Die Vergangenheit der Zukunft

Alle glücklich gedeihenden Spezies gleichen einander. Jede dem Untergang geweihte Spezies stirbt auf ihre eigene Weise aus.[349]

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Als Folge des Klimawandels zerfallen die Wälder in vereinzelte Dickichte in einem Meer aus Gras, in dem einst Bäume wuchsen.

Die Eiskappen schmelzen, das Land versinkt, und aus dem neuen Ozean erheben sich versprengte Inseln, wo einst Berggipfel waren.

Was geschieht mit den Lebewesen, die sich an die Reste ihrer schwindenden Welt klammern, die einst viel größer war?

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Manche Geschöpfe nutzen diese Abgeschiedenheit als Chance, um sich in sonderbare neue Arten zu verwandeln. Man denke nur an Homo floresiensis und die Zwergelefanten, die er jagte. Viele andere isolierte Populationen könnten allerdings zu klein sein, um zu überleben. Vielleicht gibt es zu wenig Nahrung oder Wasser. Vielleicht finden sie keine Partner mehr oder wenn doch, dann sind sie zwangsläufig so eng verwandt, dass die Gruppe an Inzucht zugrunde geht.[350] Anderen

Irgendwann, wenn alle anderen Bestände dieser Spezies ausgelöscht sind, wenn jede vergeblich versucht hat, sich in den versprengten Resten ihres einst so weitläufigen Lebensraumes zu behaupten, dann läuft die letzte verbleibende Population Gefahr, an einer einzelnen, ganz lokalen Katastrophe zugrunde zu gehen. Es könnte so gut wie alles sein – auch etwas ganz Banales, das nicht mit dem apokalyptischen Szenario eines Asteroideneinschlags oder einer aufplatzenden Magmablase zu tun hat. Ein Erdrutsch womöglich, der die einzige Nahrungsquelle vernichtet, oder etwas scheinbar so Prosaisches wie die Zerstörung ihrer letzten Zuflucht durch Planierraupen, um Platz für ein neues Bauprojekt zu schaffen.

Andere Arten scheint es im Überfluss zu geben, sodass man keinen Grund hat anzunehmen, dass ihr Aussterben unmittelbar bevorsteht. Bei näherer Betrachtung könnte sich jedoch herausstellen, dass sie ihren Kredit im Kontenbuch des Lebens schon lange überzogen haben und so gewiss dem Aussterben geweiht sind, als hätte der Sensenmann sie schon in ihrer Blüte niedergemäht. Selbst wenn sie in ihrem angestammten Habitat noch reichlich vorkommen, könnte eine weitere – auch nur moderate – Verringerung des Lebensraumes ihre Ausrottung besiegeln. Ihre Tage sind gezählt. So lässt sich beispielsweise das Verschwinden von Schmetterlingen und Nachtfaltern von Kalkgrasflächen viel besser durch die Abnahme ihres Lebensraumes vor etlichen Jahrzehnten erklären

Wieder andere Spezies werden sich aus dem einen oder anderen Grund weniger fortpflanzen, sodass die Sterberate die Geburtenrate übersteigt.

Homo sapiens hat maßgeblich dazu beigetragen, Bedingungen zu schaffen, unter denen eine Fülle anderer Spezies ausgestorben ist. Umgekehrt könnte jedoch auch Homo sapiens selbst auf eine oder mehrere dieser Arten wieder vom Angesicht der Erde verschwinden.

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Weit zurückliegende Massensterben sind uns so fern, dass es schwerfällt, einzelne Geschichten aus dem Chaos und Tumult der Katastrophe herauszulesen.

Die eigentliche Ursache des massenhaften Aussterbens Ende des Perms zum Beispiel war das Emporquellen von Lava in Sibirien, das Gase freisetzte, die Luft und Meere vergifteten und die Temperatur der Atmosphäre mittels Treibhauseffekt steil ansteigen ließen. Doch wie verheerend das Ereignis auch gewesen sein mag und wie viele Lebensformen insgesamt auch davon betroffen waren, so starb doch jedes Tier und jede Pflanze, jeder Korallenpolyp und jeder Pelycosaurier einen eigenen Tod. Solche Massensterben sind die Summe unzähliger vorzeitiger Tode, und jeder davon ist eine eigene individuelle Tragödie.

Am Ende des Pleistozäns, vor rund 10000 Jahren, kam es in Eurasien, Amerika und Australien zum Verschwinden so gut wie aller Tiere, die größer waren als ein großer Hund. Ein maßgeblicher Grund dafür könnte die virulente Ausbreitung unserer räuberischen Menschheit sein. Eine andere Erklärung

Gleichwohl ist uns das Massensterben zum Ausgang des Pleistozäns um vieles näher als die Katastrophe am Ende des Perms. Die Spuren des Ereignisses sind frischer und können genauer untersucht werden. Die Schicksale der einzelnen Arten lassen sich besser nachvollziehen.[354]

So schrumpften etwa die Verbreitungsgebiete zweier emblematischer Eiszeittiere – des Riesenhirschs (im Volksmund gern auch »Irischer Elch« genannt) und des Wollhaarmammuts – in nur wenigen 1000 Jahren dramatisch. Der rapide Rückgang fiel mit plötzlichen Veränderungen des Klimas und der Pflanzenwelt zusammen, auf die die Spezies angewiesen waren.[355] Auch die Bejagung wird ihr Schicksal, das schon längst besiegelt war, wohl noch beschleunigt haben. Das Mammut und der Riesenhirsch mögen verschwunden sein, doch ihre Fossilien sind sehr reichlich, und sie lassen sich so zuverlässig datieren, dass wir ihren Niedergang und ihr Aussterben detailreich nachverfolgen können. Wären sie in der Endphase des Perms ausgestorben, könnten wir wahrscheinlich nicht viel mehr über sie sagen, als dass sie verschwunden sind.

Noch jüngere Aussterbeereignisse lassen sich sehr exakt datieren. Der letzte Auerochse oder Ur (Bos primigenius) wurde 1627 in Polen erschossen. In Anbetracht der zunehmenden Verbreitung von Menschen mit Schusswaffen schien seine Ausrottung praktisch unvermeidlich. Folglich war es ein Aussterben der bittersten, klarsten und schmerzlichsten Sorte – die eine Kugel, die den letzten Ochsen tötete, bedeutete das Ende einer Spezies, die einst über ganz Europa verbreitet war. Das Nördliche Breitmaulnashorn (Ceratotherium simum cottoni) dagegen weilt, während ich dies schreibe, noch immer

Die Fälle des Auerochsen und des Nashorns unterscheiden sich jedoch. Der Auerochse gehörte einem der wenigen Zweige im Stammbaum der Säugetiere an, die noch immer florieren – den Hornträgern oder Bovidae, zu denen auch Ziegen, Schafe und viele Antilopenarten gehören. Ohne uns Menschen würden wohl noch heute Herden von Auerochsen durch die Steppe ziehen. Das Nashorn dagegen hatte seine Blütezeit im Oligozän, als Rhinozerosse und andere Unpaarhufer eine immense Artenfülle aufwiesen. Doch seither sind sie im steten Niedergang begriffen, auf den meisten Gebieten aus dem Feld geschlagen von Paarhufern wie den Hornträgern, zu denen auch der Ur gehörte. Die Menschheit hat ihr Ende lediglich beschleunigt, das lange vor dem Aufkommen des Homo sapiens schon besiegelt war.

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Seit gerade 2,5 Millionen Jahren steht die Erde am Beginn einer Abfolge von Eiszeiten, die noch etliche Jahrmillionen andauern wird. Schon jetzt ist das Eis mehr als 20-mal angewachsen und wieder abgeschmolzen und hat damit klimatische Umwälzungen in einem Ausmaß ausgelöst, wie die Welt sie seit dem Eozän nicht mehr erlebt hat. Und das ist erst der Anfang. Mit jedem Vorstoß der Eismassen und mit jedem Rückzug werden die Karten wieder neu gemischt. Einige Arten werden aussterben, andere gedeihen. Diejenigen, die in einem Zyklus erblühen, könnten bereits den nächsten

Homo sapiens hat die Früchte des derzeitigen Zyklus geerntet. Die Spezies gelangte zu Bewusstsein, als die vorherige Warmzeit vor rund 125000 Jahren in eine lang anhaltende Kältephase überging. Sie nutzte den niedrigen Meeresspiegel, um sich auszubreiten, und wanderte von einer sonst isolierten Insel zur nächsten.

Als das Eis vor rund 26000 Jahren seine größte Ausdehnung erreicht hatte, hatte die Menschheit schon die gesamte Alte Welt besiedelt und war der Landbrücke zur Neuen gefolgt.[357] Nur Madagaskar, Neuseeland, die Inseln Ozeaniens und die Antarktis waren noch vom Menschen unberührt – doch auch das sollte sich bald ändern.[358] Im Laufe seines Vormarschs verschwanden alle anderen Hominini. Homo sapiens ist der Letzte seiner Art. Der Einzige, der noch übrig ist.

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Fast ihre gesamte Geschichte lang waren die Menschen Jäger und Sammler und kannten wie alle klugen Wildbeuter die besten Orte zum Jagen und Sammeln. Und sie kehrten immer wieder dorthin zurück. Bald nachdem die Gletscher ihre größte Ausdehnung erreicht hatten, brachte dieses Verhalten die Pflanzen durch natürliche Auslese dazu, vor allem solche Früchte und Samen hervorzubringen, die für diese Sammler attraktiv waren. Vor rund 23000 Jahren begannen die ersten Bäcker, Samenkörner von wildem Weizen und Gerste zu Mehl zu mahlen und daraus Brot zu backen.[359] Vor 10000 Jahren, ganz am Ende des Pleistozäns, entwickelte sich in verschiedenen Weltregionen mehr oder weniger gleichzeitig die Landwirtschaft.[360]

Der Großteil dieses Anstiegs ist allerdings sehr jungen Datums. Das exponentielle Wachstum der Weltbevölkerung fand innerhalb weniger Generationen statt. Die Erdbevölkerung hat sich zu meinen Lebzeiten mehr als verdoppelt[362] und seit der Geburt meiner Großeltern gar vervierfacht. Vor dem Hintergrund geologischer Zeiträume betrachtet, ist der rasante Aufstieg unserer Menschheit jedoch von zu vernachlässigender Bedeutung.

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Den spürbarsten Einfluss auf unseren Planeten hinterlässt der Mensch erst seit der industriellen Revolution, die vor rund 300 Jahren einsetzte, als Homo sapiens begann, sich die Kraft der Kohle im industriellen Maßstab nutzbar zu machen.

Kohle entsteht aus den energiehaltigen Überresten der Wälder des Karbons. Nur wenig später gelang es der Menschheit außerdem, Erdöl zu finden und zu fördern – ein energiedichtes Gemisch aus flüssigen Kohlenwasserstoffen, das durch die allmähliche Umwandlung fossilen Planktons entsteht, wenn dieser langsam durch das darüberliegende Gestein gepresst und dann erhitzt wird. Mehr noch als die Landwirtschaft hat die Verbrennung dieser fossilen Kraftstoffe das menschliche Bevölkerungswachstum angetrieben – allerdings erst im Laufe der letzten Generationen.

Ein wichtiges Nebenprodukt bei der Verbrennung fossiler Energieträger ist, neben anderen Gasen wie Schwefeldioxid

Im Gegensatz zu solchen Mantel-Plumes, deren Eruptionen dem Perm ein so qualvolles Ende bereitet haben, wird die derzeitige Schwankung nur von kurzer Dauer sein. Schon jetzt werden Maßnahmen ergriffen, um den Ausstoß von Kohlendioxid zu reduzieren und andere Energiequellen als fossile Brennstoffe zu finden. Der menschengemachte Ausschlag der Kohlenstoffkurve wird zwar hoch, aber äußerst schmal sein – womöglich gar so schmal, dass er auf sehr lange Sicht kaum mehr nachweisbar sein wird.

Menschen gibt es in großer Anzahl erst seit derart kurzer Zeit, dass in, sagen wir, 250 Millionen Jahren kaum noch etwas von ihnen erhalten sein wird – wenn überhaupt. Nur mit den empfindlichsten Gerätschaften könnten die zukünftigen Forscher vielleicht – und nur vielleicht – bei ihren Grabungen in der Lage sein, schwache Spuren ungewöhnlicher Isotope zu entdecken, und vermuten, dass kurz nach Beginn des Känozoischen Eiszeitalters irgendetwas geschehen ist, doch sie werden womöglich nicht einmal genau sagen können, was.

In ein paar 1000 Jahren wird Homo sapiens wieder verschwunden sein. Ein Grund ist seine längst fällige extinction debt. Der Lebensraum, den die Menschheit für sich beansprucht, umfasst nicht weniger als die gesamte Erde, und die Menschen haben sie zunehmend unbewohnbar gemacht.

Genetisch betrachtet ist der Mensch im Vergleich zu unseren nächsten Verwandten unter den Affen bereits außergewöhnlich homogen. Dies ist die Folge eines oder mehrerer »genetischer Flaschenhälse« – einem Bevölkerungsschwund, gefolgt von einer raschen Expansion –, ein Erbe des mehrfachen Beinaheaussterbens der Menschheit in der Frühzeit unserer Spezies.[364] Unser Aussterben wird also eine ganze Reihe unterschiedlicher Ursachen haben: mangelnde genetische Vielfalt aufgrund von Ereignissen der Vorgeschichte, eine extinction debt infolge heutiger Lebensraumverluste, unzureichende Fortpflanzung, bedingt durch die Veränderung menschlicher Verhaltensweisen und der Umwelt, sowie die spezifischen Probleme, mit denen kleine Gruppen konfrontiert sind, die plötzlich von anderen Vertretern ihrer Art abgeschnitten sind.

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Und trotz alledem werden die Gletscher unermüdlich vorrücken und zurückweichen, sich unerbittlich über das Land wälzen und zurückziehen, wieder und wieder. Der menschengemachte Zustrom von Kohlendioxid in die Atmosphäre wird den Zeitpunkt des nächsten Gletschervorstoßes verzögern, doch wenn er kommt, wird er dafür umso schneller sein.

Die Menschheit wird aussterben, noch bevor all das Kohlendioxid, das sie mit ihrer hektischen Betriebsamkeit freigesetzt hat, wieder verschwunden ist. Der verbleibende Treibhauseffekt wird die Kältewelle noch eine Weile abmildern, bis sie umso drastischer zurückschlägt – der erste Abschwung in der rasanten Achterbahnfahrt aus Kalt- und Warmzeiten, die so lange andauern wird, bis das überschüssige Kohlendioxid absorbiert ist und das Känozoische Eiszeitalter ohne weitere Unterbrechungen voranschreiten kann.[365]

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In etwa 30 Millionen Jahren wird Antarktika so weit nach Norden gedriftet sein, dass warmes Wasser vom Äquator die letzten Reste ihrer Eiskappe abtaut. Wie hoch wird der Blutzoll dieser langen Kältezeit wohl ausfallen?

Alle Säugetiere, die größer sind als ein Dachs, werden ausgestorben sein. Auch wird es keine großen Huftiere, Elefanten, Nashörner, Löwen, Tiger, Giraffen oder Bären mehr geben. Beuteltiere werden so gut wie verschwunden sein. Schnabeltier und Ameisenigel – jene eierlegenden Säuger, deren Stammbaum bis weit in die Trias zurückreicht – werden ihre letzten Eier gelegt haben. Es wird keine Primaten mehr geben. Homo sapiens, der letzte Hominin, wird schon lange ausgestorben sein.

Ein paar kleine Vögel wird es noch immer geben, und recht viele Eidechsen und Schlangen. Größere Reptilien wie

Es wird weiterhin eine Fülle von Nagetieren geben, doch hätten wir wohl Schwierigkeiten, sie als solche wiederzuerkennen. Auf den Wiesen werden neuartige Pflanzenfresser grasen, die von Mäusen und Ratten abstammen. Von den uns bekannten Karnivoren werden nur kleinere Arten überleben, wie Mungos oder Frettchen. Die größeren Fleischfresser werden wieder einmal Nagetiere sein – mit Ausnahme der furchterregendsten Räuber dieser zukünftigen Welt, zu denen sich die riesigen flugunfähigen Fledermäuse entwickelt haben werden.[366]

In den Meeren wird es weiter Fische geben. Haie werden unverdrossen ihre Kreise ziehen, so wie sie es seit dem Devon getan haben. Es wird Riffe geben, auch wenn diese aus neuen Arten von Korallen oder Schwämmen bestehen. Und es wird Wale geben, jedenfalls noch eine Weile.

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Im größten aller Maßstäbe betrachtet, wird die Geschichte des Lebens auf der Erde, mit all ihrer Dramatik, all ihrem Kommen und Gehen, allein von zwei Faktoren bestimmt: Der eine ist die stete Abnahme der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre. Der zweite ist die kontinuierlich zunehmende Helligkeit der Sonne.[367]

Ein Großteil des Lebens basiert auf der Fähigkeit photosynthetischer Pflanzen, Kohlendioxid aus der Atmosphäre in lebende Materie umzuwandeln. Dazu benötigen die meisten Pflanzen eine Kohlendioxidkonzentration von etwa 150 ppm (Millionstel). Dies beruht auf der Annahme, dass Pflanzen Kohlendioxid mit nur einer Art von Photosynthese – der sogenannten C3-Photosynthese – in Zucker umwandeln.

Vor einigen Millionen Jahren änderte sich dies, vor allem in den tropischen Savannen, mit dem Aufkommen der Gräser, die für gewöhnlich den energieaufwendigeren, aber kohlendioxidsparenden C4-Stoffwechselweg benutzen. Trotz gelegentlicher Schwankungen nimmt das Kohlendioxid im Laufe der Erdgeschichte stetig ab, und etwa in der Mitte des Känozoikums war der Punkt erreicht, an dem es so weit herabgesunken war, dass die Natur per Selektion begann, die ansonsten eher unrentable Art der Photosynthese zu bevorzugen – ungeachtet der zusätzlichen Energiekosten.

Blickt man weiter zurück, so ist dies nur ein weiteres Beispiel für die Art und Weise, wie das Leben auf die Herausforderungen reagiert, vor die es die wandelbaren Bedingungen auf der Erde, denen es ausgeliefert ist, stellen. Und hinter vielen dieser Herausforderungen verbirgt sich der stete Anstieg an Wärmeenergie, die von der Sonne auf die Erde einstrahlt, sowie das Auf und Ab – vor allem aber das Ab – des Kohlendioxids.

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Wieso aber ist Kohlendioxid so knapp geworden, so kostbar? Die Antwort lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Verwitterung. Neues Gestein, das aus dem Erdinneren emporgeschoben wird und sich zu Bergen türmt, erodiert sehr rasch. Dieser Prozess entzieht der Atmosphäre Kohlendioxid. Letztlich wird das erodierte Gestein zu Staub zermahlen, der sich schließlich auf den Weg ins Meer macht, wo er sich am Meeresboden ablagert.

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Eine der ersten Herausforderungen, die das Leben zu meistern hatte, war die Große Sauerstoffkatastrophe vor 2,4 bis 2,1 Milliarden Jahren. Ein rapider Anstieg tektonischer Aktivität führte zum großflächigen Einschluss von Kohlenstoff. Der Luft wurde so Kohlendioxid entzogen. Der Planet, der nun nicht mehr vom Treibhauseffekt erwärmt wurde, versank in einer 300 Millionen Jahre andauernden Eiszeit, in der die gesamte Erdkugel von Pol zu Pol mit Eis bedeckt war: die erste und drastische Episode der sogenannten Schneeball-Erde. Erschwerend kam hinzu, dass die Sonne viel weniger Wärme produzierte als heute – ein Umstand, der die weitere Entwicklung des Lebens auf dem Planeten nachhaltig beeinflussen sollte.

Das Leben reagierte mit einer Zunahme an Komplexität. Einzelne Bakterien, die in losen Verbänden zusammenlebten, bündelten ihre Ressourcen, wobei sich jedes Individuum auf den Aspekt des Lebens konzentrierte, für den es am besten gerüstet war. Es war ein Lehrbuchbeispiel moderner Arbeitsteilung, wie es direkt aus Adam Smiths Wohlstand der Nationen stammen könnte. Viel effizienter, als dass ein Einzelner etwas auf eigene Faust herstellt, sind Fabriken, in denen jeder

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Die nächste große Aufgabe kam vor etwa 825 Millionen Jahren mit dem Auseinanderbrechen des Superkontinents Rodinia. Wie bereits zuvor führte dies zu einer drastischen Zunahme der Verwitterung, des Einschlusses von Kohlenstoff und einer erneuten Abfolge von Eiszeiten. Auch diese Eiszeiten lösten Schneeball-Erde-Phasen aus, wenngleich diese weniger lange andauerten als jene, die den Planeten während der Großen Sauerstoffkatastrophe vollständig in Eis gehüllt hatten. Obwohl es dadurch mehr Land gab, das sich erodieren ließ, schien die Sonne nun viel heißer.[370]

Damals experimentierten die Eukaryoten mit einer weiteren Steigerung ihrer Komplexität. Eukaryotische Zellen schlossen sich zu Organismen zusammen, die aus vielen verschiedenen Zellen bestanden, wobei jede nur eine bestimmte Funktion versah wie Verdauung, Fortpflanzung oder Verteidigung. Die Evolution der ersten Tiere war eine direkte Auswirkung der Eiszeiten, die auf den Zerfall Rodinias folgten.

Wieder hatte das Leben auf eine massive Umweltveränderung mit dem kompletten Umbau seiner internen Ökonomie reagiert. Mehrzelligkeit ermöglichte Organismen, größer zu werden, sich schneller und besser zu bewegen sowie mehr Ressourcen zu verwerten, als es einzelne Eukaryoten je vermocht hätten.

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In ganz ähnlicher Weise bereitet sich das Leben derzeit auf den nächsten Entwicklungssprung in seiner immer komplexeren Evolution vor. So wie sich Bakterien einst zu Eukaryoten und diese sich wiederum zu mehrzelligen Tieren, Pflanzen und Pilzen zusammengeschlossen haben, so werden sich all diese Lebensformen irgendwann vereinigen, um in den letzten Phasen des Lebens auf der Erde eine ganz neue Art von Organismus hervorzubringen, dessen Kraft und Effizienz unsere Vorstellung übersteigt.

Der Keim dafür wurde schon vor langer Zeit gelegt.

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Schon bald nachdem die ersten Pflanzen festes Land besiedelt hatten, stellten sie fest, dass das Leben viel einfacher war, wenn sie enge Verbindungen mit unterirdischen Pilzen eingingen, den Mykorrhizen, die sich an ihren Wurzeln anlagerten. Die Pflanzen versorgten die Pilze mit Nährstoffen aus ihrer Photosynthese. Im Gegenzug bohrten sich die Pilze

Heute bilden die meisten Landpflanzen solche Symbiosen mit Mykorrhizen und könnten sogar ohne sie nicht überleben. Wenn Sie also das nächste Mal im Wald spazieren gehen, denken Sie daran, dass sich im Boden unter Ihren Füßen die Mykorrhizen verschiedener Pflanzen miteinander vernetzt haben, um Nährstoffe auszutauschen und eine Art Wood Wide Web zu bilden, das das Wachstum des gesamten Waldes steuert. Der Wald – mit all seinen Bäumen und Mykorrhizen – ist ein einziger Superorganismus.[372]

Pilze sind in der Lage, das Leben in sehr großen Gebieten zu kontrollieren. Einer der größten bekannten Organismen ist ein Exemplar des Pilzes Armillaria bulbosa, eines Hallimaschs, dessen mikroskopisch kleine Fäden sich im Norden Michigans über einer Fläche von 15 Hektar ausgebreitet haben. Obwohl man seine Existenz kaum wahrnimmt, verfügt er über eine Gesamtmasse von mehr als 10000 Kilogramm und ist über 1500 Jahre alt.[373] Diesen Pilz als ein einzelnes Wesen zu bezeichnen, fällt allerdings schwer. Die hauchdünnen Fäden des Pilzes, die Myzelien, dringen unsichtbar, unvermutet und unaufhaltsam in jeden Winkel und verbinden sich im Dunkeln tief unter der Erde zu gewaltigen Netzwerken.

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Viel später, als die Ära der Dinosaurier sich dem Höhepunkt näherte, kam es in der Welt der Pflanzen zu einer lautlosen Revolution – dem Aufkommen der Blumen.

Blütenpflanzen begannen als kleine kriechende Gewächse an den Ufern dieser Welt, wurden aber bald sehr viel verbreiteter. 100 Millionen Jahre später sind sie die vorherrschende Art der Landpflanzen.

Folglich war es wohl kein Zufall, dass die Evolution der Blumen einherging mit einer drastischen Zunahme bestäubender Insekten, insbesondere der Ameisen, Bienen und Wespen (die man als Hautflügler oder Hymenoptera bezeichnet) sowie der Schmetterlinge und Motten (der sogenannten Lepidoptera).[374] Zwar hatte es diese Insekten schon seit Jahrmillionen gegeben, doch das Aufkommen der Blütenpflanzen gab ihrer Entwicklung einen rasanten Schub.

Einige Pflanzen gehen so enge Beziehungen mit ihren Bestäubern ein, dass der eine nicht ohne den anderen überleben kann. Feigen etwa sind für ihre Fortpflanzung auf die Feigenwespen angewiesen, die ihr gesamtes Leben um die Pflanze herum aufgebaut haben. Was wir für die Früchte der Feige halten, sind in Wahrheit die selbst geschaffenen Lebensräume dieser Wespen.[375] Eine ähnliche Symbiose besteht zwischen der Yuccapalme und ihren Begleitern, den zugehörigen Yucca-Motten.[376] In gewisser Hinsicht bilden Feigen und Feigenwespen gemeinsam einen Organismus, eine unauflösliche Einheit. Dasselbe ließe sich von der Yucca und der Yucca-Motte sagen.

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Viele Ameisen, Bienen und Wespen haben sich auch jenseits ihrer Beziehungen zu Pflanzen zu neuen komplexen Einheiten entwickelt – auch wenn die Evolution der Blütenpflanzen diesen Vorgang massiv befördert hat. Zahlreiche dieser Insekten schließen sich zu riesigen Kolonien zusammen, in denen

Solche Kolonien sind Superorganismen und weisen sogar spezifische Verhaltensweisen auf, die man ansonsten von Einzeltieren kennt. Zum Beispiel senden manche Kolonien der Ernteameise Pogonomyrmex barbatus während Dürreperioden weniger Nahrungssammler aus als andere Kolonien – eine Zurückhaltung, die sich in der Gründung von mehr Tochterkolonien auszahlt.[377] Wie der Mensch gehen auch Ameisen enge Beziehungen sowohl mit den in ihren Körpern lebenden Bakterien als auch mit den Tieren in ihrer Umgebung ein. Sie bauen aktiv Pilzgärten an. Sie hüten Herden domestizierter Blattläuse und nutzen den von ihnen abgesonderten Honigtau als Nahrung.

Soziale Organisation ist eine Eigenschaft, die evolutionär überaus erfolgversprechend ist.[378] Der Erfolg des Homo sapiens könnte auf seine Neigung zur gesellschaftlichen Organisation zurückgeführt werden, in deren Rahmen sich Individuen, wie bei »sozialen« Insekten, auf bestimmte Aufgaben in der Gemeinschaft spezialisieren. Mit Hilfe einer solchen Organisation lassen sich ungleich mehr Ressourcen zusammentragen – und das viel einfacher –, als es für jedes alleine handelnde Tier möglich wäre. Wie viele Menschen wären heute wohl in der Lage, ein einigermaßen komfortables Leben zu führen, wenn sie gezwungen wären, sogar noch ihre grundlegendsten Bedürfnisse ganz allein selbstständig zu befriedigen? Dasselbe gilt für die staatenbildenden Insekten. Das galt bereits vor ihrem Erscheinen, und es wird auch noch gelten, lange

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Je mehr Zeit vergeht und je knapper das Kohlendioxid wird, das zur Photosynthese zu Verfügung steht, desto häufiger werden auch diese Verbindungen sein. Einzelne Organismen werden kleiner werden und die Ressourcen effizienter nutzen müssen, indem sie viel größere, sozial strukturierte Superorganismen bilden. Gleichzeitig werden Pflanzen, um weiter an Kohlendioxid zu gelangen, auf Tiere angewiesen sein, die zudem für ihre Bestäubung sorgen. Pflanzen ohne derartige Symbiosen werden letztlich verhungern. Schon jetzt haben sich Feigenwespen und Yucca-Motten in Aussehen und Verhalten massiv von ihren weniger wählerischen, leichtlebigeren Verwandten fortentwickelt.

Pflanzen werden immer engere Beziehungen mit ihren Bestäubern eingehen, besonders wenn es sich um soziale Insekten handelt. Dieser Wandel wird sich so weit fortsetzen, bis die Insekten nur noch Mittel zur Befruchtung und Kohlendioxidlieferanten sind. Am Ende werden sie kaum mehr als mikroskopisch kleine Organe im Inneren der Pflanze sein – so wie die Mitochondrien in unseren Zellen einst eigenständige Bakterien waren. Die Fortpflanzung der Insekten wird völlig synchron mit der der Pflanze ablaufen. Sie werden eins geworden sein.

Aber auch die Pflanzen werden sich bis zur Unkenntlichkeit verändert haben. Vielleicht werden sie Pilzen ähneln, mit Körpern, die zum Großteil aus Wurzel- oder Stängelknollen bestehen und sich unter der Erde zu großen Hohlräumen aufblähen, in denen ihre Kohlendioxid produzierenden Insekten,

Manche Pflanzen allerdings werden winzige Blumen an die Oberfläche schicken, die Pollen im Wind freisetzen und sammeln, um die genetische Vielfalt zu bewahren und vielleicht auch als ein Zeichen, eine Art Signalflagge, die zeigt, dass noch nicht alles verloren ist.

Und doch bewegt sich der Planet noch immer. In 250 Millionen Jahren werden die Kontinente erneut zu einem Superkontinent verschmolzen sein, dem größten aller Zeiten. Ähnlich wie Pangäa wird er quer über den Äquator verlaufen.[379] Ein Großteil des Landesinneren wird die trockenste aller Wüsten sein, gesäumt von Gebirgsketten von gigantischer Höhe und Ausdehnung.

Es wird nur wenige sichtbare Anzeichen von Leben geben. Im Meer wird das Leben leichter sein, und das meiste davon wird in der Tiefsee stattfinden. Das Land jedoch wird völlig leblos erscheinen. Doch dieser Schein trügt. Es wird noch immer Leben geben, aber man wird danach graben müssen – tief, sogar sehr tief.

Auch heute verbirgt sich tief unter der Erde völlig unbeachtet eine unfassbare Fülle an Leben – tiefer noch als die Wurzeln der Pflanzen, tiefer sogar als die Mykorrhizen und Pilze wie Armillaria, obwohl diese jenes Leben möglicherweise schon wahrnehmen.

Das Leben in der tiefen Biosphäre geht so träge vor sich, dass vorrückende Gletscher im Vergleich beinahe schwungvoll wirken. So langsam gar, dass es kaum vom Tod zu unterscheiden ist. Die Bakterien wachsen äußerst langsam, teilen sich selten und können Jahrtausende alt werden. Doch wenn sich die Erde aufheizt und Kohlendioxid in der Atmosphäre immer knapper wird, wird das Leben in der Tiefe Fahrt aufnehmen.

Die Hitze selbst wird es antreiben, ebenso wie das Eindringen einer neuen Art von Organismen von oben, kaum vorstellbaren Mischwesen aus dem, was vor langer Zeit einst Pilze, Pflanzen und Tiere genannt wurde, die nun die letzten Überlebenden nahe der Oberfläche des Planeten sind. Diese Superorganismen werden sich die trägen Bakterien der Tiefe zunutze machen und ihnen im Austausch gegen Energie und Nährstoffe eine sichere Zuflucht bieten, denn die Photosynthese gehört nun der Vergangenheit an.

Die pilzartigen Fäden der Superorganismen werden sich auf ihrem Weg durch die Erdkruste immer weiter verzweigen, immer auf der Suche nach mehr Nahrung und mehr

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Die Erde wird sich weiter drehen, wenn auch langsamer, arthritisch, wie unter Schmerzen, denn der Planet ist nun sehr alt. Die tektonischen Platten sind nicht mehr so gut geschmiert, wie sie es einst waren.

In der Frühzeit des Planeten wurden die großen Wärmemotoren, die die Kontinentaldrift antrieben, durch einen nuklearen Hochofen befeuert: den langsamen radioaktiven Zerfall von Elementen wie Uran und Thorium, die in den letzten Sekunden einer Supernova geschmiedet worden waren und sich bei der Entstehung des Planeten im Erdkern angesammelt hatten. Diese Elemente sind nun beinahe aufgebraucht.

Der Superkontinent, der in etwa 800 Millionen Jahren zusammenwächst, wird der größte in der Geschichte des Planeten sein. Und ebenso sein letzter. Denn die Kontinente, deren rastlose Verschiebung als Triebfeder des Lebens diente – wie auch als dessen Erzfeind –, werden dann endgültig zum Stillstand gekommen sein.

An der Oberfläche wird es kein Leben mehr geben. Auch tief unter der Erde tut das Leben seinen letzten Atemzug. Das letzte verbliebene Leben im Meer, das sich um hydrothermale Schlote in der Tiefsee sammelt, wird an Nährstoffmangel sterben, sobald die mineralreichen »Raucher«, die Wasserstoff und Schwefel ausstoßen, nach einem letzten Aufstottern versiegen.