Invasion
Ankunft der Dunkelheit
Joshua Tree & Dominik A. Meier
Impressum © 2023 Joshua Tree & Dominik A. Meier
Alle Rechte vorbehalten
Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.
Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.
Umschlaggestaltung: MadDesign (www.maciejgarbacz.pl/sf)
Lektorat: Nina Dachwald
Korrektorat: Andrea Kaldonek
Bilder unter Lizenz von shutterstock.com verwendet.
(jet by bexels-kimheng-mam)
(helicopter by pexels-pixabay)
(city by pexels-tum-dubois)
ASIN: B0BNL8TH5G
Independently published
Über die Autoren
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Inhalt
Prolog
C olonel Jason Bradley ging hinter der hinteren Konsolenreihe auf und ab wie ein Tiger und starrte immer wieder auf das schwach beleuchtete Display seines Smartphones. Die Batterieanzeige verriet ihm, dass er achtzig Prozent des Akkus bereits verbraucht hatte, einfach nur, indem er seit Stunden draufstarrte. Er wollte auf keinen Fall verpassen, wie seine Frau ihren ersten Sohn gebar, selbst, wenn es nur eine Videoverbindung ins Krankenhaus war. Es war schwierig genug gewesen, sein Telefon mit ins Kontrollzentrum zu bringen, und hatte einige Gefallen erfordert.
So registrierte er das Summen der Rechner und das Blinken und Flackern der vielen Monitore kaum, die seit zwei Jahren seine natürliche Arbeitsumgebung darstellten. Hier und jetzt war er lediglich ein besorgter Vater, der es kaum erwarten konnte, seinen Erstgeborenen in den Armen zu halten, und kein Offizier, der bereits in wenigen Wochen als einer der Kommandeure des größten Krieges der Menschheitsgeschichte sein Ende finden würde.
»Sir?«, riss ihn die Stimme eines jungen Sergeants aus seinen rastlosen Gedanken.
»Hm?« Widerwillig steckte er sein Smartphone in die Hosentasche und wandte sich dem vierschrötigen Mann in Uniform zu, der sich auf seinem Stuhl nicht umgedreht hatte und stattdessen auf den mittleren seiner drei Monitore starrte.
»Ich habe hier einen Kontakt, der von der Hawaii-Control-Zone gemeldet wurde und sich möglicherweise in unsere Richtung bewegt.«
»Präziser, wenn ich bitten darf.«
»Richtung CONR, Colonel.« Die Unsicherheit in der Stimme des Unteroffiziers entlockte Jason einen tadelnden Blick, auch wenn der andere ihn nicht sehen konnte. Es handelte sich um einen Reflex, den er sich von seinem Drill Sergeant in West Point abgeschaut hatte und der so etwas wie eine Zwangshandlung geworden war.
»Auf den Hauptschirm«, befahl er und sah über die Köpfe der zwei Dutzend Soldatinnen und Soldaten hinweg, die im Kontrollzentrum an ihren jeweiligen Stationen sämtliche Radar- und Satellitendaten auswerteten, die NORAD zur Verfügung standen und den weltweiten Luftraum inklusive des niedrigen Erdorbits bis auf den Zentimeter genau überwachten.
»Ich habe keine Trajektorie.« Der Sergeant klang nicht einmal entschuldigend, eher ungläubig.
»Langdon«, wandte sich Jason an die diensthabende SATCOM in der zweiten Reihe und sprach scharf genug in sein Headset, dass sie den Ernst der Lage begriff. »Irgendwelche Fehlermeldungen im BMEWS?«
»Negativ«, antwortete sie mit derselben Ruhe, die auch den Kontrollraum ausfüllte wie eine zähe Masse und ihn manchmal daran zweifeln ließ, ob die Entscheidung gegen das Cockpit und für die Karriere die richtige gewesen war. »Frühwarnsystem funktioniert einwandfrei, bis auf einen Kontakt zehn Klicks östlich von Hawaii, der allerdings von einer der Bodenstationen stammt.«
Jason brummte und sah, wie sich die Datenkolonnen auf einem der drei Hauptschirme aneinanderreihten wie die Codezeilen einer komplexen Binärinfrastruktur. Das ansteigende Klackern von Tastaturen verriet, dass gleich mehrere seiner Soldaten damit beschäftigt waren, sie in etwas Brauchbares zu verwandeln.
Kurz darauf sah er die Ergebnisse mit eigenen Augen und die dunklen Betonwände des Raumes tief unter der Peterson Space Force Base schienen näherzukommen und die Atemluft zu komprimieren. Ohne zu zögern, drehte er sich um und riss den rotumrandeten Telefonhörer von der Wand.
»Verbinden Sie mich mit dem General«, bellte er in die Muschel. »Sofort!«
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich der NORAD-Kommandeur meldete.
»Bradley?«
»Sir, wir haben hier ein UFO, das innerhalb der Überwachungszone Hawaiis gesichtet wurde und der Radarabstrahlung zufolge über zweihundert Meter lang und etwa ein Viertel so breit ist«, erklärte Jason, wohl wissend, wie verrückt das klang. Da er karrierebewusst war, fügte er hinzu: »Die Daten sind möglicherweise – oder offensichtlich – verzerrt, aber Fakt ist, dass sich das Objekt mit vielfacher Schallgeschwindigkeit in Richtung CONR bewegt hat.«
»Bewegt hat? «, hakte der General nach.
»Wir haben es verloren. Der Kontakt hielt nur knapp über zwei Sekunden an.«
»Gehen Sie auf Alarm Level 2. Ich mache mich auf den Weg.«
»Verstanden, Sir.« Jason hängte den Hörer ein, als im selben Moment jemand aus der ersten Reihe rief: »KONTAKT!«
»Wo?«
»Central CONR, über Wyoming!«
»Höhe?«
»Einhundertachtzig Klicks.«
Entgeistert starrte er das rote Symbol auf dem Hauptschirm an, das die Erde und sämtliche Objekte im niedrigen Erdorbit anzeigte wie eine Wolke aus gelben Glühwürmchen, zu dem sich jetzt ein roter Falke gesellt hatte, der dort nicht sein durfte. Er bemerkte nicht einmal, dass das Smartphone in seiner Hosentasche vibrierend nach seiner Aufmerksamkeit schrie.
»Das sind fünfzig Klicks weniger als beim ersten Kontakt«, folgerte er. »Gehen Sie auf Alarm Level 1!«
Einige Gesichter drehten sich entgeistert zu ihm um, doch es waren nur wenige und sie wandten sich sofort wieder ihren Bildschirmen zu. Schlagartig wurde es laut, als seine Soldaten Kontakt zu den Alarmrotten des Strategic Air Command an Ost- und Westküste aufnahmen und Alarmstarts befahlen.
»Geben Sie mir ein potenzielles Ziel, Sergeant!«, befahl er dem jungen Mann vor sich und sah doch selbst, dass es unmöglich war, da der rote Falke längst wieder von der elektronischen Karte verschwunden war.
Wieder machte er einen Satz zu dem Telefon an der Wand hinter sich und rief den General an.
»Sir«, sagte er, sobald die Leitung stand. »Sie sollten den Präsidenten informieren. Mit was auch immer wir es zu tun haben, es ist in unseren überwachten Schutzschirm eingedrungen und verfügt über eine Tarntechnologie, die ich noch nie gesehen habe.« Jason sah auf den Hauptschirm und schluckte. »Und es scheint noch größer zu sein, als beim ersten Kontakt vermutet.«
Er hörte den General noch »geben Sie mir den Präsidenten!« rufen, dann kam bereits der nächste Kontakt rein.
»KONTAKT!«, rief dieselbe Soldatin wie zuvor. »Britische Überwachungszone, selbe Signatur, um 40 Prozent reduzierte Geschwindigkeit, Höhe einhundertzwanzig Klicks!«
Noch während in Jasons Kopf die Sorge erwachte, einen Fehler gemacht zu haben, als er die höchste Alarmstufe befohlen hatte, verrieten ihm ein unverkennbares Kitzeln im Nacken und Schweißperlen in seinen Händen, dass er gerade etwas Schreckliches entdeckt hatte, noch bevor sämtliche Telefone auf der Peterson Space Force Base zu klingeln begannen und damit den ansteigenden Rhythmus des drohenden Untergangs anstimmten – während in El Paso ein neues Leben geboren wurde, das er nie zu Gesicht bekommen würde.
Kapitel 1
»D as SPACECOM geht auf DEFCON 3.«
Colonel Roberts’ Stimme bebte. Das waren seine ersten Worte, seit er vor ein paar Minuten mitten in der Besprechung angerufen worden war. Er tastete nach seiner Brille, bekam sie jedoch nicht zu fassen. Seine Finger zitterten. Erst nach ein paar Versuchen gelang es ihm. Einen winzigen Augenblick lang verharrte er regungslos auf seinem Stuhl, ehe er sich die Augen rieb und die Brille wieder aufsetzte.
Im Besprechungsraum herrschte völlige Stille, durchbrochen einzig vom leisen Surren dutzender Monitore und dem Klingeln eines Telefons, doch keiner der knapp zwei Dutzend Männer und Frauen im Raum rührte sich. Die Offiziere, Analysten und Physiker der Schriever Space Force Base schwiegen, offensichtlich gelähmt von dem, was sie gerade gehört hatten, und warteten darauf, dass der Colonel fortfuhr. Jedem Einzelnen von ihnen stand die Anspannung deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Das Space Surveillance Network hat es gerade bestätigt: Das Objekt über der Schlangeninsel stammt nicht von der Erde. Es befindet sich in einem geostationären Orbit in etwa 160 Kilometern Höhe.«
Agent Veronica Keyes holte tief Luft und erwiderte seinen Blick. Oder zumindest versuchte sie es, denn der Colonel drehte sich beinahe augenblicklich um und starrte aus dem Fenster in Richtung der sich langsam dem Horizont zuneigenden Sonne. Keyes spürte, wie sich ihr Mund zu einer Erwiderung öffnete, vielleicht auch zu einer Frage, doch ihr kam kein Laut über die Lippen. Mit einem Mal war ihr Kopf wie leergefegt; eine dröhnende Taubheit legte sich über ihren Verstand, der so verzweifelt versuchte, das gerade Gehörte nicht nur abstrakt, sondern ganz konkret zu begreifen.
Als ihr klar wurde, dass sie zumindest in diesen Sekunden dazu nicht in der Lage war, sah sie erneut auf das flackernde Bild, das der Projektor an die Wand warf. Neben einer strategischen Karte Europas und der vergrößerten Darstellung der Schwarzmeerregion liefen kryptische Datenkolonnen entlang und kulminierten in Diagrammen, die im Angesicht der Tragweite der Situation seltsam unterkühlt und geradezu nüchtern wirkten. Eigentlich war nichts anders als noch vor ein paar Minuten, sah man einmal von der kleinen, intensiv roten DEFCON -Meldung in der oberen rechten Ecke ab, die dort seit ein paar Sekunden leuchtete.
»Hat sich die Agency schon gemeldet?« Sie holte tief Luft. »Gehen nur wir auf DEFCON 3 ? Welche Informationen hat die NASA? Haben wir …«
»Die CIA sagt nur, es ist nicht russisch«, fiel ihr der Colonel mit leiser Stimme ins Wort. »Und anscheinend auch nicht chinesisch. Sämtliche Leitungen glühen. Sie sind wohl genauso überrascht wie wir. Die finale Bestätigung vom National Reconnaissance Office steht noch aus, aber das ist nur noch eine Frage von Minuten. Reine Formalität. Was den Rest angeht: Der Präsident hat DEFCON 3 für sämtliche Teilstreitkräfte verfügt. Die Air Force geht auf DEFCON 2 . Unsere Leute kümmern sich just in diesen Sekunden darum, dass wir Zugriff auf die Ressourcen der NASA erhalten, aber fürs Erste muss reichen, was wir haben.«
Wieder setzte er seine Brille ab. Jetzt endlich erwiderte er ihren Blick. Seine Augen waren blutunterlaufen und sein Gesicht schien mit einem Mal um Jahrzehnte gealtert.
»Leute«, sagte er leise. »Ich glaube, das ist ernst.«
»Und was tun wir?«, fragte ein anwesender Offizier.
»Wir tun, was wir können.«
»Sir?«
Er antwortete ihm nicht, sondern beugte sich stattdessen zur Seite und tätigte einige schnelle Eingaben an der Tastatur. Nur Sekunden später verschwand die Projektion der strategischen Darstellung Europas und wurde ersetzt durch ein vergrößertes und unscharfes Bild eines metallisch schimmernden Objekts in ansonsten völliger Finsternis. Wenig mehr als ein paar Pixel, aber sie genügten, um Keyes einen eiskalten Schauer über den Rücken zu jagen.
Unwillkürlich kniff sie die Augen zusammen. Auf den ersten Blick fiel es ihr schwer, etwas Genaues zu erkennen, aber nach und nach schaffte sie es, die einzelnen Schattierungen voneinander zu unterscheiden. Glaubte man der Maßstabsangabe, maß das Objekt eine Länge von gut 1500 Metern und an seiner breitesten Stelle einen vertikalen und horizontalen Durchmesser von etwa 700 Metern. Es besaß eine langgezogene, konische Form, die mit einer ganzen Reihe kleinerer Aufbauten gespickt zu sein schien.
»Ist es das?«, fragte sie leise, obwohl sie die Antwort längst kannte und ihr die Frage noch beim Aussprechen vollkommen sinnlos vorkam.
»Ja«, antwortete Roberts. »Das Bild stammt von der ESA. Unser Space Based Visible Telescope ist noch im Anflug. Ankunft innerhalb der nächsten Stunde. Durch die geostationäre Position des Objekts sind unsere Radaranlagen und Teleskope relativ nutzlos – was bedeutet, dass die Russen einen riesigen Vorteil besitzen und wir uns aktuell auf die Europäer verlassen müssen. Wir …«
»Colonel?«, unterbrach ihn Keyes. »Wenn dieses Objekt nicht russisch oder chinesisch ist, dann …«
Sie hielt inne.
»Wir gehen von einem extraterrestrischen Ursprung aus«, bestätigte Roberts. »Auch wenn – oder viel eher: weil – keine unserer Sensoreinrichtungen in der Lage war, es beim Anflug auf die Erde zu erfassen. Wir wissen weder, wie das möglich ist, noch wieso wir es jetzt plötzlich erkennen können. Verdammt, wir können ja noch nicht einmal sagen, wie lange es sich bereits im Sonnensystem befindet und …«
»Darauf wollte ich nicht hinaus.« Keyes schüttelte den Kopf. »Wenn sowohl die Russen als auch die Chinesen nichts davon wissen, wieso arbeiten wir in dieser Situation nicht mit ihnen zusammen oder tauschen uns zumindest aus?«
Der Colonel starrte sie an.
»Ist das ihr Ernst, Keyes?«, fragte er mit unüberhörbarem Spott in der Stimme. »Wir sollen mit den Russen zusammenarbeiten? Nachdem sie letztes Jahr in die Ukraine einmarschiert sind und uns seither alle paar Wochen mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen? Sie sind doch von der CIA! Sie müssen wissen, was für ein Stuss auch nur der Gedanke …«
»Colonel«, unterbrach sie ihn abermals und tat ihr Möglichstes, ihre Stimme ruhigzuhalten. »Das ist mir vollkommen bewusst. Aber die CIA hat mich Ihnen nicht als Beraterin zur Verfügung gestellt, damit ich Ihnen nach dem Mund rede, sondern um das SPACECOM bei der Analyse genau solcher Gefahrenpotenziale zu unterstützen. Angesichts der aktuellen Lage und unter Einbezug der derzeitigen Informationen müssen wir davon ausgehen, dass dieses Objekt – wie Sie sagen – extraterrestrischer Herkunft ist. Das ist nicht nur ein Ufo, sondern ein explizit als außerirdisch identifiziertes Objekt. Damit stellt es für die Russen, die Chinesen und jeden anderen Menschen auf diesem Planeten eine ebenso große potenzielle Bedrohung dar wie für uns. Es wäre fahrlässig, nicht jede uns zur Verfügung stehende Option zu prüfen.«
»Das haben nicht Sie zu entscheiden«, erwiderte Roberts. »Agent Keyes, eine solche Situation ist, wie Sie sicher wissen, noch nie zuvor eingetreten. Und auch wenn ich Ihre Bedenken und Ihren Gedankengang nachvollziehen kann, bedeutet das nicht, dass eine solche Entscheidung strategisch zu rechtfertigen ist. Wir fahren gemäß Protokoll fort – und solange die CIA Sie nicht abkommandiert, betrachte ich Sie als reguläre Mitarbeiterin des SPACECOM. Erstellen Sie auf Basis der verfügbaren Daten eine Analyse. Sie liegt in zwei Stunden auf meinem Schreibtisch.«
Keyes öffnete schon den Mund zu einer Erwiderung, sagte jedoch nichts und nickte stattdessen nur, ehe sie aufstand und den Besprechungsraum vor allen anderen verließ. Sie wusste, dass dies nicht der Zeitpunkt für Diskussionen war, und verstand auch, warum der Colonel derart ungehalten auf ihren Vorschlag reagiert hatte. Trotzdem war es in ihren Augen fahrlässig, angesichts einer solchen Situation nicht sämtliche Möglichkeiten zu prüfen und auch unkonventionelle Wege zu gehen. Aber in einer Sache hatte Roberts recht: Es war nicht an ihr, das zu entscheiden.
Während sie sich mit schnellen Schritten auf den Weg durch die Basis in Richtung ihres Büros machte, herrschte in der gesamten Anlage eine dröhnende, gespenstische Stille, einzig hier und da durchbrochen von ein paar wenigen, hektischen Telefonaten der Soldaten und Zivilmitarbeiter, die gerade im Dienst waren. Die Schriever Space Force Base war um diese Uhrzeit nur mit einer Rumpfbelegschaft besetzt, die angesichts des unvermittelten Auftauchens eines außerirdischen Objekts über der Erde kaum in der Lage schien, angemessen auf eine so titanische und vor allem plötzliche Entwicklung zu reagieren. Ein Umstand, der sich in den nächsten Minuten ändern würde, wenn die für einen solchen Notfall vorgesehenen Protokolle anliefen und das gesamte Personal in Alarmbereitschaft versetzt wurde.
Mit einem tiefen Atemzug wappnete sich Keyes für das, was ihr noch bevorstand, und schloss für einen winzigen Moment die Augen. Noch immer fühlte sie sich seltsam … taub und ferngesteuert. Sie wusste mit jeder Faser ihres Körpers, was zu tun war, spielte in Gedanken Szenario um Szenario durch, um die angeforderte Analyse schnellstmöglich anzufertigen, aber gleichzeitig kam ihr alles seltsam unwirklich vor. Als wäre sie Teil eines Films; als würde gleich jemand um die Ecke springen und ihr eröffnen, dass das nicht real war.
Aber das war es. Roberts hatte es zwar nicht explizit ausgesprochen, aber er – und jeder andere in dieser Basis – wusste längst, was das fremde Objekt bedeutete: Außerirdische. Aliens. Fremdes Leben. Extraterrestrische Lebensformen. Es war vollkommen egal, wie man es bezeichnete, denn alles lief auf ein- und dasselbe hinaus: Sie waren nicht allein. Und niemand konnte absehen, was ab jetzt geschehen würde.
Als sie schließlich ihr Büro erreichte und sich an ihren Schreibtisch setzte, blinkte ihr Telefon. Auf jeder verfügbaren Leitung wartete jemand darauf, mit ihr zu sprechen. Da nur eine Handvoll Menschen ihre Durchwahl besaßen, war es nicht besonders schwer, zu erraten, wer mit ihr sprechen wollte: CIA, NSA und vermutlich auch das Pentagon. Als faktischer Geheimdienstattaché im United States Space Command, dem SPACECOM, war sie die erste Anlaufstelle für jeden, der die offiziellen Kommandostrukturen umgehen und schnell an Informationen gelangen wollte. Eigentlich hatte sie dafür keine Zeit. Aber vielleicht bot sich hier zumindest die Chance, an zusätzliche Informationen zu gelangen.
»Was hast du, Mike?«, fragte sie, als sie sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt hatte und hektisch einige Dokumente auf ihrem Schreibtisch durchwühlte. »Und mach schnell. Wir haben hier eine Situation.«
»Woher wusstest du, dass ich es bin?«
»Genau zwei Leute von der Agency haben meine Nummer. Als Optimistin habe ich natürlich auf dich getippt. Also?«
»Seit knapp einer Stunde gleichen die nachrichtendienstlichen Kanäle einem aufgescheuchten Wespennest«, antwortete Mike. »Eine solche Aktivität gab es seit 9/11 nicht mehr. Unsere Kontaktleute rennen uns quasi die Türen ein. SWR, GRU, die ganze Bande.«
»Und?«
»Und? Sag mal, willst du mich auf den Arm nehmen? Was zur Hölle ist los bei euch?! Wir haben eine SPACECOM-Anfrage bezüglich irgendeines Dings über dem Schwarzen Meer erhalten und seither herrscht Funkstille!«
»Mike …«
»Oh nein, Keyes, sicher nicht! Wenn du denkst, dass ich mich so leicht abwimmeln lasse, hast du dich geschnitten! Es geht hier um die Sicherheit der Vereinigten Staaten! Du bist eine CIA-Agentin, vergiss das nicht!«
»Und aktuell dem SPACECOM unterstellt.« Keyes holte tief Luft. »Mit allem, was dazugehört. Mike, wir sind gerade eben auf DEFCON 3 gegangen.«
»Du … was?«
»Wir sind seit ein paar Minuten auf DEFCON 3 «, wiederholte sie. »Wenn du mir also nichts Nützliches sagen kannst, ist dieses Gespräch beendet, bis ich die Freigabe erhalte, mit dir zu sprechen.«
Mike schwieg.
»Tut mir leid, Mike.« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich versuche, dir einen Bericht zukommen zu lassen, aber ich kann nichts versprechen.«
»Die Russen haben ihre Schwarzmeerflotte in Bewegung gesetzt«, knurrte er. »Was auch immer da vor sich geht, ist groß. Unsere Leute im SWR halten sich noch bedeckt, aber wir können selbst eine russische Generalmobilmachung im Moment nicht ausschließen. Keyes, ich weiß, dass du nichts ausplaudern kannst, aber seid um Gottes willen vorsichtig. Das SPACECOM in allen Ehren, aber du weißt genauso gut wie ich, dass die Jungs für globale Angelegenheiten weder ausgestattet noch ausgebildet sind. Falls wir nicht schnellstmöglich in diese Angelegenheit einbezogen werden, sorg dafür, dass man uns wenigstens informiert!«
»Das mache ich. Versprochen.«
Sie legte auf und machte sich an die Arbeit, doch jetzt, als sie die Finger an die Tastatur legte, bemerkte sie auf einmal, wie sehr sie zitterten. Nicht so sehr, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, ihren Bericht zu schreiben, aber trotzdem zu stark, um es zu ignorieren. Hatte sie etwa so viel Angst, ohne sich dessen bewusst zu sein? Oder war es schlicht das Adrenalin in ihrem Blut? Sie war sich nicht sicher. Aber das war nichts, was sie jetzt beeinträchtigen durfte. Und so ballte sie die Hände zu Fäusten, verbannte die Unsicherheit aus ihren Gedanken und fing an.
Mehr noch als vorhin rasten ihre Gedanken. War sie in den ersten Minuten nach DEFCON 3 in einer Mischung aus Überraschung und schierer Ungläubigkeit gefangen gewesen, verfestigte sich jetzt mit jeder Sekunde das Wissen um das, was geschehen war – und vor allem um das, was noch geschehen würde. Mit all seinen Konsequenzen. DEFCON 3 war eine riesige Sache, vor allem, wenn wie jetzt sämtliche Teilstreitkräfte und Kommandogruppen des Militärs in Einsatzbereitschaft versetzt wurden. Aber die Tatsache, dass die internationalen Geheimdienste ebenfalls rein gar nichts über dieses Objekt wussten und die Russen sich sogar veranlasst fühlten, ihre Truppen zu mobilisieren – das war noch mal eine ganz andere Sache. Aus DEFCON 3 konnte schnell DEFCON 2 werden. Und was danach passierte, wusste allein der Teufel.
Nach wie vor hielten sich die Informationen, die Keyes zur Verfügung standen, in mehr als nur engen Grenzen, doch zumindest verschaffte sie sich nach und nach einen Überblick. Es war nicht viel, aber wenigstens etwas, mit dem sie arbeiten konnte – und mit jeder Minute kamen mehr Informationen rein.
Das unbekannte Objekt war vor mittlerweile gut anderthalb Stunden und damit ziemlich genau um Mitternacht ukrainischer Zeit mehr oder weniger über der Schlangeninsel im Schwarzen Meer aufgetaucht. Praktisch aus dem Nichts und ohne Vorankündigung. Und anders als alles, was die Menschheit bisher konstruiert und ins All geschickt hatte, befand es sich in keiner Umlaufbahn um die Erde, sondern hielt seine Position geostationär in einer Höhe von gut 160 Kilometern.
Daran, dass es sich um ein künstliches Objekt oder – anders ausgedrückt – ein Raumschiff handelte, bestanden kaum noch Zweifel. Detaillierte Analysen der dafür zuständigen Abteilungen standen zwar weiterhin aus, doch die ersten Ergebnisse waren eindeutig. Das Objekt bestand aus verschiedenen Metallen und Legierungen, die nicht natürlich vorkamen. Schon gar nicht in dieser Zusammensetzung. Auch die perfekt konische Form des Objekts und die Tatsache, dass es ohne erkennbare Antriebstätigkeit seine Position hielt, untermauerten diese Erkenntnis. Eine Signal- oder Sensoraktivität in irgendeiner für Menschen erkennbaren Form ließ sich nicht ausmachen, und nach wie vor war es vollkommen unerklärlich, woher dieses Ding gekommen war und wieso es scheinbar auf der ganzen Welt keiner Sensoreinrichtung gelungen war, es beim Anflug zu bemerken.
Keyes arbeitete die Informationen so nüchtern durch, wie sie nur konnte, und versuchte dabei, ihre eigenen Gedanken möglichst weit von sich fernzuhalten, doch es gelang ihr kaum. Ihre Ausbildung und das Wissen um die Wichtigkeit dessen, was sie gerade tat, ermöglichten ihr zwar, ohne größere Einschränkungen weiterzuarbeiten, allerdings war nichts davon in der Lage, die nackte Angst zu unterdrücken, die immer gnadenloser in ihr aufstieg. Angst vor dem Unbekannten – mit allem, was dazugehörte. All die lächerlichen Sci-Fi-Streifen, die immer wieder im Fernsehen liefen, kamen ihr mit einem Mal beinahe prophetisch vor. Was wollten dermaßen hochentwickelte Wesen schon von einem Planeten wie dem ihren und einer Spezies, die sich in immer schrecklichere Konflikte verstrickte?
Als sie vor einigen Monaten ins SPACECOM abkommandiert worden war, um in Zeiten zunehmender Bedrohung durch orbitale Kriegsführung und weltraumgestützte Waffensysteme als Analystin und Verbindungsoffizierin zu den Geheimdiensten zu fungieren, hatte sie diese Position noch als Abstellgleis begriffen. Als Endstation mitten in der Wüste Colorados. Und jetzt saß sie hier und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass es wirklich ein Abstellgleis gewesen wäre, auf dem niemals irgendetwas geschah.
Niemand konnte sagen, was diese Ereignisse zu bedeuten hatten oder was noch geschehen würde. Selbst sie nicht, obwohl genau das ihr Job war. Sie war dafür ausgebildet worden, Bedrohungen durch waffenfähige Satelliten und andere Formen der orbitalen Kriegsführung zu analysieren. Bedrohungen, die von anderen Menschen ausgingen und auf Technologien aufbauten, die zumindest in ihrer grundsätzlichen Wirkungsweise verstanden werden konnten. Und das in einem Rahmen, der vom engen Korsett internationaler Diplomatie eingegrenzt und von der Arbeit der Geheimdienste unterstützt wurde.
All das galt nun nicht mehr. Es gab keine Diplomatie, auf die sie in ihrem Verständnis zurückgreifen konnte, keine international standardisierten Floskeln, aus denen man Gemütslagen und Pläne ablesen konnte, keine subtilen Warnungen und Beschwichtigungen und auch sonst nichts. Das war eine gänzlich neue Situation. Das Fremde schlechthin.
Bisher hatte dieses Objekt keinen Kommunikationsversuch unternommen und auch auf nichts reagiert, was die Menschheit tat. Weder auf die unzähligen Sensoren, die auf es gerichtet waren, noch auf die zweifelsohne in diesen Sekunden stattfindenden Kontaktversuche oder die Mobilisierung am Boden. Auch nicht auf die unzähligen Satelliten im Orbit. Es war einfach nur da, losgelöst von jeder Möglichkeit der Interpretation. Vielleicht war es genau das, was ihr eine solche Angst einjagte?
»Keyes?« Plötzlich eine Stimme bei der Tür. Unwillkürlich zuckte sie zusammen und sah auf. Colonel Roberts betrat ihr Büro. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er geklopft oder die Tür geöffnet hatte. Aber hatte sie diese in ihrer Hektik überhaupt geschlossen? »Haben Sie einen Moment Zeit?«
»Ich weiß, ich bin hintendran«, antwortete sie und sah wieder auf ihren Bildschirm. »Aber der Bericht wird in fünf Minuten fertig. Ich …«
»Darum geht es mir nicht«, unterbrach er sie und setzte sich auf einen der beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er, anders als sonst immer, keine Dienstjacke trug, sondern bloß ein Hemd, auf dem sich trotz der kühlen Nachtluft Schweißflecken abzeichneten. Ein Zeichen für seine Nervosität?
»Worum dann, Sir?«, fragte sie, als er nach einigen Augenblicken noch immer nicht fortfuhr.
»Man hat mir gerade mitgeteilt, dass der Präsident auch für die Army DEFCON 2 angeordnet hat.« Roberts atmete tief durch. »Wir folgen dann wohl als nächstes. Diese Entwicklung war abzusehen, aber ich hatte trotzdem gehofft, dass es nicht so weit kommen würde. Unser Space Based Visible Telescope hat das Objekt vor kurzem erreicht und wir rechnen innerhalb der nächsten Minuten mit hochauflösenden Bildern.«
»Ich verstehe. Soll ich sie in meinen Bericht miteinbeziehen?«
»Vergessen Sie den Bericht, Keyes. Wie gesagt, darum geht es mir nicht. Die Ereignisse überschlagen sich; jede Analyse ist nur Papierverschwendung. Hören Sie, ich will ehrlich sein: Ich bin kein großer Freund davon, dass seit einigen Jahren Leute vom Geheimdienst bei uns ein und aus gehen. Wir können selbst auf uns aufpassen und wissen, was wir tun. Aber unter den aktuellen Umständen könnte Ihr Hintergrund für einige Erleichterungen sorgen und uns neue Handlungsspielräume eröffnen. Handlungsspielräume außerhalb der festgelegten Kommandostrukturen.«
Er machte eine kurze Pause.
»Sie sind gut vernetzt, nehme ich an?«
»Colonel …«
»Keyes.« Er hob eine Hand und bedeutete ihr, zu schweigen. »Sie verstehen die Tragweite dieser Situation genauso gut wie ich. Ich will keine Floskeln hören, keine Ausweichversuche und auch sonst nichts außer der Wahrheit. Haben Sie das verstanden?«
»Das habe ich.«
»Also?«
»Ich bin gut vernetzt.« Sie nickte. »CIA, FBI und NSA.«
»Auslandskontakte?«
»BND und Mossad.«
»Wie kommt jemand wie Sie an eine Stelle wie diese?« Der Colonel lachte leise. »Ich kenne Ihre Akte. Sie wären im Außeneinsatz deutlich besser aufgehoben.«
»Das ist richtig. Aber leider war ich … enthusiastisch genug, mich aus Interesse für die Weiterbildung zur orbital-strategischen Analytik anzumelden. Worauf wollen Sie hinaus, Colonel?«
»Das SPACECOM schickt noch heute Nacht fünf Mitarbeiter zur Ramstein Air Base in Deutschland. Ich will, dass Sie sie begleiten. Als unsere Mitarbeiterin, nicht als CIA-Agentin. Ich gebe es nicht gerne zu, aber wir werden zumindest noch einige Tage auf die Kapazitäten der Europäer angewiesen sein. Ich will, dass sich jemand vor Ort unter nachrichtendienstlichen Gesichtspunkten einen Überblick verschafft. Kriegen Sie das hin, sorge ich dafür, dass Sie wieder zurück nach Langley versetzt werden – wenn Sie das wollen.«
*****
Seit der Ankunft des fremden Objekts waren bereits sechs Tage vergangen – und die Menschheit wusste nach wie vor nichts. Oder diplomatischer ausgedrückt: Weder Wissenschaftlern noch Militärs war es gelungen, mehr über seine Herkunft, seine Intentionen oder sonst etwas herauszufinden. Mittlerweile existierten zwar hochauflösende Aufnahmen aus allen nur vorstellbaren Winkeln und auch detailliertere Scans seiner Oberfläche, von den unzähligen Theorien zu den Gründen für seine Ankunft ganz zu schweigen, aber in den wirklich wichtigen Fragen war man genauso schlau wie am ersten Tag. Fakt war, dass das Objekt, dieses Schiff, weiterhin seine Position über dem Schwarzen Meer hielt, sich nicht bewegte und auch auf keinen Kommunikationsversuch reagierte, den irgendjemand unternahm. Und wenn es an einer Sache nicht mangelte, dann an Kontaktversuchen.
Selbstverständlich hatte sich keine der Großmächte des Planeten die Blöße gegeben und nicht versucht, mit Hilfe dutzender Spezialisten und modernster Ausrüstung eine Form von Interaktion zu erreichen. Das Schiff war in jeder irdischen Sprache und auf allen verfügbaren Frequenzen kontaktiert worden, über Lichtsignale, optische Botschaften auf der Erde und sogar über Binärcode, Esperanto und Walgesang. Nichts und absolut gar nichts hatte irgendeine Reaktion hervorgerufen oder sonst etwas, das man als Aktivität hätte bezeichnen können. Beinahe wirkte es, als wäre das Schiff … tot. Tot oder verlassen.
Längst kamen erste Spekulationen auf, ob dieses Objekt womöglich gar kein Schiff war. Spekulationen darüber, ob diese Interpretation nicht bloß dem menschlichen Verständnishorizont geschuldet war. Womöglich war dieses Ding nichts weiter als ein Trümmerteil, Abfall, Schrott oder ein bloßes Kuriosum, das niemals verstanden werden konnte. Manche Erklärungsversuche gingen auch von einer Waffe, einem Satellit oder gar von einer natürlichen Erscheinung aus, wobei sich Letzteres vermutlich an der Grenze zum Unmöglichen bewegte. Wenn sich ein Haufen Weltraum-Partikel nicht gerade spontan entschlossen hatten, die Menschheit zu ärgern, konnte sich Keyes das beim besten Willen nicht vorstellen.
Sie seufzte leise, nahm einen Schluck Bier und sah vom Balkon ihres Hotelzimmers in den Himmel. Natürlich war ihr vollkommen bewusst, dass sie das Schiff von hier aus unter keinen Umständen erkennen konnte, aber das war ihr egal. Allein schon die Tatsache, dass es irgendwo da oben war, genügte, um sich von der Langeweile und der Monotonie ihres Alltags in Berlin abzulenken. Auch wenn es nur ein kleines bisschen war. Nach ihrer Landung in Ramstein hatte sie sich nur ein paar Stunden in der Basis aufgehalten, ehe sie sich entschlossen hatte, ihr Glück in Berlin zu versuchen. In der Stadt, die vor etwas mehr als 30 Jahren noch für ihre Agenten und die Fronten des Kalten Kriegs berühmt gewesen war.
Erneut trank sie einen Schluck. Das Bier schmeckte gut, auch wenn ihre Kontakte nicht müde wurden, ihr zu sagen, dass das, was man in Berlin als Bier bezeichnete, kaum dieses Namens würdig war. Sie konnte das nicht einschätzen. Normalerweise trank sie nicht, schon gar kein Bier. Aber besondere Umstände erforderten nun einmal besondere Taten. Ganz davon abgesehen, dass sie sich so sicher besser unter die Einheimischen mischte.
Seit ihrer Ankunft war jedenfalls nichts und absolut gar nichts Nennenswertes geschehen. An sich hätte sie sich sämtliche Arbeit seither komplett sparen können. Das lag jedoch nicht einmal an einem Mangel an Versuchen, etwas herauszufinden, sondern vielmehr an der schieren Unmöglichkeit dieses Vorhabens. Jeder Wissenschaftler von Rang und Namen, Universitäten, Regierungen, private Initiativen, Firmen, Militär, Geheimdienste – jeder arbeitete Tag und Nacht daran, irgendetwas herauszufinden. Aber niemand schien in der Lage, mehr zu sagen als das, was mittlerweile allgemein und vor allem auf der ganzen Welt bekannt war.
Hatte die öffentliche Wahrnehmung anfangs noch irgendwo zwischen Hysterie und Weltuntergangsstimmung geschwankt, hatten sich die meisten Menschen mittlerweile beruhigt und mit der Lage halbwegs abgefunden. Bislang war nichts geschehen und selbst die pessimistischsten Zeitgenossen taten sich schwer, noch weitere Weltuntergangsszenarien auszurufen, während weiter nichts geschah.
Ein Lächeln huschte über Keyes’ Lippen. Eigentlich war es aus geheimdienstlicher Sicht eine relativ entspannte Situation. Mal vom Schiff selbst und der damit einhergehenden Unsicherheit abgesehen, besaß keine Nation der Erde einen entscheidenden Vorteil. Vielleicht hatten die Russen schärfere Bilder vom Objekt und irgendjemand anders eine bessere Vermutung zu seiner Zusammensetzung, aber unterm Strich wussten sie alle gleichermaßen wenig. Und das wiederum brachte den USA auf lange Sicht einen Vorteil: Anders als beispielsweise die Russen waren sie in der Lage, die Kosten solcher Untersuchungen um ein Vielfaches länger zu stemmen, was ihnen irgendwann wiederum einen Vorteil einbringen würde.
Plötzlich ein Klopfen an ihrer Zimmertür. Instinktiv griff Keyes nach ihrer Pistole und legte einen Finger auf den Abzug, doch bevor sie auch nur aufstehen konnte, vibrierte bereits ihr Handy. Mike O’Connor, ihr Vorgesetzter von der CIA, bestätigte, dass er vor der Tür stand.
Das durfte doch nicht wahr sein!
»Was hast du in Berlin verloren?«, seufzte sie und machte sich auf den Weg zur Tür, achtete dabei jedoch darauf, in keiner direkten Linie darauf zuzugehen, und blieb schließlich mit der Waffe in der Hand daneben stehen. Zwar rechnete sie nicht mit einem feindlichen Zugriff, aber allein der Teufel wusste, wozu verzweifelte russische Agenten in der Lage waren. Verzweifelte russische Agenten, die ihren Vorgesetzten Ergebnisse präsentieren mussten, wollten sie nicht im tiefsten Sibirien verschwinden. »Spionierst du mir etwa nach?«
»Selbstverständlich«, antwortete Mike. »Nachdem wir endlich herausgefunden haben, wo du dich aufhältst, habe ich mich in den nächstbesten Flieger gesetzt. Mach endlich die Tür auf, Keyes!«
»Woher soll ich wissen, dass du es bist?«, grinste sie.
»Ich habe auch so schon miserable Laune! Mach auf oder ich trete die Tür ein!«
Keyes seufzte erneut und tat wie geheißen. Mike schob sich sofort an ihr vorbei, schlug die Tür hinter sich zu, wuchtete eine dunkle Reisetasche auf einen Sessel und ließ sich daneben zu Boden sinken, ehe er ihr einen so erschöpften wie wütenden und geradezu vorwurfsvollen Blick zuwarf.
»Was?!«, fragte Keyes. »Was ist los?!«
»Warum musste ich erst eine offizielle Anfrage an das SPACECOM stellen, um zu erfahren, dass du vor fast einer Woche nach Berlin geflogen bist?«, fauchte er.
»Hättest du es denn zugelassen?«
»Nein, verdammt, hätte ich nicht!«, rief er. »Wann du wohin gehst, entscheidet die Agency! Du wurdest dem SPACECOM als Analystin und Verbindungsoffizierin zugewiesen und nicht für den Außeneinsatz! Hätten wir dich wieder im Feld sehen wollen, hätten wir dich selbst eingesetzt!«
Keyes schnaubte. »Und deswegen bist du hier? Um mir das zu sagen? Was willst du tun? Mich zurückholen?«
»Ganz genau.«
»Du verarschst mich, Mike.«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. Mit einem Mal war die Wut aus seiner Stimme verschwunden. »Nein, das tue ich nicht. Keyes – Veronica – wir haben dich aus dem Außendienst geholt und in die Analytik gesteckt, weil du viele wichtige Leute beeindruckt hast. Du bist zwar eine Agentin im Außendienst, aber deine Fähigkeiten in der Analytik sind wegweisend. Niemand will dich verlieren – erst recht nicht in einer so festgefahrenen Situation.«
»Eben«, erwiderte sie. »Die Situation ist festgefahren. Und kein Analyst der Welt kommt weiter, indem er sich in einem Büro einschließt. Vielleicht können irgendwelche Eierköpfe etwas errechnen, aber in meinen Augen ist unsere beste Chance, darauf zu warten, dass ein anderer etwas herausfindet!«
Mike sah an ihr vorbei in Richtung des kleinen Balkons. »Indem du dich mit deutschem Bier betrinkst?«
»Eine Flasche, Mike! Und darum geht es jetzt nicht!«
»Keyes, bitte lass mich …«
»Nein!«, fauchte sie. »Nein! Hör mir zu, Mike! Du weißt, wie gerne ich für dich arbeite, und ich habe sogar das SPACECOM akzeptiert, ohne mich zu beschweren, weil ich dich nicht bloßstellen wollte, aber hier geht es nicht um dich oder mich oder die Agency! Verdammt, es geht noch nicht einmal um die USA! Zumindest nicht nur. Dieses Ding, dieses Schiff, kann und wird unsere Welt ein für alle Mal verändern, ganz egal, wie es ausgeht! Diese Tage entscheiden darüber, was einmal sein wird. Vielleicht befinden sich tatsächlich irgendwelche Lebewesen an Bord, vielleicht kommen sie in Frieden – niemand weiß es. Was aber denkst du, wird geschehen, wenn die Russen sich entschließen, ein paar Atomraketen abzuschießen?«
»Ich …«
»Das war eine rhetorische Frage! Mike, im Feld kann ich daran arbeiten, die Dinge zum Guten zu verändern! Ja, gerade passiert nicht viel, und ich kann auch nichts vorweißen, was ich nicht schon vor einer Woche wusste, aber allein in diesem Hotel halten sich Agenten vom Mossad, dem SWR, den Chinesen, SIS und sonst wem auf!«
»Also eine geheimdienstliche Übernachtungsparty?«
»Wenn jemand etwas erfährt, erfahren es alle«, knurrte Keyes. »Darauf wollte ich hinaus. Mike, ich meine das nicht böse, aber ich lasse mich nicht von dir verarschen. Du sitzt viel zu hoch in der Nahrungskette, als dass ich dir abkaufe, dass du nur wegen mir nach Berlin geflogen bist. Wenn du ehrlich zu mir bist, können wir wie Erwachsene miteinander sprechen, aber wenn du mich weiterhin belügen willst, verschwinde aus meinem Zimmer. Ich komme erst zurück, wenn ich meinen Marschbefehl erhalte.«
Mike lachte auf. »Bist du wirklich so stur?«
»Und du wirklich so verlogen?«, gab sie zurück. »Verdammt, Mike, was ist los?«
Er schwieg.
»Dein Ernst?«
»Ich bin wegen dir hier«, antwortete er zähneknirschend. »Die geopolitische Lage ist heikel. Das Auftauchen dieses Objekts stellt uns alle vor Herausforderungen – und die Geheimdienstarbeit steht an vorderster Front. Wir versuchen, überstürzte Reaktionen und Missverständnisse zu verhindern. Veronica, du weißt, wie viel ich von dir halte. Ich will nicht, dass du in irgendeinem sinnlosen Schlagabtausch stirbst, nur weil Berlin ein Pulverfass der Verzweiflung wird. Es gibt Wichtigeres, für das wir dich brauchen.«
»Oh mein Gott!«, entfuhr es Keyes. »Ihr zieht den Schwanz ein vor den Russen!«
»Das tun wir nicht. Wir versuchen, angesichts der Lage in der Ukraine zu deeskalieren. Deswegen bin ich hier. Wir öffnen alte Gesprächskanäle. Russland beansprucht das Objekt als sein Eigentum. Das gilt es zu verhindern. Wenn auch nur ein einziger russischer Spion deswegen draufgeht, kommt es zur Eskalation.«
»Denkst du, ich habe nichts Besseres zu tun, als jeden Russen zu erschießen, den ich sehe?!«
»Gottverdammt!« Plötzlich sprang Mike auf, packte sie an den Armen und drückte sie gegen die Wand – und zwar mit einer derartigen Kraft, dass ihr die Pistole beinahe entglitt. »Es geht hier nicht um dich! Dieses fremde Schiff stellt eine globale Bedrohung dar und niemand weiß, was es noch tun wird! Russen und NATO stehen Gewehr bei Fuß und sind bereit, sich beim kleinsten Zucken gegenseitig an die Gurgel zu gehen! Kommt es zum Äußersten, darf sich die Menschheit nicht selbst schwächen! Und ja, wenn das bedeutet, dass wir kurzzeitig den Russen entgegenkommen, dann ist das eben so! Genau das nennt sich Weitsicht und Verantwortung! Du kommst jetzt mit mir oder ich lasse dich an den Beinen durch die Lobby schleifen! Ende der Diskussion!«
Kapitel 2
Z igarettenqualm hing schwer in der Luft, gemischt mit Abgasen und dem alkoholgeschwängerten Dunst, der jeder Kneipe anhaftete. In der Abendhitze Arizonas verwandelte sich die Luft in ein beinahe unerträgliches Gemisch, dem man zu Recht nachsagte, dass es nur diejenigen aushielten, die an diesem Ort lebten. Eine Art Ritterschlag der Verzweifelten und Hoffnungslosen.
Nick Hargraves hielt es aus. Er umklammerte die Flasche billiges Bier mit beiden Händen und starrte auf das spröde, stellenweise von jahrzehntelanger Benutzung abgegriffene Holz des Tresens. Nicht etwa, weil es einen bestimmten Grund dafür gab, sondern weil er schlicht und ergreifend nicht wusste, was er sonst mit seinen Händen anfangen sollte. Schon seit Stunden saß er so da und rührte sich nur dann, wenn er trank oder eine neue Flasche orderte. Die krächzende Musik aus einer uralten Jukebox war längst verstummt und neben ihm waren nur noch diejenigen da, die nicht nach Hause gehen konnten oder wollten.
Einmal mehr führte Nick die Flasche an seine Lippen und trank den abgestandenen, warmen Rest aus, der noch übrig war. Viel war es nicht, doch zum Glück stand schon eine neue vor ihm, bevor er die alte auch nur zurück auf den Tresen stellen konnte. Wer um diese Uhrzeit noch in einer solchen Kneipe saß, den verstand man auch ohne Worte. Vor allem, wenn er so viele Abende hier verbrachte wie Nick.
Plötzlich ein leises Geräusch zu seiner Linken. Ein Knarzen an der Tür, dicht gefolgt von schweren Schritten. Einer der anderen sah sich um und auch Nick drehte den Kopf zur Seite, nur um einen Mann in einem abgewrackten, viel zu schweren Mantel zu erblicken, der in Richtung Tresen kam. Er humpelte ganz leicht und sein bärtiges Gesicht war von Sonne und harter Arbeit gezeichnet. Mit einem leisen Ächzen setzte er sich auf den freien Hocker neben ihm, deutete einen Gruß an und gab dem Wirt mit einem Fingerzeig zu verstehen, ihm etwas zu trinken zu geben.
Unwillkürlich kniff Nick die Augen zusammen. Der Kerl kam ihm seltsam bekannt vor, auch wenn er sich nicht entsinnen konnte, wieso. Vielleicht lag es daran, dass der Typ das typische Outfit all derer trug, die nicht erkannt werden und keine Fragen gestellt bekommen wollten. Vielleicht aber auch schlichtweg am Alkohol, der jeden Fremden irgendwann wie einen Freund erscheinen ließ. Am Ende lief es auf das Gleiche hinaus.
Während sich die meisten in der Kneipe längst wieder ihren Gläsern zuwandten, starrte der Fremde seine Flasche einen Moment lang einfach nur an, bevor er sie plötzlich zu Nick schob und ihm mit einem Kopfnicken bedeutete, zu trinken.
»Hier steckst du also«, raunte er. »Ganz der Alte, wie ich sehe.«
Nick schnaubte, nahm das Bier und trank einen Schluck. »Kennen wir uns?«
»Chester Williams. Erinnerst du dich nicht?«
»Das wüsste ich«, erwiderte Nick. »Ich hatte zwar schon ein paar, aber von diesem Pisswasser wird niemand betrunken. Hilf mir auf die Sprünge – woher kennen wir uns?«
»Ich bin vor anderthalb Jahren hier durchgekommen. Zusammengeschlagen, mit einer Schusswunde im Arm und einem Truck, der vor allem von guten Hoffnungen zusammengehalten wurde. Du hast mich zusammengeflickt, ohne Fragen zu stellen. Ich bin hier, um mich zu revanchieren.«
»Du warst das?« Nick zog eine Augenbraue hoch und nahm noch einen Schluck. Jetzt endlich erinnerte er sich. »Hatte dich anders in Erinnerung – und ich hätte nicht gedacht, dich noch mal wiederzusehen. Ich kannte nicht mal deinen Namen.«
»Ich hatte gesagt, dass ich zurückkommen würde.«
»Das sagen viele. Die wenigsten tun es. Du bist die Art Mensch, die ich entweder im Knast oder unter der Erde gesehen hätte.«
»Ich neige dazu, meine Mitmenschen zu überraschen.« Chester grinste ein recht zahnloses Grinsen. »So leicht kriegt man mich nicht klein.«
»Und was willst du?« Nick musterte ihn. »Diesmal siehst du recht fit aus. Keine Schusswunden, kein gebrochener Kiefer. Damit kann ich nichts für dich tun. Und was mich angeht, sind wir mit dem Bier hier quitt.«
»Ich bin geschäftlich in der Gegend. Als ich das letzte Mal durchgekommen bin, war das eher unfreiwillig. Du hast damals gesagt, dass du immer auf der Suche nach Arbeit bist. Ich brauche jemanden, der anpacken kann. Interesse?«
Nick schnaubte, sagte jedoch nichts.
»Ich sehe schon.« Chester legte den Kopf leicht schief und bedeutete dem Wirt, ihm einen Whiskey einzuschenken. »Du traust mir nicht.«
»Ich traue den wenigsten Menschen«, gab Nick zurück. »Es ist nichts Persönliches.«
»Warum hast du mir dann damals geholfen?«
»Weil es eine Sache ist, einem Menschen nicht zu trauen, und eine andere, ihn in der Wüste verbluten zu lassen.« Er leerte den Rest der Flasche und griff anschließend nach seinem eigenen Bier. »Na gut. Du hast mich damals nicht umgebracht und versuchst es auch jetzt nicht. Das gibt einen Vertrauensvorschuss. Ich bin ganz Ohr. Was hast du?«
»Verfolgst du die Nachrichten, Nick?«, fragte Chester.
»Wieso?«
Der Alte antwortete nicht, sondern hob stattdessen die Hand und deutete auf den staubbedeckten, über der Bar flackernden Fernseher, der immer lief, ohne dass irgendjemand zusah. Just in diesem Augenblick wurden einmal mehr Aufnahmen eines silbrig schimmernden Dings gezeigt, das Nick an eine Mischung aus Pfeilspitze und Bohrkopf erinnerte. Das Schiff im Weltall. Schon seit Tagen kam nichts anderes mehr. Die Nachrichten, Talkshows und auch sonst so gut wie alle anderen befassten sich nur noch mit diesem Ding. Mit dem Schiff und den Aliens, die sich angeblich darin befanden.
Nick seufzte und schloss einen Moment lang die Augen. Er konnte es nicht mehr hören. Stuss und Unsinn, mehr war das nicht. Die ganze Welt rastete aus und seither gaben sich Hysterie und Hype die Klinke in die Hand – wegen nichts. Dieses Ding war einfach nur da und tat nichts. Er gehörte zwar nicht zu den Spinnern, die in seiner Ankunft einen Trick der Regierung vermuteten, um von den Problemen in Europa und im Pazifik abzulenken, aber selbst wenn dieses Objekt wirklich ein Alien-Schiff war – was dann? Solange es nichts tat, konnte es jedem Menschen auf diesem Planeten egal sein.
Schließlich wanderte sein Blick wieder zu Chester, der ebenfalls die Bilder im Fernsehen verfolgte und ihn nicht zu bemerken schien. Nick lachte leise und nahm einen weiteren Schluck Bier. Nachdem ihn Chester daran erinnert hatte, wer er war, hatte er mit vielem gerechnet, aber sicher nicht damit. Er war also auch einer dieser Ufo-Spinner, die in diesem Ding eine Goldgrube sahen. Eine Goldgrube, von der keiner sagen konnte, warum sie so viele Schätze barg – und wie man rankommen sollte.
»Wenn du denkst, ich mache bei irgendeinem Unsinn mit, kannst du es vergessen«, raunte Nick schließlich. »Ich kenne die Gerüchte.«
»Jedes Gerücht braucht ein Fünkchen Wahrheit, um zum Leben zu erwachen«, erwiderte Chester, ohne den Blick abzuwenden. Er griff nach seinem Whiskey, leerte ihn in einem Zug und deutete abermals auf den Bildschirm. »Das da, Nick, ist das nächste große Ding. Dieses Schiff wird die Welt verändern. Nicht einmal die Erfindung des Rads hatte so große Auswirkungen auf die Menschheit. Gerade magst du es vielleicht noch nicht sehen, aber ich habe einen Instinkt für solche Dinge. Wer sich rechtzeitig in Position bringt, wird reich werden. Man muss nur die Zeichen erkennen.«
»Das haben sie auch über Krypto-Währung gesagt und ich zahle immer noch mit Lincoln und Washington.«
»Nick, ich bin nicht hier, um mit dir zu diskutieren«, knurrte Chester. »Ich will mich revanchieren. Du hast mir geholfen, als ich Hilfe gebraucht habe. Das ist ein einmaliges Angebot.«
Er zog seinen Ärmel zurück und sah auf eine alte Armbanduhr.
»Es ist jetzt kurz vor zwei. Um Punkt sechs Uhr bin ich mit meinem Truck beim General Store und besorge ein paar Vorräte, dann mache ich mich auf den Weg. Ich werde nicht zurückkommen. Du entscheidest, was passiert. Aber vielleicht solltest du die Sache unter dem Gesichtspunkt … Miranda betrachten.«
Mit diesen Worten warf er ein paar Dollar auf den Tresen, stand auf und verließ die Kneipe. Plötzlich fühlte sich Nick, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Er starrte Chester einen winzigen Augenblick lang mit offen stehendem Mund nach, bevor er in seine Tasche griff, sein Bier bezahlte und ihm hinterher nach draußen rannte. Dass ihm nicht nur der Wirt, sondern auch alle anderen nachstarrten, war ihm so bewusst wie egal. Sein Herz raste wie verrückt und längst ballte er die Hände zu Fäusten, um ihm eine reinzuhauen, wenn er ihn einholte.
Doch als er wenige Sekunden später in die kühle Nachtluft Arizonas trat, hielt er augenblicklich inne und sah sich um. Von Chester war nichts mehr zu sehen. Zwar erkannte er die Rücklichter eines Trucks auf der Straße, doch sie verschwanden innerhalb kürzester Zeit in der Dunkelheit. Gottverdammt, das durfte doch nicht wahr sein! Nick holte tief Luft, um sich zu beruhigen, was er jedoch sofort mit einem heftigen Hustenanfall bezahlte, der ihn um ein Haar luftringend zu Boden schickte, während er den schweren Qualm der Kneipe auswürgte.
Ein paar Minuten lang verharrte er einfach nur vor der Kneipe und versuchte, seine Gedanken zu ordnen und sich zu beruhigen. Eine Aufgabe, die ihm angesichts des inzwischen nicht unerheblichen Alkoholpegels in seinem Blut und seiner blanken Wut nicht gerade leichtfiel. Miranda. Er konnte sich mittlerweile zwar daran erinnern, wie er Chester damals getroffen hatte – auch wenn es ihm wie eine Ewigkeit vorkam – aber nicht daran, ihm von seiner kleinen Schwester erzählt zu haben. Dass er sie nun benutzte, um ihn zu erpressen …
»Scheiße, verdammt!«
Nick ließ sich zu Boden sinken. An einem Abend vor knapp anderthalb Jahren war er ebenfalls zum Trinken hergekommen, als ihm ein fremder Truck am Straßenrand aufgefallen war. Nicht viele Menschen verirrten sich in diese Gegend, weswegen man bei den wenigen Durchreisenden umso aufmerksamer wurde – vor allem, wenn sie vor einer Kneipe wie dieser hielten. Auf dem Fahrersitz hatte er einen übel zugerichteten Mann mit dutzenden frischen Verletzungen und sogar einer Schusswunde gefunden. Er hatte ihn zusammengeflickt und ihm geholfen, seinen Truck zu reparieren. Besonders viel hatte er nicht mit ihm gesprochen. Manchmal stellte man keine Fragen. Verdammt, er konnte sich ja nicht einmal daran erinnern, damals seinen Namen erfahren zu haben. Trotzdem war er sich sicher, ihm nicht von Miranda erzählt zu haben.
Und jetzt das. Nick atmete ein letztes Mal tief durch, bevor er den Kopf schüttelte, zu seinem eigenen Truck marschierte und auf die Ladefläche kletterte, wo er sich hinlegte und in den Himmel sah. Noch immer raste sein Herz, doch er tat sein Möglichstes, sich zu beruhigen. Um ehrlich zu sein, hätte er niemals damit gerechnet, Chester wiederzusehen oder auch nur von ihm zu hören, auch wenn es der Alte damals versprochen hatte. Offensichtlich gab es tatsächlich Menschen, die zu ihrem Wort standen, auch wenn er nicht behaupten konnte, ihn gerne wiederzusehen.
Er war niemand, der Arbeit ablehnte, wenn sie ihm angeboten wurde – schon gar nicht in Zeiten wie diesen – aber das? Er hatte weder eine Ahnung, was genau Chester überhaupt vorhatte, noch wusste er, wie er ihn anschließend bezahlen wollte. Wenn er in seinem Mantel nicht gerade eine riesige Kassette mit Bargeld mit sich führte, sah es eher schlecht aus. Erst recht bei derart vagen Informationen. Und angesichts der Tatsache, dass es irgendetwas mit diesem verfluchten Schiff zu tun haben sollte.
Andererseits war sich Nick vollkommen bewusst, dass er sich in keiner Position befand, Arbeit abzulehnen. Dass Chester Miranda erwähnt hatte, hatte ihm das eindrücklich ins Gedächtnis gerufen. Seine kleine Schwester hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen. Als ihn ihre Mutter faktisch rausgeworfen hatte, war das letzte Mal gewesen. Trotzdem schickte er ihr Geld, wann immer er nur konnte. In ihrem … Zustand konnte sie schließlich nicht arbeiten.
Er seufzte leise. Das war zumindest ein Teil der Erklärung, warum er auf der Ladefläche seines Trucks schlief. Die andere war, dass er viel zu viele Probleme hatte und die wenigen Jobs, die es in dieser Gegend gab, ihn zwar über Wasser hielten, aber meistens blieb kaum genug hängen, um abends ein Bier zu trinken. Wenn er endlich mal wieder richtiges Geld verdient hätte, würden sich viele Probleme lösen.
»Gottverdammt«, entfuhr es ihm. »Das darf doch nicht wahr sein.«
Er spürte, wie ein halb bitteres und halb spöttisches Grinsen über seine Lippen huschte. Insgeheim war ihm längst klar, dass er in knapp vier Stunden zum General Store fahren und Chester begleiten würde. Oder sich zumindest anhörte, was er zu sagen hatte. Die Umstände mochten ihm zwar nicht gefallen, aber das war etwas, das man nicht ändern konnte. Das Leben in der Wüste war nun mal hart.
Das Schiff also. Dieses Ding, das aus dem Nichts aufgetaucht war und seit Tagen jede Unterhaltung bestimmte, die auf diesem Planeten geführt wurde. Jede Nachrichtenzeile, jede Regierungsansprache, einfach alles. Wie sehr es ihn nervte. Er konnte kaum noch in Worte fassen, wie leid er es war, auf jedem Kanal und zu jeder Uhrzeit dasselbe zu sehen. Selbst die Zeitung, die er sich aller Sorgen zum Trotz ab und zu geleistet hatte, ließ er deswegen mittlerweile liegen. Er ertrug es einfach nicht mehr.
Er war niemand, der vorschnelle Schlüsse zog, und hatte das auch noch nie getan. Eine der wichtigsten Lektionen seines bisherigen Lebens lautete, abzuwarten und sich nicht verrückt zu machen. Man aß selten so heiß, wie man kochte. Das galt für jeden Menschen und vermutlich auch für jedes Alien. Und das bedeutete, auch bei diesem Schiff erst einmal zu schauen, was passierte – falls denn überhaupt etwas geschah. Und danach sah es zumindest im Moment nicht aus.
Selbstverständlich kannte er die Gerüchte, die seit dem Tag kursierten, an dem die Ankunft dieses Dings allgemein bekannt geworden war. Gerüchte darüber, wie viel Geld sich damit verdienen ließ. Bislang hatte ihm allerdings niemand gesagt, wie genau dieses Vorhaben gelingen sollte. Wenn man also nicht gerade Inhaber einer der großen Zeitungen des Landes oder Showmaster einer bekannten Talkshow war, gab es reichlich wenige Möglichkeiten, mit diesem Schiff Geld zu verdienen. Aber wer wusste schon alles? Vielleicht kannte Chester ja wirklich einen Weg. Immerhin schien er auch den Namen seiner Schwester auf hellseherische Weise erraten zu haben.
Die restliche Nacht verging wie jede andere Nacht und als Nick am nächsten Morgen um kurz vor sechs seinen Truck startete und sich auf den Weg zum General Store machte, dröhnte sein Kopf wie von einem Presslufthammer bearbeitet. Die letzten beiden Biere waren wohl zu viel gewesen, aber das war nichts, was sich jetzt noch ändern ließ.
Ganz wie erwartet, stand nur ein einziger Wagen auf dem Parkplatz vor dem General Store. Chester war gerade dabei, ein paar Kisten und Rucksäcke auf die Ladefläche zu wuchten. Anders als noch vor ein paar Stunden trug er heute Morgen keinen Mantel, sondern ein einfaches Hemd und eine Arbeitshose, die ihn mindestens 20 Jahre jünger erscheinen ließen.
»Du bist also gekommen«, begrüßte ihn der Alte, ohne sich umzudrehen. »Ich war mir nicht sicher, ob du es tun würdest.«
»Ich bin in keiner Position, Arbeit abzulehnen«, gab Nick zurück und half ihm, eine Kiste auf die Ladefläche zu hieven. »Woher kennst du meine Schwester?«
»Du hast mir von ihr erzählt.«
»Bullshit.«
»Doch.«
»Das habe ich nicht! Woher …«
»Nick, willst du den Job oder bist du hier, um dich mit mir zu streiten?«
Nick holte tief Luft und öffnete seine abermals zu Fäusten geballten Hände. »Worum geht es? Und, viel wichtiger noch, wie willst du mich bezahlen?«
»Dieses Ding am Himmel, dieses Schiff, ist nicht so untätig, wie uns die Regierung glauben machen will«, antwortete Chester. »Auf der ganzen Welt tauchen Dinge auf, Artefakte, für die Sammler hohe Summen zahlen. Ganz in der Nähe soll eines runtergekommen sein. Ich will es finden und bergen. Wenn wir das schaffen, werden wir reich.«
»Artefakte?«, wiederholte Nick ungläubig. »Von diesem Schiff? Meinst du nicht, die Regierung wäre längst mit irgendwelchen Jungs von Area 51 da und würde alles absperren?«
»Dazu fehlen ihnen die Kapazitäten. Zumindest auf die Schnelle. Ich glaube, sie wissen noch nicht einmal, wie man sie aufspürt. Das ist unser Vorteil. Hier.«
Chester zog eine Pistole aus seinem Hosenbund und reichte sie ihm.
»Die brauchst du vielleicht.«
»Bist du wahnsinnig?!«, hauchte Nick und starrte auf die Waffe. »Eine Pistole?! Wenn du denkst, dass ich mich mit der Regierung anlege …«
»Nicht mit der Regierung«, unterbrach ihn der Alte hörbar amüsiert. »Aber denkst du wirklich, wir sind die Einzigen, die dieses Artefakt suchen?«
*****
Die Fahrt dauerte deutlich kürzer, als Nick vermutet hatte. Nachdem sie Tombstone verlassen hatten, waren sie nur knapp 20 Minuten lang ostwärts gefahren, auf einer Straße, die fast niemand benutzte, und von der er genau wusste, wohin sie führte: nach Gleeson, ein paar Ruinen in der Wüste, die alt genug waren, um sie als Geisterstadt zu bezeichnen. Und die passenderweise an der High Lonesome Road lagen.
Chester lenkte seinen Truck auf einen unbefestigten Weg und folgte ihm ein paar Minuten lang in Richtung der nahegelegenen Hügel, bevor er bei den Resten eines alten Minenschachts anhielt und ausstieg. Nick tat es ihm gleich. Obwohl es noch früh am Morgen war, flimmerte die Luft bereits vor Hitze und bis auf das gelegentliche Zirpen einiger Grillen herrschte völlige Stille.
»Und hier sollen wir ein außerirdisches … Artefakt finden?«, fragte er misstrauisch, während der Alte bereits begann, einige Kisten auf der Ladefläche zu öffnen und sich auszurüsten. Neben einem geradezu überdimensionierten Rucksack, einem etwa eimergroßen Metallkasten, GPS und allerlei anderer technischer Spielereien packte er vor allem Wasser und Vorräte ein. Offensichtlich rechnete er mit einer längeren Tour.
»Für dich ist auch ein Rucksack da«, antwortete Chester bloß und deutete auf ein paar Reisetaschen am anderen Ende der Ladefläche. »Pack die Sachen aus der roten Tasche ein und nimm so viel Wasser mit, wie du tragen kannst. Es wäre eine Schande, wenn wir hier draußen verdursten.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Und du hast offensichtlich keine Augen im Kopf, Junge«, raunte der Alte. »Ich schleppe den Kram nicht aus Jux und Tollerei mit. Jetzt pack deine Sachen, los!«
Nick fluchte leise, erwiderte jedoch nichts und kletterte stattdessen auf die Ladefläche. In der roten Tasche befanden sich neben Ferngläsern vor allem medizinische Güter – Handschuhe, Atemmasken, Desinfektionsmittel und Verbandszeug; zusätzlich einige Dinge, von denen er keine Ahnung hatte, wofür sie gut waren. Als er alles verladen und anschließend so viel Wasser wie möglich eingepackt hatte, sprang er von der Ladefläche und folgte Chester, der mit schnellen Schritten in Richtung eines nahegelegenen Kamms marschierte und sich dabei immer wieder zu allen Seiten hin umsah.
»Angenommen, es gibt dieses Artefakt wirklich«, sagte Nick. »Wie hast du es gefunden? Wie kommst du darauf, dass es ausgerechnet hier ist?«
»Wie gut kennst du dich mit Geographie aus, Nick?«
»Worauf willst du hinaus?«
»In Nordamerika hat man bislang 20 Artefakte gefunden. Davon jeweils eines auf Baldy Mountain, Saddleback Mountain, Snowbank Mountain, Strikingwater Peak und Horse Mountain.«
Nick zog die Augenbrauen hoch. »Eine gerade Linie nach Norden.«
»Exakt. Alle in Höhenlagen, tendenziell fernab von Menschen.«
»Und wie kommst du ausgerechnet auf Gleeson?«, fragte Nick. »Das hier ist nicht gerade ein Berg. Was ist beispielsweise mit Mount Graham?«
»Ich sehe, du kennst dich aus«, grinste Chester. »Gut, das hilft mir weiter. Auf Mount Graham war ich bereits. Da war nichts. Ich weiß nicht, ob jemand vor mir da war oder einfach nichts runtergekommen ist, aber das hier ist in meinen Augen der nächste Punkt, der infrage kommt. Bauchgefühl. Ich kann dir aber nichts versprechen.«
»Und …«
»Und was?«
»Wie hast du überhaupt davon erfahren, dass es diese Artefakte gibt? Dass man sie verkaufen kann?«
»Was man erfährt und was nicht, hängt immer davon ab, mit welchen Menschen man sich umgibt, Nick. Ich habe mein Geld schon immer damit verdient, Dinge aufzuspüren und zu akquirieren, an die man schlecht rankommt. Nicht immer legal, aber darauf kann man in diesem Metier keine Rücksicht nehmen. Ich kann dir nicht sagen, wie es angefangen hat, aber irgendjemand muss irgendwo ein Artefakt gefunden haben. Seither bin ich auf der Suche.«
»Du hast noch keins gefunden?«
»Nein. Aber wenn wir eins finden, sind wir beide gemachte Männer.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, schnaubte Nick. »Woher soll ich wissen, wie es aussieht?«
»Ich denke, das bemerken wir, wenn es soweit ist.«
»Mhm.«
»Vertrau mir, Nick.«
»Das muss ich wohl. Du vertraust mir offensichtlich ebenfalls. Ich hätte so etwas niemals jemandem erzählt.«
Chester hielt inne und sah sich nach ihm um. »Auf Mount Graham bin ich beinahe draufgegangen. Das ist kein Job, den man allein angehen sollte. Du hast mir vor anderthalb Jahren nur ein paar Kilometer von hier entfernt das Leben gerettet. Deshalb hat es sich angeboten, dich zu fragen. Du bist kein Samariter und schreckst nicht davor zurück, dir die Hände schmutzig zu machen, besitzt aber trotzdem genug Anstand, einem Fremden zu helfen. Das ist in meinen Augen die angenehmste Mischung von Charaktereigenschaften, die ein Mensch besitzen kann. Komm jetzt. Wir sollten keine Zeit verlieren. Kein Schwein weiß, wann die anderen Aasgeier auftauchen.«
Er lief weiter – und Nick folgte ihm dichtauf, eine Hand am Schultergurt seines Rucksacks und die andere am Griff der Pistole, die in seinem Hosenbund steckte. Er hätte gelogen, hätte er behauptet, dass ihm diese Sache geheuer war oder gar gefiel, aber er hatte sich darauf eingelassen und stand zu seinem Wort. Ganz davon abgesehen, dass Chester von seinem Vorhaben mehr als nur überzeugt zu sein schien. Und das war ein Umstand, der auch in ihm die Hoffnung auf eine entsprechende Vergütung weckte. Eine Vergütung, mit der er Miranda zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit wirklich unter die Arme greifen konnte.
Sie waren vielleicht zwei Stunden unterwegs, als irgendwo in der Ferne plötzlich ein lauter, durchdringender Knall ertönte. Ein Schuss. Augenblicklich ging Nick in die Hocke und auch Chester huschte hinter einen Busch in Deckung. Ein paar Sekunden lang herrschte geradezu dröhnende Stille, doch dann ertönte plötzlich noch ein Schuss – und noch einer. Erst danach legte sich wieder Stille über den Hügel.
Nick schwieg und auch Chester sagte nichts. Das gefiel ihm nicht. Die Schüsse waren nah gewesen. Ein Kilometer, maximal anderthalb. Keine Distanz. Erst recht nicht hier draußen, wo es praktisch keine Deckung und erst recht keine Versteckmöglichkeiten gab. Das waren dann wohl die Aasgeier, von denen Chester gesprochen hatte. Seine Wettbewerber und Konkurrenten. Er hatte anscheinend nicht übertrieben, als er ihm die Pistole in die Hand gedrückt hatte.
Noch viel aufmerksamer und vorsichtiger als zuvor setzten sie ihren Weg fort. Mittlerweile hatten sie den höchsten Punkt der Hügelkette erreicht, was ihnen zumindest den Vorteil verschaffte, dass sie ihre Umgebung gut überblicken konnten. Menschen oder etwas, das als außerirdisches Artefakt hätte herhalten können, erkannte Nick allerdings nirgendwo. Ersteres immerhin ein kleiner Trost.
Nichtsdestotrotz trat Chester nun auf ihn zu und zog das Fernglas aus seinem Rucksack, ehe er sich aufmerksam in jede Richtung umschaute. »Verdammt, wo sind sie nur?«
»Die, die geschossen haben?«
»Jup.«
»Vielleicht haben sie was abbekommen und sich zurückgezogen. Es sind immerhin drei Schüsse gefallen.«
»Wunschdenken, Nick.«
»Mhm. Wer garantiert mir eigentlich, dass du mich nicht über den Haufen ballerst, wenn wir das Artefakt haben?«
»In deiner Pistole sind scharfe Patronen. Überprüf es, wenn du mir nicht glaubst. Ich gehe das gleiche Risiko ein.«
»Du weißt, was ich meine, Chester. Weich mir nicht aus.«
Der alte Mann seufzte und nahm das Fernglas eine Sekunde lang runter, setzte es dann jedoch sofort wieder an. »Ich mache Jobs wie diesen jetzt schon ein paar Jahre und habe dabei einige Dinge gelernt. Zum einen, dass das nichts ist, was man mit Freunden tun sollte, aber auch nichts, bei dem man sich auf Fremde verlassen sollte. Ich habe ein gutes Bauchgefühl bei dir und wenn du mich fragst, war es ein Wink des Schicksals, dass die Spur der Artefakte ausgerechnet hierherführt.«
Er machte eine kurze Pause, nahm das Fernglas endgültig runter, schnallte seinen Rucksack ab und setzte sich auf einen kleinen Felsen in der Nähe.
»Wenn du mir nicht vertraust, kannst du gehen.« Er deutete in die Richtung, aus der sie gerade erst gekommen waren. »Ich werde dich nicht aufhalten und mich genauso wenig vor dir rechtfertigen. Ich habe dir diesen Job angeboten, aber wenn du ihn nicht willst, ist das deine Sache.«
Nick biss sich auf die Lippe. »Schon gut, alter Mann. Was jetzt?«
»Uns bleibt nicht viel Zeit«, knurrte Chester. »Wenn die Regierung hier aufkreuzt, landen wir für den Rest unseres Lebens im Bau. Wir teilen uns auf. Du suchst nach dem Artefakt, ich kümmere mich um die Aasgeier. Bisher lagen die Artefakte immer in der Nähe der Berggipfel. Los jetzt!«
Noch bevor Nick etwas erwidern konnte, lief Chester los und verschwand zwischen einigen ausgedörrten Büschen in der Nähe. Er wollte ihm schon instinktiv nachrufen und ihn aufhalten, wollte ihn fragen, wonach um alles in der Welt er suchen sollte, doch stattdessen zwang er sich mit aller Willenskraft, es nicht zu tun. In dieser Situation zu rufen, wäre das Dümmste gewesen, was er hätte tun können.
Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als tatsächlich mit der Suche zu beginnen, auch wenn er nach wie vor keinen blassen Schimmer hatte, wo er überhaupt anfangen oder wonach er Ausschau halten sollte – ganz davon zu schweigen, dass er jeden Augenblick damit rechnete, in den Lauf eines Gewehrs zu blicken oder von irgendwelchen Militärhubschraubern überrascht zu werden. Wenn sie hier draußen geschnappt wurden, wanderten sie nicht bloß in den Bau, sondern verschwanden vermutlich für immer in irgendwelchen Kellern des FBI. Oder Schlimmeres.
Verdammt, das war Wahnsinn! Stumm fluchend huschte Nick über den staubtrockenen Boden und tat dabei sein Möglichstes, keinen unnötigen Staub aufzuwirbeln. Was um Gottes willen tat er hier nur? Wieso hatte er sich dazu überreden lassen? Er wusste es nicht, doch gerade im Moment war er sich sicher, dass das die größte Dummheit war, die er je begangen hatte. Und er hatte in seinem Leben schon viele dumme Entscheidungen getroffen. Aber wenn er hier draufging, gab es niemanden mehr, der Miranda unterstützte; niemanden, der …
Plötzlich ein Schuss. Nah. Viel zu nah. Sofort warf sich Nick auf den Boden und griff nach seiner Pistole, bevor er versuchte, sich von seinem Rucksack zu befreien, doch es gelang ihm kaum. Als er es endlich geschafft hatte, kroch er hinter einen kleinen Felsen in Deckung, holte tief Luft und sah auf die Waffe in seiner Hand. Die Pistole war geladen und entsichert. Angestrengt lauschte er auf jedes noch so kleine Geräusch. Der Schuss war höchstens 50 Meter von ihm entfernt gefallen.
»Nick?!« Plötzlich Chesters Stimme. »Nick, bist du da?«
»Chester?!« Er warf einen kurzen Blick über den Felsen. Der Alte stand etwa 40 Meter von ihm entfernt am Rand einer kleinen Senke. Sein Hemd war blutbefleckt. »Was …«
»Komm her!«, knurrte er und winkte ihn zu sich. »Wir müssen verschwinden.«
»Aber …«
»Komm her, verdammt!«
Nick sicherte seine Waffe, griff nach seinem Rucksack und rannte zu ihm. Doch er hatte kaum die Hälfte des Wegs hinter sich gebracht, als er auch schon wieder stehenblieb. Von hier aus konnte er die Senke einsehen. Die Senke und mit ihr einen Toten, der mit blutüberströmter Brust in ihrer Mitte lag. Ein Mann Anfang 30, kaum jünger als er selbst. Hageres, geradezu jungenhaftes Gesicht, Outdoorkleidung, Rucksack – und eine Metallbox von knapp 20 Zoll Kantenlänge, die er selbst im Tode mit beiden Händen umklammerte.
»Rucksack«, raunte Chester nur und streckte die Hand aus. »Los.«
»Du hast ihn umgebracht!«
»Und er hat auf der anderen Seite des Hügels zwei Männer umgebracht«, erwiderte er tonlos, trat auf ihn zu und riss ihm den Rucksack von den Schultern. »Es ist ein dreckiges Geschäft, Nick.«
»Gottverdammt.« Nick hielt sich beide Hände vor den Mund und atmete in seine Handflächen. Mit einem Mal wurde ihm sterbenselend. Heiße Galle kroch seine Kehle empor, sein Herz raste. Nur mit größter Mühe konnte er sich davon abhalten, sich auf der Stelle zu übergeben. »Gottverdammt, Chester!«
»Stell dich nicht so an, Mann!«
Chester zog sich Atemmaske und Gummihandschuhe über und warf ihm einen durchdringenden, geradezu vernichtenden Blick zu. Nichts war mehr übrig von der kumpelhaften Art, mit der er ihm bisher noch begegnet war. In diesen Sekunden wirkte er nicht einmal mehr menschlich, sondern vielmehr wie ein Raubtier, das sich auf seine Beute gestürzt hatte und diese nun fauchend und brüllend verteidigte.
Während Nick versuchte, irgendwie die Nerven zu behalten, entriss Chester dem Toten die Metallbox mit beinahe ekelerregender Gelassenheit, öffnete sie und sah hinein. Es war vollkommen unmöglich auszumachen, was er tat oder was sich darin befand, aber das war Nick ohnehin vollkommen egal. Denn in diesen Sekunden wurde ihm bewusst, dass er Chester nicht trauen konnte. Dass ihn der Alte, ohne zu zögern, erschießen würde, wenn er ihm nicht mehr nützlich war. So wie den Jungen in der Senke.
»Deine Pistole.« Nick fasste an seinen Hosenbund und zog seine Waffe. »Gib sie mir, Chester.«
Er reagierte nicht.
»Chester, ich meine es ernst! Gib mir deine Pistole oder …«
»Das Antlitz Gottes«, flüsterte er plötzlich.
»Du … was?«
Wieder schwieg Chester. Nick spürte sofort eine immense Unruhe an der Grenze zur Panik in sich aufsteigen; das Wissen, in diesen Sekunden seinen Vorteil zu verlieren, wenn er nicht handelte. Er gab sein Drohpotenzial aus der Hand, zeigte dem Alten, dass er es doch nicht so ernst meinte; dass er zögerte und nicht schießen wollte. Verdammt, warum reagierte Chester nicht? Kapierte er nicht, was hier los war? Dass er gerade einen Mann getötet hatte wegen einer verfickten Metallkiste und nun im Begriff war, ebenfalls getötet zu werden?
Jetzt endlich richtete sich Chester auf. Langsam nur, beinahe andächtig, gleichzeitig aber auch seltsam unsicher und schwerfällig. Nick wich instinktiv einen Schritt zurück, hob die Pistole und zielte auf seine Brust. Erst auf den zweiten Blick wurde ihm klar, dass der Alte etwas in seinen Händen hielt. Etwas, das er noch nicht sehen konnte, aber von dem er jetzt schon wusste, was es war. Das Artefakt.
Ein eiskalter Schauer lief über Nicks Rücken, begleitet von einem plötzlichen, dafür aber umso heftigeren Adrenalinstoß seines Herzens. Unwillkürlich schnappte er nach Luft. Nach Luft, die sich auf einmal seltsam schwer und noch viel wärmer als ohnehin schon anfühlte und intensiv nach Eisen schmeckte. Wie gasförmiges Blut. Großer Gott, was geschah hier? Jede Faser seines Leibes schrie ihm zu, dass er auf der Stelle umdrehen und fliehen musste; dass er so viel Distanz wie möglich zwischen sich, den Alten und sein verfluchtes Artefakt bringen musste, doch er konnte nicht. Es gelang ihm einfach nicht, seine Beine zu bewegen, und auch sein Kopf fühlte sich mit einem Mal an, als würde er sich rasend schnell um sich selbst drehen. Ein immenser Schmerz pulsierte durch ihn hindurch. Er … Nein!
»Chester!«, brüllte er. »Deine Waffe! Jetzt!«
Abermals antwortete Chester nicht, doch dafür führte er plötzlich eine Hand an seine Hüfte –zu seiner eigenen Pistole. Er bewegte sich nur langsam, beinahe so, als wäre er vollkommen abgelenkt und unfähig, sich auch nur eine einzige Sekunde auf etwas anderes als das Artefakt zu konzentrieren. Nick starrte ihn an, fixierte seine Hand und suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus dieser Situation, aber es gab keinen. Er wusste, dass Chester die Waffe ziehen würde, dass er sie auf ihn richten und abdrücken würde, sobald er die Gelegenheit dazu bekam. War er wirklich so sehr von diesem Artefakt abgelenkt, dass er nicht bemerkte, wie langsam er sich bewegte? Dass er keine Chance haben würde, die Waffe rechtzeitig zu ziehen, geschweige denn zu zielen und abzudrücken?
»Chester, lass es!«, brüllte Nick, doch der Alte hörte nicht. Seine Finger schlossen sich um den Griff der Waffe. »Nimm die Hand da weg! Sofort!«
Jetzt endlich drehte sich Chester um – und zog in der Bewegung die Pistole. Nick drückte ab. Zwei Schüsse unmittelbar hintereinander, beide mitten in seine Brust. Auf der Stelle ließ der Alte die Waffe los, blinzelte und öffnete kaum merklich den Mund, bevor er einen Schritt zurücktaumelte und zusammenbrach. Er war tot.
Kapitel 3
D as dumpfe Dröhnen des Fahrtwinds rauschte unablässig in Keyes’ Ohren; ein konstantes Tosen, wie man es in dieser Intensität vermutlich nur auf deutschen Autobahnen vernahm. Seit Stunden schon war es ihr einziger Begleiter in diesem fensterlosen Van. Erst auf der Stadtautobahn Berlins, anschließend durch Landschaften, die vor weniger als einem halben Jahrhundert noch zum Ostblock gehört hatten. Wo sie sich jetzt befand, wusste sie nicht, doch nach Ramstein konnte es nicht mehr weit sein.
Warum Mike beschlossen hatte, sie nicht einfach in einen Flieger zu setzen und stattdessen auf Kapazitäten des BND samt vermutlichem Begleitschutz zurückzugreifen, war ihr ein Rätsel. Eines, das sie auch mit ihrer gesammelten analytischen Expertise nicht zu lösen in der Lage war. Es wäre nicht nur schneller und sicherer, sondern auch billiger und besser zu kontrollieren gewesen, hätte er sie auf dem Luftweg zurückgeschickt.
Keyes legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und atmete langsam aus. Genau genommen gab es für dieses Verhalten nur eine einzige Erklärung, auch wenn es ihrem Bauchgefühl widersprach: Mike wusste von einer Bedrohung, die er ihr verschwieg. Von einer Gefahr, der explizit sie ausgesetzt war, und die es unmöglich machte, sie anders zu transportieren. Nur was? Waren die Russen hinter ihr her? Die Chinesen? Oder sonst irgendjemand aus dem nachrichtendienstlichen Haifischbecken, das sich Berlin nannte? Möglich war alles, sicher nichts. Dass sich Mike extra die Mühe gemacht hatte, persönlich nach Deutschland zu kommen, sprach Bände, die sie nicht zu entziffern vermochte.
Ein leiser Fluch verließ ihre Lippen. Sie konnte sich schlicht und ergreifend auf kein Szenario festlegen und genau dieser Umstand machte sie fertig. Nein. Er machte sie nicht nur fertig. Er quälte sie. Als Analystin war sie zwar daran gewöhnt, nicht immer gleich die richtigen Schlüsse zu ziehen oder sich manchmal auch vollkommen auf dem Holzweg zu befinden, aber in den wirklich wichtigen Belangen hatte sie bisher stets richtig gelegen. Unterm Strich kam es sowieso nur darauf an. Details und Nebenkriegsschauplätze waren unwichtig, solange das große Ganze für die übrigen … Notwendigkeiten taugte.
Die Fahrt ging weiter. Stundenlang. Zwar fiel es Keyes ohne Uhr schwer, etwas Genaueres zu sagen – der Akku ihres Smartphones war leer – doch die schiere Lautstärke des Fahrtwinds ließ trotzdem ausreichende Rückschlüsse auf die Geschwindigkeit zu, mit der sie sich bewegten. Unter guten Bedingungen war man von Berlin nach Ramstein gute sieben Stunden unterwegs – Zeit, die sie schon längst überschritten hatten, vor allem, da sie sich nicht entsinnen konnte, im Stau gestanden zu haben. Und das wiederum konnte nur eines bedeuten: Es ging nicht nach Ramstein.
Keyes schnaubte leise. Eigentlich hätte sie es sich denken können. Hätte Mike sie wirklich so dringend zurück in den Staaten sehen wollen, hätte es vor Ort genügend CIA-Kapazitäten gegeben, um das zu ermöglichen. Hier ging also etwas anderes vor. Nur was? Nach Norden waren sie sicher nicht gefahren; dort existierte schlichtweg nicht genügend Land, um so lange unterwegs zu sein. Nach Süden und Westen konnte sie sich ebenfalls nicht vorstellen. Blieb also nur eines: Sie fuhren nach Osten. Und es gehörte nicht viel dazu, zwei und zwei zusammenzuzählen. Bald schon würde sie sich mindestens in der Ukraine, wahrscheinlicher aber noch auf der Schlangeninsel befinden.
Nur warum? Sie war keine Wissenschaftlerin und verstand von Astrophysik und allen anderen relevanten Disziplinen nur so viel, wie für ihre Arbeit unbedingt nötig war. Immerhin analysierte sie orbitale Gefahrenpotenziale und strategische Szenarien, insbesondere im Hinblick auf nachrichtendienstliche Aktivitäten, aber eben keine astrophysikalischen Sachverhalte. Solange man in der Ukraine also keine Aktentasche voller außerirdischer Angriffspläne gefunden hatte, war sie …
Plötzlich bremste der Van spürbar ab, fuhr um eine enge Kurve und kam unvermittelt zum Stehen. Sofort rückte Keyes so weit von der Tür weg, wie sie nur konnte, und bereitete sich darauf vor, gleich einen Sack über den Kopf gestülpt zu bekommen, doch nichts dergleichen geschah. Zumindest nicht unmittelbar. Stattdessen wurde die Tür einfach nur geöffnet und ein hagerer, glatzköpfiger Mann mit eingefallenen Wangen trat ihr entgegen. Vor seiner Brust hing ein deutsches Sturmgewehr an einem Gurt und auch der Rest seiner Ausrüstung stammte eindeutig aus Bundeswehr-Beständen; Flecktarn erkannte man überall. Nur fehlten sämtliche Abzeichen, die ihn als Angehörigen der Streitkräfte gekennzeichnet hätten oder auch nur seinen Rang anzeigten.
»Miss Keyes?«, fragte er mit unüberhörbar deutschem Akzent und reichte ihr die Hand. »Mein Name ist Walther. Ich bin Ihr zugewiesener … Verbindungsoffizier.«
»Verbindungsoffizier?«, fragte Keyes misstrauisch und stieg aus dem Van, ohne ihm ihrerseits die Hand zu reichen, und schaute sich um. Rings um sie herum gab es nichts als Felder, die sich bis an den Horizont erstreckten, allerdings konnte sie auf der anderen Seite des Wagens einige Stimmen hören. Eine davon sprach eindeutig russisch, eine andere eine osteuropäische Sprache, die sie nicht eindeutig zuordnen konnte. »Was passiert hier? Wo bin ich?«
»Wir befinden uns in der Nähe von Sulina, Rumänien.«
»Also ganz in der Nähe der Schlangeninsel.«
Walther nickte. »Exakt. Miss Keyes, alles, was gleich geschieht, ist niemals geschehen. Sie kennen weder mich noch sonst jemanden, den Sie hier sehen werden. Was gesagt wird, unterliegt der Geheimhaltung. Sie werden mit niemandem darüber sprechen, solange Sie nicht explizit darauf angesprochen werden.«
Keyes schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und Sie haben warum genau Befehlsgewalt über mich?«
Der Anflug eines Lächelns huschte über die Lippen des Deutschen. »Miss Keyes, ich habe keine Befehlsgewalt über Sie, aber ich bin mir sehr sicher, dass Sie es mitbekommen werden, wenn Sie gegen eine dieser Anweisungen verstoßen. Was ich sage, ist mehr ein guter Rat als eine tatsächliche Anweisung. Können wir?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Nein.«
Keyes seufzte leise, warf dem Deutschen einen vernichtenden Blick zu und nickte. Und kaum war sie um den fensterlosen Van herumgetreten, sah sie sich plötzlich sechs Männern gegenüber, von denen drei bewaffnet und mit Uniformen verschiedener Nationen ausgestattet waren. Einer von ihnen, ein untersetzter Kerl mit dunklen Augen und mächtiger Nase, war eindeutig ein russischer Soldat; vermutlich SpezNas. Nur das konnte das schallgedämpfte Unterschallgewehr in seinen Händen erklären. Ihm gegenüber stand ein Mann mit eher zusammengewürfelter Ausrüstung, an dessen Arm unübersehbar das Emblem der ukrainischen Streitkräfte prangerte, sowie ein Soldat mit vollkommen schwarzer und damit nicht identifizierbarer Uniform, der lediglich eine Pistole am Gürtel trug. Die übrigen drei Männer schienen Zivilisten zu sein, vermutlich Wissenschaftler. Oder Agenten wie sie.
Der ukrainische Soldat sagte nun ein paar Worte, die Keyes nicht verstand, und machte dabei eine Handbewegung in Richtung Himmel, nur um anschließend auf den Russen zu deuten und ein paar Beleidigungen auszustoßen, die sie trotz der Sprachbarriere problemlos verstand.
»Und warum kriege ich keinen Amerikaner als Geleitschutz?«, knurrte Keyes, während sich der Russe und der Ukrainer gegenseitig beharkten, und warf Walther einen kurzen Blick zu.
»Wer sagt, dass ich Ihr Geleitschutz bin?«
»Was?«
»Miss Keyes, ich mache diesen Job seit einigen Jahren. Wenn Ihre Vorgesetzten mich herbeordern, wird es einen guten Grund geben, warum sich keine weiteren Amerikaner hier befinden. Und das ist nur meine bescheidene Meinung, aber die Gefahr eines Atomkriegs mit Russland ist geringer, wenn hier ein Deutscher draufgeht und kein Amerikaner. Aber hoffen wir, dass es nicht so weit kommt.«
»Also, was tun wir?!«, raunte der russische Soldat plötzlich mit derart starkem Akzent, dass Keyes Probleme hatte, ihn auf Anhieb zu verstehen. »Fangen wir an oder was?!«
»Wenn Sie gestatten?« Der vermutlich ebenfalls russische Wissenschaftler neben ihm trat einen Schritt nach vorne und sah in die Runde, doch schließlich blieb sein Blick an Keyes hängen. »Mein Name ist Dr. Pavel Morosow. Ich bin der Direktor der …«
»Morosow!«, knurrte der Soldat sofort.
»Stimmt, richtig.« Der Wissenschaftler räusperte sich. »Agent Keyes, wie Sie sicher wissen, stellt uns die Ankunft des außerirdischen Schiffs vor gewisse Herausforderungen, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Lage. Und es wird Sie auch nicht überraschen, dass niemandem daran gelegen ist, durch Fehlinterpretationen der Geschehnisse eine Eskalation zu riskieren. Meine Kollegen und ich …«
Er machte eine Handbewegung in Richtung der übrigen vier.
»Wir arbeiten bereits seit vielen Jahren daran, über wissenschaftlichen Austausch Kanäle zur Verständigung offenzuhalten – insbesondere im Hinblick auf unerklärliche Himmelsphänomene. Bislang wurden wir für unsere Arbeit eher belächelt, allerdings hat sich das mittlerweile geändert.«
»Und was wollen Sie von mir?«, fragte Keyes. »Warum reist mein Boss extra aus den USA nach Deutschland, um mich in einen BND-Van zu setzen und nach Rumänien karren zu lassen?«
»Wissen Sie, wer Wassili Archipow und Stanislaw Petrow waren?«
»Nein.«
»Beide haben durch besonnenes Handeln den Ausbruch des Dritten Weltkriegs verhindert«, übernahm der Mann, der vom Soldaten mit der schwarzen Uniform begleitet wurde. Er sprach makellos und vollkommen akzentfrei Englisch. »Und wir haben vor, dasselbe zu tun. Dafür brauchen wir Sie. Ihr Vorgesetzter ist nicht im Bilde, was wir hier tun und worüber wir sprechen, aber er weiß um die Bedeutung dieses Treffens. CIA-Agenten, die dem amerikanischen SPACECOM unterstellt werden, leisten seit der Reaktivierung Ihrer Orbitalstreitkräfte einen nicht unerheblichen Teil an unserer Austauscharbeit. Sie sind in der Position, sowohl das SPACECOM als auch die CIA mit Informationen zu füttern, die einen Atomkrieg verhindern könnten.«
»Also wurde ich deswegen nach Deutschland geschickt?«
»Davon ist auszugehen, ja. Unsere Kommandostrukturen machen einen offenen Austausch unmöglich und die regulären nachrichtendienstlichen Absprachewege sind zu schwerfällig und zu sehr von Interpretation und Analyse abhängig. Wenn man Sie herbeordert hat, wussten Ihre Vorgesetzten gerade genug, um zu verstehen, wie wichtig dieses Treffen ist – oder sie wurden von jemandem, auf den das zutrifft, entsprechend instruiert. Wie Sie hergekommen sind, spielt keine Rolle. Viel wichtiger ist, dass Sie hier sind.«
»Ich verstehe.« Keyes nickte. »Fahren Sie fort.«
»Meine Kollegen und ich haben schon gesprochen.« Der Ukrainer, ein Hüne mit mächtigem Bart, sah sie an. »Das Schiff hält weiter seine Position im Orbit über dem Schwarzen Meer. Es befindet sich nicht unmittelbar über der Schlangeninsel, wie anfangs angenommen, sondern ein paar Kilometer östlich. Nach wie vor lassen sich keine Aktivitäten feststellen – zumindest nicht beim Schiff selbst.«
»Beim Schiff selbst?«, wiederholte Keyes. »Was soll das denn heißen?«
Der Ukrainer warf dem Russen einen kurzen Blick zu, woraufhin dieser nickte und seinerseits wiederum die Hand hob. Sofort drehte sich der SpezNas-Soldat um, marschierte zu einem in der Nähe geparkten Laster und wuchtete eine schwere Metallkiste von der Ladefläche. Sie maß etwa 20 Zoll Kantenlänge; ein Würfel mit zwei Griffen und einer Öffnung, die allem Anschein nach versiegelt werden konnte. Das Ding machte einen improvisierten, aber mehr als nur stabilen Eindruck.
Nachdem er es in der Mitte ihres kleinen Kreises abgestellt hatte, zog sich der Soldat eine Gasmaske und dicke Gummihandschuhe über, doch da keiner der Anwesenden etwas Vergleichbares tat, bestand wohl keine größere Gefahr, solange man sich nicht unmittelbar an der Kiste befand. Nichtsdestotrotz wich Keyes einen Schritt zurück. Das gefiel ihr nicht und einzig die zumindest oberflächliche Gelassenheit der anderen hielt sie davon ab, sich noch weiter zurückzuziehen.
Der Soldat entriegelte den Verschluss mit ein paar schnellen Handgriffen und zog den Deckel auf – und zum Vorschein kam ein etwa faustgroßer, pyramidenförmiger Gegenstand, der in einer kleinen Halterung verankert war. Erst auf den zweiten Blick verstand Keyes, dass er nicht nur grob pyramidenförmig war, sondern eine perfekte Pyramide in Form eines Johnson-Körpers mit gleichseitigen Seitenflächen darstellte. Das Objekt schien aus einem soliden, anthrazitfarbenen Metall mit spiegelglatter Oberfläche zu bestehen, das im Sonnenlicht leicht violett schimmerte.
Unwillkürlich kniff Keyes die Augen zusammen, als sie plötzlich ein intensiver Kopfschmerz überkam, so heftig, dass sie nach Luft schnappte und sich eine Hand an die Stirn hielt. Es war wie das Dröhnen eines startenden Jets, nur dass es in ihrem Kopf stattfand und einfach nicht aufhören wollte. Die anderen schienen es nicht zu empfinden, aber sie …
»Es vergeht«, riss sie plötzlich Morosows Stimme aus ihrer Pein. »Es ist nur eine Frage von Sekunden.«
»Das …«, keuchte sie und schnappte nach Luft. Er hatte recht. Der Schmerz verging tatsächlich, doch zurück blieb ein dumpfes Rauschen in ihren Ohren. »Was war das? Was ist gerade passiert?«
»Ein Artefakt. Genauer gesagt: ein Alien-Artefakt. Das ist der Grund, warum wir heute zusammengekommen sind.«
»Und …«
»Miss Keyes«, unterbrach sie der makellos Englisch sprechende Wissenschaftler. »Wir wissen fast nichts über dieses Objekt. Das heutige Treffen dient vor allem dem Austausch von relevantem Wissen und der damit einhergehenden Absicherung, dass dieses Artefakt keinen Faktor darstellt, der von einer Konfliktpartei hergestellt oder eingesetzt wird.«
»Wobei wir den Einsatz nicht werden verhindern können«, knurrte der Ukrainer. »Zumindest nicht langfristig.«
»Ist es eine Waffe?«, flüsterte Keyes.
»Wir sind uns nicht sicher. Neben den Kopfschmerzen bei erstmaliger Exposition sind uns aktuell keine weiteren Auswirkungen bekannt – solange man es nicht berührt. Kommt man jedoch in direkten Hautkontakt damit, können die Folgen verheerend sein. Kleinere Tiere in der Größe von Insekten bis zu Füchsen sterben bereits, wenn sie in seine Nähe kommen, größere Lebewesen fallen bei Kontakt in ein Koma. Die wenigen Menschen, von denen wir wissen, dass sie es berührt haben, sind allesamt auf der Stelle oder nach wenigen Tagen gestorben.«
»Und warum haben Sie dieses Ding dabei? Gehört das nicht in ein Labor?«
»Wir haben genug davon in Laboren«, sagte der Russe. »Genau wie mittlerweile sicher jede andere Nation. Diese Objekte tauchen anscheinend auf der ganzen Welt auf. Über das Wie besitzen wir keine Informationen, aber die Objekte erscheinen ersten Erkenntnissen folgend stets in einer Nord-Süd-Achse.«
»Ich …«, setzte Keyes an, hielt dann jedoch inne und schüttelte einfach nur den Kopf, bevor sie tief durchatmete. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das alles verstehe.«
»Das müssen Sie auch nicht«, übernahm der Ukrainer. »Wir befinden uns am Anfang einer sehr interessanten Forschungsreise, von der niemand weiß, wohin sie führen wird. Wichtig ist vorerst nur, dass aus dem Auftauchen dieser Objekte nicht die falschen Schlüsse gezogen werden. Andernfalls wird der Krieg in der Ukraine sehr schnell in einen atomaren Weltkrieg münden, den niemand wollen kann.«
*****
Der Kaffee war längst kalt, als Keyes zum ersten Mal nach der Tasse griff und sie an ihre Lippen führte, doch weder die fehlende Wärme noch der Umstand, dass er viel zu dünn war, störten sie. Sie trank ohnehin nur, um wenigstens eine Hand während der kurzen Schreibpause zu beschäftigen, die sie sich in diesem Augenblick zugestand. Sie konnte sich nicht einmal entsinnen, wann sie sich die Tasse überhaupt eingeschenkt hatte, doch auch das machte nichts. Kalter Kaffee war die geringste ihrer Sorgen.
Schon seit zwei Tagen war sie wieder zurück in der Schriever Space Force Base und arbeitete seither ohne Unterlass. Die Tür zu ihrem Büro hielt sie die meiste Zeit über geschlossen, aber sie bezweifelte ohnehin, dass außer Colonel Roberts irgendjemand von ihrer Rückkehr wusste. Ein Umstand, der ihr mehr als nur gelegen kam, schließlich versuchte sie gerade, eine Lageanalyse zu verfassen, die nicht nur die kaum einzuschätzende Gefahr durch die fremden Artefakte, sondern auch die Haltung der Russen in diesem überaus delikaten Thema angemessen umfasste – und das alles unter den verschiedenen Prämissen und Szenarien, die mit dem weiteren ›Verhalten‹ des fremden Schiffs einhergingen. Eine Herkulesaufgabe, aber sie stand kurz davor, sie zu lösen.
Das Treffen mit Morosow und den beiden anderen Wissenschaftlern hatte ihr den Blickwinkel für eine Gefahr eröffnet, die sie bislang allenfalls am Rande in ihre Szenarien hatte einfließen lassen: Was, wenn diese fremden Wesen mit der Menschheit auf eine Weise interagierten, die zu verstehen ein Mensch gar nicht in der Lage war? Zumindest nicht auf Anhieb? Es lag absolut im Bereich des Möglichen, dass diese plötzlich auftauchenden Artefakte eine Form der Kriegsführung darstellten. Die Vorbereitung einer Invasion, Teil einer noch zu bauenden Waffe, womöglich gar Vorräte oder Sensoren – oder auch der Versuch einer systematischen, globalen Ausrottung der Menschheit. Gleichzeitig war es aber genauso gut möglich, dass diese Artefakte bloß einen simplen und letztlich gut gemeinten Interaktionsversuch darstellten; dass sie eine ihnen unbekannte Kommunikationsmöglichkeit beinhalteten oder gar als Geschenk zu sehen waren, ganz gleich, wie verheerend ihre Auswirkungen auch sein mochten.
Doch egal, welche Intentionen letztlich hinter diesen Artefakten standen: Für den Moment bargen sie das größte Risiko einer potenziell fatalen Fehlinterpretation. Nicht nur zwischen der Menschheit und den Außerirdischen, sondern vor allem zwischen den Großmächten des Planeten, die sich seit letztem Jahr sowieso viel misstrauischer gegenüberstanden als in den vorausgegangenen Jahrzehnten. Selbst wenn die politischen Führer einen kühlen Kopf behielten und diese Objekte als das sahen, was sie waren – nämlich ein extraterrestrisches Rätsel, das rein gar nichts mit irdischen Konflikten zu tun hatte – bestand immer noch die Gefahr von Unruhen, darauffolgenden politischen Verwerfungen und populistischer Eskalation.
Keyes schüttelte unwillkürlich den Kopf und überflog ihre bisherige Analyse, die sie nicht nur dem SPACECOM, sondern auch der CIA vorlegen würde, sobald sie sie abgeschlossen hatte. Die Situation, mit der sie es hier zu tun hatten, war unvorstellbar komplex und vielschichtig. Nicht nur wegen der schieren Menge an menschlichen Akteuren und der höchstwahrscheinlich globalen Ausweitung dieses Phänomens, sondern auch, weil über allem das Damoklesschwert der Aliens schwebte. Die schiere Unmöglichkeit einer sinnhaften Interpretation ohne heranziehbaren Vergleichspunkt. Solange die Aliens nichts taten – und bisher sah es nicht danach aus – würden sie weiter im Dunkeln tappen. Sie konnten gar nicht anders.
Die einzige neue Erkenntnis, die sich in den letzten Tagen hatte gewinnen lassen, bezog sich auf die Beschaffenheit des fremden Schiffs. Verschiedene Analysen hatten wohl ergeben, dass ein nicht unerhebliches Strahlungsniveau von ihm ausging, vergleichbar in etwa mit den Zuständen, wie man sie aktuell im Reaktorkern Tschernobyls vorfand. Wieso das so war und ob das einem Zweck diente oder nicht eher Ergebnis eines Unfalls war, ließ sich indes nicht sagen.
Schließlich holte Keyes tief Luft, trank den Rest des widerwärtig dünnen Kaffees aus und machte sich wieder an die Arbeit – oder zumindest wollte sie das, denn just in diesem Augenblick bemerkte sie drei Silhouetten, die sich hinter dem Milchglas ihrer Bürotür abzeichneten. Gestalten, die unübersehbare Schirmmützen trugen. Offiziere.
Einen Moment lang überlegte sie sich, ob sie sie einfach ignorieren und weiterarbeiten sollte, doch sie wusste längst, dass sie dazu nicht in der Lage war. Die bloße Tatsache, dass sie davon ausgehen musste, dass die Personen zu ihr wollten, aber aus welchen Gründen auch immer zögerten, nervte sie. So sehr, dass sie am liebsten aufgestanden und zur Tür gegangen wäre, um sie hereinzubitten. Doch das war etwas, das ihre CIA-Zugehörigkeit beim besten Willen nicht hergab.
Als sich die Tür wenige Minuten später endlich öffnete und Keyes’ genervtem Warten ein Ende bereitete, trat Colonel Roberts als Erster ein, dicht gefolgt von einer Frau in der Uniform der Air Force. Ein Lieutenant General. Ihr wiederum folgte ein Mann, den Uniform und Rangabzeichen als General der US Army identifizierten. Während Roberts bei der Tür stehenblieb, kurz salutierte und anschließend wieder nach draußen verschwand, traten die beiden an ihren Schreibtisch heran und nickten ihr zu.
»Miss Keyes«, begrüßte sie die Frau von der Air Force und setzte sich auf einen der beiden freien Stühle, während sich der General mit verschränkten Armen an die Wand lehnte und aus dem Fenster sah. »Ich bin Lieutenant General Emilia Ford, das ist General Aaron Snyder.«
Keyes nickte ihr zu und sah anschließend zum General, der ihren Blick jedoch nicht erwiderte und stattdessen weiter aus dem ihm gegenüberliegenden Fenster starrte.
»Ich habe keinen so hochrangigen Besuch erwartet. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Verlieren wir keine Zeit.« Ford lehnte sich kaum merklich nach vorne. »Agent Keyes, wir sind hier wegen des Berichts, den sie gerade schreiben.«
»Sie wissen davon?«
»Ja. Und wir wissen auch von den Umständen, die Sie veranlasst haben, ihn zu verfassen.«
Keyes schwieg.
»Verstehen Sie uns nicht falsch«, fuhr Ford fort. »Wir sind nicht hier, um Sie für das zu bestrafen, was in Rumänien passiert ist. General Snyder und ich gehören zu den wenigen Menschen, die von diesen Treffen wissen, und wir schätzen Ihr Engagement. Leider können wir trotzdem nicht zulassen, dass Sie diesen Bericht weiterleiten – und auch nicht, dass es noch einmal zu derartigen Treffen kommt. Zumindest nicht mit Ihnen.«
»Ich verstehe nicht.« Keyes schluckte schwer und versuchte, Blickkontakt zu ihr aufzubauen, doch Ford starrte stur an ihr vorbei auf die hinter ihr liegende Wand. »Wieso nicht? Ich dachte, diese Treffen …«
»Lassen Sie mich an dieser Stelle dazwischen gehen«, unterbrach sie der Lieutenant General. »Außer den Agenten und Wissenschaftlern, die bislang an derartigen Zusammenkünften teilgenommen haben, wissen nur wenige Dutzend Menschen in den USA davon. Die Mechanismen, nach denen die Treffen organisiert werden, sind sehr kompliziert, da sie in jeder teilnehmenden Nation die offiziellen Kommandoketten umgehen und stattdessen direkt an die relevanten Personen herantreten. Feste Intervalle haben sich als gangbares Mittel erwiesen – nur eben in diesem Fall zu unseren Ungunsten.«
»Also hätte ich nicht teilnehmen sollen?«
»Nein, allerdings konnten Sie das nicht wissen, Miss Keyes. Irgendwo entlang der Organisationskette ist etwas schiefgegangen. Sie hätten niemals auch nur das Land verlassen dürfen. Warum Colonel Roberts nicht davon in Kenntnis gesetzt wurde, ist mir leider ein Rätsel.«
»Und was bedeutet das jetzt?«
»Sie werden mit sofortiger Wirkung Ihres Postens enthoben.«
»Was?!«, hauchte Keyes mit bebender Stimme und starrte sie an. Mit einem Mal brandete eine Wut in ihr auf, die sie sich in ihrer Heftigkeit selbst kaum erklären konnte. Nach allem, was geschehen war, zog man sie jetzt einfach ab? Jetzt, nachdem sie zum ersten Mal seit ihrer Abordnung in die Wüste einen Sinn in dem sah, was sie tat? Einen Sinn, der nichts Geringeres als das Verhindern eines Weltkrieges beinhaltete?
»Sie haben mich verstanden, Miss Keyes«, sagte Ford mit kühler Stimme. »Wie gesagt, wir sind nicht hier, um Sie zu bestrafen, sondern …«
»Wollen Sie mich eigentlich verarschen?!«
»Achten Sie auf Ihren Ton, Miss Keyes!«
»Nein!« Bevor sie auch nur wusste, was sie tat, sprang Keyes auf, packte den Bildschirm und drehte ihn so, dass Ford ihn sehen konnte. »Sie hören mir jetzt zu! Ich gehöre nicht zur Army und nicht zur Air Force! Ich arbeite für die CIA und bin der nationalen Sicherheit verpflichtet! Ich werde nicht zulassen, dass Sie einen gottverdammten Atomkrieg riskieren, um …«
»Halten Sie die Luft an!«, knurrte General Snyder plötzlich mit derart durchdringendem Ton, dass Keyes unwillkürlich zusammenzuckte und einen Schritt zurückwich. Jetzt endlich trat er von der Wand weg, straffte seine Uniformjacke und ging zum Schreibtisch, wo er sich auf der Tischplatte abstützte und dabei aussah wie ein Raubtier, das sich gleich auf sie stürzen wollte. »Sie sind dem SPACECOM unterstellt – und damit fallen Sie Zeit Ihres Dienstes in die direkte Zuständigkeit des Pentagons. Also. Hören Sie uns jetzt zu oder muss ich Sie in Handschellen abführen lassen?«
Keyes holte tief Luft und ließ sich zurück in ihren Stuhl sinken. »Ich höre zu.«
»Ihre Hingabe in allen Ehren, aber Sie verlieren die globalstrategische Perspektive aus dem Blick«, fuhr Snyder mit deutlich leiserer und geradezu sanfter Stimme fort. Auch er setzte sich nun, beugte sich anders als Ford jedoch nicht nach vorne, sondern lehnte sich beinahe ostentativ entspannt zurück. Sogar der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Aus nachrichtendienstlicher Perspektive stimme ich Ihnen vollkommen zu, allerdings war nie geplant, dass Sie an den Treffen teilnehmen. Wir können, dürfen und werden nicht riskieren, dass den Russen strategisch relevante Informationen in die Hände fallen – weder über das Schiff selbst noch über die Artefakte. Ab sofort wird ein speziell geschulter Agent Ihre Position einnehmen.«
»Bei allem Respekt, Sir«, erwiderte Keyes vorsichtig. »Die Russen drohen seit dem Einmarsch in die Ukraine regelmäßig mit dem Einsatz von Atomwaffen. Halten Sie es wirklich für klug, einen offensichtlich wertvollen wissenschaftlichen Kommunikationskanal zu schließen, während sich ein Alien-Schiff über der Erde befindet und diese Artefakte überall auftauchen?«
»Wir gehen nicht davon aus, dass es zu einem Atomschlag kommen wird.«
»Aber …«
»Miss Keyes, Sie müssen uns in dieser Hinsicht vertrauen.«
»Und was jetzt? Gehe ich zurück zur CIA?«
»Nein.« Snyder schüttelte den Kopf. »Sie unterstehen nach wie vor dem SPACECOM und werden weiterhin für unsere Angelegenheiten gebraucht. Einzig Ihr Einsatzgebiet ändert sich. Nehmen Sie sich den restlichen Tag frei und gehen Sie nach Hause. Wir lassen Ihnen noch heute Abend weitere Anweisungen zukommen.«
Noch bevor Keyes antworten oder anderweitig reagieren konnte, standen Snyder und Ford auf und verließen ihr Büro. Colonel Roberts, der offensichtlich vor der Tür gewartet hatte, salutierte, als sie an ihm vorbeimarschierten, und warf ihr anschließend einen kurzen, dafür aber umso durchdringenderen Blick zu, bevor er die Tür wieder hinter den beiden schloss.
Stille legte sich über das Büro. Eine Stille, so dröhnend, dass Keyes am liebsten geschrien hätte, um sie zu durchbrechen. Mit ungläubig offen stehendem Mund starrte sie auf das Milchglas der Tür. Ein Teil von ihr war fest davon überzeugt, dass gleich jemand zurückkommen und ihr eröffnen würde, dass das nur ein Missverständnis gewesen war. Dass sie ihre Arbeit fortsetzen und die direkten Kanäle nach Osteuropa offenhalten sollte. Doch leider wusste ein anderer Teil von ihr ganz genau, dass das bloß Wunschdenken war. Niemand würde zurückkommen.
Es kostete sie viel zu viel Überwindung, den schon fast fertigen Bericht von ihrem Computer zu löschen, und nachdem sie es schließlich getan hatte, musste sie beide Hände zu Fäusten ballen, um nicht vor Wut zu zittern. Die Zeit und Arbeit, die sie bereits investiert hatte, waren ärgerlich, aber kein Weltuntergang. Was allerdings den Inhalt anging, sah die Sache ganz anders aus. Gerne hätte sie behauptet, dass das ebenfalls kein Weltuntergang war, doch das wäre gelogen gewesen.
Mit einem Mal fühlte sie sich unbeschreiblich schlecht. Gehetzt, getrieben, gejagt. Erschöpft, müde und ermattet. Es war, als hätte jemand den Stecker gezogen; als wäre sie seit Tagen einen Dauerlauf gerannt, nur um jetzt zum ersten Mal innezuhalten und ihre Kraftlosigkeit zu begreifen. In gewisser Weise war es auch so. Seit dieses Schiff aus dem Nichts aufgetaucht war, hatte sie beinahe jede wache Minute gearbeitet; den Großteil davon in völliger Unkenntnis dessen, was überhaupt geschah, aufbauend allein auf Informationsfetzen und Mutmaßungen. Eine Leistung, auf die sie stolz gewesen war – und von der andere nun entschieden hatten, dass sie null und nichtig sein musste.
So schnell sie nur konnte, packte sie ihre wenigen Sachen zusammen, stürmte aus dem Büro und verließ die Basis. Bis zu ihrer winzigen Wohnung war es nur eine Fahrt von knapp 30 Minuten, doch jeder einzelne Meter auf dem Weg dorthin kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Das Verlassen der Basis, der Weg zu ihrem Auto, die Fahrt, die Treppe nach oben, einfach alles. Und als sie irgendwann schließlich die Tür hinter sich zuschlug und sich der Leere ihres kargen Apartments gegenübersah, hätte sie am liebsten geheult. Warum sie es nicht tat, wusste sie selbst nicht. Vielleicht lag es an derselben Erschöpfung, vielleicht an ihrer Disziplin, vielleicht daran, dass es ohnehin nichts geändert hätte.
Plötzlich brach eine erneute Welle der Wut über sie herein. Wut, noch viel heftiger als jene, die sie vorhin ihn ihrem Büro überkommen hatte. Ohne darüber nachzudenken, packte sie ihre Tasche und warf sie quer durchs Zimmer gegen die Wand, wo sie augenblicklich aufsprang und den Inhalt über den Boden verteilte. Ein kurzer, schriller Schrei der Verzweiflung brach aus ihrer Kehle und sie wollte schon nach der Tasche treten, sank dann jedoch einfach nur zu Boden und vergrub das Gesicht in den Händen.
Sie hätte niemals herkommen dürfen. Sie hätte sich weigern sollen, als man sie aus Langley in die Wüste versetzt hatte; als man sie aus dem Außendienst geholt und ihr neue Karrierechancen in der Analytik aufgeschwatzt hatte. Warum hatte sie sich nicht geweigert? Warum hatte sie sich darauf eingelassen? Karrieresucht und Geltungsdrang, nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte eine Abkürzung für die Leiter nach oben gesehen, wo es keine Abkürzungen gab. Verdammt, in den paar Tagen in Berlin und sogar in Rumänien hatte sie sich besser gefühlt als während der gesamten letzten Monate. Und jetzt war es weg. Alles. Weil sie zur falschen Zeit am richtigen Ort gewesen war.
Kapitel 4
N ick starrte auf die Waffe in seiner Hand. Auf die Waffe, mit der er Chester erschossen hatte. Es war ihm vollkommen unverständlich, warum seine Finger nicht zitterten. Hätten sie nicht zittern sollen? Hätte es nicht irgendeinen … Hinweis geben müssen auf das, was er getan hatte? Irgendeine Konsequenz, eine Reaktion seines Körpers? Er hatte einen Menschen erschossen, hatte ein Leben ausgelöscht. Und doch war er vollkommen ruhig. Weder seine Hände noch sein restlicher Körper zitterten. Da war einfach gar nichts. Nur eine abgrundtiefe Leere, die ihn verschlang.
Wie ferngesteuert griff er nach seinem Rucksack und holte eine Flasche Wasser heraus. An seinen Fingern klebte Blut. Nicht viel und doch zu viel. Er hatte darauf geachtet, Chester möglichst nicht zu berühren, als er ihm die Kiste mit dem Artefakt abgenommen hatte, doch es war nicht ganz zu vermeiden gewesen. Warum er das überhaupt getan hatte und nicht einfach auf der Stelle verschwunden war, wusste er nicht, und ganz gleich, wie sehr er auch darüber nachdachte, er konnte es sich nur zum Teil erklären. Wahrscheinlich war es wenig mehr als ein Instinkt. Die Weigerung, das, wofür so viele Menschen hatten sterben müssen, einfach zurückzulassen. Das Artefakt, für das Chester getötet hatte und letztlich auch gestorben war. Das Versprechen auf Geld, von dem er keine Ahnung hatte, wie er es machen sollte.
Er hatte die Kiste in einem Geheimfach unter dem Beifahrersitz des Trucks verstaut; ein kleines Fach, gerade groß genug, damit sie hineinpasste. Unmöglich zu erkennen, wenn man nicht wusste, wo es sich befand. Selbst er hatte es nur bemerkt, weil er mit dem Fuß gegen einen versteckten Schalter neben der Kupplung gestoßen war. Wahrscheinlich war das der Grund, warum Chesters Truck überhaupt über eine Kupplung verfügte. Man konnte neben ihr etwas verstecken und kein Cop des Landes würde da je nachsehen. Ein Umbau, der mit sehr viel Sorgfalt und Expertise durchgeführt worden war.
Schließlich schraubte Nick die Flasche wieder zu, legte sie auf den Beifahrersitz und startete den Wagen. Wohin er fahren sollte, wusste er nicht, genauso wenig wie sonst etwas. Seine Gedanken fühlten sich schwer wie Blei an, und abgesehen von der dröhnenden, pochenden Erinnerung an das, was er getan hatte, war nichts in seinem Kopf. Absolut gar nichts. Alles, was er gerade tat, war seinen Instinkten geschuldet; dem Wissen, dass er von hier verschwinden musste, so schnell er nur konnte – und solange es noch ging.
Am Horizont waren längst vier dunkle Punkte aufgetaucht, die mit rasender Geschwindigkeit näherkamen. Hubschrauber der Regierung, vermutlich voll besetzt mit Leuten vom Militär, der CIA und dem FBI. Diejenigen, die schon vor Tagen hätten herkommen und sich um dieses gottverdammte Artefakt kümmern sollen. Hätten sie ihren Job gemacht, wäre niemand jemals auf die Idee gekommen, nach diesen Artefakten zu suchen. Chester wäre nie nach Tombstone gekommen, hätte nie mit ihm gesprochen. Und er hätte ihn nicht töten müssen, um sein eigenes Leben zu retten.
Plötzlich schoss ein Gedanke mit derartiger Wucht durch seinen Kopf, dass Nick nach Luft schnappte und den Wagen um ein Haar zum Stehen gebracht hätte. Warum wendete er nicht einfach, fuhr zurück und gab ihnen das Artefakt? Er könnte ihnen erklären, was geschehen war. Dass Chester jemanden ermordet hatte und er ihn hatte töten müssen, weil er sonst selbst erschossen worden wäre. Dann wäre dieses verfluchte Ding wenigstens in den richtigen Händen gelandet.
Aber das änderte nichts daran, dass er einen Mord begangen hatte.
Er schloss einen winzigen Augenblick lang die Augen, biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Nein. Er konnte nicht zurück. Ganz gleich, was auch geschah, er hatte einen Menschen getötet und würde – musste – dafür bestraft werden. Vielleicht schickte man ihn wegen der delikaten Natur der Umstände nicht in den Bau, um ein Durchsickern an die Öffentlichkeit zu verhindern, aber dass er für den Rest seines Lebens in irgendwelchen Kellern der Geheimdienste verschwand, erschien ihm wie in Stein gemeißelt. Keine Chance mehr, Miranda zu unterstützen.
Gerne hätte er das Gaspedal durchgedrückt, um so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, doch mit all seiner Willenskraft zwang er sich zur Beherrschung. Die Hubschrauber befanden sich nur noch wenige Kilometer von ihm entfernt, und auch wenn sie auf die Hügel bei Gleeson zuhielten, würden sie mit Sicherheit bemerken, wenn er wie ein Irrer über die Straße bretterte. Praktisch eine Einladung dazu, ihn hochzunehmen.
Und so fuhr er weiter, knapp über dem Tempolimit. Unauffällig. Entspannt. Zumindest nach außen. Gott, was tat er hier nur? Wie hatte es nur so weit kommen können? Er war niemand, der davor zurückschreckte, das Gesetz zu brechen, wenn es sich mit seiner eigenen Moral verbinden ließ oder er das Gesetz für idiotisch hielt, aber das? Er war jetzt ein Mörder. Aus Notwehr zwar, das wusste er, aber für ihn selbst änderte das nichts, war es doch seine freie Entscheidung gewesen, Chester zu begleiten. Ihm war von Anfang an klar gewesen, worauf er sich einließ. Dass Chester nicht die Art Mensch war, die ehrliches Geld verdiente. Verdammt, spätestens, als er ihm die Waffe gegeben hatte, hätte er gehen sollen. Dass es so weit gekommen war, war allein seine Schuld! Nicht einmal die Sorge um Miranda vermochte das zu rechtfertigen.
Was um alles in der Welt sollte er jetzt nur tun? Zwar erreichte er just in diesen Sekunden Tombstone und damit die Stadt, in der er die letzten Jahre verbracht hatte, aber das war auch schon alles. Er saß in einem faktisch gestohlenen Truck, versteckt unter dem Beifahrersitz lag ein außerirdisches Artefakt, wertvoll genug, damit sich Menschen seinetwegen gegenseitig töteten, auf der Ladefläche lag genug Ausrüstung, um Gott weiß was zu tun. Von der Pistole in seinem Hosenbund ganz zu schweigen.
»Ich bin am Arsch«, raunte er schließlich, als er den Truck in einer wenig befahrenen Seitenstraße am Rand der Stadt zum Stehen brachte. »Vollkommen am Arsch!«
Er wusste nicht, wie lange er einfach nur dasaß und versuchte, nicht die Nerven zu verlieren. Die Sonne ging längst wieder unter und bald schon legte sich einmal mehr Dunkelheit über die Wüste Arizonas. Ganz gleich, wie sehr er es auch drehte und wendete, er sah keinen Weg, wieder aus dieser Sache rauszukommen. Freunde hatte er keine in der Stadt, zumindest keine, denen er genug vertraute, um sich in einer solchen Angelegenheit an sie zu wenden. Und selbst wenn er beschlossen hätte, das Artefakt und den Truck loszuwerden und zu hoffen, nicht erwischt zu werden, blieb ihm nichts anderes übrig, als in die Wüste zu fahren und beides anzuzünden. Wobei er bezweifelte, dass sich das Artefakt dadurch zerstören ließ.
Nein. Das war keine Option. Zwar konnte er nicht sagen, wieso, aber jede Faser seines Körpers schrie ihm zu, dass das seine Probleme nicht lösen würde. Er musste das Artefakt auf anderem Weg loswerden – und Chester hatte mit Sicherheit einen Weg gekannt, wie man das tat. Was also, wenn es irgendwo in diesem Truck einen Hinweis gab? Vielleicht eine Liste potenzieller Käufer oder wenigstens die Telefonnummer eines Hehlers?
Ohne noch mehr Zeit zu verschwenden, beugte sich Nick zur Seite und begann, das Handschuhfach zu durchwühlen, nur um beinahe augenblicklich auf ein Satellitentelefon zu stoßen, das mit Klebeband an der Oberseite des Fachs befestigt war. Er lachte so ungläubig wie erleichtert und schaltete es ein. Das Display war zwar geradezu steinzeitlich simpel gehalten, aber übersichtlich genug, damit er ohne Probleme die Kontakte aufrufen konnte. Wobei der Plural an dieser Stelle unangemessen war, denn es war nur eine einzige Nummer als ›Sie‹ eingespeichert.
»Dann wollen wir mal«, murmelte Nick und wählte die Nummer.
»Sie sind zu spät«, meldete sich beinahe augenblicklich eine Frau. »Mr. Williams, wir hatten ausgemacht, dass Sie …«
»Chester ist tot«, unterbrach Nick sie mit tonloser Stimme. »Mein Name ist Nick. Ich bin sein … Geschäftspartner.«
»Tot?« Sie klang nicht gerade überrascht. »Das ist unerwartet bis bedauerlich. Nun denn, Nick, haben Sie, was ich will?«
»Ja. Allerdings hat Chester nichts zu den Details gesagt.«
»Das wundert mich nicht. Wo befinden Sie sich, Nick?«
»In Tombstone, Arizona.«
»Und wie ist Ihre Situation?«
»Wie meinen Sie?«
Die Frau seufzte so genervt wie amüsiert. »Werden Sie verfolgt? Wurden Sie verletzt? Weiß die Polizei von Ihnen? Ich kann eine Übergabe nur veranlassen, wenn ich keine Rückschlüsse auf meine Person riskieren muss.«
»Ich bin okay und mir ist niemand gefolgt«, antwortete Nick wahrheitsgemäß. »Allerdings sind ein paar Leute bei der Suche draufgegangen und die Leichen sind noch vor Ort. Es wird nicht mehr lange dauern, bis hier alles vor Cops und FBI wimmelt. Sie sollten sich also beeilen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Sie sind in Tombstone, haben Sie gesagt? Gut. Verlassen Sie die Stadt in südwestliche Richtung über die Charleston Road, bis Sie am Straßenrand auf einen weißen Truck mit eingeschalteten Warnblinkern stoßen. Parken Sie mindestens zehn Meter von ihm entfernt, steigen Sie aus und stellen Sie die Ladung zwischen den Fahrzeugen ab. Anschließend steigen Sie wieder ein. Meine Leute werden die Einhaltung des Vertrags überprüfen und Ihnen anschließend die mit Mr. Williams vereinbarte Bezahlung übergeben. Sie werden Sie erst holen, wenn meine Leute weggefahren sind. Anschließend begeben Sie sich nach Sierra Vista.«
»Wieso das?« Nick kniff die Augen zusammen. »Was interessiert Sie, wohin ich gehe?«
»Mr. Williams hat es Ihnen wohl nicht gesagt, aber diese Geschäftsbeziehung ist von fortdauernder Natur.«
»Das mag sein, aber Mr. Williams ist tot. Mit mir haben Sie keine Geschäftsbeziehung und nach der Sache bin ich raus. Ich will damit nichts zu tun haben.«
»Das ist eine bedauerliche Einstellung, Mr. Hargraves.«
Nick spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. »Woher kennen Sie meinen Namen?!«
»Auch das hat Ihnen Mr. Williams wohl nicht gesagt. Bevor er sich auf den Weg nach Tombstone gemacht hat, ließ er mir eine Liste mit möglichen Kandidaten für eine Zusammenarbeit zukommen. Da sich nur ein einziger Nick auf besagter Liste befindet und dessen Nachname Hargraves lautet, bin ich nach dem Ausschlussprinzip vorgegangen – was Sie mir soeben bestätigt haben. Mr. Hargraves, es ist nicht meine Absicht, Sie zu erpressen, aber ich schlage eine Einhaltung der mit Mr. Williams getroffenen Übereinkunft vor. So gewinnen wir beide.«
»Wenn Sie mich nicht erpressen wollen, warum tun Sie es dann?«, knurrte Nick.
»Weil die Alternative lautet, dass wir beide verlieren. Meine Auftraggeber sind sehr an der Akquise der Artefakte interessiert und ich habe einen Ruf zu verlieren, wenn ich nicht liefere. Außerdem ist die Bezahlung gut genug, um Ihre Bedenken hoffentlich zu zerstreuen.«
Nick schwieg.
»50.000 Dollar für jedes Artefakt, das Sie mir bringen«, fuhr die Frau nach kurzer Pause fort. »Sowie eine Erfolgszulage von weiteren 50.000, sobald Sie uns fünf, zehn und so weiter gebracht haben. Wissen Sie was? Sie müssen mir nicht sofort antworten. Fahren Sie in Richtung Sierra Vista und bringen Sie meinen Leuten das Artefakt. Wenn Sie Interesse haben, rufen Sie mich an. Sie haben meine Nummer.«
Mit diesen Worten beendete sie das Gespräch – und Nick musste sämtliche Willenskraft aufbringen, um das Satellitentelefon nicht auf der Stelle aus dem Fenster zu werfen und drüberzufahren. Noch während des Telefonats war eine Mischung aus blanker Wut und ohnmächtiger Verzweiflung in ihm aufgestiegen. Eine Mischung, die nun unbarmherzig über ihn hereinbrach und ihn geradezu mit sich riss. Er war wütend auf Chester, auf diese Frau und nicht zuletzt sich selbst. Auf sich selbst und seine unsagbare, blinde, geldgierige Dummheit.
Nichtsdestotrotz startete er unverzüglich den Wagen, verließ die Seitenstraße und brachte den Truck auf die Charleston Road in Richtung Sierra Vista. Eine Wahl blieb ihm zumindest für den Moment nicht. Die Hubschrauberbesatzungen hatten mittlerweile garantiert die Leichen bei Gleeson gefunden und mit dem Wissen um das Alien-Artefakt die richtigen Schlüsse gezogen. Bekamen sie ihn – etwa nach einem Hinweis der namenlosen Frau – in die Finger, würden sie ihn für all das verantwortlich machen. Und da er vermutlich der einzige Ansatzpunkt war, den sie in dieser Sache hatten, würden sie ihn nach allen Regeln der Kunst bearbeiten.
Nicks Herz schlug schnell und hart, während er mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Nacht raste. Am liebsten hätte er vor Wut geschrien und die restlichen Kugeln in seiner Pistole in dieses gottverdammte Artefakt gejagt. Und je länger er fuhr, desto gnadenloser brannte die Wut in ihm. Was um alles in der Welt bildete sich diese beschissene Idiotin eigentlich ein, ihn derart zu erpressen? Warum ließ er das überhaupt mit sich machen? Er war niemand, der vor diesem Typ Mensch kuschte – oder vor sonst jemandem! Eigentlich hätte er auf der Stelle anhalten und sich stellen sollen, denn selbst wenn das bedeutete, dass er niemals wieder freikam, hätte er so zumindest gezeigt, dass er das nicht mit sich machen ließ!
Aber er tat es nicht. Stattdessen fuhr er einfach nur weiter. Feige, wie er tief in sich drin wohl war, getrieben von seinem Überlebensinstinkt und dem Gedanken an Miranda. Und genau dafür hasste er sich in diesen Minuten mehr, als er mit Worten beschreiben konnte. Er war ein feiger Versager, der seine eigene Schwester als Rechtfertigung heranzog, sich der Verantwortung für seine Taten zu entziehen.
Er war schon fast in Sierra Vista angekommen, als ihm endlich die Warnblinker eines Trucks am Straßenrand entgegenleuchteten. Und obwohl ein Teil von ihm nichts lieber getan hätte, als einfach dran vorbeizufahren, stoppte er den Wagen wie angewiesen gut zehn Meter von ihm entfernt, öffnete das Geheimfach unter dem Beifahrersitz und wuchtete die Kiste heraus, nur um sie anschließend im Staub der Wüste zwischen den beiden Fahrzeugen abzustellen und sich wieder auf den Fahrersitz zu setzen.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis zwei Männer im Licht der Scheinwerfer auftauchten. Einer von ihnen trug dicke Handschuhe und eine Gasmaske. Er war derjenige, der die Kiste nahm und wegtrug. Der andere hielt ein Jagdgewehr in den Händen, dass er zwar nicht unmittelbar auf Nick richtete, jedoch hoch genug erhoben hatte, um innerhalb eines einzigen Augenblicks anzulegen und abzudrücken. Und obwohl Nick schon fast damit rechnete, dass die beiden verschwinden würden, ohne die versprochene Bezahlung dazulassen, kam der Kerl mit der Maske bereits nach wenigen Augenblicken zurück – mit einer Reisetasche in der Hand, die er genau dort abstellte, wo gerade eben die Kiste gestanden hatte.
Nachdem die beiden eingestiegen und weggefahren waren, stieg Nick erneut aus, verharrte jedoch neben seinem Truck und starrte auf die Tasche. Sie war nicht ganz geschlossen, sodass er die Geldscheine sehen konnte, sie sich in ihr befanden. Er wusste längst, dass er hingehen und sie nehmen würde. 50.000 Dollar waren mehr, als er je zuvor besessen hatte. Genug Geld, damit sich Miranda einige Behandlungen leisten konnte, sie bislang schlichtweg undenkbar gewesen waren. Allerdings bedeutete das auch, dass er eine Entscheidung traf. Die Entscheidung, dieses Spiel weiter mitzuspielen. Mit allem, was dazugehörte. Dass er den Mord an Chester nicht nur anerkannte, sondern sich sogar dafür belohnen ließ. Und allein der Teufel wusste, wie oft er das noch tun musste. Der Teufel, dem nun endgültig seine Seele gehörte.
*****
Nick sah auf die Karte auf seinem Schoß, während er den Truck vorsichtig über einen Ausläufer der Teton Range, eine Bergkette der Rocky Mountains, steuerte. Straßen oder auch nur Wege, die breit genug waren, um sie zu befahren, gab es keine in der Gegend, genauso wenig wie irgendwelche Punkte, an denen man sich orientieren konnte. Letzteres war ein Kunststück, das vielleicht jemand mit Ortskenntnissen zu vollbringen in der Lage war, aber sicher nicht er. Für ihn sah hier alles gleich aus. Deshalb blieb ihm nur seine Karte und der gelegentliche Blick aufs GPS.
Seit der Sache in Gleeson und der Übergabe des Artefakts waren mittlerweile fast zwei Wochen vergangen, womit auch die Ankunft des Alien-Schiffs schon eine ganze Zeit zurücklag. Dem öffentlichen Interesse tat das zwar noch keinen Abbruch, allerdings ließen sich bereits erste Risse in der medialen Einheitsfront erkennen, die zumindest darauf hindeuteten, dass sich die größte Hysterie genau wie der gewaltigste Hype allmählich legten. Sah man einmal von den Artefakten ab, die immer öfter im ganzen Land und vermutlich auch im Rest der Welt auftauchten, geschah nach wie vor nichts, was auf irgendeine Aktivität des Schiffs hindeutete.
Dieser Umstand war Nick nur recht. Erst vor ein paar Tagen hatte er sein zweites Artefakt geborgen, im Norden von Idaho, nicht allzu weit von hier entfernt. Die Infos dazu hatte ihm zwar noch die namenlose Frau am Telefon mitgeteilt – die er im Übrigen Jane Doe getauft hatte – doch das Artefakt, das er gerade suchte, hatte er ganz allein aufgespürt. Anfangs war es ihm zwar noch ein Rätsel gewesen, wie man das überhaupt schaffen sollte, doch mittlerweile hatte er den Dreh raus – was vor allem daran lag, dass ihm einige Regelmäßigkeiten aufgefallen waren. Diese Artefakte tauchten immer dort auf, wo in den letzten Tagen ein Gewitter getobt hatte, meistens begleitet von heftigen Regenschauern oder gar Hagelstürmen. Die Dauer spielte wohl kaum eine Rolle; allein der Umstand, dass das geschah, reichte aus.
Das wiederum erklärte zumindest in seinen Augen, warum sich die Regierung so schwer damit tat, die Fundorte vor Prospektoren wie ihm zu erreichen. Die Radaranlagen des Militärs und auch alle anderen technischen Spielereien, mit denen die USA und ihr Luftraum überwacht wurden, mochten zwar jeden Spatz registrieren, der zu hoch flog, aber nicht einmal sie waren in der Lage, jedes Gewitter derart intensiv zu überwachen, dass ihnen so etwas auf Anhieb auffiel. Vermutlich mussten erst umfangreiche Berechnungen und Analysen angestellt und unzählige Sensoren neu kalibriert werden. Und gleich ein Einsatzteam zu jedem kleinen Schauer zu schicken, war selbst für die gerne überkompensierende US-Regierung zu hysterisch.
Nichtsdestotrotz war sich Nick vollkommen bewusst, dass es nur noch eine Frage von wenigen Wochen war, bis die Regierung in dieser Hinsicht aufholte, mit besserer Technik arbeitete und schneller reagierte. Was dann sein würde, wusste er noch nicht. Vielleicht musste er ebenfalls besser werden, vielleicht in andere Länder ausweichen oder sonst etwas. Jane Doe hatte ihm zumindest in Aussicht gestellt, dass er nach fünf oder sechs Artefakten aufhören konnte, wenn er denn wollte.
Und auch wenn er es sich bis vor ein paar Tagen niemals hätte vorstellen können, war er sich mittlerweile alles andere als sicher, ob er das überhaupt noch wollte. In den letzten zwei Wochen hatte er mehr Geld verdient als in den vergangenen sechs Jahren zusammen, und seine letzte Suche war auch deutlich problemloser abgelaufen als die bei Gleeson. Er war einfach zum angegebenen Gebiet gefahren und hatte sich zwei Tage lang umgesehen, bis er das Artefakt gefunden hatte. Keine anderen Prospektoren, keine Regierung, nichts. Beinahe wie ein Campingausflug, für den man bezahlt wurde.
»Dann wollen wir mal«, brummte Nick, als er seinen Wagen schließlich am Rand einer kleinen Lichtung parkte. Nicht weit von hier entfernt verlief ein schmaler Wanderweg, aber zumindest bisher waren ihm keine anderen Menschen in der Gegend aufgefallen und auch sonst nichts, was auf Prospektoren hindeutete.
Nichtsdestotrotz musste er vorsichtig vorgehen. Nichts zu sehen, war eine Sache, doch es bedeutete nicht, dass da draußen niemand war, der nicht ebenfalls nach dem Artefakt suchte. Vorausgesetzt natürlich, es befand sich überhaupt noch vor Ort und er hatte sich nicht grundsätzlich mit seiner Einschätzung bezüglich der Fundorte getäuscht.
Noch immer konnte er nur mutmaßen, wer diese Dinger kaufte und wieso. Selbst Jane Doe war nur eine Hehlerin. Eine sehr einflussreiche zwar, aber nichtsdestotrotz nur eine Hehlerin. Vermutlich spielte sie in der Liga, die mit gestohlenen Kunstwerken und Schmuck handelte, der eigentlich in ein Museum gehörte. Die Art Hehlerin also, die die degenerierten Wünsche all jener erfüllte, die so reich waren, dass sie schon alles besaßen, was man legal mit Geld kaufen konnte.
Nick schnaubte leise, während er sich ausrüstete und sich schließlich auf den Weg in Richtung Berge machte. Vermutlich saß just in diesem Augenblick irgendein Milliardär in seinem riesigen Anwesen und blickte auf eine ganze Sammlung von Alien-Artefakten, während er sich daran aufgeilte, wie viele Menschen dafür wohl gestorben waren, und sich darüber freute, dass er etwas besaß, das sonst niemand hatte. Oder irgendein Kerl, der keinen mehr hochbekam, mahlte diese Dinger zu Pulver und schnupfte sie.
Aber das war vermutlich überall auf der Welt so – und nicht zuletzt der Grund, warum er gutes Geld verdiente, auch wenn es nur Brotkrumen der Beträge waren, die wahrscheinlich über den Tisch wanderten.
Plötzlich ein kurzes Klingeln in einer seiner Taschen. Das Satellitentelefon.
»Ja?«
»Hallo, Mr. Hargraves«, begrüßte ihn die Stimme von Jane Doe. »Haben Sie einen Augenblick?«
»Kommt darauf an. Was gibt es?«
»Ich habe neue Koordinaten für Sie.«
»Das wird warten müssen.«
»Wieso das denn?«
»Weil ich gerade selbst hinter einem Artefakt her bin.«
»Sie … Was?«
Sie klang ehrlich überrascht. Ein Umstand, der Nick sofort von einem Ohr bis zum anderen grinsen ließ.
»Ich bin gerade hinter einem Artefakt her, das ich allein aufgespürt habe«, legte er nach und kostete den Moment seines Triumphs so sehr aus, wie er nur konnte. »Da Sie dieses Telefon ohnehin orten können, sage ich Ihnen auch, wo: Teton Range. Vorgestern gab es in der Gegend ein heftiges Unwetter. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass es hier ein Artefakt gibt.«
Doe schwieg.
»Was?«, schnaubte Nick. »Bin ich Ihnen auf den Schlips getreten oder hat es Ihnen wirklich die Sprache verschlagen?«
»Letzteres, Mr. Hargraves, Letzteres. Ich bin es nicht gewöhnt, mit Menschen zu arbeiten, die mitdenken. Vor allem Ihr Freund Mr. Williams …«
»Chester war nicht mein Freund.«
»Dann ihr Kollege. Es spielt keine Rolle. Ich habe fast fünf Jahre mit ihm gearbeitet und nicht ein einziges Mal hat er auch nur einen Hauch Eigeninitiative gezeigt. Das eröffnet uns neue Möglichkeiten, wenn Sie gewillt sind, sie zu ergreifen.«
»Neue Möglichkeiten?«
»In der Tat, Mr. Hargraves. Lassen Sie mich ehrlich sein: Sie sind zu einem Schluss gelangt, der mittlerweile auch der US-Regierung bewusst geworden sein muss, und vermutlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das auch die übrigen Prospektoren begreifen, ganz gleich, ob sie für Auftraggeber oder auf eigene Rechnung arbeiten. Dieses Geschäft wird nicht ewig prosperieren.«
»Was schlagen Sie vor?«
»Wir springen ab, so lange wir noch die Möglichkeit dazu haben, und …«
»Nachdem Sie mir vor zwei Wochen erst angedroht haben, mich ans FBI auszuliefern, wenn ich nicht spure und im ganzen Land außerirdische Artefakte für Sie suche?«
»Wir befinden uns in einer dynamischen Situation, Mr. Hargraves«, erwiderte sie nur.
Nick seufzte, hielt einen Moment lang inne und ließ sich schließlich auf einen Baumstumpf sinken. »Wissen Sie, was ich glaube? Sie haben Angst, mich zu verlieren, nicht mehr und nicht weniger. Die ganze Scheiße mit der Auslieferung ans FBI können Sie sich sonst wohin stecken. Ich glaube nicht, dass Sie es tun würden, und ehrlich gesagt habe ich auch keine Angst davor, wenn Sie es tun. Ich weiß nicht, wieso ich in diese Sache reingerutscht bin, aber ich bin drin und daran lässt sich nichts mehr ändern.«
»Mr. Hargraves …«, setzte sie an, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Nein, ich bin noch nicht fertig!«, knurrte er. »Sie haben mich erpresst, Sie haben mir gedroht. Und jetzt glauben Sie, dass ich Ihnen helfe, aus der Scheiße rauszukommen? Jetzt, wo Sie erkennen, dass das Schiff sinkt?«
»Das ist richtig.«
»Nicht die beste Antwort.«
»Ich versuche es mit Ehrlichkeit.« Sie klang amüsiert. »Mr. Hargraves, nicht nur Ihre Beobachtungen, sondern auch Ihre Schlussfolgerungen sind korrekt. Die Welt verändert sich und damit müssen auch wir uns konstant verändern. Aktuell gilt das mehr als je zuvor. Jeder Tag stellt uns vor neue Herausforderungen, aber das Auftauchen des außerirdischen Schiffs eröffnet Menschen wie Ihnen und mir auch Chancen. Wenn Sie sich entscheiden, auf eigene Faust loszuziehen, kann und werde ich Sie nicht daran hindern, aber ich denke, selbst Sie benötigen meine Distributionswege und Kontakte. Und über diese Kontakte kann ich uns rechtzeitig in eine Position bringen, die uns weiterhin tätig sein lässt. Meine Auftraggeber ermöglichen mir einen nicht zu verachtenden Spielraum. Was sagen Sie?«
»Das setzt viel Vertrauen voraus, Stimme am Telefon.«
Sie lachte leise. »Sie nannten mich das letzte Mal Jane Doe. Interessanterweise ist das ziemlich nah an der Wahrheit. Ich heiße Jennifer Deer. Also, Mr. Hargraves?«
»Ich werde darüber nachdenken«, gab Nick tonlos zurück. »Sobald ich hier fertig bin, melde ich mich.«
Diesmal war er es, der das Telefonat beendete, und diesmal schaltete er das Satellitentelefon auch aus. Vor allem, damit sie ihn nicht zurückrufen konnte und er seine Ruhe hatte, bis er entschied, wieder mit ihr zu reden. Dass sie ihn auch so orten konnte und vermutlich noch weitere Möglichkeiten besaß, ihn aufzuspüren, darüber machte er sich keine Illusionen. Deer war gut in dem, was sie tat. Falls das denn ihr richtiger Name war.
Ohnehin führte das zu einer Frage, die ihn schon seit einigen Tagen immer wieder beschäftigte. Deer arbeitete sicher nicht nur mit ihm zusammen und bediente mit Sicherheit eine ganze Reihe von Auftraggebern. Wie viele Prospektoren befanden sich also in einem ›Arbeitsverhältnis‹ mit ihr, und, wichtiger noch, würde sie zögern, mehr als einen auf das gleiche Artefakt anzusetzen? Wenn sich außer ihm ein weiterer ihrer Prospektoren in der Gegend befand, hätte sie es ihm gesagt?
Genau genommen spielten all diese Fragen keine Rolle, denn was Nick anging, stand sein Entschluss längst fest. Er hatte kein Interesse daran, weiter mit ihr zu arbeiten, und was er gesagt hatte, stimmte: Seine Angst vor dem FBI hielt sich jetzt, da er den ersten Schock überwunden und Miranda einiges Geld hatte zukommen lassen, in Grenzen. Er hantierte hier schließlich mit außerirdischen Artefakten. Das war, als würde man sich vor einem Goldfisch fürchten, wenn man mit Haien arbeitete.
Allerdings hatte Deer ein Thema angesprochen, über das er sich noch nicht völlig im Klaren war. Der Weiterverkauf der Artefakte, für den Fall, dass er nicht mehr mit ihr zusammenarbeitete. Der Job also, den normalerweise der Hehler übernahm. Also sie. Es war leider nicht so, dass er diese Dinger einfach so auf einer Online-Verkaufsplattform anbieten konnte, auch wenn er den Gedanken daran recht amüsant fand. Alien-Artefakt, neu, OVP, Privatverkauf, nur Selbstabholung.
Schließlich machte er sich wieder auf den Weg und schickte dabei ein Stoßgebet zum Himmel, dass sich das Artefakt nicht irgendwo in den höheren Lagen des Gebirges befand. Chester hatte zwar behauptet, dass es immer in der Nähe des Gipfels zu finden war, aber das hatte sich zumindest im Norden von Idaho nicht bestätigt. Aber das war etwas, das sich zeigen würde. Genau wie letztes Mal wollte er sich auch heute vor allem auf sein Bauchgefühl verlassen. Das letzte Artefakt hatte er genau dort gefunden, wo er es vermutet hatte. Nicht an einem besonders exponierten oder bemerkenswerten Punkt, sondern dort, wo er es versteckt hätte, wenn er es hätte verstecken müssen.
Es war schwer zu erklären, das Gefühl, das ihn letztes Mal hingeführt hatte. Sicher, ein Stück weit ließ er sich von Instinkt und Intuition leiten, aber er wurde den Eindruck nicht los, dass diese Dinger … gefunden werden sollten. Dass sie nicht geschickt wurden, um irgendwo vergessen zu werden, sondern um ganz explizit von Menschen aufgespürt zu werden. Warum das so war und was die Außerirdischen damit bezweckten – falls sie überhaupt etwas im Sinn hatten – wusste er nicht und es war ihm auch egal.
Doch während er sich einen Weg in die höheren Lagen des Berges suchte und dabei abwechselnd an Wäldern und Wiesen vorbeikam, ließ ihn ein ganz anderer Gedanke nicht los: Deer hatte gesagt, dass sie ihn ziehen lassen würde, wenn er nicht mehr mitmachte; dass sie ihn nicht ans FBI oder sonst jemanden ausliefern würde. Eine Aussage, die er zu glauben gewillt war. Warum also ging er nicht einfach und ließ das alles hinter sich, wie er es sich so lange gewünscht hatte? Er hatte genug Geld verdient; er hätte sich einfach ins Auto setzen und wegfahren können, hätte irgendwo neu anfangen und die ganze Scheiße hinter sich lassen können.
Aber er tat es nicht.
Es war wie eine Sucht. Das hier. Die Suche. Das Versprechen auf gutes Geld. Auf mehr, als jemand wie er mit einem regulären Job in einem ganzen Jahr verdienen konnte. Das Hochgefühl und die Euphorie eines Fundes und damit das, was vor Jahrhunderten bereits Goldsucher in die entlegensten Winkel dieses Landes getrieben hatte. Und vielleicht bildete er es sich nur ein, doch er war felsenfest davon überzeugt, dass er gut darin war. Dass es seine Bestimmung war.
Nein. Er wollte und würde nicht aufhören. Das war, was er tun wollte. Er mochte kein Wissenschaftler sein, kein Politiker, Militär oder sonst jemand, der sich mit dem fremden Schiff im All befasste, doch für das, was er war, war er so nah dran wie nur möglich. Er tat etwas, das nur wenige Dutzend Menschen auf dem gesamten Planeten taten. Und das würde er unter keinen Umständen aufgeben.
Kapitel 5
»U nd damit schalten wir zu unserem Reporter Bill Raymond in Des Moines, Iowa. Bill, wie groß ist die Ufo-Manie in den Maisfeldern?«
»Danke, Karen! Sie ist gewaltig – im wahrsten Sinn des Wortes. Ich stehe hier nur wenige Kilometer außerhalb von Des Moines bei den Feldern von Charles Frank. Der Besitzer von 400 Hektar bester Maisanbaufläche und viermaliger Square Dance Meister der lokalen Kirchengemeinde hat es sich zum Ziel gemacht, mit den Außerirdischen zu kommunizieren, nachdem das bislang niemandem sonst gelungen ist. Mr. Frank, möchten Sie unseren Zuschauern verraten, wie genau Sie das anstellen wollen?«
»Das Vorhaben ist denkbar simpel, Bill«, raunte ein glatzköpfiger Mann mit schneeweißem Schnauzbart und kariertem Hemd. »Schauen Sie, jedes von Gottes Geschöpfen muss essen – von der kleinsten Maus bis zum größten Elefanten. Niemand kann mir erzählen, dass irgendwelche Wesen von einem anderen Stern nichts essen. Ich weiß zwar nicht, was diese Dinger normalerweise essen, aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass man sie irgendwie aus der Reserve locken kann.«
»Sie haben es bislang mit einer Pizza von sagenhaften 18 Metern Durchmesser versucht und einem zweieinhalb-Tonnen-Topf Spaghetti. Können Sie schon sagen, ob Sie den Appetit der Außerirdischen geweckt haben?«
»Bislang ist nichts passiert, Bill. Schauen Sie, niemand kann sagen, was diese Wesen essen. Vielleicht mögen Sie keinen Käse oder Nudeln.«
»Was ist Ihr nächster Versuch?«
»Zwölfhundert Pfund feinstes texanisches Rindfleisch, Bill!«
»Mr. Frank, haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass diese Wesen nach unserer Definition Veganer sein könnten?«
»Bill, ich respektiere alle von Gottes Geschöpfen gleichermaßen, aber wenn diese Wesen ein ehrliches Steak verweigern, können Sie von mir aus zur Hölle fahren!«
»Das habe ich mir gedacht! Nun, wir bleiben gespannt! Zurück zu dir, Karen!«
Keyes stöhnte genervt und tastete über ihre Couch nach der Fernbedienung, bekam sie jedoch nicht zu fassen. Sie war kurz davor, das nächstbeste, ausreichend schwere Objekt nach dem Fernseher zu werfen, doch dann ertasteten ihre Finger endlich die Fernbedienung, was es ihr ermöglichte, diesen unsagbaren Mist auszuschalten. Sie konnte sich selbst nicht erklären, wieso sie überhaupt so lange zugesehen hatte. Vermutlich wegen derselben Faszination, die man empfand, wenn man sich für jemanden fremdschämte. Oder einen Kadaver am Straßenrand bemerkte.
Das also war noch übrig vom vielleicht größten Ereignis der Menschheitsgeschichte. Sensationsgeifernder Spott, angetrieben von den Mühlen billigen Unterhaltungsfernsehens. Wenn es jetzt schon nichts Interessanteres mehr zu berichten gab als Farmer in der Mitte von Iowa, die gewaltige Mengen Lebensmittel verschwendeten, um es in die Nachrichten zu bringen, dann stand es schlecht um die Menschheit.
Wobei Keyes trotzdem nicht leugnen konnte, dass Essensverschwendung zumindest einen proaktiven Ansatz darstellte, während jeder andere auf dem Planeten aktuell mehr oder weniger auf der Stelle trat. Vielleicht würde sich irgendwann ja tatsächlich herausstellen, dass dieses Vorgehen richtig war? Immerhin schienen sämtliche Herangehensweisen, die Wissenschaftler und Militärs bislang erdacht hatten, im Sand zu verlaufen.
Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es bereits kurz vor Mitternacht war. Normalerweise lag sie um diese Uhrzeit schon im Bett. Zumindest hatte sie sich das angewöhnt, seit sie in die Wüste versetzt worden war und nicht mehr in den Außeneinsatz ging. Der einzige Grund, warum sie heute eine Ausnahme machte, war die Aussage der beiden Offiziere, die vor ein paar Stunden in ihrem Büro aufgetaucht waren. Dass heute noch jemand kommen und ihr weitere Anweisungen überbringen sollte.
»Leck mich doch«, entfuhr es ihr, bevor sie sich mit einem leisen Ächzen von der Couch schälte und zum Kühlschrank ging. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass überhaupt jemand vorbeikam. Vermutlich war das nichts weiter als eine Ablenkung gewesen, ein Grund, sie aus ihrem Büro und runter von der Basis zu bringen. Es würde sie nicht einmal wundern, wenn morgen früh ihr Schreibtisch leer wäre – vorausgesetzt, ihre Zugangskarte funktionierte dann überhaupt noch.
Plötzlich ein Klopfen an ihrer Tür. »Veronica?«
Unwillkürlich kniff sie die Augen zusammen und drehte sich um. Sie kannte diese Stimme. Das war Mike. Was zum Teufel hatte er hier verloren? Ging sie doch zurück zur Agency?
»Was willst du?«, knurrte sie und trat zur Tür, öffnete sie jedoch nicht. »Willst du mich wieder in einen fensterlosen Van setzen und an den Arsch der Welt karren lassen?«
»Nichts dergleichen. Wir müssen uns auch nicht sehen, wenn du nicht willst. Ich soll dir nur etwas übergeben.«
»Und was?«, fragte sie, doch er antwortete nicht. Stattdessen schob er einen dünnen Briefumschlag unter ihrer Tür durch. »Was zum Teufel ist das?«
»Das geht mich nichts an, Veronica. Bis bald.«
»Bis bald? Du … Gottverdammt, warte, Mike!«
Sie öffnete die Tür. Mike war schon fast beim Treppenhaus, blieb jedoch stehen, als sie auf ihn zu rannte.
»Mike«, knurrte sie und hielt den Umschlag hoch. »Du kannst mir nicht erzählen, dass du davon nichts weißt! Was ist hier los? Warum hast du mir in Berlin nicht die Wahrheit gesagt?«
Er räusperte sich und sah einen Moment lang zu Boden, ehe er ihr antwortete. »Veronica, du bist hier in eine Sache reingeraten, die größer ist als wir alle. Ich gebe es zwar nicht gerne zu, aber ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt, weil ich sie nicht kannte. Ich kenne sie auch jetzt nicht. Das Auftauchen dieses Ufos hat Mechanismen in Bewegung gesetzt, von denen selbst in der Agency nur eine Handvoll Menschen wissen. Ich gehöre nicht dazu. Verdammt, mir gefällt diese Sache ja auch nicht. Du gehörst zu meinen besten Leuten und ich war schon mit deiner Abordnung in die Wüste nicht einverstanden. Aber das hier?«
Er hielt inne. Keyes konnte geradezu sehen, wie heftig er mit sich selbst rang, um nicht noch mehr zu sagen und gegen seine vermutliche Schweigepflicht zu verstoßen, falls es denn überhaupt etwas gab, das er wusste und ihr nicht sagen durfte. Schließlich schüttelte er einfach nur den Kopf, atmete tief durch und deutete auf den Briefumschlag in ihrer Hand.
»Ich weiß nicht, was in Europa passiert ist, und wusste bis vor ein paar Stunden noch nicht einmal, dass du wieder im Land bist. Was auch immer hier geschieht, ist wichtig genug, um die Kommandokette zu umgehen. Sei vorsichtig, ja? Dich zu verlieren, wäre ein herber Schlag für die Agency.«
»Ich bin immer vorsichtig, Mike.«
»Ich spreche nicht nur vom Außeneinsatz«, erwiderte er mit leiser Stimme. »Bis hoffentlich bald, Keyes.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. Keyes war zwar versucht, ihn abermals aufzuhalten, ließ es jedoch sein und starrte stattdessen auf den Brief, den er ihr gegeben hatte. Die Mischung aus Genervtheit und Nervosität, mit der sie den gesamten Abend lang darauf gewartet hatte, dass man ihr neue Instruktionen zukommen ließ, war mit einem Mal verschwunden, ersetzt von einem Gefühl von Ohnmacht. Mike war eine Nervensäge und ein gnadenloser Perfektionist, der von seinen Leuten alles abverlangte, gleichzeitig aber auch ein Vorgesetzter, den sie stets respektiert hatte. Aufrichtig und ehrlich. Jemand, der daran interessiert war, aus seinen Leuten das Beste herauszuholen und ihre Leistungen immer weiter zu verbessern.
Dass selbst er sie auf einmal vor Gefahren warnte, die sich nicht in Worte fassen ließen, irritierte sie. Zwar war sie nicht verunsichert, da sie fest daran glaubte, dass die zuständigen Stellen der USA wussten, was sie taten – auch wenn sie nicht wusste, welche Stellen das überhaupt sein sollten – aber nichtsdestotrotz fühlte sie sich irritiert.
Schließlich ging sie zurück in ihre Wohnung, verriegelte die Tür hinter sich und öffnete den Brief. Zum Vorschein kam eine schwarze Schlüsselkarte ohne Beschriftung oder sonst etwas, das auf ihre Herkunft schließen ließ, und etwas, das aussah wie ein mit einer Schreibmaschine verfasster Marschbefehl.
Leise vor sich hin murmelnd las sie den Brief. Darin stand, dass sie mit sofortiger Wirkung einer Joint-Ops-Taskforce des Verteidigungsministeriums unterstellt wurde, die zum Ziel hatte, möglichst viele der außerirdischen Artefakte zu bergen, die über dem Hoheitsgebiet der USA auftauchten. Diese Einsatzgruppe setzte sich zusammen aus Mitarbeitern von CIA, FBI, SPACECOM, NRO, Army und Airforce. Die operative Planung oblag einer neu zusammengestellten Kommandoeinheit, dem Operation Command, das in enger Koordination mit NORAD stand.
Keyes holte tief Luft und hielt einen Augenblick lang inne. Sie wusste mit jeder Faser ihres Körpers, was das, was sie gerade las, bedeutete. Wenn sich die Regierung der Vereinigten Staaten genötigt sah, eine solche Einsatzgruppe zusammenzustellen und damit das seit Jahrzehnten eingespielte und in enger Abstimmung arbeitende Geflecht aus Behörden und Streitkräften aufzubrechen, dann war die Lage ernst. Nein. Nicht nur ernst. Verheerend. Zumindest sie konnte sich nicht entsinnen, dass es jemals zu einem vergleichbaren Schritt gekommen wäre.
Ein paar Sekunden lang starrte sie auf das Papier in ihren Händen. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, weiterzulesen. Obwohl sie begriff, was sie gerade gelesen hatte, und auch verstand, was es bedeutete, fiel es ihr doch schwer, die konkreten Auswirkungen zu begreifen – oder vielmehr das, was zu diesem Schritt geführt hatte. Während die ganze Welt dem fremden Schiff mit zunehmendem Spott und Sarkasmus begegnete und allmählich zum Alltag zurückkehrte, stellten diese Artefakte tatsächlich eine derartige Gefahr dar, dass man eine solche Joint-Ops-Einsatzgruppe ins Leben rief.
Sie las weiter. Über Nordamerika waren, Stand jetzt, fast 500 Artefakte runtergekommen, knapp 350 davon im Gebiet der kontinentalen USA. Zumindest waren das die Artefakte, von denen man wusste. Artefakte, auf welchen Wegen auch immer aufgespürt oder die von Bürgern an die Polizei gemeldet worden waren. Zudem schien eine regelrechte Industrie aus professionellen Artefakt-Jägern – Prospektoren – entstanden zu sein, die sehr gut darin waren, sie vor den Behörden aufzuspüren und anschließend auf dem Schwarzmarkt an den Meistbietenden zu verkaufen.
Diese Prospektoren waren ihr Einsatzziel.
Plötzlich klingelte ihr Telefon. Keyes zuckte augenblicklich zusammen und wirbelte herum, als sie so gnadenlos aus ihren Gedanken gerissen wurde, und es dauerte auch mehr als nur ein paar Sekunden, bis es ihr gelang, sich zu fassen und den Anruf entgegenzunehmen.
»Ja?«
»Agent Keyes«, erklang eine ihr unbekannte Stimme. »Sie haben Ihre Instruktionen erhalten.«
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Das ist korrekt«, stimmte sie zu.
»Ich muss Sie nicht an die damit verbundene Verpflichtung zur strengsten Geheimhaltung erinnern?«
»Das müssen Sie nicht.«
»Gut. In wenigen Minuten wird ein Wagen vorfahren. Nehmen Sie nur das Nötigste mit.«
Keyes setzte schon an, zu fragen, wer in diesem Wagen saß und wohin er sie bringen würde, ließ es dann aber sein. Die unbekannte Stimme hatte in den wenigen Sätzen, die sie gesprochen hatte, penibel darauf geachtet, keinerlei Informationen preiszugeben, die auch nur den entferntesten Rückschluss auf irgendetwas zugelassen hätten. Weder auf sie noch auf ihre Mission oder das, was in dem Brief gestanden hatte.
»Ich verstehe«, antwortete sie schließlich. »Sonst noch etwas?«
»Alle weiteren Informationen erhalten Sie zu einem späteren Zeitpunkt.«
Das Gespräch wurde beendet. Keyes biss sich auf die Lippe, legte das Telefon weg und sah sich um. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie ihre Wohnung für lange Zeit nicht mehr wiedersehen würde. An sich ein Umstand, an den sie von früher gewöhnt war. Wer zur Agency ging, musste darauf eingestellt sein, häufig versetzt zu werden. Nicht nur im Außendienst. Allerdings hatte man ihr selbst dort mehr mitgeteilt als jetzt.
Schließlich verließ sie ihre Wohnung, ohne etwas mitzunehmen, mit Ausnahme der schwarzen Schlüsselkarte. Sie wusste, dass man ihr Ausrüstung und vermutlich auch neue Kleidung zur Verfügung stellen würde, genau wie alles andere. Standardvorgehen. Das hier war eine Black Operation der höchsten Güte. Sie wusste zwar, für wen sie arbeitete und auf welcher Grundlage ihre Missionen ausgewählt wurden, aber das war auch schon alles. Sie kannte weder ihren direkten Auftraggeber noch Führungsoffiziere oder irgendjemanden, der zuständig oder verantwortlich gewesen wäre. Im unwahrscheinlichen Fall, dass etwas schiefging und sie aufflog, wusste sie also tatsächlich nichts, was irgendjemanden belasten könnte.
Sie atmete tief durch, als sie vor die Tür trat. Dort wartete bereits ein schwarzer Truck mit laufendem Motor auf sie. Eigentlich hätte sie es kommen sehen müssen. Was in Berlin geschehen war – oder besser gesagt: in Rumänien – war bereits die Definition einer Black Operation gewesen. Die Frage war nur, warum das überhaupt nötig war. Ob man vor dem fremden Schiff überhaupt etwas geheim halten konnte, wusste allein der Teufel. Also musste man ernstzunehmende Hinweise auf eine andere Bedrohung haben, die so etwas rechtfertigte.
»Veronica Keyes?«, begrüßte sie eine rauchige Stimme, kaum öffnete sie die Beifahrertür des Trucks. Auf dem Fahrersitz saß ein Mann Anfang 30, Glatze und Dreitagebart. Als sie nickte, reichte er ihr einen Becher Kaffee. »Ich bin Fabio Jackson, NRO.«
»Ihnen hat man also gesagt, wie ich heiße?«, erwiderte Keyes, stieg ein und schnallte sich an, ehe sie ihm den Becher aus der Hand nahm. »Danke.«
»Ich habe ja auch das Kommando bei diesem Einsatz.«
»Ist das so?«
»Haben wir ein Problem, Keyes?« Er warf ihr einen finsteren Blick zu. »Kommen Sie schon, ich habe Ihnen einen Kaffee gekauft!«
»Kein Problem.« Sie schüttelte den Kopf. »Nur gesundes Misstrauen. Berufskrankheit. Also, Boss, wollen Sie mich aufklären, wer oder was unser Ziel ist?«
»Boss? Ihr Ernst? Gott, was habe ich Ihnen eigentlich getan?«
»Sorry.« Keyes zwang sich zu einem beschwichtigenden Lächeln. »War echt nicht böse gemeint. Ich hatte nur keinen besonders guten Tag und ich bin nicht der Typ Mensch, der gerne im Unklaren gelassen wird. Also, Jackson.«
Sie reichte ihm die Hand.
»Ich bin Veronica Keyes.«
Jackson lachte leise und schlug ein. »Wunderbar. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.«
»Wo geht’s hin?«
»Nach Westen. In Utah, Arizona und Nevada operiert eine Hehlerin, die sich auf die Bergung und den Weiterverkauf von Artefakten spezialisiert hat. Das ist unser erstes Einsatzgebiet. Wir sollen sie aufspüren – und auch jeden Prospektor, der sie mit Artefakten versorgt.«
»Utah, Arizona und Nevada?«, wiederholte Keyes spöttisch. »Du bist vom NRO und die beste Information, die du hast, lautet Utah, Arizona und Nevada?«
»Die Hehlerin ist gut. Und ihre Leute ebenfalls.«
»Wir auch. Komm schon, da muss mehr drin sein.«
»Keyes, ich bin buchstäblich erst seit gestern Teil dieser Taskforce, und habe den gesamten Tag damit verbracht, quer durchs Land hierher zu fahren. Kannst du dir bitte deinen gottverdammten Sarkasmus sparen und versuchen, mit mir zusammenzuarbeiten? Im Handschuhfach findest du das Einsatzbriefing. Darin steht alles, was auch ich weiß. Um es vorwegzunehmen: An die Hehlerin kommen wir nicht ran. Zumindest nicht so schnell. Wir müssen versuchen, ihre Leute im Feld hochzunehmen.«
»Und dann? Sollen wir sie festnehmen, ausschalten oder …«
»Wir heuern sie an.«
»Was?«
»Wir heuern sie an«, wiederholte Jackson. »Wenn wir herausfinden wollen, wie viele Artefakte sich bereits in Privatbesitz befinden, brauchen wir jemanden mit Überblick und Kontakten – und es kann sicher auch nicht schaden, jemanden im Feld zu haben, der uns beim Einsammeln hilft. Die Hehlerin bleibt das Primärziel, aber vorerst jagen wir die Prospektoren. Das Netzwerk muss vom Privatmarkt wegkommen und den Behörden unterstellt werden. Und da wir genau wissen, dass die Hehlerin untertaucht, wenn sie uns bemerkt, müssen wir vorsichtig vorgehen.«
»Also sind wir die Putzkolonne?«
»Jup. Allerdings eine mit unfassbar weitreichenden Befugnissen ausgestattete Putzkolonne.«
*****
»Ich habe nicht alles verstanden, was die beiden besprochen haben.« Der bärtige Barkeeper räusperte sich und griff nach einem neuen Glas, um es mit einem irgendwann einmal sicher mal weißen, nun jedoch schmutzig-grauen Lappen zu putzen. »Aber ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Der Kerl hat Nick provoziert und ist verschwunden. Seither habe ich beide nicht mehr gesehen. Aber am nächsten Tag haben sie die Leichen bei Gleeson gefunden.«
»Nick … Hargraves, haben Sie gesagt, oder?«, fragte Keyes und fixierte ihn, während Jackson mit ein paar Kerlen an einem der hinteren Tische sprach. »Und Chester Williams? Richtig?«
»Richtig. Chester war wohl vor anderthalb Jahren schon mal da. Nick scheint ihn gekannt zu haben. Zumindest flüchtig. Hat seine Schwester erwähnt. Das macht ihn immer rasend.«
»Schwester?«
»Miranda.« Der Barkeeper nickte. »Nick redet manchmal von ihr, wenn er genug getrunken hat. Das Mädchen kann einem leidtun. Autoimmunkrankheit oder sowas. Wohnt mit ihrer Mom in ’nem Trailer Park, aber fragen Sie mich nicht, wo. Wenn er kann, schickt er ihr Geld, aber oft ist es nicht. Hier draußen gibt es nicht viel, womit man Geld verdienen kann.«
»Sie denken also, Mr. Hargraves ist mit Mr. Williams nach Gleeson gefahren?«
»Würde alles drauf verwetten, Ma’am.«
Keyes nickte und notierte sich den Namen von Hargraves Schwester. Dieser Kerl – Nick – war ihre bislang heißeste Spur, auch wenn sie bereits einige Tage alt war und sie in der letzten Woche gefühlt jede Kneipe zwischen Reno, Salt Lake City, Las Vegas und diesem gottverlassenen Flecken Erde namens Tombstone hatten besuchen müssen, um sie zu finden. Sie fügte sich in das Bild, das sie bereits hatte, und zementierte ihren Verdacht, dass er derjenige war, den sie suchten.
Chester Williams war tot. Genau wie drei andere Männer, die ein Einsatzteam der Taskforce vor ein paar Tagen wenige Kilometer östlich von hier gefunden hatten. Und hätten die Jungs damals ihren Job anständig gemacht und die Einwohner der umliegenden Orte eingehend befragt, hätte man diesen Hargraves mittlerweile sicher bereits aufgespürt. Doch das hatten sie nicht. Sie hatten sich darauf begrenzt, die Hügel bei Gleeson nach einem Artefakt abzusuchen, das selbstverständlich längst fort gewesen war, und die Leichen wegzuschaffen. Dass es dort ein Artefakt gegeben haben musste, hatte man laut Bericht aus den dafür vorgesehenen Containern der Toten geschlossen. Allesamt Prospektoren.
»Haben Sie was zu trinken für mich?«, fragte Keyes schließlich. »Etwas Alkoholfreies?«
»Es bringt Sie nicht um, wenn Sie im Dienst etwas trinken«, schnaubte der Barkeeper, griff unter den Tresen und zog eine verstaubte Flasche Cola hervor. »Geht aufs Haus. Wenn Sie was Stärkeres wollen, sagen Sie es einfach. Niemand macht Ihnen einen Vorwurf.«
»Wieso sollte ich etwas Stärkeres brauchen?«, erwiderte Keyes grinsend.
»Wie gesagt.« Er griff nach dem nächsten Glas. »Ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Erst Hubschrauber bei Gleeson, jetzt Sie und Fragen nach Nick. Das hat irgendetwas mit diesem Alien-Schiff zu tun. Genau wie im Fernsehen immer. Wäre ich an Ihrer Stelle, würde ich mir so viel Mut antrinken, wie ich nur kann.«
»Für den Moment interessieren wir uns nur für Mr. Hargraves«, gab sie zurück. »Aber ich verspreche Ihnen, dass ich es Sie als Erstes wissen lasse, wenn er sich als ein Alien entpuppt.«
Die Augen des Mannes weiteten sich. »Glauben Sie das etwa?«
»Das war ein Witz!«
»Ich verstehe.« Er zwinkerte ihr zu. »Ein ›Witz‹.«
»Das war wirklich ein … Vergessen Sie es. Irgendeine Idee, wohin er gegangen sein könnte? Wie gut kennen Sie ihn?«
»So gut, wie man einen Mann kennt, der seit Monaten in einem Truck auf deinem Parkplatz schläft.«
»Sein Truck steht auf dem Parkplatz?!« Keyes sprang auf. »Verdammt, warum haben Sie das nicht gleich gesagt?!«
Ohne seine Antwort abzuwarten, wirbelte sie herum und stürmte aus der Bar. Da außer ihrem Wagen nur ein paar Motorräder und ein einziger Truck auf dem Parkplatz standen, war es kein Problem, ihn zu finden. Augenblicklich zog sie ihre Waffe und ging darauf zu, nur um festzustellen, dass er vollkommen leer war. Auf der Ladefläche lag ein Schlafsack mit einem Kissen und einer kleinen Lampe, während auf dem Beifahrersitz eine Kiste mit ein paar Konservendosen stand. Abgesehen davon gab es jedoch nichts von Interesse. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Und obwohl Keyes sowohl das Handschuhfach durchsuchte, als auch in jedem potenziellen Versteck nachsah, fand sie nichts weiter. Keine Elektrogeräte, keine Notizbücher oder sonst etwas, das man hätte auswerten können. Nur die Spuren eines Lebens am Rande des Nichts.
»Keyes!«
Plötzlich Jacksons Stimme hinter ihr. Mit schnellen Schritten schloss er zu ihr auf.
»Da bist du ja endlich«, begrüßte sie ihn. »Wir brauchen jemand, der die Spuren sichert! Das Op-Com soll sich um den Truck kümmern. Am Lenkrad gibt es mit Sicherheit Fingerabdrücke und irgendwo lassen sich garantiert auch DNS-Spuren nehmen.«
»Ich kümmere mich drum.« Er sah sie erwartungsvoll an. »Und?«
»Unser Mann heißt Nick Hargraves. Ein lokaler Tagelöhner. Hat eine Schwester namens Miranda. Das FBI soll sich um sie kümmern. Dieser Chester Williams, den das Schnelleinsatzkommando bei Gleeson gefunden hat, scheint ihn angeheuert zu haben.«
»Dann war Hargraves nicht der ursprüngliche Prospektor?«
»Ich bezweifle es.« Keyes schüttelte den Kopf. »Haben wir eigentlich schon die Ergebnisse der Ballistik zu Gleeson?«
»Alle Toten mit Ausnahme von Williams wurden mit Waffen erschossen, die man vor Ort gefunden hat. Schmauchspuren bestätigen das. Zwei der Toten wurden mit derselben Waffe getötet und der Mörder der beiden wiederum von Williams.«
»Dann hat Hargraves Williams getötet.«
»Scheint so. Und das aus nächster Nähe. Sonst noch etwas?«
Sie biss sich auf die Lippe. »Nichts Nützliches. Nach dem, was der Barkeeper erzählt hat, denke ich nicht, dass Hargraves besonders weit oben in der Nahrungskette steht. Kein Berufsverbrecher. Ein Opportunist. Falls die Russen nicht also vor vielen Jahren einen perfekt getarnten Schläferagent nach Tombstone geschleust haben …«
»Hältst du das für möglich?«
»Mach dich nicht lächerlich, Jackson«, schnaubte sie amüsiert. »Hargraves hatte die Möglichkeit, ein Artefakt in die Finger zu kriegen, und hat sie genutzt. Vermutlich hat er Williams umgebracht, damit er die Belohnung für sich allein hat – aber ich bin davon überzeugt, dass nur Williams mit der Hehlerin in Kontakt stand. Die beiden sind mit seinem Truck los und der von Hargraves steht noch hier. Vermutlich gibt es in dem von Williams also eine Möglichkeit, die Hehlerin zu kontaktieren, oder zumindest Kontaktdaten. Wir müssen mit den lokalen Polizeistellen sprechen. Über die Videoüberwachung auf den Highways lässt sich vielleicht herausfinden, wohin Hargraves gefahren ist.«
»Ich kümmere mich drum.« Jackson nickte. »Aber ich glaube nicht, dass das nötig ist.«
»Wieso nicht?«
»Unser Hauptproblem war bisher, dass wir keinen Ansatzpunkt hatten«, erklärte er. »Dass diese Prospektoren praktisch unter dem Radar arbeiten. Jetzt haben wir einen Namen. Es wird Zeit, dass wir unsere Vorteile ausspielen. Wir wissen, dass diese Artefakte immer im Rahmen eines Gewitters auftauchen. Die Systeme von NORAD verzeichnen immer wieder Aktivitäten an der Grenze des Nachweisbaren, aber wie auch immer das fremde Schiff vorgeht, es arbeitet vorhersehbar. Es nutzt irdische Gewitter aus und sorgt vielleicht sogar dafür, dass sie entstehen.«
»Also spielen wir jetzt eine Art Tornadojäger?«
»So in etwa. Nur suchen wir nicht das Auge des Sturms, sondern das, was danach zurückbleibt.«
»Das Land ist groß, Jackson. Wie sollen wir einen einzigen Mann finden, wenn unser bester Hinweis lautet, dass er sich vermutlich in der Nähe eines Gewitters aufhält? Gott, wäre es nicht leichter, wenn wir einmal bei jedem Superreichen des Landes das Haus auf den Kopf stellen?«
»Natürlich wäre es das. Aber bekomm mal für sowas einen Durchsuchungsbeschluss. Ich kontaktiere NORAD und das Operation Command. Vielleicht können sie uns einen Tipp geben, wo als nächstes etwas passiert.«
Keyes biss die Zähne zusammen und verkniff sich einen Kommentar. So viel also zu weitreichenden Befugnissen. Sie wusste zwar, dass er recht hatte, aber genau das machte die Sache ja erst so lächerlich. Über dem Schwarzen Meer schwebte ein riesiges Alien-Raumschiff und auf der ganzen Welt tauchten Artefakte auf, die jedes Lebewesen in ihrer Nähe praktisch auf der Stelle töteten und selbst Menschen bei direktem Kontakt umbrachten – und sie waren nicht einmal dazu befugt, ein paar Arschlöchern die Tür einzutreten. Als ob sie gerade keine größeren Probleme hätten.
Während Jackson ein paar Anrufe tätigte, machte sie sich auf den Weg zurück zur Kneipe, setzte sich an den Tresen und nahm einen tiefen Atemzug der abgestandenen, rauchgeschwängerten Luft. Wie es hier jemand aushielt, geschweige denn hier arbeiten konnte, war ihr ein Rätsel.
»Jetzt könnte ich etwas Stärkeres vertragen«, raunte sie und warf dem Barkeeper einen vielsagenden Blick zu.
»Kommt sofort. Alles in Ordnung mit Ihrem Kollegen?«
»Wahrscheinlich.«
»Hat mir die ganze Kundschaft scheu gemacht mit seinen Fragen.« Er stellte ihr ein Glas vor die Nase und füllte es großzügig mit Whiskey. »Hoffentlich war es das wert.«
»Das hoffe ich auch.« Sie seufzte und strich sich mit beiden Händen übers Gesicht, bevor sie nach dem Glas griff und einen Schluck nahm. »Danke. Was dagegen, wenn ich Ihnen noch ein paar Fragen stelle?«
»Nur zu, verehrte Mitarbeiterin einer US-Behörde, die sich noch immer nicht ausgewiesen hat.«
»Macht es einen Unterschied, für wen ich arbeite?« Sie grinste. »Geben sie dem FBI eine andere Antwort als der CIA?«
»CIA also?«
»Ihre Worte.«
»Na dann, fragen Sie.«
»Angenommen, ich wäre dieser Nick Hargraves und hätte mich mit Chester Williams eingelassen – wo wäre ein guter Ort, um gewisse Dinge zu verkaufen?«
»Reden wir von Autoradios?«
»Ein paar Größenordnungen drüber.«
»Dann auf jeden Fall nicht hier.« Er schüttelte den Kopf. »Tombstone ist vieles. Ein heißes Loch, eine Touristenfalle und ein Abstellgleis. Aber sicher kein Umschlagplatz für solche Dinge. Darf ich Sie jetzt etwas fragen?«
»Nur zu.«
»Es geht um Nick – er sitzt jetzt ziemlich in der Scheiße, oder?«
»Kann man so sagen, ja.«
Der Barkeeper schüttelte den Kopf.
»Was ist?«, fragte Keyes sofort.
»Nick ist ein guter Kerl. Ich weiß nicht, wo er da hineingeraten ist, aber ich hatte schon kein gutes Gefühl, als dieser Chester hier aufgetaucht ist. Komischer Typ.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Nick macht sich durchaus die Hände schmutzig, wenn es sein muss. Er kann hart arbeiten und gut anpacken. Es laufen hier auch mehr als genug Jungs herum, denen er die Nase oder den Kiefer gebrochen hat. Aber was auch immer geschehen ist – ich bin mir sicher, dass er das nicht wollte.«
»Es liegt nicht an mir, darüber zu entscheiden«, gab Keyes zurück. »Schon gar nicht in Zeiten wie diesen.«
»Miranda.«
»Was?«
»Miranda«, wiederholte er. »Sie ist der Schlüssel zu ihm. Wenn Sie wollen, dass er Ihnen zuhört, erwähnen Sie sie.«
»Warum sagen Sie mir das?«
»Weil es im Zweifelsfall sein Leben rettet.«
Keyes öffnete den Mund zu einer Frage, von der sie selbst nicht wusste, wie sie lautete, nur um ihn dann gleich wieder zu schließen und auf ihren Whiskey zu schauen. Dass sich der Barkeeper so sehr für Hargraves einsetzte, überraschte sie. Mehr sogar, als sie zugeben wollte. Sie war ebenfalls in einer Stadt wie dieser aufgewachsen, ebenfalls mehr oder weniger am Arsch der Welt. Normalerweise redete man nicht mit Fremden – schon gar nicht, wenn sie sich als Vertreter der Staatsmacht im fernen Washington zu erkennen gaben. Dass der Barkeeper so offen mit ihr sprach, war deshalb umso verwunderlicher. Vor allem, weil es bedeutete, dass ihm wirklich daran gelegen war, diesen Hargraves vor Schaden zu bewahren.
Nur leider war das nichts, was sie garantieren konnte. Es gab einen guten Grund, warum die Regierung diese Taskforce ins Leben gerufen hatte. Die normalen Spielregeln galten nicht mehr. Es ging hier nicht um irgendwelche Kriminelle oder Syndikate und auch nicht um all die anderen Einsatzfelder, mit denen sich Agenten der Bundesbehörden normalerweise befassten, sondern um eine Situation nicht nur von nationaler, sondern globaler Tragweite. Um eine Situation, die das Potenzial besaß, die gesamte Menschheit zu gefährden oder gar zu vernichten. Eine Situation, die wegen Menschen wie Hargraves noch viel unkontrollierbarer wurde als ohnehin schon.
Es waren Momente wie diese, die für sie stets am schwersten zu ertragen waren. Momente, in denen ihre Pflicht und das Leben so ungebremst kollidierten. Es war immer einfach, aus einem Lagezentrum heraus einen Menschen wegen seiner Taten zu verdammen, oder ihn auf einem Einsatzbefehl als bloße Variable unter vielen zu begreifen, aber wenn man vor Ort war und sich in einer Situation wie dieser ein Bild vom Menschen hinter dem Namen machte, kam man ihm nah. Ob man wollte oder nicht. Man begann, zu verstehen oder zumindest nachzuvollziehen. Wie auch hier. Hargraves war jemand, der nicht viel hatte. Der in der Wüste ums Überleben kämpfte und trotzdem versuchte, seine Familie zu unterstützen. Ein Mann, der vermutlich ungewollt in eine viel zu große Sache reingeraten war. Aber leider war er gleichzeitig eben auch jemand, der die Nationale Sicherheit gefährdete. Der unverantwortlich und kurzsichtig handelte. Jemand, der einen Nutzen aus einer mehr als nur gefährlichen Situation zog.
Schließlich trank Keyes ihren Whiskey aus, legte etwas Geld auf den Tisch und verließ die Kneipe. Es wurde Zeit, dass sie diese Mission zu Ende brachten, ganz gleich, auf welche Weise.
Kapitel 6
E in Sturm zog auf. Nick starrte in Richtung der dunklen Wolkenfront, die sich mit alarmierender Geschwindigkeit in seine Richtung bewegte. Längst hallte das dröhnende Donnern der ersten Vorboten zu ihm. Hatte er sich etwa getäuscht? Er war so sehr davon überzeugt gewesen, dass das Gewitter längst stattgefunden hatte; dass er nur noch herkommen und nach dem Artefakt suchen musste. Waren die meteorologischen Vorhersagen womöglich falsch gewesen; hatten sie sich wie so oft um ein paar Tage verrechnet?
Oder war das hier ein zweites Gewitter? Eine neue Chance?
Nick holte tief Luft, hielt sie ein paar Sekunden lang in seiner Lunge und atmete langsam wieder aus. Er hatte keine Ahnung, mit welcher Häufigkeit oder gar Regelmäßigkeit diese Artefakte auftauchten. Womöglich beschleunigte sich ja das Intervall, in dem sie auftauchten? Der Plan der Außerirdischen schritt fort, auch wenn die Menschheit nichts darüber wusste? Oder versuchten sie womöglich gar, all die Artefakte zu ersetzen, die Menschen wie er im Lauf der letzten Wochen eingesammelt hatten?
Er wusste es nicht. So oder so war er auf ein Gewitter nicht vorbereitet. Schon gar nicht auf eines, das sich mit einer solchen Wucht ankündigte. Keine Chance, es hier im Freien zu überstehen. Er musste sich einen Unterschlupf suchen oder zumindest eine Möglichkeit, sich anderweitig in Sicherheit zu bringen. Nur wie? Das Gelände war schroff und unwegsam. Zwar gab es in dieser Höhe noch Bäume, doch sie boten kaum ausreichend Schutz gegen ein solches Unwetter. Verdammt, er musste von hier verschwinden, und zwar so schnell wie möglich!
So gut es seine Ausrüstung nur zuließ, machte er sich auf den Weg. Eine Schutzhütte gab es in der Nähe auf keinen Fall und für den Abstieg befand er sich bereits zu weit oben. Allerdings konnte er ein Stück von sich entfernt einen Felsüberhang erkennen, womöglich sogar eine kleine Höhle. Das war seine beste Chance.
Während er sich einen Weg über Felsen und den noch vom letzten Gewitter durchnässten Boden suchte, kam das Gewitter immer näher. Windböen zerrten an ihm und neben dem fernen Grollen hörte er, wie ein dumpfes Rauschen einsetzte. Regen. Wobei das fast noch eine Untertreibung war. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass diese Wassermassen einer Sintflut in nichts nachstanden.
Er würde es nicht rechtzeitig schaffen. Zumindest nicht, wenn er seine Ausrüstung retten wollte – und das musste er. Wenn er hier oben überleben und auch nur die Chance haben wollte, das Artefakt aufzuspüren, durfte er sie nicht zurücklassen. Aber war es das wirklich wert? Er biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. Es musste sein. Er war nicht umsonst hergekommen.
Dann setzte der Regen ein. Oder besser gesagt, holte er ihn ein. Mit der unbändigen Wucht der Naturgewalten brach er über ihn herein und durchweichte innerhalb von Sekunden schlichtweg alles, was er am Leib trug. Er konnte nur beten, dass seine elektronische Ausrüstung im Rucksack diesen Wahnsinn halbwegs unbeschadet überstand. Eigentlich sollte der Rucksack wasserdicht sein. Eigentlich.
Die Wolkendecke verschlang jedwedes Licht. Hatte ihn vor wenigen Minuten noch das verheißungsvolle Licht eines jungen Tages umgeben, herrschte jetzt finsterste Nacht. Ein Ungetüm, das ansetzte, ihn zu verschlingen; das seinen Speichel auf ihn einprasseln ließ und grollend und donnernd nach einem Opfer verlangte. Die Blitzschläge ließen die Erde erbeben. Noch nie zuvor hatte Nick etwas Vergleichbares gesehen. So hell, so gnadenlos durchdringend und unsagbar intensiv. Selbst bei jenen Blitzen, die hunderte Meter von ihm entfernt in den Fels schlugen, meinte er, die Hitze zu spüren.
Dann endlich erreichte er den kleinen Überhang. Es war nicht viel, reichte aber, um ihn mit etwas Glück vor dem Unwetter zu schützen. Ganz gleich, wie sehr der Sturm auch wütete, eine Fläche von knapp zwei Quadratmetern blieb trocken. Wenn es das Gewitter also nicht gerade schaffte, den Regen horizontal zu ihm zu tragen, hatte er hier gute Chancen, es auszusitzen.
Eigentlich wollte Nick gerade schon seinen Rucksack öffnen und sich einen Überblick verschaffen, was von seiner Ausrüstung noch zu gebrauchen und was Schrott war, doch kaum hatte er den Reißverschluss berührt, hielt er inne. Irgendetwas stimmte nicht. Er konnte nicht sagen, was, doch jede Faser seines Körpers schrie ihm zu, dass er sich in riesiger Gefahr befand – und das nicht wegen des Gewitters.
Instinktiv fasste er an seinen Gürtel und zog seine Pistole, während er angestrengt versuchte, durch die Regenfront hindurch etwas zu erkennen, doch das war ein Ding der Unmöglichkeit. Zu allen Seiten wurde er von einer grauen Wand umgeben; von einer grauen, rauschenden Wand, die ihm maximal fünf oder sechs Meter Sichtweite ließ. Wenn überhaupt. Keine Chance, irgendetwas zu erkennen.
Mehr unwillkürlich als absichtlich drückte er sich gegen den Fels, sodass er zumindest von hinten nicht überrascht werden konnte. Ein Teil seines rationalen Verstands wollte ihn zwingen, sich zu beruhigen und das bloß als irrationale Angstreaktion abzutun, hier draußen, allein in der Wildnis. Doch sein Instinkt flehte ihn an, genau das nicht zu tun, sondern wachsam zu bleiben. Hier geschah irgendetwas Unnatürliches. Und er war mittendrin.
Plötzlich bemerkte er einen schwachen violetten Schimmer rings um sich herum, versteckt irgendwo hinter der Regenwand. Er bewegte sich an der Grenze des Wahrnehmbaren, aber er war da. Das war exakt dasselbe violette Schimmern, das auch die Artefakte von sich gaben, wenn Licht auf sie fiel. War das also die Erklärung? Ging in diesen Sekunden eines in seiner unmittelbaren Umgebung nieder? Wurde er Zeuge davon, wie die Aliens eines dieser Objekte auf die Erde schickten?
Aber was, wenn sie es nicht nur schickten, sondern … brachten?
Nick schluckte schwer und zwang sich so gut wie möglich zur Beherrschung, auch wenn er längst spürte, wie ihm zunehmend die Kontrolle über sein rationales Denken entglitt. Nackte Angst stieg in ihm auf und drohte, ihn zu überwältigen. Noch gelang es ihm, sich gegen sie zu wehren, doch er wusste, dass es nur noch eine Frage von Minuten war, bis er ihr nachgab.
Was, wenn er gleich einem Außerirdischen gegenüberstand? Einem gottverdammten Alien? Wie würden sie auf ihn reagieren? Wesen, die über derart fortschrittliche Technologie verfügten, dass sie sich der Erde vollkommen unerkannt nähern und seither bewegungslos im Orbit verharren konnten, mussten mit Sicherheit in der Lage sein, ihn hier draußen zu bemerken. Was, wenn sie ihn bestraften? Dafür, dass er ihre Artefakte stahl?
Mit einem Mal brach seine Welt zusammen. Jetzt und hier war er kein Mensch mehr, der sich den Gefahren der Erde stellte, sondern ein einzelnes Wesen, verloren und verlassen im Angesicht der Bedrohungen eines ganzen Universums. Sah man sich einem Bären gegenüber oder einem Wolf, selbst einem Menschen, der einem Böses wollte, dann war das Gefahr. Eine Situation, die man auflösen wollte. Durch Kampf oder Flucht. Aber nichts, was irdische Gefahren einem antun konnten, kam auch nur ansatzweise an diese elementare Furcht heran, die Nick gerade empfand. Alles, was er sich vorstellen konnte, alles, was er kannte oder auf das er sich hätte vorbereiten können, wurde in diesen Sekunden nichtig. Was, wenn diese Wesen zu Schrecken fähig waren, die er sich noch nicht einmal ausmalen konnte?
Da war etwas. Jede Faser in Nicks Körper spannte sich an, bereit, sich dem Unvorstellbaren zu stellen. Doch es dauerte ein paar Sekunden, bis ihm klar wurde, dass es nicht seine Augen waren, die ihn warnten, sondern vielmehr sein Geruchssinn. Etwas lag in der Luft; etwas, das er noch nie zuvor gerochen hatte und mit nichts vergleichbar war, was er mit Worten hätte beschreiben können. Ein völlig fremder Geruch. Er wollte zwar schon instinktiv die Luft anhalten, doch sein rasend schnell schlagendes Herz ließ es nicht zu.
Was auch immer das war, es roch nicht schlecht. Es stank nicht, erzeugte keinen Ekel in ihm und rief auch sonst keinerlei Abwehrreaktion seines Körpers hervor, die ihn vor Gefahr hätte warnen können. Wie denn auch? Seine Instinkte konnten gar nicht wissen, ob dieser Geruch auf Gefahr hindeutete oder nicht.
Auf einmal verfärbte sich die Regenfront. Das bis gerade nur schwach schimmernde Violett intensivierte sich binnen Sekunden, während gleichzeitig ein erst leises, dann schnell anschwellendes Surren ertönte. Ein ratterndes Geräusch, dem eines Geigerzählers nicht unähnlich, gleichzeitig aber auch anders als alles, was Nick je zuvor gehört hatte. Innerhalb kürzester Zeit erreichte es eine derartige Lautstärke, dass er sich die Ohren zuhalten musste, aber dann …
Dann hörte es auf. Einfach so.
Nick blinzelte und sah sich um. Das Geräusch war verstummt, der violette Schimmer verschwunden und selbst der Regen ließ spürbar nach. Zwar gewitterte es nach wie vor und immer wieder durchzuckten auch Blitze die Luft, doch die unerhörte Wucht des Unwetters, die gerade noch über ihn hereingebrochen war, war vergangen.
Vorsichtig machte er ein paar Schritte aus der Sicherheit des Felsvorsprungs hinaus, streckte eine Hand aus und spürte, wie Regentropfen auf seine Haut fielen. Sie fühlten sich warm an. Viel zu warm. Doch abgesehen davon gab es nichts, was auch nur im Entferntesten auf das hingedeutet hätte, was gerade geschehen war, und auch nichts, was es hätte erklären können. Es war, als hätte jemand einen Lichtschalter gedrückt.
»Was um alles in der Welt …«, murmelte er, während er kopfschüttelnd noch weiter ins Freie ging. Er wusste, was er gerade erlebt hatte, und wusste auch, was das zu bedeuten hatte. Er konnte sich die Kausalkette, die zu diesem Ereignis geführt hatte, lückenlos erklären – und doch war es, als würde sich sein Verstand weigern, es tatsächlich zu begreifen. Als hoffte ein Teil von ihm noch immer, endlich aus diesem gottverdammten Albtraum aufzuwachen. Aber das war kein Traum und das wusste er.
Er war versucht, hierzubleiben und sich weiter Gedanken über das Geschehene zu machen, doch das konnte und wollte er nicht. Das war seine Chance, diese Suche zu Ende zu bringen und anschließend so schnell wie möglich von diesem gottverlassenen Berg zu verschwinden. Irgendeine höhere Macht in diesem Universum hatte entschieden, dass er leben durfte, und dieses Geschenk wollte er nicht ausschlagen. Aber er wollte auch nicht umsonst hergekommen sein.
Schließlich wirbelte er herum, ging zurück zu seiner Ausrüstung und überprüfte seine Sachen. Der Großteil hatte den extremen Niederschlag tatsächlich unbeschädigt überstanden. Einzig das griffbereit an der Seite des Rucksacks befestigte GPS und seine Taschenlampe waren im Eimer, doch das war etwas, das er verschmerzen konnte.
Nick wusste, dass sich ihm in diesen Augenblicken eine Chance eröffnete, die vermutlich noch nie einem Menschen zuvor zuteilgeworden war. Er befand sich am Ground Zero eines Artefakt-Niedergangs, in den ersten Sekunden nach einer außerirdischen Aktivität. Niemand konnte absehen, was er hier finden würde – oder vielleicht sogar, was er in Erfahrung bringen konnte. Artefakte mochten wertvoll sein, doch der Erste zu sein, der über ein solches Wissen verfügte, war unbezahlbar.
So schnell es seine Beine nur zuließen, machte er sich auf den Weg. Seine regennasse Kleidung erschwerte ihm zwar jeden Schritt, doch darauf nahm er keine Rücksicht. Es galt, jede Sekunde so gut wie möglich zu nutzen. Ausruhen konnte er sich später noch.
Immer wieder schaute er sich um und suchte seine Umgebung nach eben jenen Stellen ab, in denen er ein außerirdisches Artefakt ganz instinktiv vermutete. Zumindest vorerst wollte er sich auf sein Bauchgefühl verlassen. Und das sagte ihm, dass er bereits richtig war. Vielleicht bloßer Zufall, vielleicht aber gab es auch eine ganz andere Erklärung. Eine Erklärung, die mit seiner Anwesenheit zusammenhing.
Er hatte gerade eine kleine Senke erreicht, als er innehielt und sich aufmerksam umsah. Das war eine der Stellen, an denen er ein Artefakt vermutete. Sein Bauchgefühl sagte ihm ebenfalls, dass er richtig sein könnte. Zu seiner Linken ging es talwärts und vor ihm erstreckte sich ein letzter Ausläufer des Waldes, der bereits wenige Meter zu seiner Rechten endgültig den Kampf gegen die Felsen verlor. Danach hatte er gesucht.
Nachdem er sich ein letztes Mal umgesehen und sich vergewissert hatte, dass keine Menschenseele in der Nähe war – so unwahrscheinlich das auch sein mochte – machte er sich auf den Weg und erreichte bereits wenige Sekunden später eine kleine Vertiefung im Boden, kaum größer als ein Autorreifen. Und darin, exakt in der Mitte und mit der Spitze in den Himmel zeigend, befand sich ein Artefakt.
»Na also«, murmelte Nick, zog den Rucksack ab und holte Atemmaske, Gummihandschuhe und den Container hervor.
Vorsichtig hob er das Artefakt an, penibel darauf achtend, die Handschuhe an keiner Spitze oder Kante der kleinen Pyramide zu beschädigen. Doch anders als beim letzten Mal verstaute er es nicht sofort im Container, sondern betrachtete es einige Sekunden lang.
Dieses kleine Ding besaß eine Anziehungskraft, die er nicht leugnen konnte. Das fremdartige Material, aus dem es bestand, in Kombination mit dem violetten Schimmer bei Lichteinfall und der makellosen Pyramidenform verliehen ihm ein geheimnisvolles, beinahe mysteriöses Äußeres – also ziemlich genau das, was man von einem Alien-Artefakt erwarten würde. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass es in einer Vitrine und ausreichend in Szene gesetzt, zu einem echten Blickfang werden konnte.
Interessanterweise war der extreme Kopfschmerz, den er bei seiner ersten Exposition durchlebt hatte, seither nicht wieder aufgetaucht. Ein Umstand, für den er dankbar war, auch wenn sich dadurch die Frage stellte, was um alles in der Welt beim ersten Mal geschehen war und welche Auswirkungen dieses Ding auf seinen Verstand oder zumindest sein Gehirn haben könnte. Doch das war eine Frage, die eines Tages hoffentlich Wissenschaftler beantworten würden.
Nick setzte sich. Noch immer betrachtete er das Artefakt. Zwar wusste er, dass er längst hätte gehen sollen, doch gerade konnte er sich nicht dazu überwinden. Ein paar Minuten würden schon nicht schaden. Was dieses Artefakt wohl tat? Wofür es wohl gut war? Woraus es bestand? Gerne hätte er die Antworten gekannt. Nichts im Universum geschah ohne Grund, und auch Menschen handelten niemals sinnbefreit. Es mochte manchmal so erscheinen, doch in seinen Augen konnte niemand völlig ohne zumindest subjektiv nachvollziehbaren Grund agieren. Dasselbe galt vermutlich auch für Außerirdische.
Damals, als er noch ein Kind gewesen war, hatte er sich ab und zu Comic-Bücher gekauft. Angesichts der Geldnot, in der seine Familie stets gesteckt hatte, eine Handlung, die er früher oder später stets mit Schlägen vergolten bekommen hatte. Trotzdem hatte er es wieder und immer wieder getan. Der Wunsch, zu träumen, war größer gewesen als die Furcht vor Schmerzen. Und in einem dieser Comics – den Namen hatte er längst vergessen – hatte ein Junge ebenfalls ein außerirdisches Artefakt gefunden und dadurch Superkräfte erlangt.
Ein Lächeln huschte über Nicks Lippen. Wäre in diesen Sekunden sein achtjähriges Ich an seiner Stelle, hätte es die Handschuhe ausgezogen und dieses Ding berührt, einfach nur, weil die Chance bestanden hätte, dass sich sein Traum erfüllte. Angst vor den Konsequenzen oder gar den Gedanken an das Geld, das sich damit verdienen lassen würde, hätte er nicht gehabt.
Vielleicht hätte er es ja tun sollen? Einfach die Handschuhe ausziehen und sehen, was passierte. Er gehörte schließlich nicht zu den Menschen, die besonders viel zu verlieren hatten. Familie hatte er keine. Zumindest keine, die ihm etwas bedeutete, sah man einmal von Miranda ab, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ihr hatte er genug Geld geschickt, damit sie gut davon leben konnte. Wäre es also schlimm gewesen, hätte er sein Glück herausgefordert und das Artefakt berührt? Wenn er starb, würde sie es niemals erfahren.
Er zögerte. Wenn er ehrlich war, dann klang der Gedanke daran viel verlockender, als er sich hatte vorstellen können, auch wenn die Gründe dafür vermutlich falsch waren. Gleichzeitig rief er sich jedoch ins Gedächtnis, wie unfassbar gering die Chance war, dass so etwas passierte. Viel eher würde er einfach nur draufgehen oder sich womöglich gar irgendeine außerirdische Krankheit oder Vergiftung einfangen – falls denn überhaupt etwas geschah.
Schließlich verstaute er das Artefakt einfach nur im Container, versiegelte ihn und verstaute ihn wieder im Rucksack. Es wurde Zeit, sich auf den Rückweg zu machen. Zwar hatte er nur geringfügige Kenntnisse über die Abläufe des Auftauchens der Artefakte erlangt und auch nur eines davon gefunden, aber deswegen war er hergekommen. Und er wollte sein Glück nicht noch länger strapazieren.
*****
»Sind Sie in Ordnung?«
Nick hatte seinen Truck beinahe erreicht, als plötzlich die Stimme einer Frau neben ihm ertönte. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Verdammt, er hatte gar nicht bemerkt, dass jemand da war. Er holte tief Luft, versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, und drehte sich um. Ein paar Meter von ihm entfernt saß eine junge Frau auf einem umgestürzten Baumstamm und sah ihn an. Sie war in etwa in seinem Alter und trug ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Neben ihr lehnte ein nicht unansehnlicher Rucksack und sie war gekleidet, als wollte sie eine längere Tour unternehmen, doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass das nicht ihr wahres Ziel war.
»Ja, ich denke schon«, antwortete er und sah an sich hinab. Seine Kleidung war schmutzig und noch immer klatschnass. »Danke der Nachfrage.«
»Sind Sie sicher?« Die junge Frau stand auf und kam auf ihn zu. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, nach seiner Pistole zu greifen. Verdammt, wurde er etwa paranoid? »Ich habe das Gewitter gesehen. Waren Sie da oben? Das muss furchtbar gewesen sein.«
»Ich habe unter einem Felsvorsprung Schutz gesucht«, antwortete er und deutete in Richtung der Berge. »Es war nicht schön, aber ich bin okay. Danke für Ihre Sorge, aber ich komme wirklich klar. Wenn Sie allerdings da hoch wollen, seien Sie vorsichtig. Der Boden ist verflucht rutschig.«
Sie lächelte. »Das glaube ich Ihnen. Ich will Sie nicht nerven, aber sind Sie sicher, dass Sie in Ordnung sind? Sie sehen ziemlich bleich aus. Soll ich vielleicht besser einen Krankenwagen rufen?«
»Nur die Erschöpfung«, gab Nick zurück und deutete den Pfad entlang. »Da vorne steht mein Wagen. Ich habe gleich in Teton Village ein Zimmer.«
Er hatte sich gerade zum Gehen umgedreht, als er im Augenwinkel sah, wie die Frau noch einen Schritt auf ihn zu machte.
»Ganz schön viel Ausrüstung schleppen Sie da mit sich.«
Er spürte, wie sein Herz eine viel zu große Ladung Adrenalin in sein Blut jagte.
»Es war eine lange Tour.«
»Das glaube ich Ihnen. Wussten Sie nicht, dass es ein Gewitter geben soll?«
»Nein. Es hat mich überrascht.«
»In letzter Zeit kommt es ja häufig zu solchen Gewittern«, fuhr sie mit verheißungsvoller Stimme fort. »Oft über Bergen oder Hügelketten.«
»Das habe ich gehört, ja.«
»Ab und zu hört man Geschichten und Gerüchte.«
»Ach?«
Sie trat noch näher an ihn heran. Er legte seine Hand an seine Hüfte, von wo aus er seine Pistole schnell ziehen konnte, falls es nötig wurde.
»Ja, über Dinge, die vom Himmel fallen. Dinge, für die manche Leute viel Geld zahlen.«
»Ist das so?«
»Mhm.« Sie kam noch näher. »Wissen Sie zufällig etwas darüber? Sie sehen aus, als wären sie viel herumgekommen.«
»Leider nein. Wie gesagt, ich war nur wandern und wurde vom Gewitter überrascht.«
»Ich verstehe.« Die Frau seufzte leise. »Schade.«
Nick zog die Augenbrauen hoch. »Schade?«
»Ja, schade«, wiederholte sie. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich interessiere mich brennend für das außerirdische Schiff und alles, was damit zu tun hat. Nachdem ich gehört habe, dass solche Objekte auf der Erde auftauchen, kann ich an nichts anderes mehr denken. Ich würde gerne eines mit eigenen Augen sehen.«
»Das ist nur meine bescheidene Meinung, Miss«, antwortete Nick. »Aber falls es sowas wirklich gibt, sollten Sie sich davon fernhalten.«
»Wieso denken Sie das?«
»Weil niemand weiß, weswegen diese Außerirdischen uns besuchen gekommen sind.«
»Ein interessanter Gedanke.« Sie legte den Kopf leicht schief. »Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«
»Nicht böse gemeint, aber nein.« Er breitete die Arme aus. »Sie sehen ja, ich bin total durchnässt. Und erschöpft. Ich will jetzt nur noch in mein Hotelzimmer, warm duschen und ins Bett. Also, machen Sie es gut und viel Spaß beim Wandern.«
»Ich würde auch bezahlen.«
Abermals hielt er inne. »Was?«
»Ich würde auch bezahlen«, wiederholte sie. »Falls Sie etwas über diese Artefakte wissen oder jemanden kennen, auf den das zutrifft. Ich habe gehört, was diese Dinger wert sind. Wenn mir jemand beibringt, wie man sie findet, würde ich viel Geld dafür bezahlen.«
Nick schnaubte spöttisch. »Sie wollen jemanden dafür bezahlen, dass er seine eigene Konkurrenz ausbildet?«
»Sehen Sie es eher als Lehre an. In Europa macht man das doch auch so. Will man ein Handwerk lernen, geht man bei einem Meister in die Lehre. So bleibt das Wissen erhalten. Und als aufrichtiger Amerikaner sollten Sie sicher wissen, dass Konkurrenz gut fürs Geschäft ist.«
Sie lächelte. Es war ein warmes, einladendes Lächeln; ein Lächeln, das ihn offensichtlich ermutigen sollte, seine Abwehr viel zu leichtfertig aufzugeben und auf ihr Angebot einzugehen. Wobei das vermutlich eine Eigenschaft war, die jeder Prospektor besitzen musste. Und auch jeder, der einer werden wollte.
Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Wahrheit sagte und einfach nur ins Geschäft einsteigen wollte, lag bei 50 Prozent. Die anderen 50 Prozent bedeuteten, dass sie log. Das konnte entweder heißen, dass sie ein Cop oder eher eine Mitarbeiterin des FBI war – oder aber eine erfahrene Prospektorin, die ihn aus der Reserve locken und herausfinden wollte, ob er fündig geworden war, nur um ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen und sich mit dem Artefakt davonzumachen.
Aber falls sie die Wahrheit sagte und bereit war, jede Menge Geld zu bezahlen, könnte sich die Sache für ihn lohnen. Sicher wusste sie, was die Artefakte wert waren, was bedeutete, dass sie ordentlich nachlegen musste, wenn sie wollte, dass jemand sein Wissen preisgab. Selbst ohne eine genaue Summe zu kennen, war das sicher mehr als genug Geld, um irgendwo weit weg neu anzufangen, vielleicht sogar einen eigenen Laden zu eröffnen oder sonst einen Weg zu finden, auf legalem Weg und ohne konstante Lebensgefahr seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Aber wog Geld das Risiko tatsächlich auf? Das Risiko, sich zu täuschen und den Rest seines Lebens in einem FBI-Verließ zu verbringen? Vorausgesetzt natürlich, sie war keine Prospektorin, die ihm bei der erstbesten Gelegenheit in den Kopf schoss.
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte er schließlich und ging endgültig weiter. »Viel Glück bei der Suche. Passen Sie auf sich auf.«
»Und was, wenn ich Ihnen sage, dass ich ganz genau weiß, weswegen Sie auf dem Berg waren?« Mit schnellen Schritten holte sie zu ihm auf. »Dass ich das violette Schimmern in der Luft ebenfalls gesehen habe? Sie waren da oben! Sie müssen es gesehen haben!«
»Ich habe vor allem versucht, am Leben zu bleiben, Miss.« Nick atmete tief durch. »Und wenn Sie mich jetzt in Ruhe lassen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
»Verdammt, warum reden Sie nicht mit mir?!«, rief sie plötzlich.
Er antwortete ihr nicht, sondern marschierte weiter in Richtung seines Wagens. Ganz gleich, was diese Frau auch wollte, er war hier fertig. Unter keinen Umständen würde er sich ködern und in irgendeine Sache verstricken lassen, die ihn am Ende um Kopf und Kragen brachte. Er …
Plötzlich eine Hand an seinem Arm. Die Frau hielt ihn fest. Sofort riss er sich los, wirbelte zu ihr herum und stieß sie von sich weg.
»Es reicht!«, knurrte er. »Lassen Sie mich in Ruhe! Ich …«
Er hielt inne, denn just in diesem Augenblick bemerkte er auf einmal eine Pistole in ihrer anderen Hand. Eine Pistole, die sie zwar nicht auf ihn richtete, aber die trotzdem als unmissverständliche Drohung zu verstehen war.
»Sind sie Nick Hargraves?«, fragte sie.
»Mag sein«, erwiderte Nick. Mit einem Mal war seine Kehle staubtrocken. »Und wer zum Teufel sind Sie?«
»Das tut nichts zur Sache. Nick, ich weiß, weswegen Sie hier sind.«
»Es scheint so.« Er hob beschwichtigend die Hände und trat einen Schritt von ihr zurück. »Aber nur, damit ich es richtig verstehe: Sie sind nicht vom FBI?«
»Sicher nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, was bei Gleeson passiert ist.«
»Das bezweifle ich.«
»Wieso?«
»Weil außer mir niemand aus Gleeson weggekommen ist.«
»Niemand, den Sie gesehen haben«, erwiderte sie. »Mein Bruder starb an diesem Tag. Er war eine der vier Leichen, die man gefunden hat. Ich habe ihn begleitet, aber als er die anderen gesehen hat, hat er mich gezwungen, im Auto zu bleiben.«
Nick holte tief Luft. Er glaubte ihr kein Wort, aber das tat nichts zur Sache. Er musste versuchen, diese Situation zu seinem Vorteil zu wenden. » Das tut mir leid. Ehrlich. Aber ich habe ihn nicht …«
»Das ist mir egal«, unterbrach sie ihn. »Die Toten kann niemand zurückholen. Ich habe gesehen, wie Sie mit dem Truck weggefahren sind. Mit dem Truck von Chester Williams. Mein Bruder hat früher ab und zu mit ihm zusammengearbeitet. Es hat nicht lange gedauert, Sie aufzuspüren.«
»Und was wollen Sie von mir?«
»Dreimal dürfen Sie raten.« Sie hob die Waffe und deutete mit dem Lauf auf seinen Rucksack. »Das Artefakt.«
Nick schwieg und musterte sie von Kopf bis Fuß. Ihr Blick verriet, dass sie es ernst meinte, aber die Art, wie sie dastand und die Waffe hielt, zeigte ihm, wie unerfahren sie war. Und – viel wichtiger noch – ihre Pistole war nach wie vor gesichert. Keine Chance also, dass sie damit tatsächlich auf ihn schießen konnte. Eine Stümperin, mehr heiße Luft als sonst etwas.
Doch das war nicht, was ihn in diesen Sekunden umtrieb. Nein. Vielmehr fragte er sich, wie um alles in der Welt diese Frau seinen Namen kennen konnte. Die wenigen Leute in Tombstone, die ihn kannten, wussten nichts von seiner Verstrickung in die Sache bei Gleeson, und selbst wenn sie den Truck wiedererkannt hätte, hätte es schon eine unverschämt große Ladung Glück gebraucht, dass sie ihn hier, hunderte von Kilometern von Gleeson entfernt, einfach so aufgespürt hätte.
Und so viel Glück besaß niemand.
Damit konnte das nur eines bedeuten: Deer hatte ihn auflaufen lassen. Sie hatte sie auf ihn angesetzt. Eine Machtdemonstration. Sie wusste, wo er war, und wusste, dass er ihre Zusammenarbeit beenden wollte. Das hier war nichts anderes als ein Versuch ihrerseits, ihm zu zeigen, dass sie andere Prospektoren in ihren Diensten hatte. Leute, die ihn ersetzen konnten. Der sprichwörtliche Wink mit dem Zaunpfahl, dass er seine Ambitionen fallenlassen, das Artefakt als Lehrgeld abtreten und in sein Arbeitsverhältnis mit ihr zurückkehren sollte. Hätte sie ihn einschüchtern oder tatsächlich erledigen wollen, hätte sie jemand anderes geschickt.
»In Ordnung«, sagte er schließlich und nickte ihr zu. »Sie können das Artefakt haben.«
»Gut. Schön langsam.«
Nick löste den Brustgurt seines Rucksacks und setzte an, ihn von seinen Schultern zu ziehen, griff dann jedoch nach seiner eigenen Pistole, entsicherte sie noch in der Bewegung und schoss zweimal in die Luft, ehe er die Waffe auf die Frau richtete.
»Ich kenne Sie nicht«, knurrte er, während sie erbleichte und von ihm zurückwich. Ihre Hände zitterten so sehr, dass es ihr kaum gelang, ihre eigene Pistole festzuhalten, geschweige denn, sie zu entsichern oder auf ihn zu richten. »Und es ist mir egal, was Sie tun, wenn wir hier fertig sind. Aber wenn ich Sie noch einmal sehe, gibt es keinen Warnschuss mehr. Waffe auf den Boden und zu mir kicken. Los!«
Sie tat wie geheißen. Nick bückte sich augenblicklich nach der Pistole, achtete dabei jedoch konzentriert darauf, mit seiner eigenen weiterhin auf sie zu zielen.
»Es tut mir leid«, flüsterte die Frau und sah zu Boden.
Mit einem Mal wirkte sie wie ausgewechselt: An die Stelle der schnippischen Abgeklärtheit, mit der sie ihm bisher begegnet war, waren Angst und nackte Panik getreten. Sie atmete schnell und flach, sah sich hilfesuchend um und hatte sichtlich Probleme, nicht in Tränen auszubrechen. Ein Kartenhaus, das in sich zusammengefallen war. Oder auch das nur eine Maske?
»Jedes Wort war gelogen, oder?«, fragte Nick so ruhig wie nur möglich. »Sie waren nicht bei Gleeson und Ihr Bruder ist dort auch nicht gestorben.«
»Ja.«
»Deer hat Ihnen von mir erzählt und Ihnen gesagt, was Sie sagen sollen, nehme ich an? Damit Sie aus meiner Reaktion ablesen können, dass ich der bin, den Sie suchen? Sie sollten herkommen und mich abfangen.«
»Ja.«
»Und warum zum Teufel schickt sie eine solche Stümperin?«
»Ich weiß es nicht.«
»Gottverdammt!«, brüllte Nick. Sofort zuckte sie zusammen. »Reden Sie mit mir!«
»Ich weiß es nicht!«, wiederholte sie. »Gott, ich weiß es nicht! Ich bin durch Zufall über ein Artefakt gestolpert und als ich versucht habe, mehr darüber herauszufinden, hat mich Deer kontaktiert! Ich wollte das alles nicht! Das müssen Sie mir glauben! Sie hat gesagt, dass sie mich ans FBI ausliefert, wenn ich nicht mitmache! Dass der Besitz dieser Artefakte verboten ist und …«
»Ich werde jetzt gehen«, unterbrach sie Nick tonlos. Dass sie ihn wie gedruckt belog, war ihm vollkommen bewusst. Eine Schutzbehauptung, nichts weiter. »Sie werden nichts Dummes tun, wenn ich mich umdrehe, oder?«
»Nein!« Sie schüttelte vehement den Kopf. »Nein, oh Gott, nein!«
»Gut. Sie werden eine Stunde hier warten. Danach steigen Sie in Ihren Wagen, fahren zur nächstbesten Polizeistation und erzählen, was passiert ist. Ich weiß nicht, ob sie Ihnen glauben, aber falls Sie die Wahrheit gesagt haben, ist das Ihr bester Weg aus der Sache raus. Wenn Sie weiter mit Deer zusammenarbeiten, bringt Sie das eher früher als später ins Grab.«
Mit diesen Worten drehte er sich endgültig um und ließ die kreidebleiche und zumindest oberflächlich verstörte Frau stehen, auch wenn es ihm viel zu schwerfiel, sich dazu durchzuringen. Ihm war vollkommen bewusst, wie fahrlässig das war. Jedes ihrer Worte war gelogen. Vermutlich war sie eine erfahrene Prospektorin, die mit der nicht entsicherten Waffe nichts weiter als einen dummen Fehler begangen hatte. Aber was wäre die Alternative gewesen? Ihr eine Kugel zwischen die Augen oder zumindest ins Bein zu jagen? Nein. Er war kein Mörder. Und das verzweifelte Wimmern, das nach wie vor zu ihm drang, bestätigte ihn zumindest in seinem Entschluss. Dieses Mädchen war bloß ein Bauernopfer, von Deer gegen ihn ausgespielt.
So schnell es seine vor Erschöpfung brennenden Beine nur zuließen, brachte er den Rest des Weges hinter sich und warf dabei immer wieder einen Blick über die Schulter, doch die Frau schien tatsächlich kapiert zu haben, wie ernst die Situation war. Sie folgte ihm nicht und rührte sich nicht einmal dann von der Stelle, als er sie kaum noch erkennen konnte. Das bedeutete dann wohl, dass er sich zumindest um sie keine Gedanken mehr machen musste. Blieb nur noch Deer. Auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er sich um sie kümmern sollte.
Kaum war er in den Wagen gestiegen und hatte das Artefakt im Geheimfach unter dem Beifahrersitz verstaut, griff er nach dem Satellitentelefon, nur um einen Moment lang innezuhalten. Die Situation war ernst. Dass das Aufeinandertreffen mit der Frau als Warnschuss zu verstehen war, war ihm zwar bewusst, aber das änderte nichts daran. Deer verfügte über Mittel und Wege, in jedem Winkel der USA schnell Leute zu mobilisieren. Diesmal mochte es nur eine stümperhafte Prospektorin gewesen sein, aber nächstes Mal hatte er garantiert nicht so viel Glück. Doch es half alles nichts: Außer mit Deer zu reden, blieben ihm nicht besonders viele Optionen.
»Mr. Hargraves, ich …«, setzte sie an, kaum hatte sie das Gespräch entgegengenommen, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Ist das Ihr Ernst?«, knurrte er. »Ich denke laut darüber nach, nicht mehr mit Ihnen zusammenzuarbeiten, und Sie tun … das?! Verdammt, die Frau hätte sterben können!«
»Sie missverstehen meine Absicht.«
»Ach?«
»Mr. Hargraves, mir stehen Dutzende Prospektoren zur Verfügung und jeden Tag eröffnen sich mir neue Möglichkeiten, weitere Dienstverhältnisse herzustellen. Ich kann es verschmerzen, wenn einer davon abspringt. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich unsere Zusammenarbeit nicht trotzdem gerne fortsetzen würde. Sie sind gut. Es wäre schmerzhaft, Sie zu verlieren. Vor allem angesichts der aktuellen Umstände.«
»Umstände? Was für Umstände?«
»Sie sollten das Radio einschalten, Mr. Hargraves. Es gibt Krieg.«
»Krieg?«, wiederholte Nick ungläubig. »Greift das Schiff die Erde an?«
Deer antwortete ihm nicht. Er seufzte leise, beugte sich zur Seite und schaltete das Radio ein.
»Unsere Informationen sind nach wie vor unvollständig«, sagte der Nachrichtensprecher hörbar aufgebracht. »Aber die schlimmsten Befürchtungen scheinen sich in diesen Augenblicken zu bestätigen: Russische Truppen greifen auf breiter Front NATO-Staaten in Osteuropa an. Wir berichten weiter live …«
»Der Krieg hat begonnen«, drang nun Deers leise Stimme aus dem Satellitentelefon. »Der russische Einmarsch in der Ukraine war bloß die Ouvertüre zu diesem Konzert. Mr. Hargraves, nur ein Narr würde glauben, dass die aktuellen Ereignisse nichts mit dem Schiff und den Artefakten zu tun haben. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass eine Taskforce mit der Jagd auf Menschen wie Sie und mich beauftragt worden ist – und die Schlinge zieht sich zu. In weniger als einer Stunde werden zwei Agents hier sein, um Sie festzunehmen. Unsere Position in den USA ist nicht länger haltbar, aber wenn Sie sich entschließen, weiter für mich zu arbeiten, könnten sich uns beiden Geschäftsfelder eröffnen, von denen Sie bislang noch nicht einmal zu träumen gewagt haben.«