Kapitel 15
IN DIESEM KAPITEL
Standen Sie schon einmal in der Küche und Ihnen sind Tränen über Ihr Gesicht geströmt, weil Sie Zwiebeln geschnitten haben? Dann haben Sie schon einmal erlebt, wie Ihr Körper auf Reizstoffe reagiert. Die Tränen helfen, diese Stoffe wieder aus den Augen herauszuspülen. Allerdings werden Sie nach den durch die Zwiebel verursachten Tränen keine Veränderungen Ihrer Gefühle feststellen. Sie sind allenfalls wenig begeistert über das brennende Gefühl in Ihren gereizten Augen.
Sie wissen natürlich, dass der Körper auch bei starken Emotionen Tränen produziert. Angesichts des Gefühls der Erleichterung, das nach dem emotionalen Weinen folgt, nehmen Wissenschaftler an, dass diese Art des Weinens den Körper von emotionellen »Giften« befreit und ihn wieder in einen entspannteren Zustand bringt.
Kummer und Weinen sind normale Reaktionen, wenn Menschen einen Verlust erleiden. Manchmal hält der Kummer jedoch an und beeinträchtigt das Leben. Trauer kann eine Depression auslösen. (Lesen Sie in Kapitel 2, welche Arten der Depression es gibt.) Verlust kann depressive Gefühle auslösen. Manchmal quälen Sie Ereignisse aus der Vergangenheit viel länger, als Sie sich dessen bewusst sind. Auch wenn Sie noch keinen größeren Verlust erlitten haben, kann es sinnvoll sein, nach einem ungelösten Kummer als Grund für Ihre Depression zu suchen.
In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit der Reaktion auf einen Verlust. Wir beschreiben die verschiedenen Arten von Verlust, die Menschen widerfahren können, und wie sie darauf reagieren. Wenn Sie unter einer Depression leiden, überlegen Sie, ob Ihre Gefühle von einer dieser Verlustarten herrühren könnten. Wenn Sie Ihren Kummer bearbeiten, werden Sie Ihre Depression lindern. Wir möchten Ihnen unterschiedliche Wege zeigen, wie Sie Ihren Kummer überwinden können. Dabei ist es egal, ob es sich um einen ganz normalen, unkomplizierten Kummer oder um die Folge eines traumatischen Erlebnisses handelt.
Jeder Mensch erlebt den einen oder anderen Verlust in seinem Leben. Er empfindet aufgrund der unterschiedlichsten Verluste Kummer oder Trauer. Die Reaktion auf jeden einzelnen Verlust variiert von Mensch zu Mensch. Wir können nicht genau voraussagen, wie jemand auf ein schlimmes Ereignis reagieren wird. Und es gibt keinen richtigen oder falschen Weg, mit dem Verlust umzugehen. Manche Menschen kommen schnell wieder auf die Beine, andere versinken für lange Zeit in Trauer.
Wir können an dieser Stelle nicht alle möglichen Verlustarten, die Trauer auslösen können, aufzählen. Doch das sind die drei Hauptarten: Tod, Veränderungen im Leben, Verlust von Beziehungen.
In den folgenden Abschnitten beschreiben wir diese Verlustarten ausführlich. Es gibt keinen richtigen oder falschen Weg, damit umzugehen. Es ist einfach wichtig, zu verstehen, wie ein Ereignis auf Sie wirkt. Diese Erkenntnis ermöglicht es Ihnen, Ihre Kräfte zu mobilisieren, um diesen Verlust zu überwinden. Im Abschnitt Die Trauer überstehen weiter hinten in diesem Kapitel zeigen wir Ihnen Möglichkeiten, wie Sie mit einem Verlust besser umgehen können.
Es ist nicht leicht, mit dem Tod umzugehen. Auch religiöse Menschen empfinden tiefe Trauer, wenn sie einen geliebten Menschen verlieren. Ein unerwarteter Todesfall ist generell schwieriger zu akzeptieren als der Tod nach einer langen schweren Krankheit. Doch ob der Tod unerwartet eintrat oder abzusehen war, ist nicht der einzige Faktor, der die Reaktion darauf beeinflusst. Auch das Alter der Person, wie schwierig der Sterbeprozess war, ob Gelegenheit war, Abschied zu nehmen, und der Halt, den der Zurückgebliebene findet, tragen zur Art der Reaktion auf solch ein Ereignis bei.
- Der Tod Ihres Lebenspartners: Diese Art des Verlustes ist häufig einer der schwierigsten, denn er hat große Veränderungen zur Folge.
- Der Tod eines Kindes: Die meisten Fachleute sind der Meinung, dass dieser Verlust am schmerzlichsten ist und es am längsten dauert, bis man ihn verkraftet hat. Es scheint ganz einfach gegen die Natur zu sein, dass ein Kind vor seinen Eltern stirbt.
- Der Tod eines Elternteils: Wie problematisch dieser Verlust ist, ist von vielen Faktoren abhängig. Dazu gehören das Alter des Elternteils und das Alter des Kindes zum Zeitpunkt des Todes, die Art der Beziehung zueinander oder ob ungelöste Konflikte bestehen. Manchmal wird der Kummer besonders stark, wenn die Eltern-Kind-Beziehung schwierig war.
- Der Tod eines Geschwisters: Wie problematisch dieser Verlust ist, ist auch hier von vielen ähnlichen Faktoren abhängig. Bisweilen wird die Auswirkung des Todes eines Geschwisters unterschätzt und fälschlicherweise davon ausgegangen, dass der Verlust von Lebenspartnern oder Kindern schlimmer sei.
- Der Tod von Freunden und weiteren Verwandten: Der Umgang mit dem Tod von Freunden und weiterenVerwandten kann ebenfalls sehr unterschiedlich und individuell sehr belastend sein.
- Der Tod eines Ihnen nahestehenden Menschen durch Selbstmord: Wir gehen in Kapitel 10 näher darauf ein, dass der Selbstmord eines nahestehenden Menschen problematische Gefühle wie Schuld und Bedauern auslösen kann.
- Der Tod eines Haustiers: Menschen können eine sehr enge Bindung zu ihrem Haustier haben. Haustiere sind manchmal wie Familienmitglieder. Manchmal können andere die Trauer um ein Haustier nicht wirklich verstehen. Dieses fehlende Verständnis kann die Betroffenen isolieren.
- Der Tod von anderen: Manchmal können Kummer und Trauer auch ausgelöst werden, wenn Menschen Zeugen eines schrecklichen Ereignisses werden. Wenn beispielsweise ein betrunkener Autofahrer ein Kind überfährt, kann das in einer Familie, die Jahre zuvor ein Kind verloren hat, wieder alte Wunden aufreißen. Menschen, die Zeugen eines grausamen Verbrechens werden, können ebenfalls mit Trauer reagieren.
Nichts bleibt für immer so, wie es gerade ist. Menschen müssen in ihrem Leben verschiedenste Rollen einnehmen. Sie sind Eltern, Mitarbeiter, Arbeitgeber, Studierende, Ehemänner, Ehefrauen oder Freunde. Wie sich Menschen selbst sehen, hängt oft stark von diesen Rollen ab.
Menschen haben ein Selbstbild von sich. Sie sehen sich beispielsweise als jemand, der immer gesund, attraktiv, zuverlässig oder angesehen ist. Dieses Selbstbild und die Rolle, die man gerade im Leben spielt, können sich durch unvorhersehbare äußere Umstände ganz plötzlich verändern. Das kann ganz sachte, aber auch sehr turbulent vonstattengehen.
Meistens unterschätzen Menschen den Einfluss, den Veränderungen auf ihre Selbstwahrnehmung und auf ihr Wohlbefinden haben können. Wenn diese Veränderung durch einen Verlust ausgelöst wird (was bei vielen Veränderungen zutrifft), können Kummer oder Depression die Folge sein. Manchmal ist die Veränderung ganz offensichtlich – wenn Sie zum Beispiel Ihren Arbeitsplatz verlieren. Doch manchmal ist dieser Verlust viel subtiler – beispielsweise wenn Sie sich aufgrund der gestiegenen Verbrechensstatistik in Ihrer Stadt nicht mehr so sicher fühlen.
- Zu Hause ausziehen: Jugendliche und junge Erwachsene können es oft kaum erwarten, endlich von zu Hause auszuziehen. Doch wenn es dann so weit ist, empfinden sie doch einen Verlust, was sie meist überrascht. Sie können jetzt nicht mehr schnell einen Rat oder Hilfe von ihren Eltern bekommen. Sie vermissen vielleicht auch ein wenig die Freiheit und Unbeschwertheit ihrer Kindheit. Nach dem Schul- oder Studienabschluss verlieren die jungen Leute bekannte Gewohnheiten und Freunde und müssen jetzt hinaus in die Welt und sich neuen Aufgaben stellen.
- Heiraten: Für die meisten Menschen ist eine Hochzeit eine sehr schöne, aber nervenaufreibende Zeit in ihrem Leben. Doch auch eine Hochzeit bringt Verluste mit sich, die ganz unerwartet zu einer Depression führen können. Wenn Sie heiraten, geben Sie Ihr Leben als Single auf. Deshalb verlieren Sie vielleicht Freunde, die weiterhin ein Singleleben führen. Auch durch die Hochzeit geben Sie die Unbeschwertheit Ihrer Kindheit auf.
- Ein Kind bekommen: Noch ein freudiger Anlass! Doch ein Neugeborenes bedeutet neben Freude und Glück auch weniger Freiheiten und neuen Stress. Mit einem Baby werden Sie plötzlich feststellen, dass Sie am Wochenende nicht mehr ausschlafen können und sich Sorgen darüber machen, ob Sie Ihrer neuen Elternrolle gerecht werden.
- Veränderungen im Job: Ob Sie nun Ihren ersten Job antreten, befördert oder gekündigt wurden – Veränderungen im Alltag bedeuten immer Stress und Verlust. Durch den ersten Job verliert man Freizeit. Eine Beförderung kann viele neue Pflichten nach sich ziehen. Die Arbeit zu verlieren, bedeutet den Verlust von Geld und Ansehen.
- Inhaftiert werden: Eines Verbrechens schuldig zu sein und eingesperrt werden, bringt viele Verluste mit sich.
- Große ökonomische und politische Veränderungen in der Gesellschaft: Die Aktien sind im Keller. Manch einen hat diese Entwicklung schwer getroffen. In demokratisch regierten Ländern wird niemand lange enttäuscht sein, wenn die politische Führung gewechselt hat. Doch in einigen Ländern können neue Regierungen den Verlust von Freiheit, ökonomische Schwierigkeiten oder sogar Krieg bedeuten. Solche Veränderungen können auf schreckliche Weise Leben und Familien zerstören.
- Verlust der Sicherheit: Die Covid-19-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 hat die Welt in vieler Hinsicht verändert. Viele Menschen verloren ihren sicheren Glauben an eine vorhersehbare Welt. Hinzu kamen weitere Verluste an Bewegungsfreiheit, Verbindungen zu anderen Menschen, finanzieller Sicherheit und Gesundheit.
- Umzug: Der Umzug in ein neues Zuhause, ob nun in der gleichen oder in einer anderen Stadt, ist auch immer mit Verlust verbunden. Vielleicht verlieren Sie den Kontakt zu Freunden oder die Verbundenheit zu einem Ort, an dem Sie lange gelebt haben.
- Die Kinder gehen aus dem Haus: Elternschaft ist die einzige Liebesbeziehung, die danach strebt, Unabhängigkeit und das Weggehen zu unterstützen. Wenn Sie Ihre Arbeit gut machen, werden Ihre Kinder Sie verlassen. Sie werden dann nicht nur den Verlust Ihrer Kinder spüren, sondern genauso den Verlust Ihrer Rolle als Vater oder Mutter.
- An einer chronischen Krankheit leiden: Wenn eine chronische Krankheit diagnostiziert wird, steht Ihr Leben auf dem Kopf. Sie verlieren einen großen Teil der Kontrolle über Ihr Leben. Sie verlieren das Gefühl, einfach unbesiegbar zu sein. Außerdem können Ihre Finanzen, Ihre Freiheit und Ihr sozialer Status davon betroffen sein.
- Das Altern: Sie möchten wahrscheinlich lieber alt als tot sein. Doch mit dem Altern kommt zwangsläufig die Gewissheit, irgendwann zu sterben. Altern geht einher mit dem Verlust von Funktionen und Fähigkeiten, dem Verlust geliebter Menschen, von Unabhängigkeit, dem äußeren Erscheinungsbild, dem Status und der Gesundheit.
Die COVID-Pandemie hat weiten Teilen der Bevölkerung den Stress bewusst gemacht, der mit Isolation verbunden ist. Weil sie zu Hause bleiben mussten, improvisierten viele Arbeitnehmer eine Art Heimarbeitsplatz. Die soziale Distanzierung, das Tragen von Masken und die Beschränkung von Menschenansammlungen haben bei vielen das Gefühl der Isolation verstärkt. Diese Maßnahmen sollten die Verbreitung des Virus reduzieren. Bei vielen Menschen verstärkten sich Ängste und Depression. Die meisten konnten jedoch damit fertigwerden, dass ihr Alltag komplett auf den Kopf gestellt wurde.
Leider kamen viele ältere Menschen mit der erzwungenen Isolation weniger gut zurecht. Millionen Senioren fehlte der gewohnte zwischenmenschliche Kontakt. Man darf nicht verkennen, dass Einsamkeit für eine bereits isolierte Bevölkerung eine ernstzunehmende zweite Pandemie darstellt. Sie fühlen sich in entlegenen ländlichen Regionen oder Hochhauswohnungen unsichtbar. Einsamkeit bei älteren Mitmenschen sind mit frühzeitigem Tod und Krankheit in Verbindung gebracht worden. Eine Studie deutet darauf hin, dass Isolation für Senioren ein größeres Gesundheitsrisiko ist als Übergewicht, Luftverschmutzung, Rauchen und körperliche Untätigkeit.
Der Verlust eines Menschen durch Trennung oder Scheidung kann Sie in tiefe Trauer stürzen. Leider finden Menschen, denen der Tod einen nahestehenden Menschen geraubt hat, in der Gesellschaft mehr Unterstützung als diejenigen, die jemanden durch das Ende einer Beziehung verloren haben. Typischerweise wird angenommen, dass die Betroffenen ihr Leben schnell wieder ordnen und weiterleben können. Doch viele Menschen werden nach einer Trennung häufig von der Intensität ihres Kummers überrascht. Es überwiegen oft Einsamkeit und Isolation.
Wenn Paare beschließen, sich zu trennen, unterschätzen sie häufig das Ausmaß an Zerrissenheit und Verlust, das eine Trennung mit sich bringt. Deshalb treffen sie manchmal leichtfertig die Entscheidung, auseinanderzugehen. Zorn, Frust und Langeweile erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass eine Beziehung zu Ende geht.
- Die Beziehung: Freundschaft, Zuneigung, gemeinsame Ziele, Unterstützung, Liebe, Sex.
- Zukunftspläne: Die meisten Menschen, die eine ernsthafte Beziehung eingehen, haben bestimmte Erwartungen. Im Fall eines Paares mit Kindern zerplatzt der Traum von einer intakten Familie.
- Familie und Freunde: Die Bindung zur Familie des Partners geht häufig verloren. Gemeinsame Freunde stehen nur noch zu einem der Partner.
- Finanzen: Egal ob das Geld für den Anwalt, den Therapeuten oder für einen zweiten Haushalt ausgegeben werden muss – eine Scheidung kostet viel Geld.
- Status: Manchmal kommen Menschen durch ihren Partner zu Ansehen.
- Das Selbstbewusstsein: Ihr Selbstwertgefühl wird leiden, vor allem, wenn Sie derjenige sind, der verlassen wird. Doch auch derjenige, der sich entschieden hat zu gehen, wird oft von Schuldgefühlen und den anderen Verlusten, die wir aufgelistet haben, überrascht.
Der Verlust eines Menschen, ihrer Rolle oder ihres Selbstbildes bereitet den meisten Menschen Kummer. Dieser Kummer hält manchmal lange an und beginnt, ihr Wohlbefinden für mehr als die üblichen sechs bis zwölf Monate zu beeinträchtigen. Bleibt die Trauer länger, erkennen die Betroffenen häufig nicht mehr den Grund dafür. Wenn Sie also gerade an einer Depression leiden, sollten Sie überlegen, ob Sie in Ihrem Leben jetzt oder in der Vergangenheit einen Verlust erlebt haben, der zu Ihrer Schwermut beigetragen hat. (Lesen Sie in Kapitel 2 mehr zu den Unterschieden zwischen einfacher Traurigkeit und einer Depression.)
Wenn Sie feststellen, dass Kummer ein Teil Ihres Lebens ist, sollten Sie darüber nachdenken, was Sie dagegen tun können. Erklären Sie Ihre Situation Ihrer Familie und Freunden, denen Sie vertrauen. Erklären Sie ihnen, dass Sie im Augenblick besonders viel Rücksicht, Hilfe und Unterstützung benötigen. Sie müssen nicht allen Verpflichtungen nachkommen. Manche können Sie auch an andere delegieren. Auch wenn Sie nicht körperlich krank sind, sollten Sie genauso viel Rücksicht auf sich nehmen, wie Sie es bei anderen tun würden.
Kummer raubt Ihnen Ihre Energie. Es kostet Mühe und Zeit, damit es Ihnen irgendwann wieder besser geht. Sie können diesen Prozess nicht beschleunigen. Vergessen Sie nicht, auch auf Ihren Körper zu achten:
Manchmal sagen Betroffene, dass sie sich schuldig fühlen, wenn sie ihre Trauer überwinden würden. Trauer zu überwinden, heißt jedoch nicht automatisch, alles zu verschmerzen. Sie werden weiterhin den Verlust spüren, doch Sie können sich wieder Neuem zuwenden. Sie haben es verdient, wieder zu lieben und zu lachen.
In den folgenden Abschnitten zeigen wir Ihnen Wege, mit dem Verlust eines geliebten Menschen, von Rollen oder Selbstwahrnehmungen umzugehen. Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit der Situation, wenn Sie durch Trennung, Scheidung oder Tod einen wichtigen Menschen verloren haben.
Wenn die Trauer anhält oder komplexe Probleme mit sich bringt, konzentrieren sich Menschen häufig nur auf die Einzelheiten des Verlustes, den sie erlitten haben. In anderen Fällen achten sie ausschließlich auf spezielle Aspekte ihrer Trauer wie die Leere, die sie empfinden. Dieser enge Blickwinkel ist hinderlich, wenn Sie den Verlust aufarbeiten wollen. Er kann Sie allerdings auch davor bewahren, schwierige Gefühle zuzulassen.
- Wie war mein Leben mit diesem Menschen?
- Welchen Unterschied machte deser Mensch für mein Leben aus?
- Was habe ich an ihm geschätzt, was mochte ich nicht?
- Was habe ich von diesem Menschen gelernt (Gutes wie Schlechtes)?
- Wie hat sich mein Leben verändert, nachdem ich ihn verloren habe?
- Was trage ich ihm noch immer nach?
- Wofür bin ich dieser Beziehung dankbar?
Nehmen Sie sich Zeit, um diese Fragen zu beantworten. Sie sollten sehr genau über alles nachdenken. Diese Fragen können sehr schmerzlich für Sie sein. Nachdem Sie alle Fragen beantwortet haben, könnten Sie vielleicht mit jemandem, dem Sie vertrauen, noch einmal über alles sprechen.
Wenn Sie diesen Teil der Aufgabe erledigt haben, könnten Sie vielleicht einen Brief an die Person, die Sie verloren haben, schreiben. Dieser Brief kann Ihnen dabei helfen, sich über die Bedeutung dieser Beziehung und über den Verlust klar zu werden.
Bernhards Mutter starb, als er noch ein Kind war. Jetzt, viele Jahre später, ist Bernhard selbst Vater geworden. Er bemerkte selbst, dass er immer traurig war. Er ging davon aus, dass er einen ungelösten Kummer mit sich herumtrug. Er antwortete auf die Kummer-Fragen und verarbeitete seinen Kummer, indem er einen Brief an seine verstorbene Mutter schrieb (siehe Abbildung 15.1).
Liebe Mama,
rate mal – meine Frau und ich haben ein Baby bekommen. Es ist ein Mädchen und wir haben sie nach Dir benannt. Ich habe einen guten Job und ein eigenes Haus. Es geht mir sehr gut. Doch nach der Geburt unserer Tochter wurde ich sehr traurig. Ich glaube, es liegt daran, dass ich niemals wirklich über Deinen Tod hinweggekommen bin.
Ich war erst zwölf Jahre alt, als Du mich verlassen hast. Ich habe draußen gespielt, als ein Polizeiauto vor unserem Haus hielt. Ich rannte zur Tür. Dort stand Papa und hat schon geweint. Ich hatte ihn noch niemals vorher weinen gesehen. Mama, nachdem Du gestorben warst, hat sich alles so sehr verändert. Papa ist niemals darüber hinweggekommen. Er war meistens sehr traurig oder betrunken und ich bekam immer größere Schwierigkeiten. Mein Leben war wirklich nicht leicht damals. Ich musste sogar für einige Zeit ins Gefängnis. Ich habe mit niemandem über Dich geredet. Ich wollte nicht einmal an Dich denken, weil es so wehtat.
Mir war klar, dass ich traurig war, doch bis jetzt erkannte ich nicht, dass ich auch sehr wütend bin. Ich bin wütend, weil ich mich daran erinnere, dass Du meistens nur im Bett lagst, wenn Du zu Hause warst. Ich glaubte, es sei meine Schuld, dass Du immer so viel geweint hast. Ich war einsam und hatte Angst. Ich bin wütend, weil Du Depressionen hattest und niemand Dir geholfen hat. Ich bin wütend, weil Papa nicht dafür gesorgt hat, dass Du Hilfe bekamst. Mama, wenn Du Dich um mich gesorgt hättest, dann hättest Du Dir nicht das Leben genommen.
Jetzt habe ich es endlich gesagt. Ich bin wütend. Doch heute weiß ich, dass eine Depression eine Krankheit ist. Vielleicht haben Papa und Du nicht gewusst, dass man Depressionen behandeln kann und es Dir dann wieder besser gegangen wäre. Deshalb vergebe ich Dir, dass Du mich verlassen hast. Und ich verspreche, dass ich mit meiner eigenen Traurigkeit meine kleine Tochter nicht verletzen werde.
In Liebe
Dein Sohn Bernhard
Abbildung 15.1: Bernhards Versuch, seine Trauer zu verarbeiten
Eileen hat sich vor zwei Jahren von ihrem Mann getrennt. Danach fühlte sie sich überraschenderweise traurig, schuldig und zornig. Mit der Hilfe ihres Therapeuten erkannte sie, dass diese Gefühle auf ungelösten Konflikten aus der Zeit ihrer Scheidung beruhten. Zuerst beantwortete sie die Kummer-Fragen, die wir weiter vorn in diesem Abschnitt aufgelistet haben. Danach schrieb sie den Brief, den wir Ihnen in Abbildung 15.2 zeigen möchten.
Nachdem Sie Ihre Beziehung bearbeitet haben, können Sie sich besser dem nächsten Problem zuwenden.
Lieber Olaf,
warum habe ich Dich verlassen? Ich hatte Angst. Dein Jähzorn war meist gut versteckt, doch ich wusste niemals, wann er wieder ausbrechen würde. Olaf, Du hast mich niemals geschlagen, doch Deine Strafe war noch schlimmer, als geschlagen zu werden. Du hast mich mit Deinem Schweigen gequält – einem Schweigen, das ewig zu dauern schien. Schweigen im Urlaub, auf Reisen, an Geburtstagen. Schweigen beim Essen und nachdem wir uns geliebt haben.
Wir haben niemals versucht, daran etwas zu ändern. Du hattest immer recht. Du wusstest immer, was richtig ist. Ich hatte Angst davor, zu sagen, was ich denke oder fühle, denn wenn Du anderer Meinung warst, wurdest Du wütend. Je mehr Du mich kritisiert hast, umso mehr zog ich mich von Dir zurück. Ich habe die Tomaten nicht richtig gepflanzt und die Wäsche nicht richtig gefaltet. Nachdem ich mein Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und meine Selbstbeherrschung verloren hatte, suchte ich mir Hilfe. Dadurch wurde ich unabhängiger und sicherer – ich kam dann allein zurecht und brauchte Dich nicht mehr.
Ich weiß, dass Du als Kind sehr verletzt wurdest. Ich weiß auch, dass meine Empfindlichkeit gegenüber Deiner Kritik auf Problemen aus meiner Kindheit stammt. Jetzt, mit etwas Abstand, kann ich auch unsere guten Zeiten sehen. Du bist ein großartiger und großzügiger Mann. Du kümmerst Dich um andere Menschen. Ich hoffe, Du bist glücklich.
Pass auf Dich auf.
Eileen
Abbildung 15.2: Eileens Brief an ihren Ex-Ehemann
- Verabredungen: Vielleicht fürchten Sie sich davor, doch letztendlich können Sie so wieder lernen, sich zu verlieben.
- Selbsthilfegruppen: Vielleicht tröstet es Sie, an den Verlusterlebnissen anderer Menschen Anteil zu nehmen. Es gibt Trauergruppen und auch Selbsthilfegruppen, in denen Sie sich über den Verlust einer Beziehung austauschen können.
- Freizeit: Menschen, die bekümmert sind, ziehen sich meist von allen Aktivitäten zurück, die ihnen Freude bereiten. Wenn ihr Kummer nachlässt, versäumen sie meist, diese Freizeitbeschäftigungen wieder aufzunehmen. (Lesen Sie in Kapitel 11 mehr dazu, wie Sie die Freude in Ihrem Leben wiederentdecken können.)
- Kirchengemeinde: Hier bekommen Sie Unterstützung, Kontakte und geistlichen Beistand.
- Ehrenamtliche Tätigkeiten: Das kann ein großartiger Weg sein, neue Kontakte zu knüpfen und wieder ein Ziel zu haben.
Wie wir bereits im Abschnitt Veränderungen im Leben weiter vorn in diesem Kapitel beschrieben haben, kann es passieren, dass Sie eine oder gar mehrere Rollen, die Sie in Ihrem Leben innehaben, aufgeben müssen. Das kann Ihre Rolle als Elternteil, Angestellter, Student oder Kind sein. Da diese Rollen einen wesentlichen Teil dazu beitragen, wie Menschen sich selbst definieren, kann ihr Verlust verheerende Auswirkungen haben.
- Was habe ich an meiner alten Rolle gemocht?
- Was hat mir meine alte Rolle erlaubt, zu tun?
- Was mochte ich an meiner alten Rolle nicht?
- Welche Freiheiten und welche Einschränkungen hatte ich in dieser Rolle?
- Welche negativen und welche positiven Gefühle hatte ich, als ich meine alte Rolle aufgab?
- Was ärgerte mich an meiner alten Rolle?
- War ich dankbar für meine alte Rolle?
Durch Ihre Antworten werden Sie die Art Ihres Verlustes besser verstehen können. Wenn Sie dazu neigen, Ihre Position zu beschönigen, werden diese Fragen Ihnen helfen, alles etwas realistischer zu betrachten. Danach können Sie damit beginnen, nach neuen Möglichkeiten zu suchen. Vielleicht finden Sie eine neue Rolle, in der Sie Ihren Bedürfnissen gerecht werden, oder Sie entwickeln neue Interessen und geben Ihrem Leben einen neuen Sinn. In Kapitel 21 finden Sie mehr Informationen dazu, wie Sie diese Dinge mithilfe der Positiven Psychologie herausfinden können.
Martin arbeitete als Deutschlehrer an einem Gymnasium und stand kurz vor seiner Pensionierung. Er zählte die Tage, bis er endlich in den Ruhestand gehen konnte. Dann wollte er reisen, Bücher lesen und angeln gehen. Als er schon vier Monate lang in Pension war, erwachte er jeden Morgen um vier Uhr und konnte nicht wieder einschlafen. Er verschob seine Pläne, zu reisen und zu angeln. Die Bücher, die er unbedingt hatte lesen wollen, blieben im Bücherregal. Martin hat seine veränderte Rolle sehr getroffen. Seine Frau empfahl ihm, die Rollen-Fragen zu beantworten. Martin gab folgende Antworten:
Nachdem Martin alle Fragen beantwortet hatte, erkannte er, wie er einiges von dem, was er verloren hatte, ersetzen konnte. Er wollte ehrenamtlich an einer Bildungseinrichtung Menschen unterrichten, die nicht lesen und schreiben können, dafür aber hoch motiviert sind, es zu erlernen.