Vor rund 700000 Jahren dauerten die Kaltzeiten sehr viel länger als die dazwischenliegenden Warmzeiten, die man auch Interglaziale nennt. Die Erde befand sich nun nahezu dauerhaft in einem Zustand der Vergletscherung. Die Interglaziale waren drastisch, heiß und kurz.
Doch das Leben behauptete sich nicht nur – es gedieh sogar. Die Teile Eurasiens, die nicht unter der Eisschicht lagen, waren von grüner Steppe überzogen, die einen schier unermesslichen Wildbestand ernährte. In Frühjahr und Sommer zogen Bisonherden über das Land, so gewaltig, dass es Tage gedauert hätte, die Millionen von Tieren vorbeiziehen zu sehen. Zu diesen Herden gesellten sich Pferde und riesige Hirsche mit meterbreiten Geweihen, dazwischen stampften Elefantenarten wie Mammuts und Mastodons, begleitet von schnaubenden Wollnashörnern. Auch im Winter war für reichlich Wild gesorgt: Obwohl viele der Tiere Richtung Süden abwanderten, kamen mit den Schneefällen die Rentiere. All diese vorüberziehende Beute zog Fleischfresser an wie ein Magnet, Löwen, Bären, Säbelzahnkatzen, Hyänen, Wölfe – und auch die zähen, abgehärteten Nachfahren von Homo erectus.
Die Hominini reagierten auf die sich verschärfende Eiszeit mit größeren Gehirnen und mehr Fettreserven.
Das allein ist bemerkenswert. Wie wir bereits gesehen haben, verbraucht die Versorgung eines Gehirns sehr viel Energie. Die Ökonomie der Natur gibt in der Regel vor, dass ein kluges Tier nur minimale Fettreserven anlegt, denn wenn die Nahrung knapp werden sollte, wird es schlau genug sein, mehr davon zu finden, bevor es verhungert. Nur die weniger hellen Leuchten unter den Säugern müssen sich Fettpolster anfressen. Der Mensch allerdings bildet eine Ausnahme.[313] Selbst die dürrsten Menschen speichern viel mehr Fett als die molligsten Menschenaffen. Pfiffige Tiere, die über eine gute Isolierschicht verfügen, haben alles, was sie brauchen, um mit der ewigen Kälte der Eiszeit fertigzuwerden.
Das Fett aber hatte noch einen anderen Zweck: Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist größtenteils eine Frage der Fettablagerung. Der Körper eines erwachsenen Mannes enthält im Verhältnis zu seiner Körpermasse durchschnittlich rund 16 Prozent Fett – bei einer Frau sind es 23 Prozent. Dieser Unterschied ist signifikant. Ein solcher Energievorrat ist eine wesentliche Voraussetzung für Fruchtbarkeit und Schwangerschaft, besonders in Zeiten des Mangels. Dementsprechend begünstigen die Mechanismen der natürlichen Auslese auch mollige Frauen mit üppigen Kurven, da diese die besten Aussichten auf Fortpflanzung boten.[314]
Große Gehirne können aber auch große Probleme mit sich bringen. Denn sie bedeuten große Köpfe. Die Geburt menschlicher Säuglinge mit ihren großen Schädeln ist ein gefährliches Unterfangen. Babys kommen nur zur Welt, weil sie auf dem Weg durch das Becken ihrer Mutter eine 90-Grad-Drehung vollführen, bevor sie durch die Vagina hinausgelangen. Bis vor kurzem ging dies auf Kosten der Mutter, die ein enormes Risiko hatte, dabei zu sterben. Menschliche Säuglinge sind bei der Geburt ziemlich hilflos. Doch würden sie im Körper der Mutter warten, bis sie weiterentwickelt und vielleicht besser in der Lage sind, sich in der Welt zu behaupten, wären sie womöglich zu groß, um den Geburtskanal zu durchqueren, und kämen gar nicht erst zur Welt. Die neun Monate der Schwangerschaft sind ein heikler Mittelweg zwischen den Bedürfnissen des Babys, das imstande sein muss, so rasch wie möglich selbstständig zu werden, und denen der Mutter, die, würde sie noch länger warten, ein Vabanquespiel mit dem Tod einginge.
Dieser Kompromiss behagt niemandem. Eine Spezies, bei der werdende Mütter sich in Lebensgefahr begeben, um hilflose Junge zur Welt zu bringen, die – selbst wenn sie gesund geboren werden – lange Jahre steter Fürsorge benötigen, muss mit großer Wahrscheinlichkeit früher oder später aussterben. Die Lösung lag in einer drastischen Veränderung im Bereich der Fortpflanzung – allerdings am anderen Ende des Lebens. Diese Veränderung war die Menopause.
Die Menopause ist eine weitere evolutionäre Innovation, die nur dem Menschen eigen ist. Im übrigen Tierreich muss jedes Lebewesen, das zu alt ist, um sich fortzupflanzen – ob Säugetier oder nicht –, schnell vergreisen und sterben. Beim Menschen jedoch können Frauen, die in den mittleren Jahren ihre Fortpflanzungsfähigkeit einbüßen, noch viele Jahrzehnte gesund weiterleben – und letztlich mehr Kinder aufziehen.
Die Vergrößerung des Gehirns und die daraus resultierende Hilflosigkeit Neugeborener ging mit dem Aufkommen von Großmüttern einher[315] – Frauen nach den Wechseljahren, die ihre Töchter beim Großziehen der Enkelkinder unterstützten. Die Logik der natürlichen Auslese gibt nicht vor, wer die Kinder eigentlich bis zum Erwachsenenalter aufziehen soll – Hauptsache, irgendjemand tut es. So kommt es, dass eine Frau, die sich selbst nicht mehr fortpflanzt, damit sie bei der Erziehung der Enkel helfen kann, durchschnittlich mehr Nachkommen aufzieht, als wenn sie selbst fruchtbar geblieben wäre und mit ihren Töchtern um knappe Ressourcen konkurriert hätte. Im Laufe der Zeit zogen Gruppen, die sich bei der Kindererziehung auf solche postmenopausalen Frauen verlassen konnten, insgesamt mehr Nachkommen bis zur Geschlechtsreife heran als andere. Andere, die nicht imstande waren, diese wertvolle Ressource anzuzapfen, starben aus. Der unbehagliche Kompromiss bei der Geburt wurde durch menschliche Zusammenarbeit mehr als wettgemacht.
Fortpflanzung ist ungemein kraftraubend. Für gewöhnlich muss sich ein Organismus zwischen Reproduktion oder Langlebigkeit entscheiden. Indem sie die Fortpflanzung im mittleren Alter einstellten, steigerten Menschenfrauen ihre Reproduktionsleistung sogar – und sie lebten länger. Die Vergrößerung des Gehirns führte zu einer erhöhten Lebenserwartung, von Mitte 20 bei Homo erectus bis Mitte 40 bei Neandertalern und modernen Menschen.
Obwohl die Evolution an Männer und Frauen unterschiedliche Anforderungen stellte, teilten sie doch dieselben Gene, was im Endeffekt eine Art Geschlechterkampf zur Folge hatte, da der Selektionsdruck bei ihnen in entgegengesetzte Richtungen wirkte – ein Genom sollte nun zwei Herren dienen. Das Ergebnis bestand in einer Reihe weiterer Kompromisse: Da Frauen dicker werden mussten, um Kinder zu gebären, wurden auch die Männer dicker – wenn auch etwas weniger. Da Frauen nun die Menopause hatten und somit länger lebten, lebten auch die Männer länger – wenn auch nicht ganz so lang.[316] Das führte bei den Hominini zur Entstehung einer neuen gesellschaftlichen Schicht – den Alten. Vor der Erfindung der Schriftsprache wurden die Alten zu den geschätzten Hüterinnen und Hütern von Wissen, Weisheit, Geschichte und Geschichten.
Erstmals in der Evolutionsgeschichte gab es eine Spezies, bei der Wissen direkt über mehr als eine Generation weitergegeben werden konnte. Gewiss, viele Arten sind imstande, Dinge zu erlernen. Wale lernen ihre Gesänge von anderen Walen, Vögel ihre von anderen Vögeln, Welpen die Regeln ihrer Spiele von anderen Welpen und Menschenbabys das Sprechen durch das unbewusste Nachahmen der Menschen um sie herum. Der Mensch aber ist, soweit bekannt, das einzige Tier, das nicht nur lernt, sondern auch lehrt.[317] Die Alten machten dies möglich. Während die jüngeren Stammesmitglieder ihre Säuglinge stillten oder auf der Jagd waren, gaben die nicht unmittelbar produktiven Stammesältesten ihr Wissen an die jüngsten Generationen weiter – an Kinder, die wegen ihrer langen Kindheit (eine Folge ihrer relativen Unreife bei der Geburt) viel Zeit dafür hatten, dieses Wissen aufzunehmen. Theoretisches Wissen wurde so zu einem Überlebensfaktor, der ebenso wichtig war wie Kalorien. Die Auswirkungen waren gewaltig. Und all dies begann mitten in der Eiszeit, als es für Primaten zum ersten Mal von Vorteil war, sowohl Fett speichern zu können als auch ein größeres Gehirn zu haben.
Während es in Eurasien immer kälter wurde, wurde es in Afrika immer trockener. Die karge Savanne wich lebensfeindlichen Wüsten, nur hin und wieder von gelegentlichen Wasserlöchern unterbrochen, die so flüchtig waren wie Fata Morganas. Das Überleben war ein ständiger Kampf. Zusätzliche Fettspeicher stellten auch hier einen Vorteil dar, so wie in den kälteren Regionen. Die Menschen passten sich an, indem sie einen Stoffwechsel entwickelten, der auf dem Vorratsprinzip basierte. Sie konnten viele Tage ohne Nahrung auskommen, doch wenn sie Beute machten, stopften sie sich bis an die Schmerzgrenze voll, so lange, bis sie sich nicht mehr rühren konnten – was ihnen zusätzlich half, die nötigen Nährstoffe aufzunehmen, um bis zur nächsten Mahlzeit, wann auch immer das sein würde, zu überleben. Die Menschen schlugen sich die Bäuche voll, als wäre jede Mahlzeit ihre letzte.[318]
Trotz – oder gerade wegen – der ständigen Angst vor dem Verhungern brachten die Nachfahren von Homo erectus in Afrika und andernorts eine Fülle verschiedener Arten hervor.[319] Dann, vor etwas über 300000 Jahren – als die ersten Neandertaler sich gerade dem eisigen Klima in Europa anpassten –, trat in Afrika eine neue Art von Hominini ins Rampenlicht. Sie waren selten, vielfältig und lebten weit verstreut, durchstreiften jedoch bereits den ganzen Kontinent.[320] Wenn wir ihnen begegnet wären, hätten wir unser Spiegelbild vor Augen gehabt. Sie waren die ersten Vertreter unserer eigenen Spezies Homo sapiens.
Doch trotz der uns vertrauten Züge waren diese neuartigen Geschöpfe längst noch nicht so menschlich, wie sie schienen. Anfangs war Homo sapiens kaum mehr als ein Rohstoff. Der moderne Mensch wurde gehärtet und geformt durch mehr als eine Viertelmillion Jahre des Scheiterns. In den ersten 98 Prozent seiner Existenz auf Erden glich die Geschichte des Homo sapiens einer herzzerreißenden Tragödie, die wenige der Mitwirkenden überlebten. Denn fast alle waren dabei umgekommen, und unsere Spezies wäre um ein Haar ausgestorben.
Auf seinen Wanderungen reicherte sich ihr Genpool mit so mancher Prise anderer Hominini-DNA an, sowohl in Afrika als auch außerhalb des Kontinents. Als Spezies ist Homo sapiens ein Kind vieler Eltern, und alle haben ihre ganz eigene Note zu der Mischung beigesteuert, die schließlich – allen Widerständen zum Trotz – so überaus erfolgreich werden sollte.
Schon bald nach seinem ersten Auftreten durchstreifte Homo sapiens Gebiete jenseits seiner Heimat Afrika, unternahm vor rund 200000 Jahren Vorstöße nach Südeuropa und in der Zeit vor 180000 bis 100000 Jahren bis in die Levante.[321] Doch diese Ausflüge blieben so folgenlos wie Wassertropfen auf dem heißen Wüstensand. Homo sapiens war noch immer eine tropische Spezies, ein Schönwettertourist. Waren die Lebensumstände in Afrika schon hart, so waren sie in Europa noch viel härter. Und selbst wenn Homo sapiens weiter vordrang, so blieb ihm der Weg nach Norden doch versperrt – und zwar von den Neandertalern, die zu ihrer Blütezeit erheblich kultivierter waren und, gewöhnt an die ausgedehnten Winter in Europa, gewiss den längeren Atem besessen hätten. Wenn überhaupt, so haben sie die modernen Menschen wohl nur als gelegentliche Besucher zu Gesicht bekommen, die so rasch wieder verschwunden waren wie der leichte Frost am Morgen eines Sommertags.
In ihrer Heimat Afrika erging es der neuen Spezies nicht viel besser. Mit den fortschreitenden Eiszeiten verschlechterten sich auch hier die Lebensbedingungen. Die Gruppen von Homo sapiens, ohnehin nie sehr zahlreich, wurden immer spärlicher. Entweder sie starben aus, oder sie kreuzten sich mit anderen Hominini-Arten, bevor auch diese Hybridwesen verschwanden. Irgendwann war Homo sapiens nördlich des Sambesi so gut wie ausgelöscht. Schließlich schrumpfte der Lebensraum des Homo sapiens zu einer kleinen Oase am Nordwestrand der heutigen Kalahari-Wüste, östlich des Okavango-Deltas.
Zu Beginn der Eiszeit war die Region noch grün und üppig gewesen. Wasser erhielt das Gebiet vom Makgadikgadi-See, der bei seiner größten Ausdehnung so groß war wie die Schweiz. Mit zunehmender Trockenheit zerfiel der See in eine weitläufige Landschaft kleinerer Seen, Wasserläufe, Feuchtgebiete und Wälder, in denen Giraffen und Zebras umherzogen.
Vor rund 200000 Jahren fanden die zerlumpten Überreste von Homo sapiens Zuflucht in den Tümpeln und Röhrichten des Makgadikgadi-Feuchtgebiets, wo sie ausharrten wie Tausende von Jahren später König Alfred in den Sümpfen von Athelney, wo er sich neu sortierte, Trost suchte, ein paar Kuchen anbrennen ließ und wieder hervorkam, um die Dänen zu besiegen und sein Königreich Wessex zurückzuholen. Wenn es heißt, England sei in Athelney geboren worden, könnte man auch sagen, die Wurzeln der Menschheit selbst lägen im Feuchtgebiet von Makgadikgadi. Sollte es jemals einen Garten Eden gegeben haben, dann dort.[322]
Wie ein hässliches Entlein verbarg sich Homo sapiens 70000 Jahre in den Makgadikgadi-Sümpfen. Aber als er wieder hervorkam, hatte er sich in einen Schwan verwandelt.
Zehntausende von Jahren war das Makgadikgadi-Feuchtgebiet eine Oase in einer zunehmend lebensfeindlichen Umgebung aus verdorrter Wüste und Salzpfannen. Sobald Homo sapiens heimisch geworden war, hatte er wenig Grund, dort wieder wegzugehen. Dann, vor rund 130000 Jahren, schien die Sonne allmählich wieder heller auf die Erde, als sie es lange Zeit getan hatte. Das Zusammenspiel aus Exzentrizität, Achsneigung und Präzession hatte eine Phase mit etwas wärmerem Klima hervorgebracht – wärmer, als es der Planet seit vielen Jahrtausenden erlebt hatte.
In Europa machten die großen Gletscher, wenn auch nur kurz, einer nahezu tropischen Landschaft Platz. Es war die Epoche, in der Löwen auf dem Londoner Trafalgar Square herumtollten, in Cambridge Elefanten grasten und sich dort, wo heute die Stadt Sunderland liegt, Flusspferde suhlten. Nicht nur in Großbritannien, auch in Afrika wurde das Klima milder. Und die jüngste Generation des Homo sapiens fand heraus, dass sich die Wüste jenseits des Makgadikgadi in ein Meer aus Gras verwandelt hatte.
Also folgten sie dem Wild und zogen hinaus, gerade noch rechtzeitig, denn bald schon trocknete der Makgadikgadi-See vollständig aus. Heute ist er eine Salzwüste, in der sich kein höheres Leben regt als Krusten von Cyanobakterien – ein herber Rückfall in die Frühzeit des Lebens auf der Erde.
Die Gruppen von Homo sapiens folgten ihren Beutetieren Richtung Süden, bis zur Südspitze Afrikas. Dort angekommen, nahmen sie eine völlig neue Lebensweise an, beruhend auf der reichen eiweißhaltigen Nahrung, die das Meer zu bieten hatte. Für ein Volk, das es gewohnt war, sich mit einer Kost aus zähen Wurzeln, schwer einzuschätzenden Früchten und scheuem, mühsam zu erlegendem Wild irgendwie durchzuschlagen, war das Meer ein Festmahl sondergleichen: Muscheln, randvoll mit Proteinen und lebenswichtigen Nährstoffen, die nicht in der Lage sind davonzulaufen. Schmackhafter, salziger Seetang und Fische, die viel leichter zu erlegen waren als Impalas oder Gazellen.
Als hätten sie nach all den Jahren der Entbehrung einen kollektiven Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, wurden diese Strandbewohner nun immer sesshafter und fingen an, Dinge zu tun, die Hominini noch nie zuvor getan hatten. Bei Festen schmückten sie einander mit Ketten aus Muschelperlen. Sie bemalten sich mit Holzkohle und rotem Ocker.[323] Sie ritzten ihre Zeichen als schraffierte Muster in die Schalen von Straußeneiern und malten sie mit Ockerfarben auf Steine.[324] Gewiss, auch Neandertaler und sogar Homo erectus bearbeiteten hin und wieder Muscheln und ritzten Muster hinein, doch diese Spezies tat es in einem nie da gewesenen Ausmaß und mit völlig neuer Hingabe.
Anfangs, so schien es, waren diese neuen Techniken noch aufgeflammt wie Irrlichter und rasch wieder erloschen, als hätten die Menschen ihre Fertigkeiten wieder eingebüßt oder schlicht die Lust daran verloren. Dann aber verfeinerten sich diese Techniken und wurden zur Gewohnheit, und als die Bevölkerung langsam anwuchs, festigten sich auch ihre Traditionen. Diese Strandbewohner begannen auch, Stein auf neue Weise zu verwenden. Anstatt Steine zu zerschlagen, um faustgroße Artefakte herzustellen, schufen sie viel kleinere, sorgfältig gearbeitete und im Feuer gehärtete Stücke, die etwa auf Pfeile gesteckt werden konnten. Sie erfanden Fernwaffen: Waffen, mit denen man Wild auf Distanz erlegen konnte, sodass sich das Risiko für den Jäger nun erheblich verringerte.[325]
Andere Exilanten aus dem Garten Eden brachen in die entgegengesetzte Richtung auf, gen Norden. Der Sambesi war ihr Rubikon. Als sie Ostafrika erreichten, schlossen sich ihnen Auswanderer aus dem tiefsten Süden an, die ihre höher entwickelten Technologien mitbrachten – ihre Bemalung, ihre Muschelketten und, vor allem, ihre Pfeile und Bögen. Die Folgen waren immens: Die Anzahl von Homo sapiens in Ostafrika wuchs von einigen versprengten Gruppen zu einer echten Population an, sodass die Spezies nun eine wirkliche Chance hatte, mehr als nur eine evolutionäre Eintagsfliege zu sein.[326] Vor etwa 110000 Jahren hatten sie sich abermals über ganz Afrika ausgebreitet und unternahmen wieder erste Schritte jenseits ihrer Heimat.
Diesmal waren sie gekommen, um zu bleiben.
Dann, vor rund 74000 Jahren, erhellte ein Feuerball die Nacht. Mit einer gewaltigen Explosion brach auf Sumatra der Supervulkan Toba aus – eine Katastrophe, wie die Welt sie seit Jahrmillionen nicht mehr erlebt hatte.[327] Das Ereignis brachte die ohnehin schon abklingende Periode relativer Wärme zu einem jähen Ende. Vulkanschutt ging über dem gesamten Indischen Ozean nieder, sogar bis zur Küste Südafrikas.[328] Hunderte Kubikkilometer Asche wurden in die Atmosphäre geschleudert und stürzten die Erde in eine abrupte Kaltzeit.
In einer früheren Epoche hätte eine solche Katastrophe die aufstrebende Menschheit womöglich einfach ausradiert. Nun jedoch, so scheint es, war Homo sapiens nicht zu stoppen. Mittlerweile hatte sich unsere Art von Afrika aus schon rings um den Indischen Ozean verbreitet. Die Menschen mit ihren gewetzten Feuersteinen siedelten in Indien,[329] waren bis nach Sumatra[330] – das Epizentrum des Ausbruchs – vorgedrungen und hatten längst Südchina erreicht.
Die Auswanderer aus Makgadikgadi hatte es einst zuerst ans Meer gezogen. Auch als die späteren Menschen Afrika verließen, folgten sie zunächst den Küstenlinien Südarabiens und Indiens bis nach Südostasien. Und wenn das Klima es zuließ, zogen sie an Flussläufen entlang ins Landesinnere bis in die Savannen.
Doch darf man sich diese Wanderungen nicht als biblischen Exodus vorstellen, glich er doch eher einer Reihe vieler, für sich genommen winziger Ereignisse, die erst in der Gesamtschau so etwas wie ein Muster ergeben. Und ganz gewiss blickten die Menschen nicht bedeutungsvoll gen Horizont und verkündeten in einem Anfall heroischer Vorausschau den Auszug in ein von Gott oder Schicksal vorherbestimmtes Land. Die einzelnen Menschen verbrachten ihr gesamtes Leben mehr oder weniger am selben Ort. Der zunehmende Bevölkerungsdruck könnte einige dazu gebracht haben fortzuziehen, womöglich in die Gegend jenseits der nächsten Landzunge. Widriges Wetter wird viele zur Umkehr gezwungen haben. Menschen aus verschiedenen benachbarten Stämmen, die über ein Geflecht aus Beziehungen miteinander verbunden waren, kamen hin und wieder an Festtagen zusammen, um gemeinsam zu singen, zu tanzen, Geschichten auszutauschen und sich Partner zu wählen. War dies erfolgreich, verließ – wie bei allen Primaten – die Frau das Land ihrer Ahnen und ließ sich bei der Familie ihres Partners an einem weit entfernten Ort nieder, vielleicht am anderen Flussufer oder hinter der nächsten Hügelkuppe.[331]
Diese Migrationsbewegung war daher kein einzelnes Ereignis, sondern eine Reihe vieler kleiner. Dennoch zeichnete sich eine allgemeine Gestalt ab. Ihre Vorstöße pulsierten im Takt der Klimaschwankungen, bedingt durch die Umlaufzyklen der Erde und insbesondere durch den 21000-Jahres-Zyklus der Präzession.[332] Auf ihren Wanderungen folgten sie den Sternen – nur dass es zu unterschiedlichen Zeiten eben unterschiedliche Sterne waren.
Als besonders reisefreudig erwies sich unsere Spezies zwischen 106000 und 94000 Jahren vor unserer Zeit, als sie sich über das einst fruchtbare Südarabien ausbreitete; vor 89000 bis 73000 Jahren, als sie die Inseln Südostasiens erreichten; vor 59000 bis 47000 Jahren, einer Periode besonders großer Migrationsbewegungen durch Arabien nach Asien, in die auch die Besiedlung Australiens fällt,[333] sowie schließlich vor 45000 bis 29000 Jahren, als es zur großflächigen Bevölkerung Eurasiens bis in höhere Breiten kam, zu ersten zaghaften Vorstößen auf den amerikanischen Kontinent sowie zu einer gewissen Rückwanderung nach Afrika.
Das bedeutet freilich nicht, dass die Menschen außerhalb dieser Perioden still saßen – es war nur so, dass während dieser Phasen das milde Klima die Migrationsschübe begünstigte. Es gab auch Zeiten, in denen die ausschwärmende menschliche Bevölkerung geteilt wurde. Durch die kalte Trockenphase nach dem Vulkanausbruch des Toba wurde die afrikanische Population von der südasiatischen abgeschnitten. Beide Gruppen sollten sich erst 10000 Jahre später wiedersehen.
Auf ihren Wanderungen trafen die Menschen auch auf andere Hominini. Diese Begegnungen waren selten und ihr Ausgang kaum vorherzusagen. Manchmal wurden sich die Stämme ihrer Unterschiedlichkeit bewusst und kämpften. Ein andermal grüßten sie einander wie entfernte Vettern, spürten, dass sie sich nicht so sehr voneinander unterschieden, wie sie anfangs dachten. Sie verbrüderten sich, indem sie sich Geschichten erzählten und Partner tauschten. Im Nahen Osten trafen die modernen Menschen auf Neandertaler und kreuzten sich mit ihnen. Dies ist auch der Grund, weshalb alle heutigen Menschen, die nicht rein afrikanischer Abstammung sind, etwas Neandertaler-DNA in sich tragen.[334] Auf ihrem Weg durch Südostasien fügten die Menschen ihrem Genpool zudem Erbgut der Denisova-Menschen hinzu – Nachfahren der einstigen Bergbewohner, die sich schon längst an das Leben im Tiefland angepasst hatten. Denisova-Gene finden sich heute bei Bewohnern der südostasiatischen Inseln und des Pazifikraums, weit entfernt von den Bergfestungen, aus denen sie einst stammten. Doch wie es die Ironie des Schicksals will, waren die Gene, die es den heutigen Tibetern gestatten, mühelos in der dünnen Luft auf dem Dach der Welt zu leben, ein Abschiedsgeschenk jener Gipfelbewohner,[335] die als eigenständige Art vor 30000 Jahren verschwanden – fortgeschwemmt und aufgegangen in der mächtigen Flut einströmender Homo sapiens.
Vor rund 45000 Jahren fielen die modernen Menschen gleich an mehreren Fronten in Mitteleuropa ein, von Bulgarien im Osten sowie aus Spanien und Italien weiter westlich.[336] Die Neandertaler, eine Viertelmillion Jahre lang die dominante Spezies in Europa, hatten frühere Invasionen des Homo sapiens noch zurückschlagen können, jetzt aber setzte ihr rasanter Niedergang ein, und vor 40000 Jahren waren die Herrscher der Eiszeit so gut wie ausgestorben.[337]
Die Gründe dafür sind viel diskutiert worden. Vielleicht waren sie im Kampf mit den modernen Menschen unterlegen. Mit Sicherheit haben die Arten sich vermischt.[338] Möglich auch, dass sie ohne große Gegenwehr einfach verschwanden, verdrängt und dezimiert von Eindringlingen, die sich etwas schneller vermehrten und womöglich ein größeres Revier rings um ihr Stammgebiet beanspruchten.[339] Am Ende siedelten so viele Homo sapiens in Europa, dass die verbliebenen Neandertaler, die noch in entlegenen Bastionen ausharrten – von Südspanien[340] bis zur russischen Arktis[341] –, zu wenige und zu weit verstreut waren, als dass sie noch Partner ihrer eigenen Art hätten finden können.[342]
Neandertaler-Populationen waren schon immer klein gewesen. Als sie noch weiter schrumpften, forderten die Auswirkungen von Inzucht und Unglücksfällen ihren Tribut. Jede menschliche Gesellschaft kommt irgendwann an einen Punkt, an dem sie zu klein ist, um noch überlebensfähig zu sein. Nichts bringt eine Population so sicher an den Rand des Aussterbens wie ein Mangel an Menschen.[343] Am Ende war es einfacher, sich mit den Eindringlingen zu vermischen. Die DNA eines 40000 Jahre alten Kieferknochens aus einer Höhle in Rumänien beweist, dass sein Besitzer einen Neandertaler-Urgroßvater hatte.[344]
Von Osteuropa aus folgten die modernen Menschen dem Lauf der Donau, an deren Oberlauf es zu einer Blütezeit kultureller Aktivität kam.[345] Die Menschen schufen Skulpturen von Tieren und Menschen, von Menschen mit Tierköpfen und sogar Reliefbilder von Enten, mit denen sie ihre Höhlenwände schmückten.[346] Wieder und wieder formten sie Figuren von korpulenten, schwangeren und dickbrüstigen Frauen – eindrucksvolle Beschwörungen von Üppigkeit und Fruchtbarkeit in einer Gesellschaft, in der der Hungertod ein ständiger Begleiter war. Es waren Anrufungen an eine höhere Macht.
Mehr oder weniger gleichzeitig erschienen an den weit entfernten Rändern Eurasiens Tierzeichnungen an den Höhlenwänden. Neben den zu Recht berühmten Höhlenmalereien in Frankreich und in Spanien weiß man heute von ähnlichen Darstellungen auf Sulawesi und Borneo in Indonesien.[347] Auch diese dienten kultischen Zwecken. Höhlenkunst findet sich häufig in Räumen mit einer hallenden Akustik. Es scheint, als wären diese Bilder nur einer von mehreren Bestandteilen ritueller Handlungen gewesen, die ebenso Musik und Tanz umfassten.[348]
Erreichte ein junger Mensch die Volljährigkeit, wurde er von einem Schamanen in diese Ritualräume mitgenommen, um sich dort dem Initiationsritus des Stammes zu unterziehen. Im Rahmen der Zeremonie wurde der Eingeweihte mit Ocker oder Ruß bemalt und aufgefordert, einen Handabdruck an der Höhlenwand zu hinterlassen – so als würde er sich damit ins Buch des Lebens eintragen. Wie um zu sagen: »Hier bin ich.«
Nach 4,5 Milliarden Jahren gedankenlosen Wirrsals hatte der Planet letztlich eine Spezies hervorgebracht, die sich ihrer selbst bewusst war. Und was, so fragte sich die Erde, würde sie als Nächstes tun?