Auf verschlungenen Wasserarmen nähert man sich per Vaporetto der abgeschiedenen Laguneninsel, die auf den ersten Blick menschenleer und verwildert erscheint. Die üppige Ufervegetation deutet auf eine unberührte Lagunenoase hin, wäre da nicht der weithin sichtbare Kirchenkomplex.
Diese halb verwilderte Laguneninsel gilt als die Vorgängerin Venedigs, als der Ort, an dem die Lagunenbesiedlung ihren Anfang nahm. In der ersten Hälfte des 7. Jh. hatte Torcello bereits einen festen Siedlungskern, und der Grundstein für den Bau der Basilika war gelegt. Auf dem wirtschaftlichen und kulturellen Höhepunkt befand sich die Bischofsstadt Torcello vom 10. bis 12. Jh., als sie über 20.000 Einwohner zählte, über eine eigene Gerichtsbarkeit verfügte und sich durch blühende Handelsaktivitäten auszeichnete. Ob Venedig diesen starken und eigenständigen Nachbarn als Konkurrenz empfand, und weshalb sich Torcello plötzlich entvölkerte und so komplett bedeutungslos wurde, ist ein Rätsel der Geschichte geblieben. Nichts deutet auf eine gewaltsame Niederwerfung hin, während einiges für eine Naturkatastrophe spricht: Der Fluss Sile soll die Stadt überschwemmt und weitgehend zerstört haben. Überreste der alten Stadtanlage gibt es heute jedenfalls keine mehr zu sehen, von denen man auf die einstige Größe Torcellos schließen könnte, geblieben ist lediglich das religiöse Zentrum der Insel mit den beiden romanisch-byzantinischen Gotteshäusern Basilica Santa Maria Assunta und Chiesa Santa Fosca(s. u.).
Auf Torcello leben heute ein paar Dutzend Menschen, zumeist Bauern, aber auch einige stadtflüchtige, naturverbundene Individualisten. Von der Anlegestelle, parallel zum schiffbaren Hauptkanal der Insel, führt ein gepflasterter Treidelweg ins hochmittelalterliche Zentrum von Torcello, vorbei am flachen, steinernen Ponte del Diavolo (Teufelsbrücke) und den einladenden Landgasthöfen.
Die Bewegungsfreiheit auf Torcello ist begrenzt. Privatbesitz einerseits und die Unwegsamkeit des Geländes andererseits verhindern eine ausgiebige Erkundung. Die beste Gelegenheit, um sich eine Vorstellung von der Beschaffenheit der Insel zu machen, bietet die große Freifläche hinter dem Kirchenkomplex, wo sich Wasserwege kreuzen und eine lagunentypische Vegetation ausbreitet. Auf einem anschließenden Trampelpfad kann man sogar einen Teil der dortigen Barene (Salzwiesen) erkunden.
Verbindungen: Vaporetto 9 ab Burano.
Sehenswertes auf Torcello
Der Kirchen- und Museumskomplex an der Piazza di Torcello setzt sich aus der Kuppelkirche Santa Fosca, der hoch aufragenden Basilica Santa Maria Assunta, dem begehbaren Campanile sowie den beiden angrenzenden Museumspalazzi zusammen. Der ungepflasterte Vorplatz und die dem Museum angeschlossenen Gärten sind über und über mit archäologischen Fundstücken dekoriert.
Chiesa Santa Fosca
Locanda Cipriani
Perfekt proportionierter Kuppelbau aus dem 11. Jh. mit zierlichem Säulenportikus vor dem Eingang und einer typisch byzantinischen Raumaufteilung. Das Innere ist nahezu schmucklos, was seine harmonische Raumwirkung noch betont. Ein seitlicher Arkadengang führt zur angrenzenden Basilika, der eigentlichen Attraktion von Torcello.
Basilica Santa Maria Assunta
Die dreischiffige Säulenbasilika wurde Anfang des 11. Jh. errichtet. Ihr Vorgängerbau von 639 gilt als ältester Sakralbau der Laguna veneta. Bereits im 9. Jh. fanden bauliche Veränderungen statt, ihre heutige Form erhielt die symbolträchtige und stilbildende Basilika im Jahr 1008, als der Bischof von Torcello das Hauptschiff erhöhen ließ, die Seitenapsiden hinzugefügt wurden und der Chorraum neu gestaltet und dekoriert wurde.
Den größten kunsthistorischen Wert besitzen die im 11. und 12. Jh. entstandenen byzantinischen Goldmosaiken, die in ihrer Machart und Qualität mit denen der Markuskirche vergleichbar sind. Im Halbrund der Hauptapsis prunkt die Darstellung der Gottesmutter mit den unter ihr aufgereihten zwölf Aposteln. Die Apostel, so lautet eine Interpretation, schreiten über mohnbedeckte Barene (Salzwiesen), die typisch für die Lagunenlandschaft sind. Das Mosaik unter dem Apsisfenster stellt den Bischof von Torcello dar, der den Umbau der Basilika veranlasste. Im unteren Chorraum, in der Mitte der stufenförmigen Priesterbank fehlt der Bischofsstuhl; er befindet sich auf der Piazza di Torcello und genießt als der Steinerne Thron Attilas große Aufmerksamkeit.
Entvölkerte sich im Mittelalter auf rätselhafte Weise: Torcello
Marmorne Chorschranken (11. Jh.) begrenzen das Presbyterium; sie zeigen kunstvoll gearbeitete Tierdarstellungen (Löwen, Pfauen) im byzantinischen Stil. Die Ikonostase aus dem 15. Jh. darüber stellt erneut die Gottesmutter mit den Aposteln dar. Das große Holzkruzifix auf dem Querbalken stammt ebenfalls aus dem 15. Jh.
Wendet man seinen Blick in die entgegengesetzte Richtung, erblickt man das wandfüllende Weltgerichtsmosaik in voller Größe. Die in sogenannte Bänder unterteilten Darstellungen wirken äußerst lebendig und drücken die Vorstellungen aus, die man im 11./12. Jh. vom Untergang der Menschheit und dem endzeitlichen Gerichtsakt hatte. Aus dem Christus-Medaillon in der Mitte tritt ein glühender Feuerstrom, der die Flammen der Hölle speist. In den Höllen-Bändern erkennt man die Todsünden in Form der Unkeuschen, der Gierigen, die sich in die Hände beißen, der Zornigen, die ins Wasser getaucht werden, um ihre Wut zu kühlen, der Neidvollen, aus deren Totenköpfen Schlangen hervortreten, der Geizigen als Menschen aller Rassen, deren Köpfe reich geschmückt sind, und der Trägen. Die siebte Todsünde stellt die Hochmütigen dar, die mit Lanzen in die Flammen getrieben werden, daneben thront Hades mit dem Antichrist auf dem Schoß.
Campanile
Der freistehende Glockenturm der Basilika, der seine Spitze im 17. Jh. einbüßte, als sie vom Blitz getroffen wurde, darf nach der bis 2014 andauernden Restaurierung wieder betreten werden. An klaren Tagen ergibt sich ein unvergleichlicher Lagunenblick, an trüben Tagen erkennt man hingegen kaum die bunten Häuser von Burano.
Museo di Torcello
Das archäologische Museum in den beiden Nebengebäuden des Kirchenkomplexes ist mit zahlreichen frühgeschichtlichen, antiken und mittelalterlichen Ausgrabungsfunden bestückt, darunter befinden sich Säulenfragmente, Kapitelle, Steinreliefs, Amphoren, Büsten, Statuetten, Metallgegenstände, kunstvolle Keramikarbeiten und Mosaiken. Die antiken Exponate stammen allerdings nicht von den örtlichen Ausgrabungsstätten innerhalb der Lagune. Dennoch wird vermutet, dass Torcello bereits in der Antike bewohnt war und dem altrömischen Altino an der gegenüberliegenden Lagunenküste als Vorhafen diente.
Essen & Trinken
1
Locanda Cipriani
2
Al Trono di Attila
Kirchen- und Museumskomplex: Geöffnet März-Okt. tägl. 10.30-17.30 Uhr, Nov.-Febr. tägl. 10-17 Uhr. Eintritt: Santa Fosca frei, Basilika 5 € (Audioführer 2 €, auch auf Deutsch), Campanile 4 €, Museum 3 €. Kombiticket Basilika und Campanile 8 € (inkl. Audioführer). Kombiticket Basilika, Campanile und Museum 10 €, erm. 8 € (inkl. Audioführer).
Essen und Trinken
Al Trono di Attila2 Großer Landgasthof mit lauschigem Garten. Seit über 25 Jahren eine zuverlässige Adresse für schnörkellose Fischküche zu akzeptablen Preisen, Menü 30-40 €. Eine Primo-Spezialität sind die Gnocchetti con Rucola e Scampi. Tägl. mittags geöffnet, Fr und Sa auch abends. Fondamenta Borgognoni 7, 041/730094.
Locanda Cipriani1 Die ländliche Dependance des Luxushotels Cipriani (La Giudecca → S. 208). Das vornehme Restaurant mit Gartenterrasse steht nicht nur Hotelgästen zur Verfügung. Gehobene Küche, Menü deutlich über 50 €. Unübersehbar am Ende des Treidelwegs gelegen, mittags und abends geöffnet, Di Ruhetag und im Januar geschlossen, 041/730150.