragen, mehr über sie herauszufinden, damit er sie im Auge behalten konnte. Aber erst musste er mit Karl sprechen. Schadensbegrenzung betreiben.

Er griff zum Hörer. „Karl, kommst du kurz?“

„Natürlich, ich bin gleich bei dir“, tönte es von der anderen Seite der Leitung.

Kurz darauf ging die Bürotür auf und Karl trat ein. Ferdinands Nerven beruhigten sich etwas, als er seinen Freund erblickte. Karl und er kannten sich nun schon seit über fünfundzwanzig Jahren. Inés hatte sie einander vorgestellt, als Ferdinand und sie begonnen hatten, miteinander auszugehen. Anfänglich war er skeptisch ob ihres engen Verhältnisses gewesen. Insgeheim vermutete er, dass Karl mehr für Inés empfunden hatte als bloße Freundschaft, aber nach ihrer Verlobung hatte sich sein Unbehagen nach und nach verflüchtigt. Inés hatte sich für ihn entschieden. Und wie sich herausstellte, hatten Karl und er weit mehr gemeinsam als nur ihre Zuneigung zu seiner Frau, darunter ihr Interesse an der Immobilienbranche und die konservative politische Einstellung. Als Inés schließlich die Lauderthal Immobilien GmbH gegründet hatte, hatte er bereitwillig zugestimmt, Karl ins Boot zu holen. Und mit der Zeit war dieser zu einem von Ferdinands engsten Vertrauten und beinahe zu einem Familienmitglied geworden.

„Wegen vorhin“, begann Ferdinand, „das war alles ein großes Missverständnis. Du hättest bleiben sollen. Diese Emma Hofmann ist selbstverständlich nicht meine Tochter. Ich würde Inés nie betrügen, das weißt du doch, oder?“

„Klar weiß ich das. Mach dir keine Gedanken.“

„Das Mädchen war nur auf Geld aus. Wollte sich wichtigmachen. Ich denke, ich konnte das Problem aus der Welt schaffen. Trotzdem würde ich dich bitten, gegenüber Inés nichts zu erwähnen. Sie ist in letzter Zeit gesundheitlich etwas angeschlagen und ich will sie nicht unnötig aufregen.“

„Sicher doch, versteht sich von selbst“, nickte Karl.

Ferdinand seufzte erleichtert. „Danke, du bist der Beste. Kommst du noch mit zu uns zum Abendessen? Céline hat eine kleine Gartenparty veranstaltet - die können das ganze Grillfleisch gar nicht aufgegessen haben. Ein paar Steaks vom Grill? Was meinst du? Inés wird mich lynchen, wenn ich dich nicht wenigstens gefragt habe.“

„Wie könnte ich da nein sagen“, lächelte Karl. „Ich muss nur noch ein paar E-Mails verschicken, dann können wir los.“

Als die Bürotür hinter Karl ins Schloss fiel, schickte Ferdinand ein stummes Dankesgebet gen Himmel. Sein Freund hatte ihm die Geschichte abgekauft. Karl war ein loyaler Zeitgenosse. Er konnte sich auf ihn verlassen.

KAPITEL 7

Emma.

D u ziehst nach Portugal?“, keuchte Emma ungläubig.

„Na ja, sicher ist es nicht“, erwiderte Fiona, wich ihrem Blick jedoch aus. „Es ist nur ein Angebot. Ich habe mich noch nicht entschieden.“

„Ein Angebot, das du nicht ablehnen kannst. Verstehe ich das richtig: Deine Tante, die in Portugal eine Hotelkette betreibt, bietet dir einen Job in ihrem Hotel an. Und du darfst auch noch gratis dort wohnen?“

„Es geht ihr vor allem darum, dass ich die verschiedenen Bereiche ihres Unternehmens kennenlerne. Ich würde als Assistentin immer für zwei Monate in einer anderen Sparte aushelfen. Viel verdienen würde ich fürs Erste nicht.“

„Dabei wusste ich nicht einmal, dass du eine Tante in Portugal hast.“

„Genau genommen ist sie die Schwester meines Großvaters. Als sie in unserem Alter war, ist sie in den Süden ausgewandert und hat dort ein Hotel nach dem anderen eröffnet. Meine Familie hatte kaum Kontakt zu ihr, aber beim Begräbnis meines Großonkels letzte Woche habe ich sie kennen gelernt und wir sind ins Gespräch gekommen. Sie selbst hat keine Kinder und plant, in den nächsten Jahren in den Ruhestand zu gehen. Sie ist auf der Suche nach einem Nachfolger, der ihr Vermächtnis bewahrt. Ich habe ihr von unserem Plan mit der Bar erzählt und sie war ganz angetan von mir. Ihr gefällt die Idee, dass jemand frischen Wind in den Laden bringt. Ich würde langsam hineinwachsen und wenn ich mich schlau anstelle, könnte ich die Hotels irgendwann übernehmen.“

„Fi, das ist ja großartig!“

„Ja, stimmt“, lächelte diese zaghaft, dann brach sie unvermittelt in Tränen aus. „Aber was ist mit unserem Plan mit der Bar?“, schluchzte sie. „Ich kann dich doch nicht einfach im Stich lassen! Ich werde ihr sagen, dass ich es nicht mache. Entweder sie kriegt uns beide oder keine.“

„Nein, das wirst du nicht tun“, fiel Emma ihr sanft ins Wort. Zärtlich strich sie ihrer Freundin über den Arm. „Du wirst nach Portugal gehen und alle von den Socken hauen. Du wirst dir eine Zukunft aufbauen. Sorge dich nicht um mich. Ich komme schon klar.“

„Meinst du wirklich?“ Fiona schluckte. „Sobald ich dort Fuß gefasst und auch nur irgendetwas zu sagen habe, lasse ich dich holen, versprochen. Du bist meine beste Freundin und ich brauche dich!“

Emma gab Fiona einen liebevollen Schubs. „Hör jetzt auf zu weinen, du weißt, zu viel weibliche Dramatik ertrage ich nicht. Wir bekommen das hin. Ganz sicher.“

Fionas Schultern sackten vor Erleichterung herab. „Ich bin fast wahnsinnig geworden, weil ich dir nicht gleich davon erzählt habe! Aber in Anbetracht dessen, was du wegen deiner Familie gerade durchmachst, wollte ich dich nicht auch noch enttäuschen.“

„Du kannst mich gar nicht enttäuschen. Und ich rechne dir hoch an, dass du dich um mich sorgst. Aber du musst an dich und deine Zukunft denken. Ich bin zäh. Unkraut vergeht nicht. Ich packe das schon.“

„Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne“, schniefte Fiona.

„Und du eine gefühlsduselige Kuh.“

Fiona prustete. „Hey!“

„Na bitte, so gefällst du mir schon besser. Wann soll es denn nun losgehen?“

„Meine Tante wäre es am liebsten, wenn ich gleich im September dort anfangen würde. Aber ich habe ihr noch nicht Bescheid gegeben.“

„Dann nimmst du jetzt dein Telefon und rufst sie an. Und wenn du zu Hause bist, buchst du den ersten Flug, den du kriegen kannst.“

„Danke, Em“, flüsterte Fiona.

Ein Kloß hatte sich in Emmas Hals gebildet. „Da gibt es nichts zu danken“, erwiderte sie brüsk. „Du hättest zu mir dasselbe gesagt, wenn du an meiner Stelle wärst.“

KAPITEL 8

Emma.

E mma lief durch unbekanntes Gelände. Sie war eine begnadete Läuferin und bewegte sich geschmeidig durch die Landschaft. Ihre Sportschuhe erzeugten gleichmäßige Geräusche auf dem Schotterweg und ihr langer Pferdeschwanz wippte bei jedem Schritt mit.

Emma blickte über die Schulter. In einiger Entfernung erspähte sie eine Gestalt, die sich auf sie zuzubewegen schien. Sie wusste nicht, wer die Person war und was sie von ihr wollte, spürte aber instinktiv, dass sie nichts Gutes im Schilde führte.

Sie erhöhte ihr Tempo. Ihr Verfolger tat es ihr gleich.

Die Schotterstraße mündete in einen schmalen Waldweg. Emma lief nun zwischen Fichten und Kiefern entlang, der erdige Geruch der Nadelbäume stieg ihr in die Nase. Die Luft war feucht, in der Ferne konnte sie Wasser plätschern hören. Emma wandte sich erneut um. Zu der unheimlichen Gestalt hinter ihr hatte sich eine weitere hinzugesellt. Wieder beschleunigte sie ihre Schritte. Aber ganz gleich wie schnell sie auch lief, die beiden kamen stetig näher. Plötzlich lichtete sich der Wald vor ihr. Mit hohem Tempo sprintete sie durch das unwegsame Terrain, kniehohes Gestrüpp riss ihr die Unterschenkel auf. Das Fortkommen fiel ihr zunehmend schwer, ihre Füße verursachten ein saugendes Geräusch auf dem Untergrund, als wollte der Boden ihre Füße festhalten.

Je näher sie der Lichtung kam, desto langsamer schien sie voranzukommen. Mit wachsendem Entsetzen bemerkte Emma, wie ihre Verfolger aufholten. Sie blickte auf ihre Füße, die bei jedem Schritt tiefer in die Erde einsanken. Bald reichte ihr der Schlamm bis zu den Knien. Panik ergriff von ihr Besitz. Sie hörte das schadenfrohe Lachen der Männer hinter ihr und erschauderte. Der eine hatte am Rande des Moores Stellung bezogen und beobachtete mit vor der Brust verschränkten Armen, wie sein Partner zu Emma aufschloss. Im Gegensatz zu ihr schien er keine Probleme mit dem schlammigen Untergrund zu haben.

Während er sich ihr näherte, rutschte ihm die Kapuze vom Kopf.

Emma erschrak. Es war Onkel Phil, der mit gierigen Händen nach ihr griff. Emma schrie um Hilfe. Der Mann am Rande der Lichtung grinste hämisch. Emma konnte sein Gesicht im Schatten der Bäume zwar nicht erkennen, aber seine Worte, die zu ihr herüberschallten, gingen ihr durch Mark und Bein.

„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst das Beste aus deinem Leben machen und das Geld nehmen? Jetzt siehst du einmal, was du davon hast.“

Es war Ferdinand Lauderthal.

***

Schweißgebadet riss Emma die Augen auf. Ihr Herz hämmerte so laut, als wollte es ihr aus der Brust springen. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr dämmerte, wo sie sich befand. Sie strampelte mit den Füßen wie um sich zu vergewissern, dass sie nicht länger im Schlamm feststeckten. Die Decke, die sich zwischen ihren Beinen verfangen hatte, glitt vom Bett. Emma stieß einen erleichterten Seufzer aus. Es war nur ein Traum gewesen.

Die Sonne stand bereits mitten am Himmel und es war unerträglich heiß in dem winzigen Raum. Schon seit Tagen wurde Affing von einer Hitzewelle heimgesucht und ließ die Pflanzen nach Wasser und die Bewohner nach Eiscreme und dem nächstgelegenen Badeteich lechzen.

Emma wälzte sich auf den Bauch und verbarg den Kopf unter ihrem Kopfpolster, in dem vergeblichen Versuch, die Sonnenstrahlen von ihrem Gesicht fernzuhalten. Am liebsten wäre sie einfach liegengeblieben. Vielleicht blieb sie ja diesmal von den Albträumen verschont, die sie permanent heimsuchten.

Wen wunderte es, dass sie schlecht schlief, dachte sie düster. Sie hatte es in letzter Zeit nicht leicht gehabt. Erst die Nachricht über die Adoption, dann das Fiasko mit Herrn Lauderthal und nun würde auch noch Fiona sie verlassen.

Von all den Schicksalsschlägen traf sie Letzterer mit Abstand am härtesten. Den Traum von einer glücklichen Familie hatte sie im Grunde schon lange ausgeträumt, wie ein Kind, das aufhört an das Christkind zu glauben. Die Konfrontation mit ihrem leiblichen Vater hatte sie darin letztlich nur bestätigt. Aber dass Fiona sie im Stich lassen würde – damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet und die Erkenntnis hatte sie tief getroffen. Sie war ganz auf sich alleine gestellt. Wenn sie aus Affing wegwollte, musste sie es aus eigener Kraft schaffen.

Emma presste die Hände an die Ohren, versuchte, die negativen Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen.

Du willst weiterschlafen! Es ist Sonntag , herrschte sie sich an.

Doch die Stimme in ihrem Hinterkopf gab keine Ruhe. Frustriert stöhnte Emma auf und schwang die Beine aus dem Bett. Es war ohnehin viel zu heiß zum Schlafen.

Wie gewohnt zog sie erst einmal ihren Laptop unter dem Bett hervor und rief die Social Media Plattform Facebook auf. Das Profil einer gewissen Céline Lauderthal erschien auf dem Bildschirm. Neugierig ließ sie den Blick über die neuesten Fotos wandern. Das letzte Bild zeigte ihre Halbschwester breit lächelnd neben dem blonden Jungen von der Gartenparty. Seine große Pranke ruhte auf ihrer Taille. Beide hielten Gläser in Händen und das leuchtende Orange ihrer Aperol Spritz bildete einen solchen Kontrast zu Célines weißem Strandkleid, sodass Emma sich unwillkürlich fragte, ob sie dafür Werbegeld kassierte. Das so offen zur Schau gestellte Glück versetzte Emma einen Stich.

Gleich nach ihrer Rückkehr nach Bayern hatte sie sich ein gefaktes Facebook- und Instagram-Profil zugelegt. Zu Emmas Erstaunen hatte Céline ihre Freundschaftsanfrage sofort akzeptiert. Das eingebildete Ding hielt es scheinbar für normal, dass wildfremde Menschen sich für ihr Leben interessierten. Seither prüfte sie Célines Aktivitäten in den Social Networks mehrmals täglich.

Zum wiederholten Mal fragte Emma sich, was sie sich davon eigentlich versprach. Die Gefühlsmischung aus Neid und Faszination, die sie beim Anblick ihrer Halbschwester empfand, zeugte bestimmt nicht von geistiger Gesundheit. Doch es war wie eine Sucht. Emma verfolgte Célines Leben mit demselben Interesse wie andere Leute Fernsehserien. Céline war ihr ganz persönliches OC California .

Hast du noch alle Tassen im Schrank? Hör auf mit dem Scheiß und kümmere dich um deinen eigenen Kram! , hörte sie Fionas Stimme durch ihre Gedanken hallen.

Aber Emma konnte nicht anders und ihre Freundin wusste nichts von ihren heimlichen Stalker-Allüren. Sie hatten sich seit ihrer Rückkehr nach Affing nicht mehr gesehen und zu ihrer Enttäuschung nur selten telefoniert. Sie nahm es Fiona zwar nicht übel – schließlich hatte sie mit ihren Reisevorkehrungen alle Hände voll zu tun – trotzdem hatte sie sich noch nie so einsam und verlassen gefühlt.

Mit einem tiefen Seufzer drückte sie mit der Maus auf die kleine gelbe Schaltfläche, um das Browserfenster zu minimieren. Nichts geschah. Emma stöhnte genervt. Der Laptop hatte seine besten Zeiten definitiv hinter sich. Also klappte sie ihn einfach zu und schob ihn an seinen angestammten Platz unter dem Bett zurück und machte sich auf den Weg ins Badezimmer.

Ihr T-Shirt und die Boxershorts, die sie zum Schlafen trug, klebten wie eine zweite Haut an ihr. In ihrem Zimmer voller Dachschrägen staute sich die Hitze und der Albtraum hatte sein Übriges getan. Sie betrat die Dusche. Eiskaltes Wasser traf ihren Kopf und durchnässte ihre Haare. Emma bibberte, eine Gänsehaut überzog ihren Körper und ihre Brustwarzen stellten sich auf. Dennoch genoss sie die Abkühlung, die die gewünschte Wirkung nicht verfehlte. Endlich fühlte sie sich hellwach und die letzten Schleier ihres Albtraums verflüchtigten sich.

Sie knotete ihr feuchtes Haar zu einem lockeren Flechtzopf und lief dann in die Küche auf der Suche nach etwas Essbarem. Am Küchentisch saß ihr Adoptivvater, Kaffee trinkend und in die Sonntagszeitung vertieft. Er nahm keine Notiz von ihr.

„Guten Morgen“, begrüßte ihn Emma betont freundlich und erhielt als Antwort nur ein undefinierbares Brummen.

Sie seufzte. So ging das schon die ganze Zeit. Seit das Geheimnis um ihre Adoption gelüftet worden war, zeigten sich Lukas und Silvia ihr gegenüber kühl und distanziert. Als ob sie die Farce einer funktionierenden Familie endlich nicht länger aufrechterhalten müssten. Emma war darüber im Grunde sogar erleichtert. Auch sie brauchte nun nicht mehr so zu tun, als ob sie sich den Schneiders verbunden fühlte.

Einzig Julian verstand nicht, was vor sich ging. Seine Eltern hatten ihn nicht eingeweiht. Sie fanden, dass er mit seinen vierzehn Jahren zu jung für die Wahrheit war und hatten Emma eingeschärft, ihre Entscheidung zu respektieren. Emma brach es jedes Mal das Herz, zu sehen, wie er sich kläglich abmühte, sie in die Gespräche bei den abendlichen Familienessen einzubeziehen. Ein verzweifelter Versuch, etwas zu kitten, das nicht mehr zu kitten war.

„Ah, Emma, gut, dass du da bist. Wir müssen mit dir reden“, säuselte Silvia, die hinter ihr die Küche betreten hatte.

„Worum geht es denn?“, erwiderte Emma während sie Kaffee in eine Tasse goss und eine Semmel aus dem Brotkorb stibitzte.

Auch ihr Adoptivvater legte die Zeitung zur Seite und richtete den Blick erwartungsvoll auf seine Frau. Als diese jedoch keine Anstalten machte, weiterzusprechen, sondern bloß verlegen den Kopf senkte, ergriff er schließlich selbst das Wort.

„Silvia und ich müssen mit dir über die Zukunft sprechen.“

„Welche Zukunft?“, fragte Emma mit vollem Mund.

„Eigentlich geht es mehr um unsere Wohnsituation“, ergänzte Silvia.

„Okay“, erwiderte Emma langsam. „Und weiter?“

Lukas tauschte einen raschen Blick mit seiner Frau, „Es ist so, Emma. Du hast dein Abitur gemacht, bist jetzt erwachsen. Du wolltest doch nach deinem Abschluss in die Stadt ziehen. München, wenn ich mich recht erinnere. Wie sehen deine Pläne denn nun konkret aus?“

„Berlin. Ich wollte nach Berlin“, berichtigte ihn Emma. „Mit Fiona. Wir wollten gemeinsam eine Bar eröffnen. Aber daraus wird nichts. Fiona kommt nicht mit. Sie hat ein Jobangebot bekommen, das sie nicht ausschlagen kann.“ Missmutig schüttete sie Zucker in ihren Kaffee. „Warum fragt ihr?“

Im Augenwinkel sah Emma, wie Silvia nervös von einem Bein aufs andere trat, die Hände wie zum Schutz vor der Brust verschränkt.

„Wir fragen, weil ... nun ja ... wir werden umziehen. Nicht weit weg von hier, aber in eine Wohnung, die mehr unseren aktuellen Bedürfnissen entspricht.“

Emma hielt mitten in der Bewegung inne. Die Cocktailtomate, die sie sich gerade in den Mund hatte schieben wollen, entglitt ihren Fingern und landete auf dem Fußboden. Mit einem unwohlen Gefühl im Magen richtete sie den Blick auf ihren Adoptivvater. „Und das bedeutet?“

„Verdammt Emma, jetzt mach es uns doch nicht so schwer. Muss ich es wirklich laut aussprechen?“, fuhr Lukas sie unvermittelt an. „Wir haben dich bis nach dem Abitur durchgefüttert. Aber in der neuen Wohnung haben wir schlicht und einfach keinen Platz für dich. So, es ist raus.“ Schnaufend fuhr er sich mit den Fingern durch das lichte Haar.

Emma stockte der Atem. Eine Mischung aus Verzweiflung und Zorn durchflutete sie. Sie hatten sie durchgefüttert? Im Ernst? Taschengeld bekam sie schon seit langer Zeit nicht mehr und seit sie vor drei Jahren im Nexos zu arbeiten begonnen hatte, bestritt sie ihren Lebensunterhalt Großteils aus eigener Tasche. Abgesehen von den gelegentlichen Mahlzeiten, die sie gemeinsam einnahmen und ihrem winzigen Zimmer, konnte sie sich nicht vorstellen, was sie den Schneiders an Kosten verursacht hätte.

„Soll das heißen, ihr werft mich raus?“

„Nein, natürlich nicht!“, rief Silvia beschwichtigend, bevor ihr Mann zu einer Erwiderung ansetzen konnte. „Aber ... wir sind davon ausgegangen, dass sich unser Umzug zeitlich gut mit deinen Plänen decken würde. Und du bist schließlich schon neunzehn, da dachten wir …“

„… ihr dachtet, ihr braucht mich nicht mehr in eure Umzugspläne einzubeziehen“, ergänzte Emma tonlos.

„Wir ziehen ja nicht gleich morgen um“, beteuerte ihre Adoptivmutter. Ihre Augen glänzten vor schlechtem Gewissen.

Doch Emma hörte sie kaum. In ihrem Kopf überstürzten sich die Gedanken und sie hatte Mühe, die aufkommende Panik zu unterdrücken. Fiona – weg. Ihr Traum, sich zu zweit in Berlin ein neues Leben aufzubauen, ausgeträumt. Emma wusste, dass ihr Geld niemals reichen würde, um den Plan alleine in die Tat umzusetzen. Andere Zukunftspläne hatte sie nie gehabt. Alles, woran sie sich die letzten Jahre über geklammert hatte, schien ihr zu entgleiten. Und nun wurde sie auch noch rausgeschmissen. Was zum Teufel sollte sie jetzt bloß tun? Was sollte sie mit ihrem Leben anfangen? Wo sollte sie wohnen? Nicht dass sie besonders gerne bei den Schneiders gewohnt hatte, aber sie war fest davon ausgegangen, genügend Zeit zu haben, um zu entscheiden, wie ihre nächsten Schritte aussehen würden.

Doch auch wenn die Verzweiflung sie zu überwältigen drohte, zwang sie ihr Stolz, sich ihre Sorgen nicht anmerken zu lassen und Gelassenheit vorzutäuschen. „Ich verstehe“, krächzte sie. „Und wann ist es soweit?“

„Die Wohnung, für die wir uns entschieden haben, ist ab Oktober frei. Es sind also noch ein paar Wochen bis dahin“, wisperte Silvia und senkte beschämt den Blick.

„In Ordnung. Danke, dass ihr mir rechtzeitig Bescheid gegeben habt“, brachte Emma mühsam hervor und erhob sich. Die angebissene Semmel ließ sie liegen. Der Hunger war ihr vergangen.

„Da wäre noch etwas“, hielt Lukas sie zurück. „Silvia und ich fahren anlässlich unseres Hochzeitstags morgen für eine Woche an die Ostsee. Ausnahmsweise nur wir beide. Julian bleibt hier, hab also bitte unter Tags ein Auge auf ihn. Am Abend kommt dann mein Bruder und übernimmt. Er hat ein paar geschäftliche Termine in der Gegend.“

Emmas Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen. Sie musste sich verhört haben. „Onkel Phil kommt?“, japste sie.

„Reiß dich zusammen, Emma! Keine Faxen! Ich erwarte, dass du dich von deiner besten Seite zeigst und dich um das Abendessen kümmerst. Das ist das Mindeste, das du tun kannst“, polterte ihr Adoptivvater mit einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

Silvia legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Alles gut, mein Schatz. Niemand sagt etwas gegen deinen Bruder.“

„Dann wäre das ja geklärt“, beendete er das Gespräch mit einem warnenden Blick in Emmas Richtung.

Diese konnte nur nicken. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Fluchtartig verließ sie die Küche.

Wäre sie doch bloß im Bett geblieben.

KAPITEL 9

Emma.

I n düstere Gedanken versunken, wendete Emma die Hühnerstückchen auf dem Herd. Sie hatte sich für den Abend für ein simples Gericht entschieden – Hühnergeschnetzeltes mit Reis, eines von Julians Leibspeisen. Der Dunst von angebratenen Zwiebeln umhüllte sie und trieb ihr das Wasser in die Augen. Die Wohnung der Schneiders verfügte über keine Klimaanlage, sodass die Temperaturen in der winzigen Küche einer finnischen Sauna ähnelten. Doch Emma bemerkte es kaum. Seit dem Gespräch mit ihren Adoptiveltern am vergangenen Sonntag befand sie sich in einer Art Schockstarre. Nur ihre täglichen Joggingrunden, von denen sie oft erst nach Stunden völlig erschöpft zurückkehrte, bewahrten sie vollends vor dem Durchdrehen.

Gestern war Fiona noch einmal kurz bei ihr in der Bar vorbeigekommen, bevor sie sich auf den Weg zum Flughafen gemacht hatte. Sie hatte Emma in den Arm genommen und sie mit ihren üblichen Kabbeleien aufzumuntern versucht, aber die Stimmung war ob Emmas distanziertem Verhalten angespannt geblieben. Abschiede fielen ihr schwer, und auch wenn sich ihre Freundin alle Mühe gegeben hatte, hatte das Treffen einen schalen Nachgeschmack hinterlassen.

Die Tage verbrachte Emma vor ihrem Laptop mit der Suche nach potenziellen Jobs. Sie wollte aus Affing weg, so viel war klar. Aber wohin sollte sie gehen? Wo konnte sie wohnen? Und welche Aussichten auf einen Job hatte sie überhaupt? Nichts als Fragezeichen. Vermutlich würde es darauf hinauslaufen, dass sie sich als Barkeeperin in Berlin bewerben und versuchen würde, in einer Wohngemeinschaft unterzukommen. Dann konnte sie immer noch entscheiden, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen wollte.

Zumindest war es ihr bislang gelungen, Onkel Phil aus dem Weg zu gehen. Er war am Vorabend eingetroffen und als sie spät abends von ihrem Dienst im Nexos zurückgekehrt war, hatte er bereits tief und fest geschlafen. Seit Fionas Kündigung hatte Emma mehr Schichten als üblich und ihr war das nur recht. Je weniger Zeit sie zu Hause verbrachte, desto besser. Allerdings bezweifelte sie, dass sie die ganze Woche so viel Glück haben würde.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, wurde in diesem Moment die Küchentür hinter ihr aufgestoßen und das ekelerregend süßliche Aftershave ihres Onkels stieg ihr in die Nase. Wenn man vom Teufel spricht . Emma erschauderte. Fröhlich pfeifend trat er näher heran und warf einen Blick über ihre Schulter, wobei er anerkennend mit der Zunge schnalzte.

„Hallo Lieblingsnichte. Was kochst du uns denn Schönes?“, säuselte er.

Diese antwortete nicht. Sie bemühte sich stattdessen, durch den Mund einzuatmen, um seinen fauligen Atem nicht riechen zu müssen, und stocherte verbissen weiter mit dem Kochlöffel in der Pfanne.

Emmas mangelnde Höflichkeit schien ihn jedoch nicht zu kümmern. „Hey, was ist los? Freust du dich nicht, deinen Onkel zu sehen?“, feixte er und kniff ihr mit der rechten Hand in die Pobacke.

Emma biss die Zähne zusammen. Bloß keine Schwäche zeigen , mahnte sie sich.

„Hau ab, Onkel Phil!“, knurrte sie. „Ich mache nur rasch euer Abendessen, dann bin ich weg. Muss arbeiten.“

„Oh wie schade“, grunzte er. „Aber ich bin mir sicher, wir haben noch genug Gelegenheit, Zeit miteinander zu verbringen. Nicht war, meine Süße?“

Emma hielt den Blick beharrlich abgewandt. Bei dem bloßen Gedanken, mit diesem Mann alleine in einem Raum zu sein, drehte sich ihr der Magen um.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, wandte er sich von ihr ab und zog pfeifend von dannen, nicht jedoch ohne Emma einen anzüglichen Klaps auf ihr Hinterteil zu verpassen.

Emma atmete erleichtert auf. Das erste Zusammentreffen hatte sie glimpflich überstanden. Rasch füllte sie den Inhalt der Pfanne in die dafür vorgesehene Schüssel auf dem Esstisch und verließ die Küche. Bevor sie ins Nexos aufbrach, lief sie noch einmal in ihr Zimmer. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Onkel Phil nicht in der Nähe war, öffnete sie ihren Schrank und holte den alten Baseballschläger hervor, den sie vor ein paar Tagen im Kellerabteil entdeckt hatte.

Gedankenverloren strich sie über das rissige Holz. So weit war es also gekommen , dachte sie mit einem Anflug von Bitterkeit.

Emma hatte kaum Erinnerungen an ihre frühe Kindheit. Dafür erinnerte sie sich umso lebhafter an die Zeit nach Julians Geburt. An die anfängliche Aufregung und Euphorie, endlich ein Geschwisterchen zu haben, mit dem sie spielen konnte. An Julians zahnloses Lächeln, als er sie zum ersten Mal in seinem Gitterbettchen anstrahlte. An seine winzigen Fingerchen, die sich um ihren Hals klammerten, wenn sie ihn hielt. Doch diese Gefühle waren nur allzu bald von der Enttäuschung und Ratlosigkeit überlagert worden, die sie angesichts Silvias und Lukas plötzlicher Ablehnung ihr gegenüber empfand.

Auf einmal war da dieses kleine Wesen, das sämtliche Aufmerksamkeit und Liebe ihrer Eltern für sich beanspruchte. Und wie sehr sich Emma auch um die Beachtung der beiden bemühte, nie war etwas, das sie tat, gut oder interessant genug gewesen. Sie war in den Hort gesteckt worden, wo sie ihre Nachmittage mit den Kindern der berufstätigen Eltern verbringen musste. Sie war morgens die Erste gewesen, die in der Schule abgeladen und abends die Letzte, die aus der Nachmittagsbetreuung abgeholt wurde. Im Hort selbst blieb sie eine Außenseiterin, war die Einzige, die nicht mit Designerklamotten und teuren Spielzeugen aufwarten konnte. Weiß Gott, sie hatte sich bemüht dazuzugehören! Aber mit ihren billigen Turnschuhen und den Hosen, aus denen sie zumeist längst herausgewachsen war, erntete sie vor allem Gelächter und Hänseleien. Wie sehr hatte sie den Hort und die Kinder dort gehasst!

Julian hingegen war der Kronprinz der Familie. Trotz des beschränkten Familienbudgets wurde er von Silvia und Lukas mit Geschenken überhäuft. Jeder Wunsch wurde ihm von den Augen abgelesen. Es wäre nur zu verständlich gewesen, hätte Emma ihren Bruder für das ihr entgegengebrachte Desinteresse verantwortlich gemacht, aber ungeachtet ihrer ungleichen Behandlung liebte Emma Julian abgöttisch. Sie war es, die ihm das Fahrradfahren beibrachte und nicht müde wurde, ihn zu trösten, wenn er stürzte. Als er größer war und die Fernsehserie „Die Bären sind los“ und in der Folge seine Liebe zu Baseball für sich entdeckt hatte, brachte sie Stunden damit zu, ihm Bälle zuzuwerfen. Emma musste schmunzeln, als sie an das Bild des Jungen mit dem riesigen Baseballschläger in der Hand dachte.

Emmas Kindheit endete abrupt an einem Abend im Mai, als sie gerade einmal vierzehn Jahre alt war. Ihre Eltern waren mit Julian übers Wochenende verreist und hatten sie in der Obhut von Onkel Phil zurückgelassen. Phil, der Bruder ihres Adoptivvaters, verbrachte mehrmals im Jahr ein paar Tage bei ihnen. Er betrieb eine Softwarefirma und wenn er Kundentermine in einem der umliegenden Dörfer hatte, kehrte er meist bei den Schneiders ein. Bei seinen Besuchen bedachte er Emma stets mit kleinen Geschenken und sie sehnte diese herbei, wie andere Kinder das Christkind. Wenn er da war, fühlte sie sich wie ein vollwertiges Familienmitglied. Onkel Phil war der Einzige, der ihr Aufmerksamkeit schenkte. Der Einzige, der sie wahrhaftig liebte.

An ebenjenem schicksalsträchtigen Abend hatten es sich die beiden bei einem Film im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Das Sofa bot genug Platz für zwei und so lagen sie aneinander gekuschelt vor der Flimmerkiste. Vor ihnen auf dem Tisch prangte eine riesige Schüssel Popcorn, dazu gab es Himbeersaft für sie und Bier für ihn.

Liebevoll strich er ihr über die Wange. „Meine kleine Prinzessin“, hörte sie Onkel Phils tiefe Stimme an ihrem Haar.

Emma schmiegte sich mit einem wohligen Seufzen an seine breite Brust. Langsam wanderten seine Hände weiter abwärts und fuhren ihr über den Hals, die Wölbung ihrer Schlüsselbeine. Emma ließ es geschehen. Sie genoss seine Nähe. Wenn sie bei ihm war, fühlte sie sich geborgen. Vollkommen sicher. Im Hause Schneiders war er ihr Verbündeter, ihr Vertrauter.

Seine Fingerkuppen streiften den Saum ihres T-Shirts, den Ansatz ihrer sich durch den dünnen Stoff abzeichnenden sprießenden Brüste.

Zumeist mochte sie die Zärtlichkeiten, die Onkel Phil ihr zuteilwerden ließ. Das spielerische Piksen in die Seiten, das sie kitzelte und zum Lachen brachte oder die neckischen Klapse auf den Po, mit denen er sie in den vergangenen Monaten immer öfter bedacht hatte, wenn sie etwas Freches sagte. Doch die Berührung ihrer in letzter Zeit zunehmend empfindlichen Brust erschien ihr dann doch zu intim und so rückte Emma verlegen ein paar Zentimeter von ihm ab.

„Was machst du denn da?“, murmelte sie.

„Ich streichle dich doch nur ein bisschen, entspann dich“, brummte er mit beruhigendem Tonfall.

Emma schüttelte das ungute Gefühl in ihrem Bauch ab und versuchte sich wieder auf den Film zu konzentrieren. Onkel Phil war immer so nett zu ihr gewesen, und sie wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen.

Eine Weile lagen sie einfach da. Phil hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt und fuhr fort, ihren Oberkörper mit der anderen Hand zu streicheln.

Dann – ohne Vorwarnung – verschwand sie auf einmal unter ihrem Oberteil und in ihrem BH. Emma schreckte hoch und schnappte überrascht nach Luft, als seine warme Hand ihre Brustwarze berührten.

„Bitte hör auf, das ist mir unangenehm“, japste sie.

Doch der Onkel lächelte nur und drückte sie mit sanfter Gewalt wieder zurück auf die Couch. Seine Barthaare kratzten an ihrer Schläfe. Er nahm die Hand von ihrer Brust und legte sie stattdessen auf ihren Bauch.

„Alles gut, meine Kleine“, raunte er ihr ins Ohr. „Alles gut.“

Erneut versuchte Emma, etwas Raum zwischen sich und ihren Onkel zu bringen, doch seinen Arm schraubstockartig um ihre Schulter gelegt blieb ihr kaum Bewegungsspielraum.

„Wie erwachsen du geworden bist“, wisperte er. Bevor Emma Gelegenheit hatte, zu reagieren, hatte er auch schon die Hand in ihren Slip geschoben.

Emma jaulte auf, als seine Finger ihre Schamlippen berührten. Als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen, schoss sie nach oben, doch ihr Onkel drückte sie unbarmherzig wieder nach unten.

„Du bist so schön“, raunte er ihr ins Ohr, als er unvermittelt mit dem Zeige- und Mittelfinger in ihre Mitte stieß.

Emma begann zu strampeln. Sie zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen in dem verzweifelten Versuch, sich unter dem massigen Körper ihres Onkels herauszuwinden, der sich über sie gebeugt hatte. Mit einem Schlag war der letzte Rest des Gefühls der Geborgenheit verflogen und jäher Panik gewichen.

„Lass mich los“, flehte sie. „Bitte, ich will das nicht! Du machst mir Angst!“

Doch Onkel Phil gluckste nur. Mit der einen Hand fixierte er ihre wild um sich schlagenden Hände über ihrem Kopf, während er mit der Rechten an seiner Jogginghose herumzufummeln begann. Emma fühlte etwas Hartes an ihrem Hüftknochen. Sie strampelte mit den Füßen, um ihn abzuschütteln, doch er war viel größer und stärker als sie. Mit einer fließenden Bewegung schob er ihr die Hose samt Unterhose von den Hüften, sein Knie fand zwischen ihre Beine und drückten sie auseinander. Die Augen angstvoll aufgerissen starrte sie zu ihm hoch.

„Bitte“, wimmerte sie. „Bitte, nicht ... ich will nicht ...“

Das nächste, was sie spürte, war ein unerträglich stechender Schmerz in ihrem Unterleib, der ihr die Tränen in die Augen trieb.

„Bitte hör auf, du tust mir weh!“

„Halt still, Kleines. Du bist jetzt erwachsen. Das erste Mal tut nun einmal ein bisschen weh. Aber es wird besser. Du wirst es noch genießen lernen. Ich verspreche es dir“, keuchte er.

Nach ein paar Stößen, die sich anfühlten, als würde jemand Emmas Inneres mit einer Rasierklinge bearbeiten, war ein ekelerregendes Stöhnen zu hören und ein nasser Schwall ergoss sich in ihr. Erschöpft brach Onkel Phil über ihr zusammen. Emma zitterte am ganzen Leib. Tränen strömten ihr unkontrolliert die Wangen hinab. Das Gewicht ihres Onkels drohte sie zu ersticken.

Nachdem er sich einige Momente ausgeruht hatte, zog er sich aus ihr zurück. Emma blieb bebend auf dem Sofa liegen, während er ins Bad ging, um sich zu säubern.

Sie sah an ihrem Körper hinunter. Ihre Oberschenkel waren mit einer Mischung aus weißem Glibber und Blut verschmiert. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf und lief in ihr Zimmer. Sie fand ein Päckchen Taschentücher, mit dem sie versuchte, sich von dem schleimigen Zeug zu befreien. Ihr Unterleib pochte schmerzhaft, als hätte jemand in ihr ein Massaker veranstaltet.

***

Emma erschauderte bei der Erinnerung an ihr erstes Mal. An jenem Abend hatte sich alles verändert. Nichts war jemals wieder gewesen, wie zuvor. Wann immer Onkel Phil von jetzt an bei den Schneiders wohnte, schlich er sich nachts in ihr Zimmer, nachdem Silvia und Lukas zu Bett gegangen waren. So sehr sie sich als Kind auf seine Besuche gefreut hatte, so sehr begann sie, sie zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser.

Lange hatte sie sich nicht getraut, ihren Eltern von seinen Übergriffen zu berichten. Onkel Phil war immer so nett zu ihr gewesen und sie fürchtete, Silvia und Lukas würden ihr nicht glauben. Ihr Vater verehrte seinen Bruder, bewunderte seinen beruflichen Erfolg. Er war sein Vorbild und ließ niemals schlechtes Wort über ihn kommen.

Und Emma sollte mit ihrer Einschätzung Recht behalten. Ein einziges Mal, nach einer besonders schlimmen Nacht, hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und ihren Adoptiveltern von Onkel Phils nächtlichen Machenschaften erzählt. Diese jedoch hatten ihre Anschuldigungen als die Lügen eines nach Aufmerksamkeit gierenden Teenagers abgetan und ihr stattdessen Hausarrest erteilt. Ob sie wussten, was tatsächlich vor sich ging? Sie konnte es nicht sagen. Letztlich war es auch egal.

Emma positionierte Julians Baseballschläger unter ihrem Bett, sodass er zwar von der Bettkante aus nicht sofort sichtbar, aber jederzeit griffbereit war. Dieses Mal war sie vorbereitet. Dieses Mal würde sie nicht zögern, sich zu wehren, das schwor sie sich.

KAPITEL 10

Ferdinand.

W as soll das heißen, Sie können sie nicht finden?“, brüllte Ferdinand in den Hörer.

„Es tut mir leid, Herr Lauderthal. Aber das Mädchen, das Sie suchen, existiert nicht. Jedenfalls nicht unter dem Namen Emma Hofmann. An der Adresse, die Sie mir gegeben haben, befindet sich eine leerstehende Fabrikhalle. Wenn Sie mir also keine anderen Anhaltspunkte geben als einen gefälschten Lebenslauf mit einem unscharfen Foto, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass wir sie aufspüren können.“

Ferdinand schnaubte. „Ich bezahle Sie dafür, meine Probleme zu lösen, Herr Rohrfeld. Ein ‚Nein‘ akzeptiere ich nicht als Antwort!“

„Sie bezahlen mich dafür, dass ich alles Menschenmögliche tue, um Ihre Aufträge auszuführen“, entgegnete der Detektiv mit ruhiger Stimme. „Und das tue ich. Ich bin gut in meinem Fach. Aber da ist nichts zu machen.“

Ferdinand legte auf, ohne noch etwas zu erwidern. Seine Kiefer mahlten. Gab es denn nur mehr unfähige Leute? Ferdinand arbeitete im Arbeitsumfeld gelegentlich mit Herrn Rohrfeld zusammen, wenn es Probleme mit Mietern oder Geschäftspartnern zu lösen galt. Er kannte ihn als kauzigen, aber zuverlässigen älteren Herrn, der durchaus nützlich sein konnte. Dennoch hatte er es nicht gewagt, ihm Emmas richtiges Geburtsdatum oder den Grund für sein Interesse an ihrer Identität zu verraten. Das Risiko eines Mitwissers hatte er einfach nicht eingehen wollen. Trotzdem hatte er fest damit gerechnet, dass Herr Rohrfeld etwas in Erfahrung bringen würde. Denn auch wenn er sich über den Detektiv ärgerte, in einem Punkt hatte er Recht: Er war gut in seinem Job.

Am meisten empörte ihn, dass ihn das Mädchen ausgetrickst zu haben schien. Einen falschen Namen und eine falsche Adresse anzugeben – clever.

Natürlich ist sie intelligent, schalt er sich. Sie ist ja schließlich deine Tochter!

Ferdinand erhob sich und trat an die Fensterfront, die einen atemberaubenden Ausblick auf die südfranzösische Küste eröffnete. Trotz der schlechten Nachricht hatte sich seine Sorge wegen Emmas Auftauchen bereits etwas gelegt. Die Tage nach ihrem Auftritt im Büro hatte er jeden Moment damit gerechnet, dass sie ihm zu Hause auflauern würde. Aber nichts dergleichen war geschehen. Inés hatte ihn nicht mit seiner Untreue konfrontiert und vor die Tür gesetzt. Die Kinder hatten ihn nicht als ehebrecherischen Betrüger entlarvt und selbst Karl hatte kein Wort mehr über die Angelegenheit verloren. Stattdessen war er mit Inés und einem Geschäftspartner samt dessen unmöglichen Frauenzimmer im Golfressort Fontana Golf spielen gegangen. Er hatte zehn über Par gespielt – ein gutes Ergebnis für sein Handicap – und war schließlich gestern mit Inés und den Kindern in ihrem Haus an der Côte d’Azur eingetroffen, wo sie sich für zwei Wochen eine Auszeit gönnten, bevor der Trubel im Herbst wieder losging.

Entspann dich. Es wird sich alles in Wohlgefallen auflösen. Deine Drohung hat die gewünschte Wirkung erzielt. Die kommt nicht zurück.

Seine Wut über das Versagen seines Auftragnehmers verpuffte allmählich. Er hatte die Gefahr abgewendet, da war er sich sicher. Zudem gab es wichtigere Dinge, um die er sich kümmern musste.

KAPITEL 11

Karl.

K arl trat auf die Dachterrasse seines Innenstadtapartments. Der Lärm der Rotenturmstraße drang an seine Ohren und die hinter den Dächern versinkende Sonne tauchte den Himmel in sanfte Rottöne. Mit einem Glas eiskaltem Bier in der Hand lehnte er sich an das Geländer und ließ gedankenverloren die Aussicht auf sich wirken. Wie immer im August war die Stadt von Touristen überflutet und auch zu später Stunde herrschte noch reges Treiben auf den Straßen.

Wie so oft kreisten seine Gedanken um Inés. Seit seinem Besuch bei den Lauderthals letzte Woche machte er sich zunehmend Sorgen um sie. Seine Freundin hatte erschöpft und abgespannt gewirkt. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, das stand außer Frage. Und auch wenn sie versucht hatte, sich nichts anmerken zu lassen – ihn konnte sie nicht täuschen. Karl kannte sie bereits sein halbes Leben lang, er war schon mit ihr befreundet gewesen, lange bevor sie Ferdinands Ehefrau geworden war. Er spürte, wenn es ihr schlecht ging. Und es ging ihr wahrlich nicht gut, das hatte er deutlich gesehen.

Inés war der beste Mensch und mit Abstand die großartigste Frau, die er je kennengelernt hatte. Sie war nicht nur warmherzig und sanftmütig, sondern auch eine treue und loyale Freundin, dazu klug und auch jenseits der fünfzig noch bildschön. Karl war froh, jemanden wie Inés zu seinen engsten Freunden zählen zu dürfen.

Er nahm einen Schluck Bier. Der kühle Hopfengeschmack benetzte seine Kehle. Manchmal kam er nicht umhin sich zu fragen, was gewesen wäre, wenn nicht Ferdinand, sondern er selbst Inés geheiratet hätte. Wenn er den Mut gehabt hätte, sie um ein Date zu bitten. Ob sein Leben anders verlaufen wäre? Mit Sicherheit. Jedenfalls wäre er dann nicht Junggeselle geblieben. Eine Frau wie Inés ließ man nicht gehen. Jede seiner im Laufe der Jahre zahlreichen Bekanntschaften hatte er an ihr gemessen und keine hatte ihr je das Wasser reichen können.

Er schätzte Ferdinand als Freund und Geschäftspartner, aber von Zeit zu Zeit drängte sich ihm der Gedanke auf, dass er Inés im Grunde nicht verdient hatte. Lauderthal Immobilien war sein Leben und abseits der Arbeit verbrachte er seine Zeit lieber auf der Jagd, auf dem Golfplatz oder mit seinen Kollegen aus dem Herrenclub, denn mit seiner Frau. Für Karls Geschmack schenkte er ihr zu wenig Beachtung. Für Ferdinand war Inés mehr Trophäe als eine ebenbürtige Partnerin. Dabei hatte diese Frau so viel mehr zu bieten. Er seufzte. Sein Freund wusste eindeutig nicht zu schätzen, was er an ihr hatte.

Und dann war da noch dieses Mädchen, das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Nachdenklich fuhr sich Karl mit der Hand über das stoppelige Kinn. Ob sie tatsächlich Ferdinands Tochter war? Ferdinand hatte ihm zwar versichert, dass sie eine Hochstaplerin und nur auf Geld aus gewesen sei, aber Karl hatte da seine Zweifel. Was hätte sie damit bezwecken sollen? Die Vaterschaft wäre doch nur allzu leicht mit einem DNA-Test zu widerlegen gewesen. Und was, wenn doch mehr dahintersteckte? Sollte Ferdinand Inés wirklich mit Ekaterina betrogen haben? Einer Angestellten, die wohlgemerkt mit dem Ehepaar unter demselben Dach lebte? Hatte er gar noch weitere Liebschaften gehabt? Resolut schüttelte er den Kopf. Er konnte und wollte es sich nicht vorstellen. Aber auch wenn es ihm widerstrebte, seinen Freund der Untreue zu bezichtigen – an der Geschichte mit dieser Emma Hofmann war definitiv etwas faul.

Ferdinand kannte Karl gut genug, um zu wissen, dass seine Loyalität – ihre Freundschaft in allen Ehren – im Zweifel immer Inés gelten würde. Deswegen, so vermutete er, hatte er ihm das Versprechen abgerungen, das Auftauchen des Mädchens gegenüber Inés nicht zu erwähnen. Und er gedachte sich an dieses Versprechen zu halten. Was hätte er ihr auch sagen sollen? Dass er glaubte, ihr Ehemann habe vor zwanzig Jahren eine Affäre gehabt? Er wusste doch nichts, mit Sicherheit, er hatte keine Beweise.

Und selbst wenn sie Ferdinands uneheliche Tochter sein sollte – die Geschichte lag schon so lange zurück. Inés wäre zu Tode gekränkt, am Ende wäre er schuld am Scheitern ihrer Ehe. Inés hatte das nicht verdient. Nein, er würde nichts sagen. Aber er würde Ferdinand im Auge behalten. Wenn er Inés tatsächlich betrog und er es herausfinden sollte – dann Gnade ihm Gott.

KAPITEL 12

Emma.

V orsichtig, um möglichst wenig Geräusche zu machen, drehte Emma den Schlüssel im Schloss. Mit einem leisen Klicken schwang die Wohnungstür nach innen auf. Ihre Sneakers in der Rechten schlich sie auf Zehenspitzen im Dunkeln in ihr Zimmer, wobei sie den knarrenden Dielen geschickt auswich.

Alles schien zu schlafen, nur ab und an wurde die Stille durch die ohrenbetäubenden Schnarchlaute ihres Onkels durchbrochen. Als sie die Zimmertür hinter sich zugezogen hatte, atmete sie erleichtert auf. Gott sei Dank. Ein weiterer Tag mit Onkel Phil unter demselben Dach war überstanden.

Tiefe Erschöpfung übermannte Emma. Der Abend im Nexos war anstrengend gewesen und ihre Füße schmerzten wie nach einem Marathonlauf. Rasch streifte sie ihren Pyjama über, zog den Laptop hervor und ließ sich mit ihm aufs Bett sinken. Ihrer neuen Abendroutine folgend, rief sie als erstes Célines Facebook-Profil auf, um nachzusehen, was es im Leben der Reichen und Schönen so Neues gab.

Eine Reihe von Fotos erschien auf dem Bildschirm, die im Laufe des Tages hochgeladen worden sein mussten. Emma betrachtete sie, eines nach dem anderen. Merkwürdig, dass wir uns so gar nicht ähnlichsehen, dachte sie. Céline war kleiner und schmäler als sie und hatte dunkelblondes, glattes Haar, während ihr eigenes dunkel und wellig war. Auch sonst schien es, als hätten sie nicht viel gemeinsam.

Das letzte Foto zeigte Céline an Bord einer beeindruckenden Yacht. Die blau-weiß-rote Flagge am Mast ließ darauf schließen, dass sie sich in Frankreich befinden musste. Ihre Halbschwester stand an der Reling, die Arme weit ausgebreitet und den Kopf in den Nacken gelegt. Ihr Gesicht zierte ein breites Lächeln. Sie sah aus wie Kate Winslet in Titanic, nur dass sie viel hübscher war als die Schauspielerin. Im Hintergrund konnte sie verschwommen einige andere Personen ausmachen, darunter Célines Mutter und den jungen Mann, den sie als ihren Bruder identifiziert hatte. Emma fühlte den wohlbekannten Stich in der Brust. Mit einem leisen Seufzer positionierte sie den Laptop auf dem Nachttisch und kroch unter die Bettdecke.

Gerade überlegte sie, ob sie sich zum Einschlafen einen Film ansehen wollte, da wurde die Tür plötzlich aufgerissen und Onkel Phil huschte ins Zimmer. Bevor Emma reagieren konnte, war er auch schon zu ihr ins Bett geschlüpft. Grobe Finger schlossen sich schraubstockartig um ihre Handgelenke. Emma keuchte vor Schreck laut auf.

„Leise, Süße. Wir wollen deinen Bruder doch nicht wecken?“, lallte ihr Onkel. Sein Atem stank nach abgestandenem Bier.

Hastig robbte Emma von ihm weg, näher an die Bettkante, von wo aus sie den Baseballschläger erreichen konnte. Onkel Phil schien zu ahnen, was sie vorhatte, denn er drückte sie auf die Matratze, sodass ihr pfeifend die Luft aus der Lunge wich.

„Ich habe meine Lieblingsnichte vermisst“, flüsterte er ihr ins Ohr, während er an ihrer Pyjamahose zerrte.

„Lass das, Onkel Phil, Finger weg“, zischte Emma. Instinktiv fühlte sie jedoch, dass es bereits zu spät war. Sie hatte ihre Chance vertan. Und sie wusste, was jetzt folgen würde.

Der nur allzu vertraute Geruch von Schweiß gepaart mit den Alkoholausdünstungen stieg ihr in die Nase und ließ sie nach Atem ringen. Mit seinem ganzen Gewicht drückte er sie mit dem Gesicht nach unten in die Laken und fixierte ihr die Hände über dem Kopf. Sie schlug mit dem Fuß nach ihm und versuchte sich aus seinem Griff zu entwinden, traf mit der großen Zehe jedoch nur den Bettpfosten. Ein dumpfer Schmerz durchfuhr sie und sie jaulte auf. Mit schnellen, geübten Handgriffen band Onkel Phil ihre Handgelenke mit seinem Bademantelgürtel am Kopfende des Bettgestells fest. Emma zerrte und zog an den Fesseln, aber der Knoten saß zu fest und schnürte ihr das Blut ab. Sie hatte keine Chance, sich aus eigener Kraft zu befreien.

„Bitte nicht“, flehte sie, doch der Onkel achtete nicht auf sie. Ihres Bewegungsspielraums beraubt hatte er nun auch Erfolg mit ihrer Hose. Mit einer fließenden Bewegung befreite er seinen Penis aus seiner Boxershorts.

Emma schloss schicksalsergeben die Augen. Sie wünschte sich an einem schöneren Ort, weit weg von hier. An einen Ort, wo Onkel nicht ihre Nichten missbrauchten, wo das Leben gerechter war und nicht alles Glück den Célines zugeschanzt wurde, während die Emmas dieser Welt leer ausgingen.

Ohne Vorwarnung stieß er von hinten hart in sie hinein. Emma hätte vor Schmerz aufgeschrien, hätte Onkel Phil ihr nicht in letzter Sekunde die Hand vor den Mund gepresst. So verpuffte ihr Schrei in seiner großen Pranke. Der schale Geschmack der Ohnmacht vermischte sich mit dem Salz seiner feuchten Handfläche. Er packte ihren Unterleib fester. Unbarmherzig dirigierte er ihn, wie es für ihn am besten war. Mehrfach hatte Emma das Gefühl, ihre Vagina müsste jeden Moment auseinanderreißen. Wenn Onkel Phil getrunken hatte, war er brutal und gnadenlos.

Das Bett ächzte im Takt seiner Stöße. Die Erschütterung weckte Emmas Laptop aus dem Schlaf. Der Bildschirm leuchtete auf und das Bild von Céline auf der Reling erhellte den ansonsten dunklen Raum. Emma öffnete die Augen. Das ausgelassene Lachen ihrer Halbschwester schien sie zu verhöhnen, trotzdem konnte sie den Blick nicht von dem Foto losreißen. Sehnlichst wünschte sie, sie wäre überall sonst, nur nicht an diesem Ort, in diesem Raum, mit diesem Monster.

Onkel Phils Hand schob sich unter Emmas Brust und zwickte sie fest in die Brustwarze. Emma biss sich auf die Unterlippe, bis sie den metallenen Geschmack von Blut im Mund hatte. Sie konzentrierte sich auf das Bild.

Stell dir vor, du bist dort , befahl sie sich. Stell dir vor, du bist dieses Mädchen auf dem Boot. Onkel Phil, der Schmerz, das alles ist nicht real. Du bist in Südfrankreich. An Bord einer Yacht. Die Sonne scheint dir ins Gesicht und der Wind liebkost deine Wangen , redete sie sich ein. Doch irgendwie gelang ihr die Flucht aus dem Hier und Jetzt diesmal nicht.

Schließlich vergrub Onkel Phil die Hände in ihren Haaren und riss sie fest nach hinten, während er mit seiner vollen Länge ein letztes Mal in sie eindrang. Dann brach er stöhnend über ihr zusammen. Schwer atmend blieb er auf ihr liegen. Sie spürte seinen rasenden Herzschlag an ihrem Rücken pochen. Nach einer gefühlten Ewigkeit beruhigte sich sein Atem.

„Du bist die Beste, Emma, weißt du das?“, lachte er mit einem Klaps auf ihr wundes Hinterteil. „Heilige Scheiße.“

Onkel Phil rollte von ihr herunter, langte unters Bett und förderte den Baseballschläger zutage. „Den behalte ich besser. Was würden denn deine Eltern dazu sagen? Nicht, dass sich jemand verletzt“, kicherte er.

Bevor er das Zimmer verließ, beugte er sich nochmal zu Emma hinab, die immer noch benommen vor Schmerz und Ekel auf der Matratze lag.

„Heiße Schnecke, die du dir da ansiehst“, raunte er ihr ins Ohr und nickte mit anzüglichem Grinsen in Richtung Laptop. „Wenn du willst, können wir sie das nächste Mal gerne dazu bitten.“ Dann ließ er leise lachend die Zimmertür hinter sich ins Schloss fallen.

Emma brauchte eine Weile, bis sie sich von ihren Fesseln befreit hatte, und noch eine Weile länger, bis sie die Kraft gefunden hatte, sich aufzusetzen.

Ohne sich anzuziehen, tapste sie ins Bad. Sie drehte den Duschhahn auf und trat unter den heißen Strahl. Minutenlang stand sie regungslos da. Wassertropfen prasselten auf ihren Kopf und Emma hob das Kinn und reckte das Gesicht gen Wasserstrahl, wie Céline das ihre auf dem Foto in Richtung Sonne gestreckt hatte. Obwohl sie ihre Lider fest zusammenpresste, rann ihr Wasser in die Augen, aber sie empfand es als angenehm. Als würde es ihr all die Tränen wegspülen, die sie seit dem schicksalhaften Abend im Mai nicht mehr geweint hatte. Weil es ja doch nichts brachte.

Sie wusch sich akribisch die Haare, dann wandte sie sich dem Rest ihres Körpers zu. Fast schon zwanghaft rieb sie jeden Zentimeter ihrer Haut mit Seife ein. Diesen Vorgang wiederholte sie dreimal, bis sie das Gefühl hatte, zumindest äußerlich einigermaßen sauber zu sein, und das Wasser eiskalt geworden war.

Das war das letzte Mal , schwor sie sich. Nie wieder würde sie sich von Onkel Phil oder irgendeinem anderen Mann gegen ihren Willen anfassen lassen. Sie wusste nicht, was genau der Auslöser war – Onkel Phils nächtliche Übergriffe waren gewiss nicht neu für sie – aber sie spürte, dass sich in ihrem Inneren etwas verändert hatte. Als wäre ein Stück ihrer Seele zerbrochen. Und sie glaubte nicht, dass irgendetwas oder irgendjemand auf der Welt sie jemals wieder zusammensetzen könnte.

Sie war an ihrem persönlichen Tiefpunkt angelangt: Ihre Kindheit war eine einzige Lüge. Großgezogen von Eltern, die sie nie geliebt hatten und die – wie sie jetzt wusste – gar nicht ihre richtigen Eltern waren. Eltern die sie – kaum, dass sie volljährig war – vor die Tür setzten. Was für ein Mensch musste sie sein, dass nicht einmal diejenigen Personen, die sie aufgezogen hatten, es fertigbrachten, sie zu lieben? War das nicht ihre Aufgabe? Adoption hin oder her, Eltern sollten ihre Kinder lieben. Selbst ihr leiblicher Vater interessierte sich einen Dreck für sie. Alles, was er wollte, war sie loszuwerden wie ein lästiges Insekt, das man mit einem Glas einfängt und aus dem Haus trägt. Eine Spinne vielleicht. Oder einen Weberknecht.

Dann war da noch ihre beste – und einzige – Freundin, die lieber ans andere Ende des Kontinents zog, als sich an ihren Fluchtpakt zu halten. An den Plan, den sie vor langer Zeit geschmiedet und der Emma die letzten Jahre über bei Verstand gehalten hatte. Und schließlich Onkel Phil, der es fertigbrachte, auf ihr herumzutrampeln, wo sie doch schon am Boden lag. Verstoßen von den Eltern, alleingelassen von den Freunden, missbraucht von den Feinden. Mittellos, planlos und bald auch obdachlos. Wann war endlich Schluss? Wann wurde es endlich besser? Wann war endlich sie an der Reihe?

Unverhohlene Wut stieg in ihr auf. Wut ob der Ungerechtigkeit. Wut auf die Schneiders, die Lauderthals, Wut auf Fiona und auf Onkel Phil. Aber am größten war ihre Wut auf sich selbst. Weil sie all das zugelassen hatte.

Ihr Leben lang hatte sie um die Liebe und Anerkennung anderer gekämpft. War hilfsbereit, rücksichtsvoll und angepasst gewesen. Ganz nach dem Credo, wie es in den Wald schallt, so kommt es auch zurück. Und was hatte ihr das gebracht? Was hatte ihr dieser Moralkodex genützt? Nichts. Aber damit war jetzt Schluss. Denn Herr Lauderthal hatte zumindest in einem Punkt Recht gehabt. Mach das Beste aus deinem Leben , hatte er ihr geraten. Und das würde sie. Von nun an würde sie sich nehmen, was ihr zustand.

Emma drehte den Hahn zu. Ihr Körper war taub von der langen Zeit unter dem eiskalten Wasserstrahl, aber sie spürte die Kälte kaum. Sie entstieg der Duschwanne und ging, ohne sich abzutrocknen, zum Spiegel. Wasser tropfte von ihren Gliedmaßen, aber es war ihr egal, dass sie das Badezimmer flutete.

Sie betrachtete ihr Spiegelbild im Mondlicht. Ihr Blick wanderte von ihrem Haar, das ihr wie ein Vorhang bis zur Mitte des Rückens reichte, den von violetten Ringen umschatteten Augen über ihre vollen Lippen zu den prallen Brüsten und ihrer schlanken Silhouette, die durch die viele Bewegung der letzten Zeit deutlich schmäler geworden war. Registrierte die Druckstellen an den Handgelenken, dort, wo der Bademantelgürtel ihr ins Fleisch geschnitten hatte, und ihre Schenkel, die bereits erste blaue Flecke erkennen ließen. Während sie sich eingehend im Spiegel betrachtete, wich die Wut auf einmal einem neuen Gefühl. Einem Gefühl, dass sie bisher nicht kannte. Hass.

Ein stählerner Ausdruck trat in ihre Augen.

Das würde ihnen noch leidtun. Verdammt leid.

KAPITEL 13

Sechs Wochen später. Céline.

G emächlichen Schrittes erklomm Céline die breiten Marmorstufen und erreichte eine prächtige Säulenhalle, die den Haupteingang der Wiener Hauptuniversität markierte. Obwohl es noch nicht einmal acht Uhr morgens war, wimmelte es hier bereits vor jungen Leuten. Die Anzeigetafeln wiesen ihr die Richtung in das nahegelegene Tiefparterre und Céline ließ sich von dem Strom der Studierenden mitziehen. Ihre Vorlesung begann erst in einer halben Stunde, sie hatte also noch mehr als genug Zeit, ihren Hörsaal zu finden und einen Sitzplatz zu ergattern.

Vor einer unscheinbar wirkenden Flügeltür zu einem Saal, in dem, wie einem Schild neben dem Eingang zu entnehmen war, ihre Einführungsvorlesung stattfand, hielt Céline inne. Staunend sah sie sich um. Der dahinterliegende Raum war treppenförmig gebaut und von schier unglaublichen Ausmaßen. Sie hatte zwar gelesen, dass das Audimax der größte Hörsaal der Universität war und über 750 Studierende fasste, dennoch war sie beeindruckt von dessen Größe.

Verwundert stellte sie fest, dass die meisten Stühle bereits belegt waren. Neben ihr drängten weitere Menschen in den Saal. Schlief denn hier keiner mehr? Da hieß es immer, Studenten seien Langschläfer. Von wegen.

Ihre Augen schweiften über die Sitzbänke auf der Suche nach einem freien Sitzplatz. Sie musste bald einen Platz finden, sonst würde sie hier noch niedergetrampelt werden. Wie aufs Stichwort schoss ein dumpfer Schmerz durch ihren linken großen Zeh. Sie bedachte das Mädchen, das ihr mit ausgelatschten Converse auf ihre Ballerinas getreten war, mit einem strafenden Seitenblick. Rasch trat sie einen Schritt zur Seite, um die Kommilitonin durchzulassen, die von Célines Missbilligung nichts mitbekommen zu haben schien. Während sie noch unschlüssig dastand, fing sie den Blick einer dunkelhaarigen Schönheit auf, die nur wenige Meter entfernt von ihr saß.

„Du kannst den Platz neben mir haben“, erbot sie schüchtern.

Dankbar lächelnd kämpfte sich Céline zu dem Mädchen durch. „Danke. Verrückt, was um diese Zeit schon los ist“, stöhnte sie augenrollend. Sie streckte ihr die Hand zur Begrüßung entgegen.

„Céline.“

„Freut mich. Emma.“

Céline bemerkte den unverkennbar deutschen Akzent der jungen Frau. „Du kommst nicht aus Österreich“, stellte sie fest.

„Ist das so offensichtlich?“, erwiderte das Mädchen, das Emma hieß. „Aber ja, du hast recht. Ich bin in Bayern aufgewachsen und erst vor ein paar Wochen zum Studieren nach Wien gekommen.“

„Wo denn in Bayern? Meine Familie hat auch eine Weile in Deutschland gelebt. Wir sind aber nach Wien gezogen, als ich noch klein war. Ich erinnere mich also nicht mehr genau daran“, plapperte Céline munter drauflos.

„Ein Kaff in der Nähe von München. Affing.“

„Kenne ich nicht.“

„Da hast du auch nicht viel verpasst“, grinste Emma.

„Das ist übrigens eine tolle Lederjacke! Dolce & Gabbana , nicht wahr?“, stieß Céline begeistert hervor, als sie das edle Kleidungsstück erspähte, das über der Lehne von Emmas Klappstuhl hing.

Diese nickte nur.

„Das habe ich gleich gesehen. Letztes Jahr wollte ich unbedingt auch so eine haben, aber leider hatten sie sie nicht mehr in meiner Größe. Ich war total fertig. Sieht jedenfalls wirklich cool aus.“

Das Mädchen lächelte. Es war ein hübsches Lächeln und enthüllte ihre ebenmäßig weißen Zähne.

Ob sie wohl auch eine Zahnspange getragen hat? , überlegte Céline. Mit der Zungenspitze fuhr sie über den dünnen Draht auf der Innenseite ihrer Schneidezähne. Sie hatte sich immer noch nicht an den neuen Retainer gewöhnt. Hastig zog sie den kleinen Klappspiegel aus dem Seitenfach ihrer Tasche hervor und warf einen prüfenden Blick hinein, um sicherzugehen, dass sich auch kein Stück ihres Frühstückscroissants darin verfangen hatte. Aus dem Spiegel blickte ihr ein hellhäutiges Mädchen entgegen. Glänzendes dunkelblondes Haar umrahmte ein schmales, von Sommersprossen überzogenes Gesicht. Ihre Zähne waren in Ordnung, doch unter ihren blauen Augen hatte sich etwas Wimperntusche abgesetzt. Rasch fuhr sie mit dem Zeigefinger am Lidrand entlang und entfernte die schwarzen Krümel.

Plötzlich ertönte eine Männerstimme von der Bühne. Céline ließ den Spiegel eilig wieder in ihrer Louis Vuitton Tasche verschwinden und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Podium zu. Es ging los. Der Professor hatte das Mikrofon eingeschalten und versuchte sich bei den Studenten Gehör zu verschaffen. Im Saal kehrte nach und nach Ruhe ein.

Er stellte sich als Mag. Wornik vor, der kurzfristig als Vertretung für Dr. Perthold, der Studienleiterin, einsprang. Mit gelangweilter Stimme erläuterte er, dass das Jusstudium aus drei Abschnitten bestand, wovon der erste, neben verschiedenen Pflichtveranstaltungen, drei Modulprüfungen umfasste: „Einführung in die Rechtswissenschaften und ihre Methoden“, „Rechtsgeschichte“ und eine fächerübergreifende Modulprüfung mit den Teilbereichen römisches Recht und Grundlagen des Völker- und Europarechts. Die Vorlesung, für die sie sich eingeschrieben hatte, würde die Inhalte des Einführungsmoduls behandeln – öffentliches Recht, Privatrecht und Rechtsphilosophie.

Céline gähnte. Die Stimme des Vortragenden war nur undeutlich zu verstehen, immer wieder knackte das Mikrofon. Dazu kamen die zahlreichen Studenten, die keinen Sitzplatz mehr bekommen hatten und sich auf der Treppe und im Eingangsbereich drängten. Die Luft war, ob der vielen Menschen auf engstem Raum, heiß und stickig. Der Professor spulte sein Programm ab und schien nicht zu merken, dass er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer mehr und mehr verlor.

Célines Gedanken schweiften ab. Sehnsüchtig dachte sie an ihre Freundinnen, Stephanie und Caro, deren Lehrveranstaltungen erst nächste Woche begannen und die sich für den heutigen Tag zum Einkaufen auf der Mariahilfer Straße verabredet hatten. Wie viel lieber würde sie jetzt mit ihnen von Geschäft zu Geschäft schlendern, als in diesem überfüllten Hörsaal zu sitzen!

„Habe ich richtig verstanden, dass bei Vorlesungen wie dieser keine Anwesenheitspflicht besteht?“, raunte Céline ihrer Sitznachbarin zu.

Diese nickte. „Anwesenheitspflicht herrscht nur bei den Pflichtübungen.“

„Was machen wir dann überhaupt hier?“, grinste Céline schelmisch und rutschte unruhig auf ihrem Sitzplatz hin und her. „Das ist doch Zeitverschwendung. Die Skripten können wir ebenso gut auch selbst lesen. Hast du die eigentlich schon besorgt?“

„Nein“, erwiderte Emma. „Darum wollte ich mich im Anschluss kümmern. Du etwa?“

„Gut, dann machen wir das jetzt“, beschloss Céline und erhob sich. „Wir gehen Bücher kaufen und dann lade ich dich auf einen Kaffee im Starbucks um die Ecke ein. Als Dank dafür, dass du mir einen Sitzplatz freigehalten hast. Was meinst du?“

Emma sah überrascht zu ihr hoch. Einen Moment zögerte sie, dann schien sie einen Entschluss gefasst zu haben und zuckte die Achseln. „Na gut, mir soll es recht sein. Wir verstehen hier sowieso nichts. Aber du musst mich nicht einladen. Den Kaffee bezahle ich selber.“

Sie schlüpfte in ihre Lederjacke und die beiden machten sich auf den Weg in Richtung Ausgang. Keine zwei Sekunden später waren ihre Sitzplätze schon wieder belegt. Céline lächelte in sich hinein. Irgendwie hatte sie im Gefühl, dass dies das letzte Mal gewesen war, dass sie so früh aufgestanden war, um sich in diese langweilige und überfüllte Vorlesung zu setzen.

Frische Luft schlug ihnen entgegen, als sie das Universitätsgebäude hinter sich ließen, und Céline atmete erleichtert auf. Sie war froh, dem stickigen Hörsaal entkommen zu sein. Es war ohnehin eine Schande, einen so schönen Tag in geschlossenen Räumen zu verbringen. Für Anfang Oktober war es herrlich warm, nur die bunten Blätter der Laubbäume am Universitätsring deuteten darauf hin, dass der Herbst in seinen letzten Zügen lag.

Céline dirigierte sie den kurzen Weg zum Juridicum, jenem Gebäude, das der juridischen Fakultät vorbehalten war und in dem die meisten Pflichtübungen und Seminare des Jusstudiums stattfanden.

„Zuerst müssen wir zum Orakel . Dort kaufen wir die Skripten“, bestimmte sie und hakte sich bei ihrer neuen Freundin unter.

„Orakel?“

„Das ist das Buchgeschäft im Erdgeschoss des Juridicums. Eigentlich ist es eine gewöhnliche Facultas Filiale, aber der Typ, der dort arbeitet, weiß einfach alles. Für welchen Prüfer welches Buch zu empfehlen ist, welche Übungsbücher gut und welche Geldverschwendung sind, und so weiter. Deshalb wird er von den Studenten Orakel genannt. Alle kaufen dort ein. Den Tipp hat mir ein Freund meines Bruders gegeben, der schon länger hier studiert.“

Und sie behielt Recht. Die Mädchen ließen sich ausgiebig beraten und verließen das Geschäft mit mehreren Skripten in weiß-blauen Plastiksäcken unterm Arm.

Die nahegelegene Starbucks-Filiale war beinahe genauso überfüllt wie zuvor das Audimax. Trotzdem bestand Céline darauf, ausgerechnet dort Kaffee zu holen.

„Wie kann man eine Kette wie Starbucks fördern, wenn man in einer Stadt mit einer Kaffeehausgeschichte wie Wien lebt?“, wollte Emma wissen.

Céline lachte. „Du bist nicht die Erste, die mich das fragt. Aber ich bin einfach süchtig nach dem Karamell-Macchiato hier. Von dem könnte ich mich ernähren.“

„Ist auch beinahe genauso reichhaltig“, grinste Emma, entschied sich dann aber für dasselbe Getränk. Trotz Célines Protest bestand sie darauf, selbst zu bezahlen. Mit ihren Pappbechern bewaffnet, schlenderten sie gemächlich durch die sonnigen Straßen des Universitätsviertels. Sie unterhielten sich über dies und das und Céline wurde nicht müde, ihre Kommilitonin mit wertvollen Tipps über die angesagtesten Bars und Clubs der Stadt zu versorgen, die besten Kaffeehäuser und beliebte Treffpunkte. Emma hörte ihr aufmerksam zu und schien alle Informationen wie ein Schwamm in sich aufzusaugen.

„Warum hast du dich eigentlich gerade für Jus entschieden?“, wollte Emma wissen.

Céline zuckte die Achseln. „Im Grunde hätte ich ja lieber Psychologie studiert. Aber mein Dad meinte, damit könne man heutzutage kein Geld mehr verdienen und hat mir nahegelegt, mich stattdessen für Jus oder Wirtschaft einzuschreiben. Ich habe letztlich eingelenkt. Als Juristin hat man schließlich viele Möglichkeiten, oder etwa nicht? Wie steht es mit dir? Warum gerade österreichisches Recht? Warum Wien?“

„Ich wollte unbedingt weg aus Deutschland. Einen Neuanfang. Und Jura …“, sie blickte verlegen zu Boden, „wie du, schätze ich.“

Céline nickte verständnisvoll. „Was ist mit deiner Familie? Vermisst du sie gar nicht? Ist es nicht merkwürdig für dich, so weit von zu Hause weg zu sein?“

„Eigentlich nicht“, erwiderte Emma ausweichend. „Und so weit weg ist Bayern nun auch wieder nicht.“

Céline warf ihr einen flüchtigen Seitenblick zu. Sie mochte dieses Mädchen. Emma war zwar verschlossen, strahlte aber mit ihrer aufrechten Haltung und dem anmutigen Gang ein beneidenswertes Selbstvertrauen aus. Sie hatte etwas verdreht Faszinierendes, das sie nicht genau benennen konnte. Und mutig war sie noch dazu, alle Zelte abzubrechen und alleine in eine neue Stadt zu ziehen. Sie selbst, gestand sie sich ein, hätte sich das nie getraut.

„Und wo wohnst du hier in Wien?“

„Ich bin in einer Wohngemeinschaft untergekommen. Meine Mitbewohnerin Elisabeth ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber die Wohnung ist nicht allzu teuer und eigentlich ganz in Ordnung.“

Célines Blick wanderte über Emmas abgetragene Jeans und die ausgelatschten Sneakers. Das einzig brauchbare Kleidungsstück, das sie trug, war die dunkelbraune Lederjacke von Dolce & Gabbana , die ihr gleich zu Anfang aufgefallen war. Ihre Freundinnen hätten sich bestimmt über ihre Aufmachung lustig gemacht. Aber Emma trug die billigen Klamotten mit einem Selbstbewusstsein, das sie bemerkenswert fand.

Ein Anflug schlechten Gewissens überkam sie, ob ihrer oberflächlichen Gedanken. Nicht jeder hat schließlich das Glück, in eine reiche Familie hineingeboren zu werden , schalt sie sich. Und vielleicht, so dachte sie, konnte sie von Emma noch etwas lernen. Emma hatte bestimmt einen völlig anderen Blick auf die Welt. Abgesehen davon brauchte sie sowieso eine neue Freundin. Sarah und Teresa studierten Medizin, Teresa war dafür nach Salzburg an die Paracelsus Privatuniversität gegangen, Stephanie und Caro hatten sich für Pharmazie inskribiert. Ein paar ehemalige Schulkameradinnen hatten sich zwar auch für Rechtswissenschaften eingeschrieben, aber keine von ihnen hatte Céline je sonderlich gemocht. Und Emma macht einen sympathischen und wohlerzogenen Eindruck.

Auf einmal blieb ihr Blick an einem der Plakate an der Straßenecke hängen.

„Sieh mal!“, rief sie erfreut. „Dieses Wochenende findet die Med & Law Semester Opening Party statt! Da müssen wir unbedingt hingehen. Wir machen einen Mädelsabend“, erwärmte sie sich für die Idee. „Das wird großartig! Ich stelle dir ein paar meiner Freundinnen vor, immerhin kennst du hier noch niemanden. Ein ‚Nein‘ lasse ich nicht gelten!“

Emma schmunzelte. „In Ordnung.“

Die beiden machten sich auf den Rückweg zur Universität, wo Céline ihren Wagen geparkt hatte. Bevor sie sich verabschiedeten, wies sie Emma an, ihre Telefonnummer in ihr iPhone zu tippen.

„Bis bald Süße! Ich zähle auf dich am Freitag“, rief sie ihr zu und stieg in ihren Audi TT Roadster. Mit einem letzten Winken brauste sie in Richtung Mariahilfer Straße davon.

Emma.

Emma rüttelte am Schloss ihrer Wohnungstür, die partout nicht aufgehen wollte. Wütend trat sie mit dem Fuß gegen das Holz – was keine Wirkung erzielte, außer, dass sie ein schmerzhaftes Pochen in ihrem großen Zeh verspürte. Jedes Mal dieses Theater mit dem Türschloss, dachte sie missmutig. Sie atmete tief durch und versuchte es erneut. Diesmal zog sie die Klinke mit aller Kraft zu sich, während sie den Schlüssel nach rechts drehte und sich dann mit ihrem ganzen Gewicht an die Tür lehnte. Endlich war das ersehnte Klicken zu hören und die Tür sprang knarrend auf.

Der Geruch, der ihr entgegenschlug, ließ sie das Gesicht verziehen. Eine Mischung aus abgestandenem Rauch, schalem Bier und zu viel Haarspray – der unverkennbare Duft ihrer Mitbewohnerin. Sie warf den Schlüssel auf den Küchentisch, stieg über ein paar leere Pizzakartons und Bierflaschen hinweg und bog in das nächstangrenzende Zimmer ab, das ihres war. Erschöpft ließ sie sich aufs Bett fallen, das dabei gefährlich knarrte.

Ihr erstes Zusammentreffen mit Céline war besser gelaufen als erwartet – auf einen Großteil ihrer Pläne hatte sie gar nicht zurückgreifen müssen: Ihrer Halbschwester einen Sitzplatz anzubieten, hatte völlig ausgereicht, dann hatte sich alles wie von selbst ergeben. Céline schien richtig angetan von ihr gewesen zu sein. Emma grinste in sich hinein. Der erste Schritt war getan. Aber um sich als Célines Freundin zu etablieren, lag noch viel Schauspielarbeit vor ihr. Zunächst musste sie jedoch dringend ihren Kleiderschrank aufbessern. Célines abfälliger Blick war ihr nicht entgangen. Nur mit der Designerlederjacke, die sie letzte Woche als Schnäppchen in einem Secondhand-Laden erstanden hatte, würde sie vor Céline und ihren Freundinnen kaum bestehen können. Emma schüttelte sich angewidert beim Gedanken an die oberflächlichen Zicken von der Poolparty – sie und die verwöhnten Wiener Prinzessinnen: Das konnte ja etwas werden.

Sie langte unter den Lattenrost und holte den Umschlag hervor, in dem sie ihr Erspartes aufbewahrte. Die Kaution für die Wohnung und die Lederjacke hatten ein großes Loch in ihr Budget gerissen. Sie brauchte dringend einen Job. Am Abend würde sie die Probeschicht als Barkeeperin in einer Cocktailbar antreten und Emma hoffte inständig, dass sie genommen würde. Die winzige Bar im siebten Bezirk war weit genug ab vom Schuss, dass sich Céline und ihre Freundinnen sicher nicht dorthin verirren würden. Und für den Notfall hatte sie ja noch den Rest von Onkel Phils Geld.

Onkel Phil … Emma erschauderte, als sie sich an ihr letztes Zusammentreffen erinnerte. Sie konnte es immer noch nicht fassen, ihm wirklich ein für alle Mal entkommen zu sein.

KAPITEL 14

Ferdinand.

F erdinands Finger strichen sanft über Nataschas Rücken. Ihr schlanker, gebräunter Körper hob sich deutlich von den strahlend weißen Laken des Stundenhotels Orient ab.

„Du bist wunderschön. Ich liebe dich so sehr“, murmelte er und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Ihre Gliedmaßen waren so ineinander verschlungen, dass man kaum sagen konnte, welche davon zu ihm und welche zu Natascha gehörten.

„Ich liebe dich auch“, lächelte sie und drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Brust. Mit einer Mischung aus Hoffnung und Unsicherheit in der Stimme fragte sie: „Wirst du bald mit Inés reden?“

Ferdinand löste sich seufzend von ihr und betrat das angrenzende Badezimmer.

„Ja. Bald. Ich verspreche es dir!“, rief er durch die Tür. „Ich möchte aber erst abwarten, was bei Inés‘ Arztbefund herauskommt. Wenn ich meiner Frau sage, dass ich sie wegen einer anderen verlasse und sie kurz darauf hört, dass sie ernsthafte gesundheitliche Probleme hat, bin ich das Arschloch der Nation“, fügte er verdrießlich hinzu. Abgesehen davon, dass ich mein opulentes Leben und die Position in der Firma dann auch los wäre , dachte er, behielt den Gedanken aber für sich. Er wusste, er konnte Inés nicht verlassen. Nicht weil er sie so sehr liebte – die Liebe zu seiner Frau war in all den Jahren verflogen und einer schlichten Zweckgemeinschaft gewichen. Aber er hatte zu hart dafür gearbeitet, dieses Leben zu führen, als dass er all das einfach aufgeben konnte.

Vollständig angezogen, trat er zurück ans Bett. In seinem dunkelblauen maßgeschneiderten Anzug sah er unverschämt gut aus, wie er fand. Dass er bereits auf die sechzig zuging, sah man ihm jedenfalls nicht an und darauf war er stolz.

„Lange halte ich das aber nicht mehr aus, Ferdinand. Du weißt doch, dass ich mit Inés seit Ewigkeiten befreundet bin. Es ist so anstrengend, den Schein der Freundschaft aufrechtzuerhalten“, seufzte sie. Dass sie mit der Situation nicht glücklich war, stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Nur noch ein bisschen Geduld, Baby“, beschwichtigte Ferdinand sie und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.

Die Geliebte seufzte resigniert und senkte den Blick.

Ferdinand ließ sich auf die Bettkante sinken und nahm ihre zarten Hände in die seinen. „Ich meine es ernst. Ich liebe dich. Und wir beide werden zusammen sein. Aber der Zeitpunkt ist mehr als ungünstig. Ich muss erst ein paar Dinge in Ordnung bringen. Und in der Firma ist auch so einiges los“, versuchte er ihr seine Situation begreiflich zu machen. „Ich weiß, wie schwer es für dich ist. Das ist es für mich auch, das kannst du mir glauben. Aber ich bitte dich, nur noch ein bisschen länger durchzuhalten. Sei dir versichert, mein Herz gehört nur dir alleine.“

Natascha schlang die Arme um seinen Hals. Seine Liebesbekundungen schienen auf fruchtbaren Boden gestoßen zu sein. Ferdinand sah über ihren nackten Rücken hinweg auf seine Armbanduhr. Es war eine Rolex Daytona, Sonderedition. Ein Geschenk von Inés zu ihrem zwanzigsten Hochzeitstag. Fast zwei Uhr. Sein nächstes Meeting begann schon in einer halben Stunde.

„Ich muss jetzt los. Aber wir kriegen das hin. Verlass dich darauf.“

Mit diesen Worten entwand er sich aus Nataschas Umklammerung, schnappte seinen Mantel und verließ mit eiligen Schritten das Hotelzimmer.

KAPITEL 15

Emma.

E mma blickte verstohlen über die Schulter. Die Straße war wie ausgestorben, nur in weiter Ferne konnte sie ein paar Passanten ausmachen, die geschäftig vorbeieilten. Unbeobachtet lief sie die Rampe der Tiefgarage hinunter und passierte den Ticketschalter.

Feuchte Luft schlug ihr entgegen. Fröstelnd schlang sie ihre Lederjacke enger um den Körper, während sie den Blick über die geparkten Fahrzeuge schweifen ließ. Die Firmengarage war bis auf wenige Ausnahmen leer. An einem späten Freitagnachmittag kein Wunder und darauf hatte sie gesetzt.

Am anderen Ende des Parkgeschoßes fand sie, wonach sie gesucht hatte. Ein schwarzer Porsche Cayenne stand auf dem Abstellplatz, der der Geschäftsführung der Lauderthal Immobilien GmbH vorbehalten war. Er trug das bezeichnende Kennzeichen „IMMO 1“. Typisch. Was für ein Angeber.

Sie stellte ihre Tasche auf dem Boden ab und förderte mehrere Reißnägel und einen Hammer zutage. Erneut sah sie sich um. Niemand war zu sehen, sie war vollkommen allein. Emma holte tief Luft, sprach sich selbst Mut zu.

Bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, kniete sie nieder, platzierte den ersten Nagel auf dem nagelneuen Reifen des Porsches und schlug mit dem Hammer auf den Nagelkopf. Nichts passierte. Sie fluchte leise. Neuer Versuch. Diesmal holte sie weiter aus. Ein Zischen war zu hören, als die Metallspitze den Gummi durchbohrte. Den Vorgang wiederholte sie noch drei Mal, bis in allen vier Rädern Nägel steckten. Zufrieden erhob sie sich. Ihr Vater würde sein blaues Wunder erleben, dachte sie grimmig. Und jetzt nichts wie raus hier.

Plötzlich hörte sie Schritte herannahen. Emma erstarrte. Irgendjemand war hier. Sie war doch nicht etwa erwischt worden? Rasch ging sie im Schatten des Fahrzeugs in Deckung. Gottlob fuhr Ferdinand Lauderthal keinen tiefliegenden Sportwagen. Vorsichtig spähte sie hinter dem Porsche hervor. Ein Mann, im spärlichen Licht der Garagenbeleuchtung kaum zu erkennen, hielt zielstrebig auf einen nahegelegenen Audi zu. Noch schien er sie nicht bemerkt zu haben. Emmas Blick wanderte zum Notausgang, der zum Glück nicht weit entfernt war. So leise sie konnte, legte sie die wenigen Meter zurück und schlüpfte durch die Tür. Atemlos hastete sie die Treppe hinauf und fand sich auf offener Straße vor der Garagenausfahrt wieder. Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus und gönnte sich ein paar Sekunden, um ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Das war knapp gewesen. Zu knapp.

Lautes Hupen und aufblitzende Scheinwerfer ließen sie herumwirbeln.

„Hey, du da!“

Der Audifahrer stand mit heruntergelassenem Fenster in der Auffahrt. Ein stechend blaues Augenpaar durchbohrte sie. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie zurück.

„Du blockierst die Ausfahrt“, rief er. „Kannst du nicht aufpassen? Ich hätte dich beinahe überfahren!“

Hastig sprang sie ein paar Schritte zur Seite. „Entschuldigung“, nuschelte sie mit hochrotem Kopf.

„Moment mal … bist du nicht das Mädchen, das unlängst ein Vorstellungsgespräch bei uns hatte?“

Emmas Gedanken rasten. „Ja, das stimmt“, brachte sie schließlich hervor. „Ich habe den Job aber nicht bekommen.“

Der Mann verzog keine Miene. „Mach dir nichts draus. Ist vielleicht besser so“, entgegnete er kryptisch, dann ließ er den Motor an, hob die Hand zum Gruß und fuhr davon. Emma starrte ihm mit offenem Mund nach.

***

Prüfend begutachtete Emma ihr Outfit im mannshohen Spiegel des Fahrstuhls. Sie trug ihre Lieblingsjeans, dazu ein weißes Spitzentop, das ein einladendes Dekolletee zauberte. An ihren Ohren baumelten lange Ohrringe. Ihr ganzer Stolz aber waren die dunkelbraunen Wildlederpumps, die sie passend zu ihrer gleichfarbigen Lederjacke erstanden hatte. Obwohl sie nur einen Bruchteil des Originalpreises gekostet hatten, waren sie eigentlich zu teuer gewesen, aber mit dem Job im Kinkys in der Tasche hatte sie nicht widerstehen können. Zufrieden zwinkerte sie ihrem Spiegelbild zu. So konnte sie sich unter die modekritischen Augen von Céline und ihren Freundinnen wagen. Sie straffte die Schultern und reckte das Kinn. Showtime.

Die Aufzugtüren des 25h Hotels glitten auf und vor ihr erstreckte sich ein weitläufiger Raum, in dem sich zahlreiche junge Menschen tummelten. Emmas Blick wanderte von der Bar zu ihrer Linken, über ein paar gemütlich aussehende Sitzgruppen zu der Fensterfront zu ihrer Rechten, die einen traumhaften Ausblick auf die geräumige Dachterrasse und die Skyline der Wiener Innenstadt bot. Unweit der Bar erspähte sie Céline, umringt von einigen Mädchen, darunter auch Sarah, die sie von der Poolparty wiedererkannte. Ihr dunkles Haar hatte sie zu kunstvollen Locken geformt, ihr Körper steckte in einem teuren Designerkleid. Die anderen mussten Zwillinge sein. Beide hatten dasselbe rundliche, von Sommersprossen überzogene Gesicht.

„Emma“, trällerte Céline strahlend, als sie sich dem Grüppchen näherte. „Schön, dass du es geschafft hast. Das sind Sarah, Stephanie und Caro. Mädels – das ist meine Studienkollegin Emma.“

Die Mädchen musterten Emma von oben bis unten, schließlich streckte ihr eine nach der anderen höflich die Wange zur Begrüßung hin. Einzig Sarah hob nur halbherzig die Hand zum Gruß. Sie bedachte Emma mit einem abfälligen Blick. Jäh wurde Emma der Kontrast zwischen den eleganten Kleidern von Céline und ihren Freundinnen und ihrem eigenen legeren Outfit bewusst. Scham wallte in ihr hoch. Doch sie verzog keine Miene und hob stattdessen das Kinn noch etwas höher. Mit ihren 1,75 Meter Körpergröße und den Pumps überragte sie Sarah um mehr als eine Kopflänge. Sie zwang sich, ein, wie sie hoffte, freundliches Lächeln aufzusetzen, und blickte ihrer Widersacherin direkt in die Augen.

„Freut mich, dich kennenzulernen, Sarah.“

„Schaut euch mal Emmas Lederjacke an“, plapperte Céline, die das stumme Blickduell der beiden nicht mitbekommen zu haben schien. „ Dolce & Gabbana , letzte Saison! Ich bin ja so neidisch !“

„Sehr schön“, erwiderte Sarah mit herablassendem Tonfall, senkte jedoch als Erste den Blick. Der Bann war gebrochen. Emma atmete innerlich auf. Diese Sarah mochte ja ein harter Brocken sein. Aber nicht mit ihr. Sie hatte schon ganz andere Kämpfe ausgefochten. Eine verwöhnte Göre wie Sarah konnte ihr nichts anhaben.

Die Getränke wurden gebracht und belangloses Plaudern stellte sich ein. Caro und Stephanie bombardierten sie mit Fragen.

„Hast du einen Freund?“, wollte Caro wissen.

„Niemand Speziellen“, erwiderte sie ausweichend. Warum Frauen nur immer über Männer reden müssen , dachte sie bei sich. Als gäbe es keine interessanteren Gesprächsthemen.

„Emma hat aber doch bestimmt einen Haufen Verehrer“, schaltete sich Céline ein.

„So hübsch wie du bist, würde mich das nicht wundern! Vielleicht ist einer von Marcs Kollegen ja etwas für dich?“, überlegte Stephanie laut.

„Marc ist Célines fester Freund“, erklärte Caro. „Er studiert an der Wirtschaftsuniversität und ist ja so scharf ! Und seine Kumpels sind auch nicht zu verachten. Wir stellen dir die Truppe einmal vor.“

„Das ist lieb von euch, aber ich bin im Moment nicht auf der Suche“, hob Emma abwehrend die Hände.

„Schlimme Trennung?“ Drei mitfühlende Augenpaare richteten sich auf sie.

„Nein, nein. Nichts dergleichen. Ich will mich nur erst einmal hier einleben und auf die Uni konzentrieren.“

Sarah zuckte die Achseln und grinste spöttisch. „Wie schade. Aber ich glaube sowieso nicht, dass Marcs Freunde etwas für jemanden wie Emma wären.“

Die Aussage bot kaum Interpretationsspielraum und Emma presste die Kiefer aufeinander, um sich einen schnippischen Kommentar zu verkneifen. Sie rang sich ein unschuldiges Lächeln ab.

Der Abend schritt voran und der Alkohol floss in rauen Mengen. Céline und Caro wirkten zwischenzeitig mehr als nur ein bisschen beduselt. Emma war froh, dass sie durch ihre Arbeit im Nexos recht trinkfest war. Sie musste einen klaren Kopf behalten. Die Konversation mit den Prinzessinnen , wie Emma die Mädchen insgeheim nannte, kostete sie alle Energie, die sie aufbringen konnte, da konnte sie auf einen Damenspitz gut verzichten. Die Gespräche kreisten wiederholt um Jungs, die kommenden Hauspartys im Freundeskreis und die aktuellen Modetrends – Themengebiete, mit denen sie nicht gerade vertraut war.

Céline gab vor ihren Freundinnen mit ihrem neuen Wagen an, den sie zum neunzehnten Geburtstag bekommen hatte.

„Wann hast du eigentlich Geburtstag, Emma?“, fragte Céline unvermittelt, nachdem sie ihren Vortrag über die Vorzüge des Allradantriebs ihres Audis gegenüber dem herkömmlichen Frontantrieb zur Erleichterung aller endlich beendet hatte.

„Am 19. Juli.“

„Dann hast du ja nur einen Tag vor mir Geburtstag!“, frohlockte diese. „Nächstes Jahr müssen wir unbedingt gemeinsam feiern. Ist immerhin ein runder!“

Emma nickte abwesend. Nur über meine Leiche.

„Eine Runde Tequila noch bitte!“, rief Céline dem Barmann zu. Ihre helle Stimme war einem undeutlichen Lallen gewichen.

Sarah und Stephanie machten sich gemeinsam auf den Weg zur Toilette. Céline war in eine angeregte Unterhaltung mit Caro vertieft. Emma ergriff die Gelegenheit, die sich ihr bot. Unbemerkt ließ sie Célines iPhone, das unbeaufsichtigt auf dem Tisch lag, in ihre Jackentasche gleiten und entschuldigte sich dann ebenfalls in Richtung Waschräume.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie beobachtete, ließ sie Wasser in das Handwaschbecken laufen und versenkte das Handy mit einem leisen Plopp darin. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Das sollte genügen. Rasch fischte sie das Telefon wieder heraus und trocknete es sorgfältig ab. Eine diebische Genugtuung machte sich in ihr breit.

Zurück bei den anderen schob sie es unauffällig auf die Tischplatte und beteiligte sich an der Unterhaltung, die sich – welch Überraschung – um die letzte Apple MacBook Generation drehte.

KAPITEL 16

Ferdinand.

F erdinands Schritte hallten laut auf dem Steinboden wider.

„Frau Wagner, einen doppelten Espresso und in mein Büro bitte“, blaffte er in Richtung Empfangstresen, ohne seine neue Assistentin eines Blickes zu würdigen. Die junge Frau zuckte zusammen, nickte und sprang auf. Ferdinand lief eilig weiter und ließ die Tür zu seinem Büro lautstark hinter sich ins Schloss fallen.

Wenige Minuten später betrat Frau Wagner mit der georderten Tasse Kaffee und einem Notizblock in der Hand den Raum. Rastlos trat sie von einem Bein aufs andere.

„Wir benötigen erhöhte Sicherheitsvorkehrungen für die Garage. Stellen Sie eine Liste der dafür in Frage kommenden Unternehmen, gelistet nach Verfügbarkeit und Preisen zusammen“, beauftragte er sie ohne Umschweife.

Frau Wagner zwirbelte eine Strähne ihres langen blonden Haars um den Finger und notierte das Geforderte beflissentlich auf ihrem Notizblock. „Natürlich, Herr Magister, wird gemacht. Ist ... ist etwas vorgefallen?“, fragte sie vorsichtig.

„Es gab einen Anschlag auf meinen Firmenwagen. Jemand ist in die Garage eingedrungen und hat Reißnägel in meine nagelneuen Winterreifen geschlagen. Die sind ruiniert!“, polterte er. „Das ist unerhört! Sachbeschädigung! Und rufen Sie einen Mechaniker, der den Wagen abholt!“

Er biss die Kiefer so fest aufeinander, dass seine Zähne knirschten. Für seine Angestellten ein eindeutiges Zeichen, in Deckung zu gehen. Aber diese hier war neu und kannte die Spielregeln noch nicht. Stattdessen riss sie keuchend ihre grünen Augen auf. „Das ist ungeheuerlich! Wer macht denn so etwas? Natürlich, Herr Magister. Ich kümmere mich sofort darum. Kann ich Ihnen sonst noch irgendetwas bringen?“

„Das wäre alles“, entgegnete er herablassend. „Und sagen Sie den Bereichsleitern, dass unser Jour fixe heute eine halbe Stunde früher beginnt. Ich habe einen Mittagstermin und muss pünktlich weg.“

Eilig nickend verließ sie den Raum. Ferdinand schenkte ihr keine Beachtung. Der Anblick ihrer langen Beine in dem kurzen Rock, der ihn sonst so erfreute, konnte ihn diesmal nicht besänftigen. Er war wütend. So etwas hatte er noch nie erlebt. Dabei lag das Firmengebäude in einer sicheren Gegend. Das hatte man davon, wenn man Gesindel ins Land ließ. Derartigen Vandalismus hätte es in Wien früher nicht gegeben.

Das ganze Wochenende hatte er gegrübelt, wem um Himmels willen er auf den Schlips getreten war, dass sein armer Porsche dafür hatte büßen müssen. Aber das würde er noch herausfinden. Wer auch immer für den Anschlag auf seinen Firmenwagen verantwortlich war, konnte etwas erleben!

Dreißig Minuten später betraten seine beiden Bereichsleiter den Sitzungssaal. Lauderthal Immobilien besaß zahlreiche Zinshäuser in Wien, die hauptsächlich zu Wohnzwecken vermietet wurden. Karls Zuständigkeitsbereich. Daneben verfolgte die Firma noch verschiedene andere Projekte, die sich mit dem Kauf, der Sanierung und der Entwicklung von Immobilienobjekten und dem anschließenden gewinnbringenden Verkauf derselben beschäftigte. Letztere Sparte wurde von Herrn Mag. Alex Kembrand betreut.

Die wöchentlich stattfindenden Jour Fixes dienten dazu, Ferdinand den nötigen Überblick über die aktuelle Lage der einzelnen Unternehmensbereiche und anstehende Entscheidungen zu verschaffen. Besonders der Immobilienentwicklungsbereich hatte sich in den letzten Jahren zu einem heiklen Geschäftsfeld entwickelt. Der Markt war überhitzt, die Quadratmeterpreise in die Höhe geschnellt und das einst so gewinnbringende Geschäft warf nicht mehr die Renditen ab, die man sich erhoffte. Erst im vorigen Jahr hatten sie einen schweren Rückschlag verzeichnen müssen, als die geplante – und sich angeblich schon in trockenen Tüchern befindliche – Umwidmung teuer erworbener Grundflächen überraschend nicht umgesetzt worden war. Das Grundstück hatte auf einen Schlag erheblich an Wert verloren. Der daraus resultierende Verlust hatte die finanzielle Lage der Firma stark strapaziert.

Nachdem er die Sitzung eröffnet hatte, erteilte er das Wort an Herrn Kembrand. Dieser kam gleich zur Sache.

„Wir haben ein ernst zu nehmendes Problem mit Projekt Reinprechtsdorfer Straße.“

„Und zwar?“, wollte Ferdinand wissen.

„Die von uns beauftragte Baufirma, die Watzlaw Baugesellschaft mbH., hat unsere Anzahlung in Millionenhöhe für die Generalsanierung und den geplanten Dachbodenausbau des Objekts zwar vereinnahmt – seit ihrer Beauftragung ist dort jedoch nichts geschehen. Wir hinken im Zeitplan hinterher. Trotz mehrfacher Urgenz meinerseits ist von der Geschäftsleitung niemand zu erreichen.“

„Dann machen Sie denen Beine. Wir setzen eine Nachfrist von drei Wochen, andernfalls fordern wir die Anzahlung zurück und suchen jemand anderen. Bauunternehmer gibt es schließlich wie Sand am Meer“, beschloss Ferdinand und wollte schon zum nächsten Tagesordnungspunkt übergehen.

„Das dürfte schwierig werden“, wandte Herr Kembrand ein. „Wir haben am Freitag einen Auszug aus der Ediktsdatei gemacht. Die Baufirma hat Konkurs angemeldet.“

Atemlose Stille senkte sich über die Anwesenden. Karl und er tauschten besorgte Blicke.

„Das bedeutet, wir kriegen die Anzahlung nicht zurück. Wir haben gegenüber Firma Watzlaw allenfalls eine Konkursforderung. Sie wissen ja, wie das läuft“, erläuterte er.

Auf Ferdinands Stirn begann eine Ader gefährlich zu pochen. „Wie konnte das passieren?“, fuhr er seinen Mitarbeiter an.

Beruhige dich. Denk an deinen Blutdruck , mahnte er sich selbst. Er griff nach der Karaffe Wasser, die in der Mitte des Tisches stand, goss sich ein Glas voll und stürzte es hinunter. Obwohl es in dem Raum relativ kühl war, wallte Hitze durch seinen Körper. Er öffnete den obersten Knopf seines Hemdes und lockerte die Krawatte.

„Wir haben schon öfter erfolgreich mit Firma Watzlaw zusammengearbeitet. Das war für niemanden vorherzusehen“, rechtfertigte sich der Bereichsleiter.

„Ihre Beteuerungen interessieren mich nicht. Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht passiert!“

Herr Kembrand senkte den Blick und schwieg. Dem konnte er nichts entgegensetzen.

„Und was schlagen Sie vor, wie wir weiter vorgehen?“

„Zunächst einmal müssen wir dringend ein neues Bauunternehmen finden“, begann Herr Kembrand. „Eines das sofort verfügbar ist und den Zeitverlust auf ein Minimum reduzieren kann. Trotz allem ist nicht damit zu rechnen, dass wir das Objekt zum vereinbarten Zeitpunkt übergeben werden können.“

„Wie stellen Sie sich das vor?“, polterte Ferdinand erzürnt. „Der Käufer hat uns gewarnt, dass der Zeitplan eng kalkuliert ist. Meines Wissens nach hat er bereits Vorverträge mit potenziellen Mietern abgeschlossen.“

„Das bringt mich zum nächsten Punkt“, fuhr Herr Kembrand unbeirrt fort. „Wir müssen mit dem Käufer sprechen. Vielleicht lässt sich die Abnahme noch verschieben.“

„Herr Krall wird uns in Grund und Boden klagen!“, donnerte Ferdinand.

„Wir sollten mit ihm reden“, insistierte Herr Kembrand. „Notfalls können wir immer noch einen Vergleich anstreben.“

„Abgesehen davon müssen wir das Projektbudget neu kalkulieren. Im Budget ist kein Sicherheitspolster eingeplant, der einen finanziellen Verlust in Millionenhöhe verkraftet“, stieß Ferdinand hervor.

„Das Projekt ist in der Tat eng budgetiert“, räumte Herr Kembrand ein. „Wir brauchen mehr Kapital. Möglicherweise einen weiteren Investor.“

Ferdinand lehnte sich schwer atmend zurück. Mit fahrigen Fingern fuhr er sich durchs Haar. Das war eine Katastrophe, geradezu ein Supergau.

„Ich werde mich selbst um den Käufer kümmern“, entschied er. „Finden Sie ein neues Bauunternehmen. Und achten Sie diesmal darauf, dass es liquide genug ist, seinen vertraglichen Verpflichtungen auch nachzukommen. Bevor Sie den Zuschlag erteilen, sprechen wir noch einmal. Und konsultieren Sie die Rechtsabteilung. Sie soll Konkursforderung gegenüber der Watzlaw Baugesellschaft mbH. anmelden.“

„Wenn du willst, kann ich mit der Bank Kontakt aufnehmen“, schaltete Karl sich ein. „Vielleicht räumen sie uns einen höheren Kreditrahmen ein.“

„Ja bitte, tu das“, nickte Ferdinand zustimmend. „Ich bezweifle allerdings, dass wir damit Erfolg haben werden. Das Projekt ist schon jetzt zu fünfundsiebzig Prozent fremdfinanziert.“

„Lass es mich zumindest versuchen“, versuchte Karl ihn zu beschwichtigen.

„Ich möchte trotzdem, dass wir alle über mögliche Investoren nachdenken – für den wahrscheinlichen Fall, dass die Bank uns keine Kreditaufstockung gewährt. Ich muss euch nicht daran erinnern, dass die finanzielle Lage des Unternehmens aufgrund des Umwidmungsfiaskos noch immer angespannt ist. Weitere Fehlschläge werden wir nicht so einfach wegstecken.“

Die Anwesenden nickten ernst. Das Thema war allgemein bekannt.

Der Rest des Meetings zog wie aus weiter Ferne an Ferdinand vorbei. Wenigstens wurden keine anderen Katastrophenmeldungen mehr an ihn herangetragen. Seine Gedanken kreisten um Projekt Reinprechtsdorfer Straße und die Wahrscheinlichkeit, das vormals gewinnträchtige Geschäft zu retten. Er hatte damit kalkuliert, dass es den Verlust aus der Fehlinvestition im letzten Jahr ausgleichen würde. So weit hätte es niemals kommen dürfen.

Nachdem Herr Kembrand und Karl in ihre jeweiligen Büros zurückgekehrt waren, wählte er widerwillig Nataschas Nummer. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr Mittagsdate abzusagen, was ihm gar nicht gefiel. Er genoss ihre heimlichen Tête-à-Têtes und das war jetzt schon das zweite Mal in drei Tagen, dass er sie vertrösten musste. Aber diese Angelegenheit duldete keinen Aufschub. Die Firma hatte Vorrang.

KAPITEL 17

Céline.

E s tut mir so leid, aber wir können uns heute nicht treffen“, entschuldigte sich Céline.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst! Der Abend war doch schon seit Ewigkeiten geplant. Und eine Stunde vorher absagen? Ich bin bereits fix und fertig angezogen“, beklagte Sarah sich am anderen Ende der Leitung.

„Ich habe mich auch gefreut, dass wir endlich einmal unter uns sind, das kannst du mir glauben! Aber du weißt ja, wie mein alter Herr ist“, seufzte sie. „Kurzfristig angesetztes Familiendinner. Dagegen komme ich nicht an. Ich mache es wieder gut, versprochen. Der nächste Abend geht auf mich!“

Ein entnervtes Stöhnen war zu hören. „Du ersetzt mich aber jetzt nicht durch dein neues Sozialprojekt, oder?“

Céline schnappte nach Luft. „Du meinst doch nicht etwa Emma?“

„Ich sage dir, mit der stimmt etwas nicht“, entgegnete Sarah gereizt.

„Emma ist nicht mein Sozialprojekt , wie du es nennst. Wir studieren gemeinsam. Ich finde sie nett, außerdem bringt sie frischen Wind in unsere Runde. Wenn du ihr nur eine Chance gibst, wirst du sie sicher auch mögen.“

Die andere schnaubte nur verächtlich. „Hast du die Jeans gesehen? Und diese Ohrringe?“

„Jetzt sei doch nicht so oberflächlich“, grinste Céline. „Und hör auf, eifersüchtig zu sein, das steht dir nicht.“

„Ich bin nicht oberflächlich, ich spreche nur das Offensichtliche aus. Und auf die bin ich sicher nicht eifersüchtig. Das ist ja fast schon eine Beleidigung! Ich passe nur auf dich auf, Liebes, und ich sage dir – an der ist etwas faul.“

„Ich weiß, dass du es nur gut meinst. Aber lass Emma in Frieden, die ist in Ordnung. Ich muss Schluss machen. Ich hab‘ dich lieb!“

„Wann kriegst du denn dein neues Handy?“, wollte Sarah grummelnd wissen, ohne auf die Einwände und Célines Versuch, das Gespräch zu beenden, einzugehen.

„Ich muss erst mit meinem Dad reden“, entgegnete sie missmutig. „Er wird mir schon ein Neues kaufen. Ich weiß nur nicht, wie ich ihm erklären soll, dass es kaputt ist. Immerhin war es noch nagelneu. Ich weiß ja nicht einmal mehr, wie ich das wieder hinbekommen habe“, stöhnte sie.

„Tja, du solltest weniger trinken.“

„Da redet die Richtige“, lachte Céline. „Ich lege jetzt wirklich auf, meine Mutter ruft schon. Bye, Süße. Du hast was gut bei mir!“

Dann unterbrach sie die Verbindung.

„Danke“, wandte sie sich an ihren Bruder und gab ihm sein Telefon zurück.

„Du solltest wirklich weniger trinken. Das gehört sich nicht für eine Dame – und schon gar nicht, wenn es meine Schwester ist“, entgegnete er. Céline verdrehte die Augen. Camillo – der ewige Anstandswauwau und Beschützer. Dabei war er der Letzte, der sich über ihre ausschweifenden Partys beklagen sollte. Er war um keinen Deut besser als sie.

„Jaja, schon gut.“

Sie machten sich auf den Weg ins Esszimmer, wo ihr Vater mit vor der Brust verschränkten Händen bereits auf sie wartete.

Ferdinand.

„Camillo, Céline, setzt euch. Ihr seid spät dran. Haben wir nicht 20 Uhr gesagt?“, wies Ferdinand seine Kinder zurecht. Inés saß bereits am Kopfende des großen Esstischs und nippte gedankenverloren an einer Tasse Tee.

„Nicht wir haben gesagt um acht, sondern du “, korrigierte ihn Céline entnervt. „Was ist eigentlich so wichtig, dass ich kurzfristig meine Verabredung mit Sarah absagen musste?“, maulte sie und ließ sich zu seiner Rechten nieder.

„Sprich nicht in diesem Ton mit mir“, runzelte er die Stirn. „Eure Mutter hat sich die Mühe gemacht, für euch zu kochen. Dem könntet ihr etwas mehr Respekt zollen.“

„Wird Zeit, dass Ekaterina wieder zurückkommt“, murmelte seine Tochter und beäugte skeptisch den Reisauflauf mit undefinierbarem Inhalt, der auf dem Tisch stand.

„Jetzt reicht es aber. Hör auf, dich wie ein verwöhntes Gör zu benehmen. Eure Mutter kocht hervorragend. Sei nicht so undankbar!“

Diese bemühte sich, ein angemessen betretenes Gesicht zu machen. Insgeheim musste er ihr aber Recht geben. Inés war in der Küche eine absolute Katastrophe. Auch er konnte es kaum erwarten, dass Ekaterina sie endlich wieder mit ihren exquisiten Kochkünsten verwöhnen würde.

„Wir haben dieses Familienessen angesetzt, weil wir mit euch ein ernstes Thema zu besprechen haben. Inés?“

Nun hob auch seine Frau den Blick und wandte sich an ihre Familie. „Eigentlich wollte ich euch damit nicht belasten, aber so wie die Dinge jetzt stehen, habe ich wohl keine Wahl“, begann sie mit leiser Stimme.

„Ich fühle mich schon seit geraumer Zeit geschwächt und leide an Übelkeit und Appetitlosigkeit. Zudem ist meine Menstruation ausgeblieben. Zuerst habe ich dem nicht viel Bedeutung beigemessen – dachte es seien die kommenden Wechseljahre – aber letztlich bin ich doch zum Arzt gegangen, um ein Blutbild machen zu lassen. Wie es scheint, sind meine Leberwerte deutlich erhöht. Daraufhin habe ich mich an einen Spezialisten gewandt, der eine Ultraschalluntersuchung meiner Leber veranlasst hat.“ Sie seufzte. „Er hat eine schon fortgeschrittene krankhafte Veränderung meines Lebergewebes festgestellt.“

„Und was bedeutet das?“, wollte Camillo beunruhigt wissen.

„Ein Teil meiner Leber hat sich in eine Art Bindegewebe verwandelt. Ich leide an Leberzirrhose.“

„Leberzirrhose? Ich dachte, so etwas kriegen nur Alkoholiker.“

Inés nickte. „Du hast Recht, Camillo, Alkoholmissbrauch ist einer der häufigsten Ursachen für Leberzirrhose. Aber es ist bei Weitem nicht die Einzige. Ich leider an einer sogenannten Autoimmunhepatitis, kurz AIH. Das ist selten, kommt aber bei Frauen ab vierzig gelegentlich vor.“

„Und was bewirkt diese Autoimmunhepatitis?“, schaltete sich Céline ein. Ihre Stimme zitterte. „Die Krankheit ist doch heilbar, oder?“

„AIH ist eine chronische Autoimmunerkrankung. Vereinfacht gesagt, stößt das Immunsystem die eigene Leber ab. Es bilden sich Antikörper, die die Leberzellen angreifen. Und nein, die Krankheit an sich ist nicht heilbar“, erläuterte Ferdinand mit ernster Stimme.

Betretenes Schweigen senkte sich über die Familie, nur unterbrochen von Célines unterdrückten Schluchzern.

„Aber es gibt doch bestimmt Medikamente dagegen, oder? Hast du eine zweite Meinung eingeholt?“, krächzte sie.

„Doktor Mortem, mein behandelnder Arzt, hat sich bereits mit zwei seiner Kollegen besprochen. An der Diagnose ist nicht zu rütteln. Das Problem an AIH ist, dass es aufgrund der unspezifischen Symptome oft erst spät erkannt wird. Unbehandelt führt es zur Leberzirrhose. So wie in meinem Fall.“

„Aber es wird doch alles gut werden?“, insistierte Céline.

„Natürlich wird es das“, versicherte Inés, dem Blick ihrer Tochter ausweichend.

„Es gibt Medikamente, die mir hoffentlich helfen. Ich habe ein Kortisonpräparat in Kombination mit Immunsuppressiva verschrieben bekommen, die die schädliche Reaktion des Immunsystems unterdrücken sollen. Da die Leberzirrhose bereits weit fortgeschritten ist, bin ich aber über kurz oder lang auf eine Lebertransplantation angewiesen. Ich stehe auf der Organspendeliste.“

Céline schlug entsetzt die Hände vors Gesicht.

„Ich werde bestimmt bald eine neue Leber bekommen. Macht euch keine Sorgen. Aber ich dachte, ihr solltet Bescheid wissen.“

Célines Schluchzen ging in ein lautes Schnauben über. In ihren Augen glänzten Tränen. „Wie konntest du uns das verheimlichen? Wie lange weißt du es schon? Du musst doch unzählige Male beim Arzt gewesen sein!“

„Ich wollte nicht, dass ihr euch unnötig Sorgen macht und die endgültige Diagnose abwarten.“

„Ich möchte, dass ihr eure Mutter unterstützt, wo ihr könnt. Stress oder dergleichen sind unbedingt zu vermeiden. Sie muss in regelmäßigen Abständen ins Krankenhaus zu Untersuchungen. Einer von uns wird sie immer dorthin begleiten“, wies Ferdinand seine Kinder mit ernster Miene an.

„Natürlich, Maman! Sag uns nur wann und Camillo und ich fahren dich. Wir werden nicht mehr von deiner Seite weichen!“

Inés lächelte ihre Tochter liebevoll an. Sie sah erschöpft und müde aus und Ferdinand wurde erst jetzt bewusst, wie dünn sie geworden war. „Danke, mein Schatz, das weiß ich zu schätzen. Macht euch nicht zu viele Gedanken. Die Ärzte tun alles, was sie können.“

„Können wir nicht spenden?“, fragte Céline hoffnungsvoll. „Ich habe einmal irgendwo gelesen, dass die Leber ohnehin wieder nachwächst.“

„Nein, das will ich nicht“, widersprach Inés vehement. „Auf keinen Fall. Es kommen auch nicht alle Verwandte als Organspender in Betracht. Es gibt sehr viele Kriterien, die erfüllt sein müssen.“

Céline ließ enttäuscht den Kopf hängen.

„Lebt euer Leben und kümmert euch um euer Studium – eure Ausbildung ist das Wichtigste. Natürlich freue ich mich, wenn ihr mich ab und an ins Krankenhaus begleitet. Aber mehr erwarte ich nicht von euch. Ich bin eure Mutter – ich bin für euch verantwortlich, nicht umgekehrt. Und jetzt lasst uns essen. Der Auflauf ist bestimmt sowieso schon kalt“, beendete Inés das Thema mit einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Und ausnahmsweise gehorchten die Kinder.

Die Mahlzeit wurde schweigend eingenommen. Niemand mokierte sich mehr über das ungenießbare Essen.

Deine Probleme würden sich ganz einfach lösen lassen , regte sich eine Stimme in Ferdinands Hinterkopf. Wenn Inés nicht mehr wäre, müsstest du Natascha nicht länger heimlich treffen. Und mit deinem Anteil vom Erbe wäre auch Schluss mit den finanziellen Schwierigkeiten der Firma. Eine einmalige Gelegenheit!

Unsinn , wies Ferdinand die Stimme in die Schranken. Selbst er, der stets lösungsorientiert und berechnend dachte und diese Eigenschaft an sich schätzte, war entsetzt, dass ihm diese Idee überhaupt gekommen war. Er würde – musste – eine andere Lösung finden. Er brauchte nur etwas Zeit.

KAPITEL 18

Emma.

S chweißgebadet und wild um sich blickend richtete sich Emma kerzengerade in ihrem Bett auf. Für einen Moment war sie desorientiert, wusste nicht, wo sie sich befand.

Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und sie konnte im schwachen Mondlicht die Konturen des billigen Schreibtisches und des Kleiderschranks ausmachen. Nach einigen qualvollen Sekunden dämmerte ihr, wo sie war. In ihrem WG-Zimmer. In Wien. In Sicherheit. Sie atmete erleichtert auf. Es war nur ein Traum gewesen. Wieder einmal.

Ächzend erhob sie sich. Im Dunkeln tapste sie in die Küche und füllte ein Glas mit Wasser. Mit geschlossenen Augen drückte sie die Stirn gegen das kühle Glas. Nur widerwillig entließ sie der Albtraum aus seinen Fängen. Onkel Phil, der sie bedrängte und immer heftiger in sie eindrang, während er ihr mit seinem stinkenden Atem höhnisch ins Ohr lachte. Der Traum hatte sich so real angefühlt. Sie erschauderte. Unwillkürlich strich sie mit den Fingern über die Innenseite ihrer Oberschenkel, wie um sich zu vergewissern, dass sie unversehrt, die blauen Flecken tatsächlich verschwunden waren.

Ihre letzte Nacht bei den Schneiders erschien vor ihrem geistigen Auge. Merkwürdig – obwohl seit jenem schicksalhaften Abend erst wenige Wochen vergangen waren, fühlte es sich an, als wäre sie damals eine andere gewesen. Eine andere Emma aus einem anderen Leben.

Wie ein außenstehender Beobachter sah sie sich wie in Trance durchs Haus schleichen, ihre Habseligkeiten zusammenraffen und alles in ihre zerschlissene Reisetasche stopfen. Beobachtete, wie sie eine kurze Abschiedsnotiz für ihren Bruder auf dessen Nachttisch hinterließ. Sie war bereit zum Aufbruch. Der Mond schien hell und wies ihr den Weg den engen Gang entlang zur Wohnungstür. Onkel Phil war zu Bett gegangen, von Zeit zu Zeit ließ sein lautes Schnarchen die Wohnung erzittern und Emma mit ihr. Als sie sich zum Gehen wandte, fiel ihr Blick auf die Brieftasche, die Phil auf der Ablage im Flur liegengelassen hatte. Er trug meist eine beachtliche Menge Bargeld bei sich, da er einen Großteil seiner Honorare schwarz vereinnahmte. Ihr schoss durch den Kopf, was ihr Adoptivvater über den Grund seines Besuchs gesagt hatte. Geschäftliche Termine . Kurzerhand öffnete sie das Portemonnaie und inspizierte dessen Inhalt. Fast zweitausend Euro in druckfrischen Hunderteuroscheinen. Ohne groß nachzudenken, nahm sie das Geld an sich. Eine kleine Entschädigung für die Qualen, die er ihr bereitet hatte, sagte sie sich. Dann ließ sie das Haus hinter sich, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken. Mit den Schneiders war sie fertig.

Entschlossen leerte Emma das Wasserglas und schob die unangenehmen Erinnerungen beiseite. Das köstliche Wiener Quellwasser rann ihre Kehle hinab und spülte die letzten Schleier des Albtraums fort. Ihr Martyrium war vorbei. Sie war endlich frei.

KAPITEL 19

Céline.

C éline erwachte, als die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Gähnend wälzte sie sich in ihrem Himmelbett auf die andere Seite und verbarg ihr Gesicht unter dem Kopfpolster.

Sie hatte beschlossen, sich einen Tag Auszeit von dem Unistress zu gönnen und ausnahmsweise einmal auszuschlafen. Doch die ersehnte Entspannung wollte sich nicht mehr einstellen. Stattdessen drängte sich die Erinnerung an das Gespräch mit ihren Eltern vor ihr inneres Auge. Das Abendessen. Die Nachricht von der Krankheit ihrer Mutter. Eine bleierne Schwere machte sich in ihr breit. Sie musste unbedingt selbst recherchieren, wie schlimm ihre Diagnose tatsächlich war. Dazu kam noch ihr grässliches Benehmen vom Vorabend. Weshalb hatte sie sich auch wie eine egoistische Kuh verhalten müssen, die nichts anderes als ihre Partypläne im Kopf hatte?

Sie presste die Lider aufeinander, fest entschlossen, der Realität und ihrem Gewissen noch eine Weile zu entfliehen. Einige Minuten lag sie so da, aber die Sorge und die Schuldgefühle prasselten unbarmherzig auf sie ein. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Widerwillig warf sie einen Blick auf ihren Wecker am Nachttisch. Schon nach elf Uhr. Also gut. Seufzend erhob sie sich. Ihr nach Koffein lechzender Magen führte sie in die Küche, wo sie ihren Bruder frühstückend vorfand.

„Morgen, Schwesterherz“, begrüßte er sie, ohne die Augen vom Display seines Handys zu nehmen.

„Guten Morgen“, erwiderte sie den Gruß und schaltete die Nespresso Maschine ein.

„Kann ich noch einmal kurz dein Handy benutzen?“

Widerwillig reichte er es ihr.

Gestern war nicht der richtige Moment gewesen, ihren Vater um ein neues Smartphone zu bitten. Das würde sie jetzt nachholen. Sie wusste, dass er stets einige iPhones im Büro aufbewahrte, die er als Firmenhandy für neue Mitarbeiter bereithielt. Es waren zwar nicht die aktuellsten Modelle, aber bis Weihnachten würde sie schon damit durchkommen.

***

Nachdem Céline ihr neues Telefon in Betrieb genommen hatte, versuchte sie zuerst Marc zu erreichen. Sie hatten sich seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen und Céline vermisste ihn schon jetzt schrecklich. Außerdem gab es keine bessere Ablenkung als Sex. Ein wenig Matratzenakrobatik würde sie hoffentlich auf andere Gedanken bringen.

Marc und sie hatten sich in der Tanzschule kennengelernt und waren seither ein Paar. Marc war ein Jahr älter als sie und mit seinen über 1,85 Metern und den breiten Schultern ungemein gutaussehend. Auch nach zwei Jahren Beziehung wurden ihr noch die Knie weich, wenn er sie mit seinem spitzbübischen Lächeln bedachte. Céline war stolz, dass er sich damals unter seinen zahlreichen Verehrerinnen ausgerechnet für sie entschieden hatte.

Doch Marc ging nicht ans Telefon und teilte ihr stattdessen via WhatsApp mit, dass er in der Bibliothek war, wo er für seine Prüfung nächste Woche lernte.

Also wohl kein Sex, dachte sie enttäuscht.

Gelangweilt scrollte sie durch ihre Kontakte auf der Suche nach anderen potenziellen Ablenkungen. Als sie bei Emmas Namen angelangt war, hielt sie inne. Sarah wäre bestimmt eifersüchtig, wenn sie erfuhr, dass sie sich mit Emma traf anstatt mit ihr, überlegte sie. Andererseits strahlte ihre neue Freundin diese erfrischende Unkompliziertheit aus, während Sarah kapriziös und obendrein im Moment wütend auf sie war. Und weitere Konflikte konnte sie im Augenblick wahrlich nicht gebrauchen.

Kurz entschlossen tippte sie eine Nachricht an Emma. „Lust auf Drinks heute Abend?“

Es dauerte nicht lange und sie erhielt die gewünschte Antwort.

„Klar. Ich kann aber erst ab 22 Uhr. Wo?“

„22 Uhr ist kein Problem. 1010-Bar, Plankengasse 2, 1010 Wien.“

Ein Emoticon mit hochgestreckten Daumen später stand ihr Abendprogramm fest. Zufrieden packte Céline das Handy weg. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie sich eingestehen, dass sie Emmas Gesellschaft noch aus einem anderen Grund schätzte. Es war zwar nicht so, dass diese ihr offensichtliche Bewunderung oder gar Neid entgegenbrachte, aber im Vergleich zu Emmas Leben, das sich so stark von ihrem unterschied, schien ihr eigenes in viel kräftigeren Farben zu leuchten. Als könnte sie sich durch die Augen ihrer Freundin sehen – und ihr gefiel das Bild ihrer selbst durch die Emma-Brille. Es machte ihr deutlich, was für ein Glück sie doch hatte.

Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich es genieße, mich mit jemandem zu umgeben, im Vergleich zu dem ich mich privilegiert fühle? , überlegte sie. Dann fegte sie die selbstkritischen Gedanken rasch beiseite. Sie verbrachte gerne Zeit mit ihrer Studienkollegin – und damit basta.

Emma.

Emma betrat das Lokal im Zentrum, das Céline ihr genannt hatte. Ihre Schicht im Kinkys hatte länger gedauert und so hatte sie keine Zeit mehr gehabt zu duschen, sondern war nur rasch in frische Klamotten geschlüpft und direkt hierher gekommen. Diesmal schien sie aber wenigstens nicht underdressed zu sein, viele der Anwesenden trugen Jeans und schlichte Oberteile wie sie selbst. Die Bar war nicht sehr groß, aber gemütlich. Die Wände waren bis zu der Stuckverzierung auf Kopfhöhe schwarz, darüber cremefarben gestrichen, vertikal verliefen in regelmäßigen Abständen bunte Streifen. Zigarettengeruch lag in der Luft. Emma fühlte sich sofort wohl.

Sie entdeckte Céline, die gedankenverloren an einem Cocktail nippte, an einem Tisch unweit der Bar. Wie immer war die Prinzessin aufwendig gestylt. Sie trug ein schlichtes Kleid und teuer aussehende Stiefel, deren Marke sie kannte, ihr aber gerade nicht einfallen wollte. Als sie aufsah und Emma bemerkte, hellte sich ihre Miene schlagartig auf.

„Emma! Schön dich zu sehen. Hast du gut hergefunden?“

„Ja danke, war nicht schwer zu finden.“

Céline winkte dem Barkeeper. „Einen zweiten Espresso Martini für meine Freundin“, orderte sie. „Der heutige Abend geht auf mich“, zwinkerte sie ihr zu.

Emma schob sich auf die Bank gegenüber. Sie hatte zwar keine große Lust, Alkohol zu trinken, hoffte aber, dass er Céline dazu verleiten würde, etwas mehr von sich und ihrer Familie preiszugeben. Irgendetwas Brauchbares, irgendetwas, mit dem sie arbeiten konnte. Ihre verwöhnte Halbschwester und ihr ekelhafter Vater sollten einmal sehen, wie es war, wenn man nicht stets auf die Butterseite des Lebens fiel.

Die Getränke wurden gebracht und Emma stellte mit Erstaunen fest, dass der Cocktail, den Céline ausgewählt hatte, tatsächlich ausgezeichnet schmeckte. Eher wie eine Mischung aus Eiskaffee und Baileys, denn nach hartem Alkohol. Céline bedachte sie mit einem zufriedenen Grinsen – offenbar stand ihr der Genuss deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Lecker, oder?“

„Ich glaube, ich habe noch nie so etwas Köstliches getrunken“, erwiderte Emma ehrlich überrascht.

„Ja, es ist himmlisch. Aber pass auf, das ist Teufelszeug“, warnte Céline mit einem verschwörerischen Augenzwinkern und nahm selbst einen großen Schluck aus ihrem Glas.

„Wieso konnten wir uns eigentlich erst so spät treffen? Wo warst du vorher?“

„Ich musste arbeiten“, erklärte Emma knapp. Sie wollte ihrer Halbschwester schließlich nicht gleich auf die Nase binden, dass sie ihren Lebensunterhalt mit Kellnern verdiente.

„Ah, das verstehe ich gut. Ich arbeite seit Oktober auch einmal pro Woche in einer Anwaltskanzlei. Sind zwar nur langweilige Sekretariatstätigkeiten, aber Wolf Theiss macht sich nun einmal gut im Lebenslauf. Außerdem hat mein Vater darauf bestanden.“ Sie verdrehte die Augen.

Emma nickte und bemühte sich um eine verständnisvolle Miene. Sie hatte keine Lust, Céline darüber aufzuklären, dass es ihr vielmehr darum ging, die Miete zu bezahlen, als dass sie es sich leisten konnte, einen Gedanken daran zu verschwenden, welcher Job sich gut in ihrem CV machte. Geschweige denn, dass sie sich darauf verlassen konnte, dass ihr Vater ihr den karrieretechnisch richtigen Job verschaffte. Rasch wechselte sie das Thema.

„Woher stammt eigentlich der Name Céline? Ist das nicht französisch?“

„Ja. Meine Mutter ist Französin. Meine Großeltern mütterlicherseits leben immer noch in Paris.“

„Wie kommt es dann, dass es deine Eltern nach Österreich verschlagen hat?“

„Maman hat in Wien studiert. Hier hat sie auch meinen Vater kennengelernt. Die beiden haben später aus beruflichen Gründen eine Weile in München gelebt, doch Dad hat es wieder in seine Heimat gezogen. Seit ich klein bin, leben wir in Wien. Ich glaube aber, dass ihr Frankreich fehlt. Zumindest sind wir im Sommer meistens ein paar Wochen in unserem Haus an der Côte d’Azur oder auf Besuch bei den Großeltern“, plapperte sie.

Daher die Yacht , dachte Emma. Natürlich hatte Céline neben der perfekten Familie, dem perfekten Freund und dem auch sonst rundum perfekten Leben auch noch ein Ferienhaus in Südfrankreich.

„Klingt doch toll!“

„Ja es ist wunderschön dort. Du musst uns nächsten Sommer unbedingt besuchen kommen.“

„Ja, das wäre schön“, erwiderte Emma, ohne es zu meinen. „Verstehst du dich gut mit deiner Mutter?“

Ein Schatten huschte über das Gesicht ihrer Schwester, den sie nicht recht einzuordnen wusste.

„Ja natürlich.“

Céline sah aus, als würde sie mit sich hadern, ob sie mehr dazu sagen sollte. Emma blickte sie erwartungsvoll an. „Aber ...?“

„Wenn ich ehrlich sein soll, hat unser Kindermädchen eigentlich immer mehr die Rolle unserer Mutter eingenommen. Weißt du, meine Mutter ist meine Mutter und natürlich liebe ich sie über alles, aber sie war ständig unterwegs, auf irgendwelchen Society-Events, Bridgeeinladungen, Wohltätigkeits-veranstaltungen. Ekaterina, der gute Geist der Familie, war diejenige, die wirklich für meinen Bruder und mich da war. Sie war diejenige, die uns zur Schule gebracht, mit uns Hausaufgaben gemacht oder uns Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen hat. Ekaterina erzählt immer gerne die Anekdote, wie entsetzt meine Eltern waren, dass mein erstes Wort als Kind, nicht etwa Maman oder Papa, sondern Kati , war.“ Ein seliges Lächeln umspielte Célines Mundwinkel bei dieser Erinnerung.

Emma biss bei ihren Worten die Zähne zusammen. Die Art, wie ihre Halbschwester über Ekaterina sprach, versetzte ihr einen Stich. Ekaterina hatte also ihr eigenes Kind, Emma, – sie – weggegeben, um lieber Mutter für ein anderes zu spielen.

„Und dein Dad?“

Céline zuckte mit den Schultern. „Wie die meisten Väter, schätze ich. Arbeitet ununterbrochen. Und wenn er nicht gerade im Büro ist, ist er auf dem Golfplatz oder mit Maman bei irgendwelchen Einladungen.“

Damit schien das Thema für sie erledigt zu sein, denn sie nahm ihr Cocktailglas und leerte es in einem Zug. „Los, austrinken!“, forderte sie Emma auf und orderte beim Barkeeper schon zwei neue Drinks.

Den restlichen Abend unterhielten sich die beiden über die anstehenden Klausuren und streiften das Themenfeld Familie zu Emmas Bedauern nicht mehr.

Als es ans Zahlen ging, streckte Céline dem Kellner wortlos eine schwarze, metallene Kreditkarte entgegen und gab ein großzügiges Trinkgeld. Emma wollte erst protestieren, war jedoch von der Höhe des Rechnungsbetrags derart entsetzt, dass es ihr die Sprache verschlagen hatte.

„Danke. Das nächste Mal geht auf mich“, murmelte sie beschämt.

Céline winkte lässig ab. „Ich habe ja gesagt, der Abend geht auf mich. Die Karte läuft sowieso auf das Konto meines Vaters. Eigentlich ist sie für Notfälle gedacht. Aber ich finde Unterzuckerung und Dehydrierung ist ein ernst zu nehmender Notfall.“ Grinsend steckte sie die Kreditkarte zurück in ihr Portemonnaie und hakte sich bei Emma unter.

Während Céline schwankend in das nächste Taxi stieg, entschied Emma, den Weg nach Hause zu laufen. Die U-Bahnen fuhren nicht mehr und fürs Taxifahren wollte sie ihr hart verdientes Geld nicht verschwenden. Also stapfte sie los. Die große Turmuhr verriet ihr, dass es schon nach ein Uhr morgens war und je weiter sie sich von der Innenstadt entfernte, desto weniger Passanten begegneten ihr auf der Straße. Fröstelnd schlug Emma den Kragen ihres Mantels hoch.

Plötzlich spürte sie etwas in ihrer Hosentasche vibrieren. Wer sollte ihr denn zu so später Stunde schreiben? Hatte Céline vielleicht ihren Schal in der Bar vergessen und wollte sie bitten, nachzusehen? Sie zog das Handy hervor. Eine neue E-Mail war eingegangen. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Den Absender kannte sie nur allzu gut. Sie konnte erst nicht glauben, was sie da las.

„Emma, du Miststück! Ich weiß genau, dass du es warst, die mein Geld gestohlen hat. Überweis es mir umgehend, sonst wird es dir noch verdammt leidtun!“ Darunter die Kontodaten.

Mit zitternden Fingern ließ Emma das Telefon in die Tasche gleiten und beschleunigte ihre Schritte. Panik regte sich in ihr, kroch ihr den Rücken hinab und fraß sich in ihre Eingeweide.

Ob Onkel Phil wusste, wo sie war? Außer Fiona hatte sie niemandem erzählt, dass sie nach Österreich gezogen war. Ihre Adoptiveltern gingen bestimmt davon aus, dass sie in Berlin war. Ihr altes Handy hatte sie vorsorglich noch in München am Bahnhof entsorgt, für den Fall, dass jemand es orten konnte – und war sich dabei übertrieben paranoid vorgekommen. Ihren erst im letzten Sommer eingerichteten Instagram und Facebook Account hatte sie gelöscht. Andere soziale Medien benutzte sie nicht.

Er kann nicht wissen, wo du bist , redete sie sich gut zu. Doch der Zweifel und die Angst saßen ihr im Nacken. Sie versuchte, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, die aufkommende Panikattacke niederzukämpfen.

Die Wiener Straßen, die eben noch so ruhig im Mondlicht dagelegen hatten, wirkten auf einmal unheimlich und bedrohlich. Sie blickte über die Schulter. Da war niemand. Oder etwa doch? Dunkle Ecken, wohin das Auge reichte. Und bildete sie sich das ein, oder war die Luft kälter geworden?

Emma begann zu laufen. Ihre Schritte hallten von den eng beieinanderstehenden Häuser wider. Keine Menschenseele kam ihr entgegen, die Stadt war wie ausgestorben. Sie befand sich jetzt schon weitab vom Zentrum und die Gegend, in der ihre Wohnung lag, war ihr selbst bei Tageslicht nicht immer ganz geheuer.

Ihr Laufen ging in Sprinten über und sie hielt erst an, als sie ihr Wohnhaus erreicht hatte. Mit pochendem Herzen und zitternden Fingern sperrte sie die Wohnungstür auf und lehnte sich von innen dagegen. Paranoid oder nicht, wenn Onkel Phil sein Geld nicht bekam, würde er versuchen, sie aufzuspüren. Und sie hatte nicht einmal mehr einen Bruchteil davon.

KAPITEL 20

Ferdinand.

F erdinand sah nervös auf die Uhr. Mürrisch registrierte er, dass sich Herr Krall verspätete. Wenn er überhaupt noch auftauchte.

Er gab der Kellnerin ein Zeichen, ihm noch einen Espresso zu bringen. Zum wiederholten Mal ging er im Kopf durch, wie er das Gespräch anpacken wollte. Er musste seinem Geschäftspartner schonend beibringen, dass sich die Übergabe des Objekts etwas verzögern würde. Und mit etwas verzögern meinte er signifikant verzögern. Herr Kembrand arbeitete zwar mit Hochdruck daran, ein neues Bauunternehmen zu finden, aber aus heutiger Sicht hinkten sie mindestens fünf Monate hinter dem vereinbarten Übergabetermin hinterher.

Ferdinand wischte sich die feuchten Hände an der Anzughose ab. Er ärgerte sich über sich selbst. Darüber, dass er nicht vorausgesehen hatte, dass Firma Watzlaw kurz vor dem Konkurs gestanden hatte, dass er nicht rechtzeitig eingeschritten war, und vor allem über seine Unterlegenheit im kommenden Meeting. Unsicherheit und Schwäche tolerierte er nicht, schon gar nicht bei sich selbst.

Er leerte seine Tasse in einem Zug und wollte gerade die Kellnerin heranwinken und um die Rechnung bitten, als die Tür des Kaffeehauses aufging und Herr Krall eintrat.

Er war ein Hüne von einem Mann mit groben Gesichtszügen und trug die Haare bis auf wenige Millimeter abrasiert, was ihm ein bedrohliches Aussehen verlieh. Zielstrebig schritt er auf Ferdinand zu und ließ sich ihm gegenüber nieder.

„Lauderthal. Was verschafft mir die Ehre? Ich habe nur kurz Zeit, also sagen Sie mir: Was ist so wichtig, dass Sie auf ein persönliches Treffen bestanden haben?“

Kein Wort der Entschuldigung für die fast zwanzigminütige Verspätung und mit der Haltung eines Mannes, der wusste, was er wollte, und wie er seine Mitmenschen dazu brachte, es ihm zu geben.

„Herr Krall, danke, dass Sie sich so kurzfristig Zeit genommen haben. Wie Sie sich denken können, geht es um Projekt Reinprechtsdorfer Straße“, begann er.

Mit unbewegter Miene taxierte ihn sein Gegenüber. Ferdinand gab sich innerlich einen Ruck. Herumzudrucksen würde die Situation auch nicht verbessern und war zudem unwürdig. Er straffte die Schultern und lehnte sich zurück, in der Hoffnung einen selbstbewussten Eindruck zu vermitteln.

„Es gab Probleme mit dem von uns beauftragten Bauunternehmen. Wir haben natürlich alles unter Kontrolle, wollten Sie aber ob der guten Zusammenarbeit rechtzeitig informieren, dass sich die Übergabe des Objekts möglicherweise etwas verzögern könnte.“

„Was bedeutet das genau? Reden wir von ein paar Tagen? Zwei Wochen?“

„Wir tun natürlich unser Bestes, um den Zeitplan einhalten zu können. Aber es kann sich schon um ein paar Wochen handeln. Drei Monate. Maximal.“

Kralls Gesicht nahm einen stählernen Ausdruck an. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und lehnte sich nach vorne. Mit seiner massigen Gestalt war er Ferdinand auf einmal unangenehm nahe. Ferdinand musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Die kalte Wut, die von ihm ausging, war mit Händen greifbar. Keine Schwäche zeigen , ermahnte er sich.

„Herr Lauderthal. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich arbeite gerne mit Ihnen zusammen. Aber Ihre Problemchen interessieren mich nicht. Das Einzige, das für mich von Belang ist, ist, dieses Projekt sobald wie möglich über die Bühne zu bringen. Sie haben mir zugesichert, dass Ihr Unternehmen zu dem vereinbarten Zeitpunkt liefern kann. Also tun Sie das auch. Ich habe einen straffen Zeitplan. Wie Sie wissen, habe ich bereits Mietverträge mit einigen einflussreichen Firmen abgeschlossen, die darauf warten, die Räumlichkeiten wie geplant beziehen zu können. Eine dreimonatige Verspätung ist keine Option.“

Erneut wischte sich Ferdinand den Schweiß von den feuchten Händen.

„Herr Krall, mit Verlaub …“

Der Riese beugte sich noch etwas weiter vor. Ferdinand war ihm jetzt so nahe, dass er die unreinen Poren auf seiner Haut zählen konnte. Der Übelkeit erregende Duft seines Aftershaves stieg ihm in die Nase.

„Ich will nichts mehr hören. Kommen Sie Ihren vertraglichen Pflichten nach. Oder tragen Sie die Konsequenzen. Und ich gebe Ihnen einen gut gemeinten Rat: Enttäuschen Sie mich besser nicht.“ Mit dieser unverhohlenen Drohung hievte er sich vom Stuhl und verließ wortlos das Lokal.

Ferdinand sackte in sich zusammen. Zu sagen, dass das Gespräch suboptimal verlaufen war, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Herr Krall war ein einflussreicher Mann in der Immobilienbranche. Er würde nicht davor zurückschrecken, seine Firma bis zum Ruin auf Schadenersatz zu verklagen, das hatte er eben mehr als deutlich gemacht.

Der Klingelton seines Handys ließ ihn zusammenzucken. Ein Blick auf die Terminerinnerung auf dem Display holte ihn in das Hier und Jetzt zurück und erinnerte ihn daran, dass er bereits in dreißig Minuten den nächsten Termin hatte. Und der war fast ebenso wichtig.

***

Unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln traf Ferdinand gerade noch rechtzeitig in der Notariatskanzlei ein. Er drückte Inés zur Begrüßung einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Tut mir leid, ich wurde aufgehalten.“

Seine Frau lächelte ihm beruhigend zu. „Kein Problem, jetzt bist du ja da.“

Die Sekretärin führte das Ehepaar in den Besprechungsraum, wo Dr. Berger, Notar des Vertrauens der Familie, bereits auf sie wartete.

„Inés, Ferdinand, setzt euch doch“, begrüßte er sie wie alte Freunde. „Wie kann ich euch diesmal weiterhelfen?“

„Christian, schön dich zu sehen. Wir geht es dir?“, ergriff Inés das Wort.

„Danke, bestens.“

„Freut mich, das zu hören. Lass Becky von mir grüßen. Und da ich weiß, dass du ein viel beschäftigter Mann bist, komme ich auch gleich zur Sache. Es geht um mein Testament. Ich bin schwer krank und möchte meine Angelegenheiten regeln, sollte ... ich meine ... nur für den Fall.“ Sie brach ab.

Der Freund der Familie blickte überrascht und schockiert auf. „Um Gottes willen, Inés! Was ist denn los?“

„Ein Leberleiden“, erwiderte sie schlicht und mit einem Tonfall, der weitere Nachfragen entbehrlich machte. „Es gibt natürlich Therapiemöglichkeiten. Aber ich möchte auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.“

Dr. Berger war taktvoll genug, es dabei zu belassen. „Da finden wir bestimmt eine passende Lösung für euch. Ihr habt zwei Kinder, beide sind bereits volljährig?“

„Ja das ist richtig“, nickte Inés. „Mir ist vor allem wichtig, dass es nicht zu Erbstreitigkeiten zwischen Céline und Camillo kommen kann.“

Dr. Berger notierte sich etwas auf seinem Block. „Darf ich fragen, um welche Vermögenswerte es sich konkret handelt?“

„Wir haben das Haus im neunzehnten Bezirk, das du ja kennst. Dann das Ferienhaus in Frankreich und die Yacht, die im Hafen an der Côte d’Azur liegt. Abgesehen davon besitze ich ein paar Eigentumswohnungen in Wien und Paris und natürlich das Aktienportfolio. Ach ja, die Firmenanteile nicht zu vergessen. Ich bin Alleineigentümerin der Lauderthal Immobilien GmbH, in der Ferdinand Geschäftsführer ist.“

Dr. Berger nickte. „In Ordnung. Inwieweit seid ihr denn mit dem österreichischen Erbrecht vertraut?“

Inés wiegte den Kopf.

„Es sieht folgendermaßen aus. Dem gesetzlichen Erbrecht folgend würde deinen beiden Kindern und Ferdinand im Falle deines Ablebens je ein Drittel deines Vermögens zustehen. Gibt es ein Testament, geht dieses grundsätzlich vor, wobei den gesetzlich Erbberechtigten, also den vorgenannten, zumindest der Pflichtteil verbleiben muss. Dieser beträgt die Hälfte des gesetzlichen Erbteils, somit jeweils ein Sechstel. Da ihr über Grundvermögen verfügt, wäre es sinnvoll, sicherzustellen, dass dieses nicht in zwei Schritten, also einmal von dir an Ferdinand und in weiterer Folge von Ferdinand an die Kinder übertragen wird. Ansonsten würde zwei Mal Grunderwerbsteuer und andere Abgaben, die durch die Eintragung im Grundbuch entstehen, anfallen, – Kosten, die vermieden werden können.“

Inés nickte. „Ich verstehe. Nun ... was würdest du denn von einer Stiftungslösung halten? Ich habe mich bereits ein bisschen informiert und dachte, dass eine Stiftung vielleicht eine vernünftige Lösung wäre.“

Ferdinand horchte auf. Eine Privatstiftung? Von dieser Idee hörte er zum ersten Mal.

„Die Gründung einer Stiftung birgt viele Vor- aber auch ein paar Nachteile. Dafür spricht, dass du mit dem Einbringen deiner Vermögenswerte in eine Privatstiftung erreichen kannst, dass der Vermögensbestand – zu dem auch die Anteile an der GmbH zählen können – langfristig gesichert bleibt. Die Aufsplitterung des Vermögens wird also verhindert. Zudem könnte dadurch der doppelte Anfall von Grunderwerbsteuer vermieden werden, von dem ich eingangs gesprochen habe. Ihr müsst allerdings beachten, dass du mit der Errichtung der Privatstiftung den unmittelbaren Zugriff über das eingebrachte Vermögen verlierst. Dieses wird dann von einem Stiftungsvorstand im Sinne des Stiftungszwecks verwaltet.“

„Und was wäre so ein Stiftungszweck? Wir reden hier jetzt aber nicht von gemeinnützigen Zwecken, oder? Nicht, dass ich nichts von Gemeinnützigkeit halte – versteh mich nicht falsch – aber mein oberstes Ziel ist es, meine Familie finanziell abzusichern.“

„Stiftungen können gemeinnützigen, aber auch eigennützigen Zwecken gewidmet sein. In deinem Fall könnte den Stiftungszweck beispielsweise die Versorgung deiner Familie darstellen. Das wäre also kein Problem.“

„Na das hört sich doch interessant an!“, erwiderte Inés erfreut. „Kann ich Ferdinand als Stiftungsvorstand einsetzen?“

Der Notar schüttelte bedauernd den Kopf. „Begünstigte und deren nahe Angehörige sind von der Funktion des Stiftungsvorstands ausgeschlossen. Dieser muss zudem aus zumindest drei Personen bestehen. Es müssten also Familienfremde sein. Menschen, denen du genug vertraust, dass du ihnen die Verwaltung deines Vermögens anvertrauen möchtest. Das will schon sorgfältig durchdacht sein.“

Inés zupfte gedankenversunken an ihren Haarspitzen. „Darüber muss ich nachdenken. Aber uns wird bestimmt jemand einfallen. Und was ist mit steuerlichen Vorteilen?“

„Der österreichische Gesetzgeber hat den Privatstiftungen leider in den letzten Jahrzehnten die Daumenschrauben angesetzt. Die steuerlichen Vorteile im Stiftungsrecht sind im Laufe der Zeit immer weiter beschnitten worden. Eine Stiftung allein zu steuerlichen Zwecken zu gründen, kann ich nicht empfehlen. Das hätte vor zwanzig Jahren noch anders ausgesehen. Ich muss euch außerdem darauf hinweisen, dass die Gründung und Erhaltung einer Stiftung mit Kosten verbunden ist, darunter zum Beispiel die Vergütung der Stiftungsorgane – neben dem Stiftungsvorstand gibt es nämlich auch noch einen Stiftungsprüfer. Ganz billig ist der Spaß nicht.“

„Verstehe. Alles in allem hört sich das aber ganz vernünftig an. Insbesondere gefällt mir, dass die Kinder das Vermögen nicht verschleudern können. Kann man den Begünstigtenkreis so formulieren, dass nur direkte Familienmitglieder und ihre Nachkommen davon umfasst sind?“

„Natürlich, darum geht es ja gerade.“

Ferdinand hörte gebannt zu. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Nur die unmittelbare Familie als Begünstigte? Und was würde passieren, wenn er Inés zugunsten von Natascha verließe? Dann würde er völlig leer ausgehen. Und das nach fünfundzwanzig Jahren Ehe. Er war immer davon ausgegangen, dass Inés ihn höchstpersönlich in ihrem Testament bedenken würde. Das gefiel ihm gar nicht. Allerdings konnte er ihr das schlecht sagen.

Und wie sollst du die Firma retten, wenn du den Deal mit Herrn Krall nicht einhalten kannst , meldete sich eine Stimme in Ferdinands Hinterkopf zu Wort. Das Unternehmen – und damit du – wärt ruiniert! Willst du etwa vom Gutdünken irgendeines Stiftungsvorstands abhängig sein?

Das war nicht ganz unrichtig. Für den Fall, dass es hart auf hart kam, war er stets davon ausgegangen, dass Inés die Firma schon aus ihren finanziellen Problemen herauspauken würde. Wie ein künftiger Stiftungsvorstand da vorgehen würde, war ein weit größerer Unsicherheitsfaktor. Einer, dem er sich ungern aussetzen wollte.

„Willst du dir das nicht nochmal durch den Kopf gehen lassen?“, raunte er seiner Frau zu. „Das hört sich nach einer weitreichenden Entscheidung an. Und es ist ja auch nicht so, dass du morgen stirbst. Gott bewahre.“

Dr. Berger nickte. „Ja, das halte ich für sinnvoll, denkt in Ruhe darüber nach. Meiner Einschätzung nach wäre eine Privatstiftung in eurem Fall aber eine gute Lösung.“

„Wie lange dauert es denn, bis so eine Stiftung errichtet und alles über die Bühne gegangen ist?“, fragte Inés. „Ich hätte das Ganze gerne möglichst bald geregelt.“

„Die Stiftung entsteht rechtlich mit Eintragung im Firmenbuch. Zunächst würden wir einen Entwurf der Stiftungserklärung nach deinen Wünschen aufsetzen. Die Erklärung selbst bedarf eines Notariatsakts, das geht dann relativ schnell. Vorab musst du dir überlegen, wen du dir als Stiftungsvorstand vorstellen kannst und mit dem Betroffenen sprechen. Die Tätigkeit als solche ist natürlich mit Arbeit verbunden. Darüber hinaus gibt es noch zahlreiche weitere Details, die es zu entscheiden gilt. Möglicherweise brauchen wir auch eine Gründungsprüfung.“

Inés nickte nachdenklich.

„Ich mache dir einen Vorschlag: Ferdinand hat Recht. Lass es dir in Ruhe durch den Kopf gehen. Wenn du sagst, dass du das Thema weiterverfolgen willst, setze ich einen Entwurf auf, den wir anschließend durchbesprechen können. Mehr als ein paar Monate sollte es aber keinesfalls dauern.“

„Dann verbleiben wir einstweilen so“, entschied Inés. „Ich melde mich nächste Woche bei dir.“

Es wurden noch einige Höflichkeiten ausgetauscht, dann war das Meeting zu Ende. Ferdinand atmete auf. Er hatte noch etwas Zeit gewonnen.