6. Verhältnismäßigkeit und menschliche Endlichkeit: Behandlungsabbruch und -verzicht als Teil des menschlichen Lebens und seiner Identität
Wenn am Ende des letzten Kapitels auf dem Grunde der Frage nach der Abwägung zwischen Sorge für die Erhaltung des Lebens und dem Wissen um die Relativität von Gesundheit und Leben als theologisch-ethischem Horizont der Bestimmung von Verhältnismäßigkeit medizinischer Behandlung heute das Offenhalten auf die subjektive Beurteilung durch den Patienten selbst radikal in den Vordergrund gerückt ist, so geht es dabei nicht um ein bloß modisches Zugeständnis an gegenwärtige Forderungen von Patientenautonomie oder gar dem trotzigen Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Die Begriffsgeschichte des Kriteriums der Verhältnismäßigkeit hat den subjektiven Bezug des Kriteriums gerade in der Interpretation durch das kirchliche Lehramt deutlich gemacht. Aber die eigentlich moralische Herausforderung der Abwägung durch den Patienten angesichts der fast schier unbegrenzten Möglichkeiten der modernen Medizin liegt (besonders auch in der lehramtlichen Interpretation) in der realistischen Auseinandersetzung mit dem Wert und der Begrenztheit menschlichen Lebens. In dieser Abwägung gewinnt das Urteil seine eigene moralische Objektivität und Reife, die mit subjektivistischer Beliebigkeit nichts gemein hat.
Die personale Interpretation des Kriteriums der Verhältnismäßigkeit muss deshalb auf diesen letzten hermeneutischen Horizont am Ende eingehen. Es ist der Horizont der Endlichkeit menschlichen Lebens, der theologisch-ethisch eine zentrale Stellung innehat. Gerade im Blick auf die Verhältnismäßigkeit von medizinischer Behandlung und das Gelingen moralischer Abwägungen in seinem Umfeld spielt er eine unverzichtbare Rolle. Das letzte Kapitel ist ihm gewidmet.
Zu Beginn der Arbeit wurde vorgestellt, welche vielfältigen medizinischen und technischen Fortschritte erreicht wurden, um das Leben eines Patienten zu schützen und zu erhalten. Die Möglichkeiten, so ist in der medizinethischen Literatur zu lesen, einen Patienten auch an den Grenzen von Leben und Tod zu behandeln und ihn bei schwerwiegenden und komplikationsreichen Erkrankungen wiederherzustellen, waren nie besser als in der Gegenwart.577
Es sind diese vielfältigen Möglichkeiten einer Ausweitung der Behandlungen sowie damit verbunden die Erhöhung der Lebenszeit vieler Menschen, die am Ende dieser Arbeit in theologisch-ethischer Perspektive danach fragen lässt, wie das Kriterium der Verhältnismäßigkeit, das in der modernen Medizin – wie gezeigt – gerade die subjektive Offenheit der Entscheidung in ausgezeichneter Weise repräsentiert, die bleibende Begrenztheit des menschlichen Lebens bewusst hält, die trotz aller Optionen medizinischer Hilfe bestehen bleibt. Es geht darum zu zeigen, dass diese Erinnerung in einer besonderen Weise das menschliche Maß moderner Medizin einbringen muss, damit die unumgänglich notwendig gewordenen Entscheidungen in ihrer Offenheit eine humane Balance finden können.
Die Auseinandersetzung mit der irdischen Endlichkeit sowie Sterben und Tod ist von jeher ein theologisches Thema, nicht allein der Dogmatik, sondern auch der Moraltheologie (6.1).578 In den folgenden Abschnitten soll daher der Frage nachgegangen werden, welchen Beitrag gerade das Kriterium der Verhältnismäßigkeit zur Frage der Annahme der Endlichkeit angesichts medizinethischer Desiderate heute zu leisten vermag (6.2 und 6.3).
6.1. Endlichkeit als Teil des menschlichen Lebens
Auch wenn vieles als „machbar“ und „veränderbar“ gilt, so gehören doch Vergänglichkeit und Endlichkeit des Lebens zu den Grunderfahrungen des Menschen. Die Rede von der Endlichkeit menschlichen Lebens kann auf eine lange theologische Tradition verweisen. Gegenwärtige medizinethische Herausforderungen (6.1.1) werden dazu mit der Annahme der Endlichkeit als einer theologisch-ethischen Grundfrage (6.1.2) in Beziehung gesetzt.
6.1.1. Annahme der Endlichkeit als eine medizinethische Herausforderung
Die naturwissenschaftliche Forschung im Bereich der Medizin und der gesamten Technik hat im vergangenen 20. Jahrhundert zu einem tiefgreifenden Wandel nicht nur in demografischer Perspektive, sondern auch hinsichtlich medizinischer Behandlungserfolge geführt. Die Erhöhung der Lebenserwartung in weiten Teilen der Welt hat ihre Grundlage sowohl in der Verbesserung der Lebensbedingungen und Hygiene als auch in der Entwicklung von Medikamenten und Medizintechnik.579
Hinsichtlich der Frage, wann eine Behandlung für einen Patienten als „unverhältnismäßig“ gilt, führen diese Bedingungen zu Beurteilungs- und Entscheidungsschwierigkeiten: Der Wunsch, medizinische Behandlungen abzubrechen, stellt sich häufig erst im Nachhinein ein, dann nämlich, wenn eine Behandlung durchgeführt wird und eine Entscheidung anhand von Diagnose und Prognose sowie der mit der Behandlung verbundenen Belastung erneut ansteht. Erweist sich eine Behandlung als Übertherapie und für den Patienten als eher qualvolle Leidensverlängerung, kommt nicht selten die Frage auf, ob es nicht vor oder während der Behandlung Möglichkeiten einer zuverlässigen Prognose gab, die einen Therapieabbruch erlaubt oder gar als geboten erscheinen lässt. Allzu verständlich ist jedoch die Option von Patienten bzw. Angehörigen und Ärzten, eine Behandlung aufzunehmen oder weiterzuführen, auch wenn Diagnose und Prognose keine idealen Heilungserfolge versprechen. Es bleibt die Hoffnung bestehen; der Wunsch, dass sich in einem Krankheitsverlauf eine überraschende Wende zum positiven einstellt. Schließlich lassen sich beispielsweise Krankheitsgeschichten finden, in denen Menschen auch nach langer Zeit aus einem Koma wieder erwacht sind.580
In der Beurteilung einer Behandlung wird in diesem Sinne aber die Ambivalenz der modernen, hochtechnisierten Medizin deutlich. Es sind Hilfsmöglichkeiten, auf die die wenigsten Menschen verzichten möchten. Dennoch steht die Entscheidung über einen Behandlungsabbruch bzw. -verzicht in der Spannung, auf der einen Seite eine Übertherapie zu vermeiden und auf der anderen Seite die Hoffnung nicht aufzugeben. Schließlich gilt für die medizinischen Teams noch die Forderung der Einhaltung zivil- und strafrechtlicher Normen. In dieser Spannung ist es notwendig zu eruieren, auf welche Weise „Verhältnismäßigkeit“ für den Patienten gewahrt werden kann.
6.1.2. Annahme der Endlichkeit als eine theologisch-ethische Grundfrage
Angesichts vielfältiger Behandlungsmöglichkeiten auch an den Grenzen des Lebens sowie der Erhöhung der Lebenserwartung erscheint die Auseinandersetzung mit der irdischen Endlichkeit, mit Sterben und Tod sowie den Chancen und Grenzen der Medizin dabei als ein genuines Anliegen der theologischen Ethik.
„Alles irdische Leben ist endlich und vergänglich.“581 Mit diesen zunächst schlicht und einfach anmutenden Worten wird im Katholischen Erwachsenen-Katechismus die grundsätzliche Begrenztheit menschlichen Lebens beschrieben. Das aber heißt: Die Erfahrung des Sterbens, die Auseinandersetzung mit dem Tod gehört unweigerlich zum Leben eines Menschen.582 Sterben und Tod werden in Philosophie und Theologie als unvermeidbares Schicksal allen kontingenten Seins beschrieben.583 Der Zeitpunkt des Eintritts des Todes ist im Allgemeinen ungewiss. Jedoch ist gewiss, dass der Tod eintritt. Der Mensch erfährt dies als Kontingenz, als die Begrenztheit der eigenen irdischen Lebenszeit.
In der Bibel werden Tod und Sterblichkeit als zum Lebensverlauf des Menschen gehörig geschildert (2 Sam 12,23; Ps 39,14; Ijob 7,9f.; 2 Kor 1,8ff.; 1 Tim 6,16; Hebr 5,7). Durch den Tod wird der irdische Weg des Menschen beendet (Röm 5,12ff.; 1 Kor 15,22); der Tod bringt Schmerz über die Hinterbliebenen (Lk 7,12f.; Joh 11,33–36) und liegt wie eine Last auf dem ganzen Weg des Menschen (Mt 4,16; Hebr 2,15).584
Einerseits wird die Endlichkeit des Menschen in der Bibel klar und eindeutig bezeugt. Der Mensch ist demnach, so lautet eine biblische Metapher, wie das Gras und die Blume, die am Morgen blühen und dann in der Sonne versengt werden. Diese Vergänglichkeit ist von des Menschen eigenem Sein her radikal und total.585 Eine christliche Deutung von Sterben und Tod hat aber andererseits ihre Grundlage in der Annahme der Endlichkeit mit dem Ziel, Sterben und Tod sinnvoll und aktiv in das Leben zu integrieren. Die Hoffnung des Christen stützt sich dabei auf die Erfahrung der unwiderruflichen Nähe Gottes, wie sie in der Bibel bezeugt wird. Getragen wird diese Hoffnung auch durch den Glauben an die Auferstehung. Dieser Glaube, so ist mit Römelt zu betonen, ermöglicht eine hilfreiche Balance in Bezug auf die sachlichen und persönlichen Entscheidungen am menschlichen Lebensende.586 Es geht um eine Kultur des Sterbens, die aus der reifen Bewältigung des Todes heraus die menschliche Freiheit zu achten vermag, aber auch die natürliche Grenze menschlichen Lebens annimmt: „Es ist ein Umgang mit dem Tod, der die Wirklichkeit der Endlichkeit des menschlichen Daseins nicht zu verdrängen braucht, der aber auch Mut macht, in den Prozessen des Sterbens selbst die unverbrüchliche Identität des Menschen zu wahren und so den Glauben an die Unzerstörbarkeit des Menschen vor Gott auch in den Erfahrungen physischer und psychischer Hilflosigkeit auszudrücken.“587
Wird in theologisch-ethischer Perspektive die Frage der Endlichkeit thematisiert, so gehört dazu, dass der Mensch als Geschöpf bezeichnet wird. Den Menschen der Bibel war es selbstverständlich, dass der Mensch auch im wörtlichen Sinne ganz „Kreatur“ ist. Dazu zählen deshalb als „Entmächtigung“ erfahrene Ereignisse wie Krankheit und Sterben, die schließlich den innersten Grund der Person, das Vertrauen auf Gott, in Frage stellen können (Röm 8,35ff.).588 Christlicher Glaube sieht in dieser Entmächtigung und Kontingenz jedoch keinen blinden Abgrund, weil hinter diesen Geschehnissen letztlich doch Gott steht und man sich auch in derartigem Leiden von Gott getragen weiß, der das Leben gegeben hat und in seiner Hand hält. Die aus dem Glauben an Gott sowie die Hoffnung auf Erlösung kommende Kraft und Geduld, Leiden zu ertragen (Röm 5,1ff.), gilt zwar als Bewährung des Glaubens, stellt jedoch keine Apathie im Sinne stoischer Ruhe dar. Vielmehr wird in der Bibel auch von Angst, Klagen und Verzweiflung in Leiden und Sterben berichtet. Gerade darin zeigt sich, wie wenig der Mensch Herr über sein eigenes Leben ist. Die Zusage der Zuwendung Gottes kann dabei eine Hilfe sein, um die mit der Entmächtigung der Person in schwerer Krankheit und Sterben verbundenen körperlichen und seelischen Leiden ertragen zu können.
Die Annahme der Endlichkeit auf dem Hintergrund des biblischen Gottes- und Glaubensverständnisses verweist schließlich auf den Umgang mit Sterben und Tod. Eibach formuliert diesen theologischen Grundsatz in pointierter Weise: „Auch im Sterben Herr seiner selbst zu sein und in Würde zu sterben, mag ein achtenswertes Ideal sein, ist aber kein Gebot Gottes.“589
Theologische Rede von der Annahme der Endlichkeit und Begrenztheit menschlichen Lebens hat also nicht zum Ziel, den einzelnen Menschen und seine Erfahrungen zu marginalisieren, sondern ihn in seinen Sorgen und Ängsten, aber auch in seiner Verwundbarkeit ernst zu nehmen. Der Grundsatz christlicher Ethik „Gott allein ist Herr des Lebens von Anfang bis zum Ende […].“590 mag dabei eine orientierende Funktion hinsichtlich des Umgangs mit dem Leben haben. Jenseits einer Gleichgültigkeit oder der Resignation angesichts von Krankheit, Leid und Sterben besteht die Aufgabe in der Sorge um die Mitmenschen.
6.2. Verhältnismäßigkeit und die Frage nach der Endlichkeit: Behandlungsabbruch und -verzicht als Annahme der Sterblichkeit
Die Herausforderungen in der Medizin angesichts der vielfältigen medizinischen und technischen Chancen lassen sich mit Römelt folgendermaßen zusammenfassen: „Die Möglichkeiten, Leben vielleicht auch nur um Stunden zu verlängern, Schmerzen zu steuern, Ebenen der relativen vitalen Stabilität auf niedrigem Niveau zu erhalten, machen die medizinische Begleitung des Menschen gerade am Ende des Lebens immer komplexer.“591 So stellt sich aus theologisch-ethischer Perspektive die Frage, was Verhältnismäßigkeit angesichts der Bedeutung und der Berücksichtigung der irdischen Endlichkeit des Menschen heißt.
6.2.1. Verhältnismäßigkeit als realistische Gestaltung einer Behandlung
Eine Entscheidung im Sinne der Verhältnismäßigkeit stellt eine Abwägungssituation über eine Behandlung dar.592 Eine solche Entscheidung über eine Behandlung wird dabei nicht selten von Hoffnung oder Resignation, Erwartungen oder Angst vor allem von Seiten des Patienten und der Angehörigen begleitet. Insbesondere die moderne Medizintechnik vermag dabei die Hoffnung auf Heilung und eine lange Lebenszeit zu mehren.
Römelt beschreibt eine Abwägung im Kontext der Verhältnismäßigkeit als eine Entscheidungssituation, bei der zunächst Diagnose und Prognose in den Blick genommen werden: „Es geht hier um ein nüchternes, realistisches Abwägen, das jeden Fanatismus vermeidet. Wenn z. B. deutlich wird, daß auch durch Intensivtherapie keine eigentliche Hoffnung auf Stabilisierung der Gesundheit besteht und somit nur das Sterben künstlich verlängert wird, ist ein Verzicht auf intensivmedizinische Maßnahmen keine angemaßte Verfügung über das Leben. In einem solchen Entschluß drückt sich vielmehr die Achtung vor der Sterblichkeit des Menschen und vor Gottes Willen aus.“593
Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit gewinnt aber noch mehr in der Abwägung heutiger therapeutischer Interventionen zur Lebensverlängerung auf längere Sicht an Bedeutung. Es gilt dabei, die Anwendung medizinischer Mittel an der Situation des Patienten und seinem Wohl auf eine ausgedehntere Perspektive hin auszuwählen. Mit Römelt ist daher von einer „realistischen Gestaltung des therapeutischen Prozesses“ zu sprechen, die angesichts moderner Medizintechnik notwenig erscheint: „Diagnostik und sorgfältige Prognostik werden in diesem Sinne heute um der realistischen Gestaltung des therapeutischen Prozesses willen (und nicht zur kategorischen Einteilung ‚noch lebenswerten‘ bzw. ‚schon lebensunwerten‘ menschlichen Lebens) zu einem ganz wesentlichen Instrument sachgerechter und der Grenzen ärztlichen Handelns bewußter, in diesem Sinne auch menschlicher Therapie.“594 Zudem sollte im Sinne des Patienten geprüft werden, inwieweit auch zwar schon erprobte, aber noch mit Risiken behaftete Therapien und die Verwendung allzu belastender oder aufwendiger Heilmittel eingesetzt werden sollen.595
Es ist daher ein Ausdruck der menschlichen Gestaltung des Umgangs mit Gesundheit, Krankheit und Sterben, „[…] wenn sich aus dem Gespräch des behandelnden Arztes mit dem Patienten eine maßvolle Verwendung der medizinischen Möglichkeiten ergibt“596. Der Dialog von Arzt und Patient ist dabei ein unverzichtbares Instrument für die Eruierung dessen, was der Patient als Verbesserung seines Lebensvollzugs empfindet und damit die Orientierung am Patientenwillen gewährleistet ist.
Ist von einem „nüchternen“ und „realistischem Abwägen“ die Rede, so wird damit eine Idealsituation formuliert. Ängste und Erwartungen, Trauer und Sorge sind oftmals Begleiter einer Entscheidung über eine Behandlung. Die Angst, von einem geliebten Menschen loslassen zu müssen, erschwert eine Entscheidung über eine Behandlung.
Verhältnismäßigkeit kann hier bedeuten, eine hilfreiche Balance in Bezug auf die sachlichen und persönlichen Entscheidungen am Lebensende zu erhalten. Hierzu gehört im Kontext menschlicher Freiheit die Gestaltung der Behandlung. Eine realistische Gestaltung der Therapie in theologisch-ethischer Perspektive hat ihr Fundament in der biblischen Botschaft: „Christliche Deutung des Sterbens des Menschen ist umfaßt von der Hoffnung des Glaubens, die eine Distanz vermittelt, welche sowohl eine sinnvolle aktive Bewältigung des Sterbens wie auch den Ausdruck wirklich realistischer Akzeptanz vermittelt.“597 Die Achtung vor der Sterblichkeit des Menschen und vor Gottes Willen hat ihre Grundlage in der biblischen Hoffnungserfahrung im Glauben an die Auferstehung Jesu.
Erst mit der Bereitschaft von Seiten des Patienten bzw. den Angehörigen und Ärzten, die einzigartige Grenze des Todes nicht nur wahr-, sondern auch anzunehmen und die damit verbundenen Fragen nach dem Woraufhin des menschlichen Lebens zu ihrem Recht kommen zu lassen, mag die Entscheidung im Grenzbereich von Leben und Tod von einem „therapeutischen Übereifer“ abzusehen.598 Der Verzicht auf für den Patienten außergewöhnliche oder unverhältnismäßige Heilmittel und Maßnahmen ist dann Ausdruck dafür, dass die Endlichkeit menschlichen Lebens angenommen wird.599
Mit Brantl ist dabei die Annahme der Endlichkeit auch in ihrer Bedeutung für die medizinische Praxis hervorzuheben. Für die Medizin selbst kann dies eine Entlastung von Anforderungen und Wunschvorstellungen darstellen: „Solch eine Grundeinstellung, die bewusst mit dem Gedanken an die Endlichkeit und wesensmäßige Unvollkommenheit menschlichen Lebens rechnet, bleibt nicht ohne Wirkung in Richtung einer echten Humanisierung der Medizin. Die praktische Konsequenz dieser Einsicht besteht nämlich darin, dass die Medizin selbst von überzogenen Heilserwartungen und Handlungsansprüchen entlastet werden kann: Wie das menschliche Leben, so kann auch jedes Bemühen um Heilung nur fragmentarisch, bruchstückhaft und endlich sein.“600
Verhältnismäßigkeit heißt somit auch, trotz vielfältiger Behandlungsmöglichkeiten nicht falsche Erwartungen zu wecken, sondern zu den Grenzen menschlichen Handelns und auch medizinischen Bemühens zu stehen. Der Medizinethiker Giovanni Maio erhofft sich daher eine größere Klarheit hinsichtlich der Ziele medizinischen Handelns: „Eine humane Medizin müßte über jede Betonung der Hoffnung hinaus auch das Scheitern ehrlich ansprechen. […] Eine humane Medizin müßte zu ihren Grenzen stehen; sie müßte diese Grenzen thematisieren und sie als das Natürlichste von der Welt zum Ausdruck bringen.“601 Dies zieht die Aufgabe nach sich, Menschen auch in der Begrenztheit einer Behandlung beizustehen. Hilfe für Patienten, denen ein Erfolg nicht garantiert werden kann, kann nur darin bestehen, dass diesen Menschen geholfen wird, auch das Scheitern als Teil des Lebensweges zu betrachten und sie dabei zu begleiten.
Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer medizinischen Behandlung vermag auf diese Weise zu einer Gestaltung der Therapie führen, in der Würde und Freiheit menschlicher Person gewahrt werden, gerade dadurch, dass die Grenzen menschlicher Existenz angenommen werden. Die Annahme der Begrenztheit irdischen Lebens heißt daher auch ganz konkret, Sterben und Tod eines Menschen im medizinischen Handeln zuzulassen.
6.2.2. Verhältnismäßigkeit und Endlichkeit: Belastung und Schmerz als Grenzkriterien
Mit der im zweiten Kapitel erwähnten Erhöhung der Lebenserwartung sowie der möglichen Beeinflussung des Sterbeprozesses wird auf das medizinethische Desiderat, eine Mentalität für die Endlichkeit grundzulegen, verwiesen. Nicht selten ist die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod schwerer geworden, weil durch medizinische Eingriffe die Situation eines Patienten gravierend verändert werden kann und die Hoffnung auf Überwindung krisenhafte Erfahrungen in den Vordergrund drängt.602 Die Eindeutigkeit in Bezug auf ein Ende einer Therapie ist häufig nicht mehr gegeben: Die Wege der Therapie sind so differenziert, dass sich das schmale Spektrum „nützliche Therapie/notwendiges Sterbenlassen“ in eine Palette unterschiedlichster Nuancen differenziert hat.603 Römelt fordert daher ein: „Das Zugehen auf den Tod ist heute nach diesem Verständnis dank der technischen Möglichkeiten moderner Medizin immer weniger nur von bloßen Zwängen zerfallender Lebensfunktionen beherrscht. Es verlangt immer differenziertere Entscheidungen nicht nur medizinischer Eingriffsformen, sondern auch existenzieller Sinn- und Gestaltungsfragen. “604
Eine theologisch-ethische Deutung von Belastung und Schmerz im Kontext der Verhältnismäßigkeit hat hier ihre Berechtigung. In der Frage, wann Behandlungen von den Autoren als „unverhältnismäßig“ beschrieben werden, werden insbesondere die Kategorien Belastungen und Schmerzen genannt.605 In theologisch-ethischer Perspektive besitzt die Frage von Schmerzen und Belastungen nicht nur eine Bedeutung hinsichtlich einer medizinischen Indikation und Schmerztherapie, sondern auch im Kontext der angesprochenen existentiellen Sinn- und Gestaltungsfragen.
Zahlreiche theologische Autoren deuten den Schmerz auf die Endlichkeit des Menschen hin. Für Auer stellt der Schmerz eine Erinnerung an die Kontingenz menschlichen Lebens dar: „Der Schmerz erinnert uns an die Vergänglichkeit und Begrenztheit unseres Daseins.“606 Im Katholischen Erwachsenen-Katechismus werden Schmerz, Krankheit und Leid in diesem Sinne zu den integralen Bestandteilen des menschlichen Lebens gezählt: „Alles irdische Leben ist endlich und vergänglich. Unsere Lebenszeit ist ‚gestundete Zeit’ (Ingeborg Bachmann). Daran erinnern uns die Erfahrungen von Schmerz, Krankheit und Leid wie auch das Abschiednehmen, der Verlust und die Trennung von Menschen.“607
Verhältnismäßigkeit kann an dieser Stelle heißen, die Botschaft von den Grenzen wahrzunehmen und anzunehmen. Nur mithilfe einer solchen Sensibilität kann es gelingen, Sterben und Tod zuzulassen. Ausgehend von der Begriffsgeschichte kann gezeigt werden, dass in diesem Sinne die Annahme der Endlichkeit von jeher ein Anliegen der Autoren in der Beschreibung des Kriteriums der Verhältnismäßigkeit war und ist.608 Der Verzicht auf unverhältnismäßige Behandlungen wird dabei in ausgezeichneter Weise als ein für den Patienten würdiges Sterben gedeutet.
In dem Schreiben „Das Lebensrecht des Menschen“ der deutschen katholischen Bischöfe wird die Schlussfolgerung gezogen, dass ein Sterben in Würde bedeuten könne, dass „[…] nicht alle medizinischen Mittel ausgeschöpft werden, wenn dadurch der Tod künstlich hinausgezögert würde. Dies trifft beispielsweise zu, wenn durch ärztliche Maßnahmen, durch eine Operation etwa, das Leben zwar geringfügig verlängert wird, jedoch mit der Not und Last, daß der Kranke in dieser gewonnenen Lebenszeit trotz oder infolge der Operation unter schwersten körperlichen oder geistigen Störungen leidet. In dieser Situation ist die Entscheidung des Kranken, sich einer Operation nicht mehr zu unterziehen, sittlich zu achten.“609 Auch in dem Schreiben der oberrheinischen Bischöfe wird die Endlichkeit zu den zentralen Kategorien gezählt: „Nach Auffassung der christlichen Ethik gibt es keine Verpflichtung des Menschen zur Lebensverlängerung um jeden Preis und auch kein ethisches Gebot, die therapeutischen Möglichkeiten der Medizin auf ihrem jeweils neuesten Stand bis zum Letzten auszuschöpfen. Zur Endlichkeit des Menschen gehört auch, dass man das Herannahen des Todes zulässt, wenn seine Zeit gekommen ist.“610 Die Frage nach der Belastung und des Schmerzes einer Behandlung für einen Patienten bzw. die Angehörigen und den Arzt kann dabei eine Grenze, ein Orientierungskriterium bilden. Es ist eine Grenze, an der weniger die medizinisch-technischen Eingriffsmöglichkeiten im Vordergrund stehen, sondern existentielle Sinn- und Gestaltungsfragen in einer ganz konkreten, erfahrbaren Weise in den Vordergrund treten: Wie viel Kraft bleibt noch? Welche Ziele und Wünsche bestehen noch? Was verhältnismäßig ist, berührt daher sowohl Fragen der Therapie als auch persönlicher und existentieller Entscheidungen in der Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen.
6.2.3. Verhältnismäßigkeit als eine Kultur der Endlichkeit des Menschen: Die entlastende Funktion der Unterscheidung
Therapieerfolge innerhalb der Behandlung von Krankheit sind etwas außerordentlich Ermutigendes und Glückliches.611 Aber sie sind nur ein Teil der Wirklichkeit. Schmerzen und Belastungen durch langwierige Behandlungen sowie die Erfahrung von Einsamkeit und Deprivatisierung sind ebenfalls mögliche Begleitumstände einer Therapie. Welche Impulse können mit Hilfe des Kriteriums der Verhältnismäßigkeit hinsichtlich des Umgangs mit Behandlungen in einem solchen Kontext geboten werden?
Der Moraltheologe Josef Schuster verortet die Frage der Verhältnismäßigkeit dazu im Horizont einer Kultur der Endlichkeit des Menschen: „M. E. ist für alle Beteiligten, Patienten, Angehörige wie Ärzte und Pflegepersonal eine Grundhaltung dienlich: die Anerkennung der Endlichkeit menschlichen Lebens und damit auch der Begrenztheit therapeutischer Maßnahmen.“612 Einer solchen Einsicht korrespondiert auch die äußere Realität, wenn in sozialethischen Publikationen zur Medizinethik als Konsens festgehalten wird, dass schon medizinische Behandlungen und Ressourcen selbst kontingent sind.613
In individualethischer Perspektive besitzt diese Feststellung eine mögliche entlastende Funktion für den Patienten. Ob eine Behandlung für den Patienten als verhältnismäßig gilt, ist keine rein willkürlich gewählte Entscheidung und kein beliebiges Fremd- oder Selbsturteil von Ärzten, Angehörigen oder des Patienten selbst. Den Entschluss, eine Behandlung abzubrechen oder auf sie zu verzichten, prägt, auch wenn er mit Ängsten, Leid und Trauer verbunden ist, eine aktive ethische Qualität. Mit Schuster ist daher Folgendes zu betonen: „Es gilt in der Tat, den Tod als Ende anzunehmen. Hierzu gehört allerdings auch die Bereitschaft, dieses Ende nicht an den eigenen Lebens- oder Todeswillen zu binden, sondern dieses Ende in seiner Unverfügbarkeit anzuerkennen.“614 Theologisch ausgedrückt heißt das: Nicht bloßer Aktionismus oder die Manipulation des Todes sind aus christlicher Sicht nahe liegend, sondern die Bereitschaft, das Leben in die Hand Gottes zurückzugeben.615
Gleichzeitig vermag diese existentielle wie tiefgreifende Einsicht in die irdische Wirklichkeit und menschliche Gestaltungskraft angesichts vielfältiger Möglichkeiten der Intervention durch die moderne Medizin entlastend wirken. Hilfreich ist hier eine differenzierte Sicht auf die medizinische Sorge um die Kranken und Sterbenden. Römelt beschreibt diese ethische Herausforderung als eine zweifache Bewegung, die nicht einseitig wird. Das Leben zu bewahren, stellt dabei eine erste Zielkategorie dar: „Inanspruchnahme von Hilfe sowie Selbsthilfe, ein aktiver Lebensstil, der die Möglichkeiten der Gesundung ausschöpft, sind in der Krankheit wirklich zu wahren, zu fördern. Es geht darum, Mut zu machen zum Leben – auch in der Bedrängnis der Krankheit.“616 Dies wird jedoch nur als eine Seite menschlichen Lebens und sozialer Fürsorge beschrieben. In der zweiten Zielkategorie wird auf die Bedeutung der Endlichkeit verwiesen: „Aber auf der anderen Seite ist es auch für die Menschlichkeit des Lebens wichtig, mit den Grenzen bejahend zu leben. Sowohl der Wille zur Stärke und entschlossenen Wahrung seiner Kräfte, als auch die gelassene Bejahung unverrückbarer Grenzen und Einschränkungen gehören zu einem wirklich menschlichen Umgang mit der Krankheit.“617 Die Erfahrung von Schmerzen, Belastung und Leid sind wie die Endlichkeit im Sinne dieser Mehrdimensionalität – wie bereits geschildert wurde – integrale Bestandteile menschlichen Lebens. Demzufolge gehört auch die Erfahrung, an den Rand der eigenen Kräfte zu gelangen, durch eigenes Kranksein und die Krankheit von Angehörigen, zum menschlichen Leben. Römelt formuliert daher folgende Regel: „Niemand hat das Recht, sich über andere zu erheben, deren innere und äußere Grenzen angesichts der Unzumutbarkeit von Leid in der Krankheit erreicht sind.“618
6.2.4. Verhältnismäßigkeit als eine Kultur der Endlichkeit des Menschen: Die schützende Funktion der Unterscheidung
Nicht zuletzt besitzt die Unterscheidung in verhältnismäßig und unverhältnismäßig im Sinne dieser Entlastung für den Patienten eine schützende Funktion. In der Enzyklika „Evangelium vitae“ wird der Verzicht auf außergewöhnliche oder unverhältnismäßige Heilmittel als Ausdruck dafür beschrieben, dass die menschliche Situation angesichts des Todes in einer letzten Geste akzeptiert wird. Eine Behandlung könne abgebrochen werden, wenn die zur Verfügung stehenden therapeutischen Maßnahmen nicht in einem für den Patienten angemessenen Verhältnis zur Aussicht auf Besserung stehen.619 Wie eine Therapie muss auch ein Behandlungsabbruch medizinisch indiziert sein. Nach den Regeln der Medizin besteht eine solche Indikation, wenn in medizinischer Hinsicht dem Patienten nicht mehr geholfen werden kann und der Sterbeprozess irreversibel ist.620 Menschliche Zuwendung, pflegerische und palliativmedizinische Betreuung stehen dann im Vordergrund.621 Die medizinische Behandlung endet an dem Punkt, an dem die aktive Lebensführung in das Stadium des irreversiblen Verlöschens übergeht. Die kurative Behandlung endet und damit auch die Aufgabe der Ärzte, Leben zu erhalten. Eine Aussage Auers zum Behandlungsabbruch verdeutlicht, dass die Annahme der Endlichkeit einer Therapie nichts mit einer Verfügung über Menschenleben gemein hat: „Hier wird auf Definitivität und Totalität einer Letztverfügung sowohl im Urteil als auch in seinem Vollzug verzichtet. Hier wird nicht über den Sinn eines Sterbens und auch nicht über Art und Zeitpunkt des Sterbens entschieden.“622
Insbesondere in Entscheidungssituationen, wenn der Wille des Patienten im Gespräch mit ihm bzw. den Angehörigen festgestellt werden soll, kommt den Ärzten eine wichtige Bedeutung zu. Mit Römelt ist dabei zu betonen, dass Ärzte aufgrund ihrer Kompetenz mehr als bloße Ausführungsorgane sind: „Immer muss der Arzt aus seinem Fachwissen heraus den Vorstellungen seines Patienten teils korrespondierend, teils interpretierend und korrigierend die sinnvollen medizinischen Mittel zur Verfügung stellen, die tatsächlich dem Wohl und Willen des Patienten entsprechen – ohne paternalistische Bevormundung, aber auch nicht nur als bloßes Ausführungsorgan blinder Befehle.“623 Für den Patienten vermag die Frage nach der Verhältnismäßigkeit schließlich hier eine fürsorgende und schützende Funktion haben. Fürsorgend, weil die Artikulation des Patientenwillens den Arzt nicht von einer Entscheidung und einem Urteil dispensiert, sondern im Gespräch mit dem Patienten bzw. seinen Angehörigen herausfordert. Der Patient und die Angehörigen werden mit der Entscheidungsfindung nicht allein gelassen.
Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit birgt zudem in ethischer Hinsicht eine schützende Funktion in sich, da sich die Entscheidung über eine Behandlung an der Situation bzw. am Zustand des Patienten auszurichten hat. Das Gespür für Grenzen wird beibehalten. Dies verhindert die Erosion der unbedingten Achtung vor dem Leben des Kranken.
Der Arzt steht demnach in einer Spannung, die es in der Entscheidung über eine Behandlung zu bewältigen gilt: Zum einen ist er Verbündeter des Lebens und hat die Bekämpfung des Todes als vornehmste Aufgabe; zum anderen ist er aber ebenso Verbündeter des Willens zum Ende und des notwendigen Lassen-Könnens.624 Es geht also darum, die sensible und anspruchsvolle Balance zwischen der „Auflehnung mit allen Mitteln“ und der „Ergebung in das Unvermeidliche“ aufzulösen. Brantl beschreibt die problematischen Extrempositionen dabei als „aktionswütiger Medizintechniker“ einerseits und „pseudo-humanitären Todeshelfer“ andererseits.625 Eine religiöse Sinndeutung des Lebens und des Todes kann helfen, das Maß zwischen der Wertschätzung des Lebens sowie der Annahme der Endlichkeit menschlichen Lebens zu finden.626 Dem Arzt kommt dabei weiterhin die Position eines Garanten des Lebens zu. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit kann jedoch davor schützen, in eine Diesseitigkeit und Verabsolutierung endlicher Werte zu verfallen. Theologische Sprache kann diese humane Mitte und Balance medizinischer Kultur im eigenen Gewand auszudrücken versuchen: „[…] in der theologischen Ausdrucksweise, dass letztlich nur Gott selbst Herr über Leben und Tod sein kann, bewahrt sich ein Wissen darum, dass echte humane Kultur immer erst in einer sachgerechten und sinnvollen Verbindung zwischen natürlichen Grundlagen und gestalterischem Eingreifen des Menschen entsteht“627. Das heißt: „Die theologische Rede von der Herrschaft Gottes über Leben und Tod bedeutet eben gerade eine doppelte Sicht: Sowohl die Würde des Menschen, seine Unantastbarkeit ist Gegenstand dieser Aussage, aber auch das Wissen um seine Sterblichkeit und Begrenztheit. In dieser Haltung kommen also sowohl die Solidarität der Gesellschaft mit Leidenden und Sterbenden als auch die Vernunft einer Beschränkung sinnloser Therapieversuche in den Blick.“628
6.3. Zusammenfassung: Die Frage nach Verhältnismäßigkeit als existentielle Herausforderung – Sterben als Annahme und Aufgabe
Die Verhältnismäßigkeit einer Behandlung zu bedenken heißt, so kann an dieser Stelle zusammenfassend anhand der vorherigen Ausführungen gesagt werden, die Begrenztheit des irdischen Lebens in der bewussten Annahme konkret auszudrücken. Mit diesen einfachen Worten werden deshalb auch die notwendige Gestaltung einer Therapie sowie ihr Verzicht und die Reduktion exakt beschrieben. Die Reflexivität im Sterben verlangt gerade in diesem Ausdrucksgeschehen nicht nur die medizinischen Entscheidungen, sondern auch die Beantwortung existentieller Sinnfragen.629 Mit der Frage nach der Verhältnismäßigkeit werden somit zugleich existenzielle Symbolik und medizinische Behandlung explizit zusammengehörig eingeholt: Es ist ein Verweis auf die Verbindung zwischen notwendiger Annahme der Endlichkeit und medizinischer Bemühungen; woraus die Aufgabe folgt, therapeutische Prozesse zu gestalten.630
Die Auffassung, Sterben als Annahme und Aufgabe zu verstehen, bezieht sich in diesem umfassenden Sinne nicht allein auf die medizinische Behandlung, sondern auch auf alle beteiligten Personen. Auch für die Angehörigen, die Mitarbeiter in der Pflege und die Ärzte stellt die Entscheidung über eine Behandlung eine persönliche und emotionale Herausforderung dar. Wenn sich das Ziel der Therapie für einen Patienten von der Heilung zur Sterbebegleitung verändert, bedarf der Arzt mehr als pharmazeutischer Mittel zur optimalen Schmerztherapie und einiger psychologischer Informationen über Phasen des Sterbeprozesses. Die Situation des Sterbenden sowie existentielle Fragen des Patienten selbst, aber auch der Angehörigen, beansprucht die Persönlichkeit des Arztes als ganze und schließt seine Bereitschaft mit ein, Verantwortung für die Begleitung eines Sterbenden mitzutragen, ethische Konflikte zu bewältigen, sich auch mit ureigenen Fragen der Sinnbestimmung, aber auch des eigenen Sterbens auseinanderzusetzen und damit der besonderen Bedeutung von Sterben und Tod gerechter zu werden als dies eine eher auf Todesabwehr und Tabuisierung hin orientierte Einstellung zu leisten vermag.631 Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit birgt folglich Konsequenzen in sich, die über die konkrete medizinische Behandlung hinausgehen. Schließlich werden in der Begleitung sterbender Menschen Angehörige, Mitarbeiter in der Pflege und die Ärzte unvermeidlich mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert.
Insbesondere angesichts der vielfältigen therapeutischen Möglichkeiten besitzt die Annahme der Endlichkeit Relevanz für die Entscheidung über den Fortgang einer Behandlung. Karl Rahner weist auf die bedeutende Rolle des Arztes in der Begleitung sterbender Menschen hin: „Der Mensch im Arzt kann diese Frage vielleicht mit einem hilflosen Achselzucken beantworten, in Demut seine Ratlosigkeit aushalten in einem geheimen Vertrauen darauf, dass eine ausgehaltene Frage, die man nicht verdrängt, der man nicht davonläuft, in ihrem Grunde eine Antwort birgt, auch wenn man sie noch nicht aus diesen Abgründen unseres Daseins auf die Oberfläche unseres reflexen Bewusstseins ins Wort hineingehoben hat. Wenigstens so sollte in jedem ernsten Menschen diese Frage gegeben sein. So mindestens kann sie und muss sie von jedem Menschen ausgehalten werden. So wenigstens ist diese Frage mit ihrer Unerbittlichkeit unvermeidlich; wird sie nochmals gestellt, selbst wo man dekretiert, man solle sie gar nicht stellen oder sie sei unbeantwortbar.“632
Für den Arzt erwächst auf dieser anthropologischen Basis und dem medizinischen Grundauftrag, menschliches Leben zu bewahren, eine charakteristische Spannung: „Als Arzt ist er der Verbündete des biologischen Lebens und dessen Tendenz auf ein ‚Weitermachen’ hin, als Mensch aber der Verbündete des Willens zum Ende, das Vollendung ist, des Willens, der Nein sagt zur Verdammnis des Ahasver, der nicht sterben darf. Diese Spannung gehört zur Existenz des Arztes, sie muss ohne kurzschlüssige Versöhnung nach der einen oder anderen Seite hin ausgehalten werden, sie liegt vielen der konkreten Fragen zugrunde, die der ärztlichen Verantwortung am Bett der Sterbenden gestellt werden.“633 In der Begleitung sterbender Menschen wird der Arzt unvermeidlich mit dem Faktum der Endlichkeit konfrontiert.
Die Verhältnismäßigkeit einer Behandlung in den Blick zu nehmen bedeutet folglich, sich auf diese Spannung einzulassen. Durch die Bereitschaft, die Grenze des Todes anzunehmen und damit verbunden der Frage nach dem letzten Woraufhin des menschlichen Lebens ihr eigenes Recht zu lassen, behalten der Arzt und sein Handeln in den Grenzbereichen zwischen Leben und Tod den Charakter jener Menschlichkeit, die auch im Stande ist, von einem „therapeutischen Übereifer“ abzusehen.634 Der Verzicht auf Therapien im Sinne der Verhältnismäßigkeit bei Patienten, bei denen sich der Tod unvermeidlich ankündigt und allenfalls eine ungewisse, schmerzvolle Verlängerung des Lebens bewirkt werden kann, ist „[…] Ausdruck dafür, daß die menschliche Situation des Todes akzeptiert wird“635. Mit Böckle ist dabei auf den notwendigen Respekt gegenüber der Entscheidung des Patienten hinzuweisen: „Und es wird eigens darauf hingewiesen, daß ein schwerkranker Patient das Recht haben müsse, eine lebensverlängernde Behandlung abzulehnen, ohne deswegen vom behandelnden und pflegenden Personal diskriminiert zu werden. Diese Freiheit setzt selbstverständlich eine umfassende Information über die Erfolgsaussichten und Risiken voraus.“636
Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit stellt daher eine Ressource dar, um in einer würdigen Form den Sterbeprozess des Patienten zu gestalten. Das Verständnis, dass die Sorge um Gesundheit und Krankheit sowohl vom Patienten als auch von Ärzten, Pflegekräften und Angehörigen verantwortet werden soll, muss auch das Sterben als Aufgabe umfassen.637 In christlicher Perspektive kommt gerade durch das Verständnis des Sterbens als Annahme und Aufgabe ein würdiger Umgang zur Geltung. Mit der Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Behandlung kann darauf verwiesen werden, dem Kranken bzw. Sterbenden den Raum zur Entscheidung zu geben, der angesichts vielfältiger Möglichkeiten der Lebensverlängerung notwendig bleibt.
577 Vgl. Labisch, A.; Paul, N., Art. Medizin, 1. Zum Problemstand, 631.
578 Vgl. u. a. Brantl, J., Entscheidung durch Unterscheidung, 200ff. Ernst, S., Verhältnismäßige und unverhältnismäßige Mittel, 49. Römelt, J., Dem Sterben einen Sinn geben, 7ff. Römelt, J., Menschenwürdiges Sterben, 525. Illhardt, F.-J., Art. Gesundheit, Gesundheitswesen, II. Ethisch, 606. Peschke, K.-H., Christliche Ethik, 292.
579 Vgl. dazu im zweiten Kapitel Abschnitt 2.3.
580 Vgl. u. a. Jörg, J., Art. Apallisches Syndrom, 184ff.
581 Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Katholischer Erwachsenen-Katechismus. Bd. 2, 302.
582 Vgl. u. a. Virt, G., Leben bis zum Ende, 10.
583 Vgl. u. a. Scherer, Georg, Art. Tod, II. Philosophisch-anthropologisch, in: LThK 10. (Sonderausgabe) Freiburg [u. a.] 2006, 66–68, 66f.
584 Vgl. März, Claus-Peter, Art. Tod, IV. Biblisch-theologisch, 2. Neues Testament, in: LThK 10. (Sonderausgabe) Freiburg [u. a.] 2006, 70–72, 70.
585 Vgl. Böckle, F., Verantwortlich leben, 81.
586 Vgl. Römelt, J., Freiheit, die mehr ist als Willkür, 267.
587 Römelt, J., Freiheit, die mehr ist als Willkür, 268.
588 Vgl. im Folgenden Eibach, U., Medizin und Menschenwürde, 236f.
589 Eibach, U., Medizin und Menschenwürde, 237.
590 Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae“, 66 (Nr. 53).
591 Römelt, J., Menschenwürdiges Sterben, 525.
592 Vgl. dazu im dritten Kapitel Abschnitt 3.3.
593 Römelt, J., Freiheit, die mehr ist als Willkür, 273.
594 Römelt, J., Freiheit, die mehr ist als Willkür, 274. Vgl. dazu auch Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Euthanasie, 10f.
595 Vgl. Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Euthanasie, 10f.
596 Römelt, J., Gesundheit – höchstes Gut?, 9.
597 Römelt, J., Freiheit, die mehr ist als Willkür, 266.
598 Vgl. Brantl, J., Entscheidung durch Unterscheidung, 202. Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae“, 80 (Nr. 65).
599 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae“, 80 (Nr. 65). Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Euthanasie, 12.
600 Brantl, J., Entscheidung durch Unterscheidung, 203.
601 Maio, G., Abschaffung des Schicksals?, 814.
602 Vgl. u. a. Baberg, H. T.; Kielstein, R.; Zeeuw, J. de; Sass, H.-M., Ärztliches Abwägen, 171ff.
603 Vgl. Römelt, J., Menschenwürdiges Sterben, 525.
604 Römelt, J., Menschenwürdiges Sterben, 525.
605 Vgl. hierzu das dritte Kapitel.
606 Vgl. Auer, A., Die Unverfügbarkeit des Lebens und das Recht auf einen natürlichen Tod, 28.
607 Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Katholischer Erwachsenen-Katechismus. Bd. 2, 302f.
608 Vgl. u. a. Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae“, 80 (Nr. 65). Pius XII., Über moralische Probleme der Wiederbelebung, 229. Lessius, L., De Justitia et Jure. Lib. II, Cap. 9, dub. 14, n. 96. Vitoria, Francesco a, Relectio de Temperantia, n. 9; 12.
609 Die Deutschen Bischöfe, Das Lebensrecht des Menschen und die Euthanasie, 5. Vgl. auch Bischofskonferenz (Hg.), Katholischer Erwachsenen-Katechismus. Bd. 2, 308.
610 Gemeinsames Hirtenschreiben der Bischöfe von Freiburg, Strasbourg und Basel, „Die Herausforderung des Sterbens annehmen“, 6.
611 Vgl. Römelt, J., Freiheit, die mehr ist als Willkür, 257.
612 Schuster, J., Behandlungsverzicht bzw. Behandlungsabbruch, o. S.
613 Vgl. u. a. Gäfgen, G., Das Dilemma zwischen humanem Anspruch und ökonomischer Knappheit im Gesundheitswesen, 149–158, 149ff. Aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive äußern sich zum Verhältnis von medizinischen Leitlinien und Ressourcenknappheit u. a. Kostka, U.; Mack, E., Medizinische Leitlinien: Eine ethische Analyse, 227–241. Arnold, M., Probleme bei der Einlösung des Wirtschaftlichkeitsgebotes, 159–172. Mack, Elke, Ethik des Gesundheitswesens, in: Ludger Honnefelder; Christian Streffer (Hg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 3. Berlin [u. a.] 1998, 173–189.
614 Schuster, J., Behandlungsverzicht bzw. Behandlungsabbruch, o. S.
615 Vgl. Arntz, K., Unbegrenzte Lebensqualität?, 359.
616 Römelt, J., Freiheit, die mehr ist als Willkür, 257.
617 Römelt, J., Freiheit, die mehr ist als Willkür, 257.
618 Römelt, J., Freiheit, die mehr ist als Willkür, 258. Vgl. Grewel, Hans, Recht auf Leben. Drängende Fragen christlicher Ethik. Göttingen 1990, 67–72. Böckle, F., Verantwortlich leben, 64f.
619 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae“, 80 (Nr. 65). Vgl. auch Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Euthanasie, 12.
620 Vgl. u. a. Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (2004).
621 Vgl. u. a. Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (2004). Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae“, 80 (Nr. 65).
622 Auer, A., Die Unverfügbarkeit des Lebens und das Recht auf einen natürlichen Tod, 49f.
623 Römelt, J., Menschenwürdiges Sterben, 526.
624 Vgl. Brantl, J., Entscheidung durch Unterscheidung, 203.
625 Vgl. Brantl, J., Entscheidung durch Unterscheidung, 203.
626 Vgl. Römelt, J., Menschenwürdiges Sterben, 528.
627 Römelt, Josef, Autonomie und Sterben, in: ZME 48 (2002), 3–14, 13.
628 Römelt, J., Autonomie und Sterben, 13
629 Vgl. Römelt, J., Menschenwürdiges Sterben, 527.
630 Vgl. u. a. Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae“, 80 (Nr. 65). Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Euthanasie, 12.
631 Vgl. Brantl, J., Entscheidung durch Unterscheidung, 201.
632 Rahner, Karl, Theologische Erwägungen über den Eintritt des Todes, in: Schriften zur Theologie, Bd. IX, Einsiedeln [u. a.], 323–335, 331.
633 Rahner, K., Theologische Erwägungen, 332f.
634 Vgl. u. a. Brantl, J., Entscheidung durch Unterscheidung, 202. Enzyklika „Evangelium vitae“, 80 (Nr. 65).
635 Enzyklika „Evangelium vitae“, 80 (Nr. 65).
636 Böckle, F., Verantwortlich leben, 64.
637 Schließlich ist anzumerken, dass die Sorge um kranke und sterbende Menschen auch eine gesellschaftliche Aufgabe darstellt. Dies wird z. B. im Gebot der Nächstenliebe ausgedrückt (Lev 19,18; Mk 12,28–34).