Havanna verstehen

Das Antlitz der Stadt

Havanna, die Hauptstadt Cubas, liegt im Westen der Insel. Mit derzeit rund 2,1 Millionen Einwohnern (entspricht etwa 20 Prozent der cubanischen Bevölkerung) und einer Ausdehnung von ca. 725 km² ist sie mit weitem Abstand die größte Stadt der Insel und die drittgrößte der Karibik.

Verwaltungsmäßig ist Havanna in 15 Bezirke (municipios) unterteilt: Habana Vieja, Centro Habana, Plaza de la Revolución (wozu auch der Stadtteil Vedado gehört), Cerro und Diez de Octubre sowie die Außenbezirke La Habana del Este, Guanabacoa, Regla, San Miguel del Padrón, Cotorro, Arroyo Naranjo, Boyeros, Marianao, La Lisa und Playa (einschließlich Miramar).

Havanna ist eine lebendige Metropole mit vielen architektonischen Schmuckstücken aus der Kolonialzeit und den späteren Epochen. Die mit Abstand meisten Sehenswürdigkeiten befinden sich in Habana Vieja (Altstadt), gefolgt von den Stadtteilen Habana Centro und Vedado. Habana Vieja ragt einer Halbinsel ähnlich in das große Hafenbecken (Bahía de La Habana) hinein und geht mit dem Paseo de José Martí (Prado) {19} in den Stadtteil Centro Habana über. Noch weiter westlich liegt Vedado, das verwaltungstechnisch zum municipio Plaza de la Revolución gehört. Mit seinen verhältnismäßig modernen Hochhäusern, den vielen Hotels und der Universität ist Vedado das mondäne Zentrum des neuen Havanna.

Folgt man der legendären Uferpromenade Malecón {25} weiter nach Westen, gelangt man durch einen Tunnel unter dem Río Almendares in den ruhigen Villenvorort Miramar. Westlich schließt sich der mit beeindruckenden herrschaftlichen Häusern ebenso gut bestückte Bezirk Playa mit der Marina Hemingway an.

Die Kernstadtteile Playa, Miramar, Vedado, Centro Habana und Habana Vieja gehen jeweils südlich in von Ausländern kaum besuchte Stadtteile bzw. Vororte über: Von West nach Ost gesehen sind dies La Lisa, Marianao, Boyeros, Arroyo Naranjo und San Francisco de Paula, die von der vielspurigen circunvalación (Ortsumgehung) begrenzt bzw. durchschnitten werden. Noch weiter südlich liegen die Parkanlage Parque Lenin (–>), das Messegelände ExpoCuba, der Botanische Garten Jardín Botánico Nacional {40} und der Aeropuerto Internacional José Martí.

Auf der anderen Seite des Hafenbeckens liegen Casablanca mit seinen zwei mächtigen Festungen {35} und der geruhsame Stadtteil Regla, in dem man sich in Sichtweite der Altstadt in die Provinz versetzt fühlt. Von hier gelangt man über die touristisch wenig ergiebigen Stadtteile San Miguel und Diez de Octubre um das Hafenbecken herum wieder nach Habana Vieja. Wer sich in die entgegengesetzte Richtung wendet, erreicht rasch Guanabacoa und Habana del Este mit den Plattenbau-Trabantenstädten Alamar und Celimar. Das ehemalige Dorf Cojímar zehrt nach wie vor von seinem Ruf als Hemingways Fischfang-Basislager. Die Playas del Este (Oststrände) {42} bilden Havannas Riviera und locken jenseits des Río Bacuranao mit kilometerlangen Sandstränden von Tarará über Boca Ciega und Santa María del Mar bis Guanabo und darüber hinaus. Langjährige Cuba-Reisende erinnern sich an die Entwicklung Guanabos vom verträumten Dorf in den 1980er-Jahren über einen ausgesprochenen Party- und Sündenpfuhl in den 1990er-Jahren bis hin zum stolzen Ort heute, der fast ausschließlich von (immer weniger werdenden) Touristen lebt und in dem gefühlt jedes zweite Gebäude eine herausgeputzte Casa Particular (–>) für Touristen geworden ist.

Kurz und knapp: Stadt der vielen Beinamen

Im Laufe von Havannas wechselvoller Geschichte wurden zahlreiche sprechende Beinamen für die Stadt gefunden. Hier eine Auswahl:

> Stadt der Säulen, Säulenurwald

> Schmutzige/Morbide Schöne

> Königin der Antillen

> Perle der Karibik

> Paris der Tropen

> Alte Dame

> Herrin der Zeit

Havanna architektonisch: Renovierte Weltkulturerbe- Architektur neben verfallenden Wohnblocks

Zentrum eines im frühen Kolonialstil erbauten Herrenhauses ist der „patio“, ein Innenhof mit Säulengängen, der für die Luftzirkulation sorgt und in dessen Mitte sich idealerweise ein Brunnen befindet. Manchmal gibt es einen zusätzlichen kleinen Innenhof, den „traspatio“, in dem Hausarbeiten verrichtet wurden. Zwischen diesen Höfen befand sich der Speisesaal. Frühe Kolonialbauten hatten oft einen kleinen Ausguck („mirador“).

Wer sich Holzdecken leisten konnte, ließ diese gerne mit farbigen geometrischen Mustern („alfarjes“) verzieren. Der Convento de Santa Clara {15} in der Altstadt ist ein besonders schönes Beispiel für diese Mudéjar-Stil genannte Pracht.

Der spanische, mit maurischen Elementen durchsetzte Barock des 18. Jahrhunderts lässt sich besonders schön an der Kathedrale (siehe {5}) und am Palacio de los Capitanes Generales (–>) studieren. Bürgerliche Häuser wurden zu dieser Zeit gerne mit Marmortreppen, Fliesenschmuck und Buntglasfenstern („vitrales“) versehen.

Als „typisch cubanische“ Architektur kann man erst den Klassizismus des 19. Jahrhunderts bezeichnen. Fast 100 Jahre lang wurde kein besseres Haus ohne Säulenvorhof errichtet. Sehr beliebt waren auch schmiedeeiserne Balkon- und Fenstergitter („rejas“) sowie „medio-puntos“ genannte Buntglasbögen. Ab etwa 1900 baute sich die Bourgeoisie prächtige Jugendstilvillen, am liebsten in Havannas noblen Stadtteilen Vedado und Miramar.

Der Historismus des 20. Jahrhunderts lehnte sich wieder mehr an die koloniale Architektur an. Beispiele sind das Capitolio Nacional {20}, die Estación Central (Hauptbahnhof {16}) und das Hotel Sevilla (–>).

Nach der Revolution wurden zahlreiche Paläste und Herrenhäuser in Wohngebäude umfunktioniert. Um möglichst viele Menschen unterzubringen, war und ist es üblich, in hohe Räume Zwischendecken und -wände einzuziehen, sodass aus einem großen Zimmer eine komplette Wohnung wird. Die Habaneros nennen die so entstehenden Halb- und Zwischengeschosskonstruktionen „barbacoas“. Bautechnisch manchmal sehr gewagt, ermöglichen sie es, wesentlich mehr Bewohner in den Gebäuden aufzunehmen, als vom Erbauer einst veranschlagt wurden. Aus demselben Grund sind abenteuerliche An- und Aufbauten weit verbreitet, vor allem in Centro Habana.

Viele historische Gebäude außerhalb des vorbildlich restaurierten „Touristen-Geheges“ von Habana Vieja befinden sich in einem katastrophalen Zustand. Man munkelt, in Havanna stürze seit den 1990er-Jahren jeden Tag mindestens ein Balkon ab. Manchmal erwischt es aber auch gleich das ganze Gebäude.

> Buchtipp: Antonio José Ponte, „Der Ruinenwächter von Havanna“, Antje Kunstmann Verlag 2008. Mit Rückblenden und klugen Betrachtungen zum Cuba der 1990er- und 2000er-Jahre behandelt der Autor den äußeren und inneren Verfall des Landes während dieser Epoche.

Von den Anfängen bis zur Gegenwart

Cubas Geschichte im Überblick

ca. 2000 v. Chr. (nach anderer Ansicht wesentlich früher): erste Besiedlung

27. Oktober 1492: Christoph Kolumbus besetzt Cuba für die spanische Krone.

1512: Der Indianerführer Hatuey wird hingerichtet.

25. Juli 1519: offizielles Gründungsdatum Havannas

1564: Die erste mit Silber und Gold beladene Flotte verlässt La Habana.

1607: Havanna wird Hauptstadt Cubas.

1728: Gründung der Universität von La Habana

1762: Die Engländer erobern La Habana, das sie 1763 im Tausch gegen Florida wieder verlassen.

1865: Ende der Verschleppung von Afrikanern nach Cuba

1868–1878: erfolgloser Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien

1870–1886: Nach dem Ende der Sklaverei kommen asiatische Kontraktarbeiter ins Land.

1895–1898: zweiter, diesmal mit Unterstützung der USA erfolgreicher Unabhängigkeitskrieg

1898–1902: Eine US-Militärregierung kontrolliert Cuba.

1902: Cuba wird Republik und sieht einer jahrzehntelangen politischen und wirtschaftlichen Dominanz der USA entgegen.

1952–1958: Diktatur unter Fulgencio Batista

26. Juli 1953: Gescheiterter Angriff Fidel Castros auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba

2. Dezember 1956: Landung der Rebellen in Ostcuba und Beginn des Guerilla- kampfes

1958: Im Dezember nimmt Che Guevara Santa Clara ein.

1. Januar 1959: Nach Batistas Flucht in die Dominikanische Republik übernimmt Fidel Castro die Macht auf Cuba.

1959: Alphabetisierungs- und Gesundheitskampagnen sowie erste Agrarreform mit zahlreichen Enteignungen

1960: Enteignung von US-Vermögen und Beginn des Konfliktes zwischen Cuba und den USA mit einem partiellen Handelsembargo gegen Cuba

1961: im April gescheiterte Invasion in der Schweinebucht

1962: Zu Beginn des Jahres verhängen die USA ein vollständiges politisches und wirtschaftliches Embargo gegen Cuba.

1962: Im Oktober bringt die Entdeckung der Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Cuba (die sog. Cubakrise) die Welt an den Rand des Dritten Weltkriegs.

1972: Cuba tritt der Sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft COMECON bei.

1977: Einrichtung von Interessenvertretungen der USA in La Habana und Cubas in Washington

1990: Fidel Castro ruft nach dem Zusammenbruch der UdSSR den nationalen Notstand (período especial) aus, der einen 5-Jahres-Sparplan mit Härtefallmaßnahmen vorsieht.

1993: Legalisierung des US-Dollars

1995: Der Tourismus wird zur wichtigsten Devisenquelle.

1996: Verschärftes US-Embargo durch das Helms-Burton-Gesetz

1998: Im September werden in den USA die sog. „Miami Five“ inhaftiert. Fünf regimetreue Cubaner sollen bei exilcubanischen Organisationen in Miami spioniert haben. Einige kommen erst Ende 2014 wieder frei.

seit 2002: Im US-Marinestützpunkt Guantánamo werden mutmaßliche Terroristen und Taliban interniert.

2003: Im März trifft eine Verhaftungswelle rund 80 Oppositionelle („Schwarzer Frühling“). Viele bleiben bis 2011 in Haft.

2008: Raúl Castro übernimmt die politischen Ämter seines Bruders Fidel.

2013: Raúl Castro wird für weitere fünf Jahre bestätigt und setzt seine „Politik der Öffnung“ (z. B. Ausweitung selbständiger Arbeit und Reisefreiheit) fort.

2015: im Sommer Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Cuba und den USA

März 2016: Besuch Barack Obamas mit Familie in Havanna. Nur wenige Tage später spektakuläres Gratis-Konzert der Rolling Stones.

November 2016: Fidel Castro stirbt. Die „Karawane der Freiheit“ überführt seine Asche von Havanna nach Santiago de Cuba.

9. September 2017: Hurrikan Irma bringt vor allem Cubas Nordküste Überschwemmung und Verwüstung.

Januar 2018: Während eines Havanna-Besuchs kritisiert die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini die fortwährende Blockadepolitik der USA.

Frühe Stadtgeschichte

Die erste Besiedlung der Region durch die Spanier fand im Jahre 1514 statt. Die Siedlung Real Ciudad de San Cristóbal de la Habana wurde der Überlieferung zufolge fünf Jahre später, am 25. Juli 1519, mit einer feierlichen Messe unter einem großen Ceiba-Baum gegründet.

Die Ansiedlung, die sich zuerst entlang der Bucht erstreckte, entwickelte sich sehr rasch, da sie zum Ausgangspunkt der spanischen Eroberungszüge nach Mexiko, zur Südküste Nordamerikas sowie nach Honduras und zu den Bahamas wurde. Jahrhundertelang war Havanna das wichtigste Zwischenlager für all die Schätze, die aus den spanischen Kolonien nach Europa verschifft wurden. 1592 verlieh König Philipp II. Havanna das Stadtrecht.

Kolonialzeit

Zwischen 1589 und 1597 entstanden die Festungen Castillo de los Tres Reyes del Morro {36} auf der Felsenküste oberhalb der Hafeneinfahrt und ihr gegenüber La Punta {1}. Durch die britische Eroberung Jamaikas im Jahre 1654 gewarnt, entschied die spanische Krone, ihren bedeutendsten Hafen und seine Bevölkerung zusätzlich durch eine Stadtmauer zu schützen, deren Errichtung sich bis 1767 hinzog. Ihre Reste sind unter anderem in der Nähe des Bahnhofs und vor dem Revolutionsmuseum {2} zu besichtigen.

Anfang des 18. Jahrhunderts war Havanna eine wirtschaftlich prosperierende Stadt und größter Handelsplatz der Neuen Welt. 1723 wurden die ersten Werften eingerichtet. 1728 wurde Havanna Universitätsstadt und 1734 der regelmäßige Postdienst aufgenommen.

Am 6. Juni 1762 griff die britische Flotte Havanna an. Nach zweimonatigem erbitterten Widerstand fiel die Stadt in die Hände der Engländer. Fast ein Jahr blieben Havanna und der Westen Cubas unter ihrer Herrschaft. Mit dem Frieden von Fontainebleau wurde Cuba 1763 gegen Florida eingetauscht und somit wieder Besitz der spanischen Krone.

In der Tradition spanischer Städteplanung entstanden die noch heute zu besichtigenden Highlights barocker Kolonialarchitektur: der Waffenplatz (Plaza de Armas {7}), der Platz der Kathedrale (Plaza de la Catedral {5}), der Gouverneurspalast (Palacio de los Capitanes Generales, –>) sowie der Palacio del Segundo Cabo.

Bleibende architektonische Schöpfungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind jene Straßenzüge, die auch heute noch zu den beeindruckendsten außerhalb Habana Viejas zählen: der Paseo Carlos Tercero (Avenida Salvador Allende), die Calzada de la Reina (Avenida Simón Bolívar), die Belascoain (Padre Varela), die Galiano (Avenida de ltalia), die Infanta (Menocal), der Prado (Paseo de Martí {19}) und die Calzada del Cerro. 1863 schleifte man die Stadtmauer. Paläste, Prachtstraßen, Alleen und Paseos, Theater und Restaurants, Eleganz und Luxus machten Havanna zu einer der prachtvollsten und schönsten Städte der Welt.

Gleichzeitig regten sich auch in Cubas spanientreuer Hauptstadt Kräfte, die den Befreiungskampf gegen die Kolonialmacht unterstützten, so etwa die acht Medizinstudenten, die 1871 nahe dem Cárcel de Tacón füsiliert wurden. Ein Denkmal an dieser Stelle erinnert noch heute an die Exekution. Der Freiheitskämpfer und Dichter José Martí (–>), bis heute berühmtester Sohn der Stadt, lernte bereits im Alter von 17 Jahren die Kerker Havannas kennen.

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Mahnmal für von den Spaniern exekutierte Freiheitshelden (018hv Abb.: js)

American way of life

1895 begann der dritte und letzte Unabhängigkeitskrieg Cubas gegen das spanische Königreich. Als 1898 der US-amerikanische Kreuzer „Maine“ im Hafen von Havanna unter bis heute ungeklärten Umständen explodierte, sahen die USA den Anlass gegeben, in das Kriegsgeschehen zugunsten der cubanischen Befreiungsarmee einzugreifen (Spanisch-Amerikanischer Krieg). Dem Hotel Nacional {26} gegenüber erinnert heute das Monumento al Maine am Malecón an diese Wendung der Geschichte.

Am 20. Mai 1902 wurde Cuba Republik „unter Aufsicht“ der USA. Die Jahre von 1902 bis 1959 waren ganz von der Macht des US-Dollars und vom „American way of life“ gekennzeichnet, der seine Spuren vor allem in der Hauptstadt hinterlassen hat. Die Aufschüttung der Ufermole Malecón, mit der man im Jahre 1901 begonnen hatte, wurde Anfang der 1950er-Jahre abgeschlossen. Er bildet die Brücke zu den Stadtteilen Vedado und Miramar. Miramar gestaltete man als luxuriöses Villenviertel mit einer 5th Avenue (Avenida Quinta = Av. 5ta) nach New Yorker Vorbild. Die „goldenen“ 1920er-Jahre brachten Havanna neue Hotels, elegante Klubs, Spielcasinos, Tanzbars und diese sorgten für eben jenes Flair, für das Havanna bis 1959 berühmt war. Die „Schmutzige Schöne“ wurde Zentrum von Prostitution, Glücksspiel, Schmuggel und wichtiger Stützpunkt der Mafia.

Von der cubanischen Revolution bis zur Gegenwart

Als in den ersten Januartagen des Jahres 1959 die hauptstädtischen Bastionen des Diktators Batista von den Revolutionären angegriffen wurden, blieb die Unterstützung durch die Bevölkerung Havannas nicht aus. Am 8. Januar zog Fidel Castro unter dem Jubel der Habaneros in die Hauptstadt ein. Die Revolution hatte gesiegt.

Heute sind die Bordelle verschwunden, nicht aber die Bars und Nachtclubs. Das Leben pulsiert wie eh und je. lm Nobelstadtteil Miramar finden sich grandios renovierte Villen, oft belegt von Botschaften und Handelsvertretungen. Elendsviertel à la Mumbai oder Lagos, die sich früher wie ein Gürtel um die Hauptstadt legten, sind verschwunden.

Die in den 1990er-Jahren einsetzenden Bemühungen bei der Restaurierung Habana Viejas zeigen architektonisches Können und Liebe zum Detail. Und trotzdem: Wer etwas abseits der üblichen Touristenpfade durch die Stadt schlendert, ist schockiert von den verrottenden Bauten, den abenteuerlichen elektrischen Installationen und anderen Anzeichen der Verwahrlosung. Man spürt die drückende Enge der Wohnungen, stößt auf verfallende Palacios und barocke Innenhöfe, die mit behelfsmäßigen Umbauten, Anbauten und Verschlägen aller Art versehen sind. Morsche Dächer und Wände vermitteln den Eindruck staubiger bzw. modriger Abrissgebiete. Unmittelbar daneben plötzlich eine kleine Galerie, ein Café oder eine schicke neue Bar.

Seit Raúl Castro seinen Bruder abgelöst hat, begegnet die Regierung der wachsenden Armut und der anhaltenden Versorgungskrise mit der noch nachdrücklicheren Ausweitung der Erlaubnis privatwirtschaftlicher Aktivitäten. Kritiker meinen, dass damit bisher „schwarz“ betriebene Dienstleistungen lediglich formal legalisiert – und damit steuerpflichtig wurden. Aktuelle Entwicklungen sind die liberalere Handhabung von Auslandsreisen und innercubanischen Immobiliengeschäften sowie der Ausbau internationaler Joint Ventures und des Zugangs der Bevölkerung zu moderner Kommunikation.

Leben in der Stadt

„Cuba ist weder das Paradies noch die Hölle. Es ist ein wunderbar irdisches Abenteuer.“ (Eduardo Galeano, 1940–2015, Schriftsteller aus Uruguay)

Cubanische Mentalität

Ganz grundsätzlich wird man sagen dürfen, dass Cubaner den schönen Dingen des Lebens sehr positiv gegenüberstehen. Die meisten Cubaner sind aufgeschlossen, direkt, diskutieren gerne, sind außerordentlich gesellig und kontaktfreudig und insgesamt eher extrovertiert. Sie sind auch und gerade Fremden gegenüber sehr offen und wenig voreingenommen, man kommt leicht mit ihnen ins Gespräch und wird erstaunt sein, wie gut sie über internationale Themen informiert sind. Cubaner sind hilfsbereit und grundsätzlich großzügig. Gerade dieser Charakterzug wird den materiell meist viel besser gestellten ausländischen Besucher verblüffen. Die Herzlichkeit, mit der das Beste geboten wird, das man im Hause hat, das Bemühen, dem Fremden zu helfen und Sprachbarrieren zu überwinden, ist ein Erlebnis, das den oft eher misstrauischen Mitteleuropäer beschämen kann.

Cubaner lieben Kinder abgöttisch, und nicht nur die eigenen. Der Nachwuchs genießt viele Privilegien. Cubaner legen außerdem großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Mit oft bescheidenen Mitteln versucht man, sich elegant und modisch einzukleiden. Für den Gammel-Look mancher Strand- und Rucksacktouristen haben viele Cubaner wenig Verständnis und machen hinter vorgehaltener Hand entsprechende Witze. Ungewöhnlich ist der Umgangston der Cubaner untereinander. Die übliche Anrede ist compañero (Genosse) bzw. compañera (Genossin) oder gar hermano (Bruder) bzw. hermana (Schwester). Diese auch gegenüber Wildfremden gebrauchte Art der Anrede ist nicht ironisch gemeint. Zwar gibt es nach wie vor krude Vorurteile und Standesdünkel zwischen den Ethnien und Geschlechtern, im Alltag kommen sie aber nicht sichtbar zum Tragen.

Die Einwohner Havannas („Habaneros“) stehen auf ganz Cuba in dem Ruf, ein wenig arrogant zu sein. Und in der Tat gehen die Uhren in der Hauptstadt anders. Habaneros sind geschäftstüchtiger, agiler und „hektischer“ als ihre Landsleute. Die Habaneros selbst haben von den Bewohnern der Ostprovinzen (palestinos) und insbesondere ihren Mitbürgern aus Santiago de Cuba (santiagueros) eine denkbar schlechte und von Ressentiments geprägte Meinung.

Cubanischer Alltag

Auch während der großen Wirtschaftskrise in den 1990er-Jahren und der kleineren zwischen etwa 2008 und 2011 bedeuteten den meisten Cubanern die Errungenschaften ihrer Revolution viel: Geringe Kindersterblichkeit, hohe Lebenserwartung, eine überdurchschnittlich gebildete Bevölkerung und sehr positive Gesundheitsstatistiken (trotz großer Versorgungsprobleme in den Krankenhäusern und Apotheken). Die Rassentrennung wurde von den Revolutionären aufgehoben und die Gleichberechtigung von Frauen garantiert. Setzt man die Bevölkerungszahl in Relation zu den bei internationalen Sportwettkämpfen erzielten Erfolgen, ist Cuba außerdem eine der sportlich erfolgreichsten Nationen der Welt.

Dennoch zeigte die Insel seit dem Wegfall der wirtschaftlichen Unterstützung durch die ehemalige Sowjetunion ein deutlich anderes Gesicht: Ohne Erdöl, Ersatzteile und Lebensmittellieferungen brachen die industrielle und landwirtschaftliche Produktion, der Export und die Versorgung der Bevölkerung zusammen. Seit Beginn der 1990er-Jahre hat sich eine Schatten-Infrastruktur gebildet. Man schlägt sich durch, erfindet neue Jobs und Dienstleistungen und schröpft unermüdlich Staat und Touristen. Halb Cuba hängt am finanziellen Tropf der Miami-Cubaner: Viele Familien könnten ohne die regelmäßigen Geldüberweisungen ihrer Verwandten aus den USA nicht überleben. Wer in den cubanischen Alltag eintaucht, lernt erstaunlich fantasievolle Methoden kennen, mit denen die Cubaner den täglichen Kampf meistern. Die historische Wiederannäherung zwischen Cuba und den USA (s. S. 84) hatte für die meisten Cubaner keine unmittelbar spürbaren Auswirkungen. Seit dem Amtsantritt Donald Trumps 2017 ist das Verhältnis wieder abgekühlt.

Cubanische Widersprüche

Der cubanische Liedermacher Pedro Luis Ferrer (geboren 1952) hat absolut recht, wenn er in einem berühmt gewordenen Bonmot feststellt: Cuba ist kein kommunistisches, sondern ein kompliziertes Land!

Kapitalismus vs. Sozialismus

Bescheidener Lifestyle ist lediglich Cubanern ohne Zugang zu Devisen zugedacht. Ausländische Touristen dürfen und sollen dem Konsum möglichst intensiv frönen. Der Staat braucht schließlich Devisen!

Mit der zögerlichen Ausdehnung der Erlaubnis privatwirtschaftlicher Betriebe verschieben sich derzeit manche Trennlinien der seit Jahrzehnten unübersehbaren ökonomischen Apartheid. Sozialismus-Puristen alten Schlags beklagen lautstark den wirtschaftlichen Aufstieg der sogenannten nuevos ricos (neureiche Selbstständige).

Überleben a lo cubano

Vielen stellt sich die Frage, wie Cubaner nicht verhungern in einem Wirtschaftssystem, in dem für den durchschnittlichen offiziellen Monatslohn nicht mal drei Pfund Kaffee zu bekommen sind. Daher hier ein kurzer Blick auf die wichtigsten Überlebensstrategien im Tropensozialismus unserer Tage: Das Bezugsscheinheft libreta soll mit einem aus den Grundnahrungsmitteln bestehenden Lebensmittelkorb von Reis über Zucker bis Bohnen zu stark subventionierten Preisen die Basisversorgung der Bevölkerung sichern. Leider ist die praktische Umsetzung dieser Idee gerade in Havanna mit viel Frust (Schlangestehen, leere Regale) für den Endverbraucher verbunden und selbst ohne Lieferengpässe reichen die Libreta-Artikel nicht einmal für zehn Tage.

Also müssen Devisen her: Glücklich, wer spendable Verwandte oder Gönner im Ausland hat! Nicht minder privilegiert sind die Entscheidungsträger an den Schaltstellen der cubanischen Wirtschaft. Eine dritte Gruppe verkauft irgendetwas: Vom selbst gebrühten Kaffee über gefangene Fische und Langusten, lebende Hühner und Schweine, Milch, Eier, Zigarren, Seife, Klopapier etc. – bis hin zu Dienstleistungen aller Art wird alles Mögliche und Unmögliche angeboten.

Für die restliche Bevölkerung bleiben Genügsamkeit, Kontakte zu Touristen und das Dickicht der alltäglichen Schattenwirtschaft. So manipulieren Verkäufer die staatlich festgesetzten Preise zu ihren Gunsten oder zwacken Benzin und sonstige irgendwie handelbaren Güter an ihrem Arbeitsplatz ab. Das allgemeine Manipulieren und Unterschlagen wird nicht als Diebstahl, sondern eher als legitimer „zweiter Arbeitslohn“ aufgefasst und von den meisten Vorgesetzten toleriert – schließlich machen sie es nicht anders bzw. erwarten eine Beteiligung an der Beute.

Lebensfreude und Lethargie

Auf den ersten Blick erscheint es vielleicht seltsam, dass sich die cubanische Vitalität häufig mit einer gewissen Lethargie abwechselt. Diese ist zum einen wohl eine Folge des Tropenklimas, zum anderen aber auch Ausdruck des Verdrusses, den die in wirtschaftlicher Hinsicht oft bedrückenden Lebensbedingungen bereiten. Cubaner haben gelernt, die von exaltierten Exzessen unterbrochene Tristesse auszuhalten. Gegenüber der Wiederannäherung Cuba/USA (s. S. 84) sind die meisten Cubaner tendenziell positiv und erwartungsvoll eingestellt.

Wer sich näher für Mentalität und Alltag der Cubaner interessiert, besorgt sich den im Reise Know-How Verlag erschienenen, 300 Seiten starken Band KulturSchock Cuba“.

Cuba – Landeskunde im Schnelldurchgang

> Lage und Größe: Cuba liegt an den Randtropen, unmittelbar südlich des nördlichen Wendekreises (Havanna: 23° N, 82° W). Die größte der Antilleninseln umfasst ein Territorium von knapp 111.000 km², ist 1250 km lang, an der schmalsten Stelle nur 31 km breit, an der breitesten 193 km.

> Klima: Die Jahres-Durchschnittstemperatur liegt je nach Region bei 25 °C bzw. 30 °C. Das Meer hat das ganze Jahr über Badewannentemperatur. Die Hurrikansaison dauert von Juni bis Ende November (mit Schwerpunkt im Herbst). Dort, wo Hurrikane auf Land treffen, richten sie in der Regel schwere Schäden an.

> Bevölkerung: Die Einwohnerzahl Cubas beträgt mittlerweile über 11 Millionen. Davon leben etwa 20 % in Havanna (2,1 Millionen Einwohner). Die Bevölkerung wächst derzeit noch leicht und die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 79 Jahren. Bei einer jüngeren Volkszählung konnten die Cubaner selbst ihre Hautfarbe einschätzen: 9 % der Bevölkerung bezeichneten sich als Schwarze, 26 % als Mulatten und 64 % als Weiße.

> Soziale Daten: Nach der Revolution von 1959 hat sich die soziale Lage der Bevölkerung insgesamt deutlich verbessert und ist in einigen Bereichen mit dem Standard von Industrienationen vergleichbar. Die Säuglingssterblichkeit liegt bei 5 pro 1000 Geburten. Die Analphabetenquote ist mit 3 % (nach noch optimistischeren Angaben weit unter 1 %) niedriger als etwa in den USA.

> Wirtschaft: Die wichtigsten Exportprodukte sind Zucker, Tabak, Zitrusfrüchte, Kaffee, Langusten und Nickel. Gleich nach den Geldtransfers von Verwandten und Freunden im Ausland folgt der internationale Tourismus als zweitwichtigste Devisenquelle. Derzeit begrüßt man jährlich knapp 5 Mio. Auslandsgäste, wobei die Kanadier die Statistik mit Abstand anführen.

> Staatsform: Cuba ist seit 1959 eine Sozialistische Republik. Mit Ausnahme der Kommunistischen Partei Cubas (PCC) sind politische Parteien nicht erlaubt.

> Religion: Über die Religionszugehörigkeit der Cubaner gibt es keine aktuellen Daten. Laut katholischer Kirche sind gut 5 % der Bevölkerung praktizierende Katholiken. Mindestens weitere 5 % (Tendenz steigend) der Cubaner sollen Protestanten sein. Wesentlich verbreiteter sind afrocubanische Religionen wie Santería und Palo Monte. Ihre Anhängerschaft hat in den wirtschaftlich schwierigen Jahren seit 1990 erheblich zugenommen. Wichtige Zentren der afrocubanischen Religionen sind Havanna, Matanzas und die Ostprovinzen.

> Bildung: Seit der Alphabetisierungskampagne 1961 kann fast jeder Cubaner lesen und schreiben. Heute werden an den Schulen auch Fremdsprachen unterrichtet, vorzugsweise Englisch. Alle Kinder haben Anspruch auf einen Kindergartenplatz. Ganztagsschulen garantieren die Betreuung bis zum Nachmittag. Bildung und Ausbildung sind bis zum Uni-Abschluss und darüber hinaus kostenfrei.