Die eine richtige Therapie, die für alle gilt, gibt es nicht. Jede Therapie wird individuell auf Sie zugeschnitten.
Prinzipiell werden drei Therapieziele unterschieden. Es gibt Menschen mit Diabetes, auf die treffen alle drei Ziele zu, für andere nur ein oder zwei. Zusammen mit Ihrem Diabetesteam legen Sie Ihre Ziele fest. Es wird Sie dann in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren dabei unterstützen, diese Ziele zu erreichen. Helfen können Ihnen aber auch Verwandte, Freunde oder eine Selbsthilfegruppe (siehe S. 31).
Dieses Therapieziel betrifft wohl alle. Keiner möchte Lebensqualität einbüßen. Erhöhte Blutzuckerwerte können sehr lästig sein, wenn man etwa viel Durst hat oder ständig zur Toilette muss. Und wenn Sie dauerhaft sehr viel Zucker im Blut haben, fühlen Sie sich müde und schlapp. Auch das soll nicht sein. Man spricht dann von „Symptomfreiheit“. Vermehrter Durst und damit verbunden häufige Toilettengänge können insbesondere auftreten, wenn Ihr Blutzucker mehr als dreifach erhöht ist. Zu einer guten Lebensqualität zählt aber auch, dass Sie Ihr Leben so gestalten, dass es Ihnen gut geht. Es bringt nichts, Tag für Tag mit starken Einschränkungen beim Essen und Trinken zu leben und damit unglücklich zu sein.
Folgeerkrankungen an Augen, Nieren und Füßen treten in den allermeisten Fällen, wenn überhaupt, erst nach vielen Jahren Diabetes auf. Das heißt, dieses Therapieziel gilt für Menschen, deren Lebenserwartung noch etwa zehn Jahre beträgt. Das Fortschreiten von Folgeerkrankungen geht langsam und durchläuft verschiedene Stadien. Die Anfangsstadien bemerken Sie meist gar nicht und haben auch keine Einschränkungen. Umso wichtiger sind Vorsorge- und Kontrolluntersuchungen, um frühzeitig solche Folgeerkrankungen zu erkennen und mit Ihrem Diabetesteam gegenzusteuern. Dazu lesen Sie mehr im Kapitel „Folgen eines Diabetes Typ 2 erkennen“ auf S. 61.
Damit der Diabetes Ihnen Lebenszeit raubt, müssen Sie schon sehr lange Diabetes haben bzw. ihn in einem relativ jungen Alter bekommen. Hier sprechen wir nicht von einigen Jahren, sondern von Jahrzehnten Diabetesdauer. Sind Sie also schon erheblich älter bzw. beträgt Ihre Lebenserwartung eher keine 10 bis 15 Jahre, spielt dieses Therapieziel weniger eine Rolle. Dieses Therapieziel ist mit den niedrigsten Blutzuckerzielwerten verbunden. Damit steigt aber auch das Risiko für Unterzuckerungen.
Das hört sich für Sie jetzt vielleicht alles sehr theoretisch an, aber in den Gesprächen mit Ihrem Diabetesteam wird es Ihnen sehr viel leichter fallen, zu verstehen, welche Bedeutung diese Ziele für Sie und Ihre Therapie haben werden. Damit Sie sich vorstellen können, was das für Sie heißen könnte, sind hier drei konkrete Beispiele für die gerade beschriebenen Ziele:
Eine junge Frau (43 Jahre alt) hat einen neu entdeckten Diabetes Typ 2 und sonst keine weiteren Erkrankungen. Ihre Therapieziele: eine gute Lebensqualität, keine Folgeerkrankungen entwickeln, keine Lebenszeit verkürzen. Die Patientin ist jung, hat keine weiteren Erkrankungen und so noch viele Jahre mit ihrem Diabetes vor sich. Sie soll sich eine gute Lebensqualität schaffen, keine Folgeerkrankungen entwickeln und eine normale Lebenserwartung haben. Daran orientieren sich die Maßnahmen. Mit einem Langzeitzuckerwert (HbA1c) zwischen 6,5 und 7,5% sollte Sie diese Therapieziele erreichen.
Ein Mann (69 Jahre alt) hat seinen Diabetes Typ 2 seit sieben Jahren. Folgeerkrankungen durch den Diabetes sind nicht bekannt, er hat aber einen Bluthochdruck. Seine Therapieziel: gute Lebensqualität, keine Folgeerkrankungen entwickeln. Mit seinen knapp 70 Jahren wird der Patient wahrscheinlich keine Lebenszeit durch den Diabetes verlieren. Er ist jedoch in einem Alter, in welchem er in den nächsten fünf bis zehn Jahren Folgeerkrankungen entwickeln könnte. Das gilt es zu vermeiden. Der HbA1c-Zielwert liegt dementsprechend zwischen 7,0 und 8,0%.
Ein Mann (87 Jahre alt) hat seit zwei Jahren seinen Diabetes Typ 2. Vor zwölf Jahren hatte er bereits einen Herzinfarkt und Schlaganfall. Außerdem ist er an Demenz erkrankt. Sein Therapieziel: gute Lebensqualität. Der Patient wird mit seinem Alter, der kurzen Diabetesdauer und den Begleiterkrankungen keine Lebenszeit durch den Diabetes verlieren oder Folgeerkrankungen an Augen, Nieren oder Füßen entwickeln. Für ihn ist wichtig, dass er keine Beschwerden durch erhöhte Zuckerwerte hat und damit eine gute Lebensqualität besteht. Mit einem HbA1c zwischen 7,5 und 8,5% wird dieses Therapieziel erreicht.
Fahrplan für Ihre Therapieziele
Die Basis (blau) für Ihre weiteren Schritte sind vor allem die Informationen und die Unterstützung, die Sie von Ihrem Diabetesteam, in den Schulungen und durch Angehörige und Freunde erhalten. Ihre „Werkzeuge“ (grün), um die Blutzuckerwerte zu senken, bauen darauf auf.
Sie sehen, je nach Alter, Lebenserwartung und Begleitumständen können die Therapieziele sehr unterschiedlich sein. Es spielen aber noch andere Faktoren eine Rolle. Im Allgemeinen kann man sagen: Je mehr Therapieziele Sie anstreben, desto niedriger sollten die Zuckerwerte sein und desto mehr Maßnahmen müssen Sie ergreifen.
Um nun die richtige Therapie und die passenden Maßnahmen zu finden, sollten Sie sich noch andere Fragen stellen:
Was ist Ihnen wichtig? Wollen Sie unabhängig bleiben oder eine Insulintherapie so lange wie möglich verhindern?
Was macht Ihnen Angst? Vielleicht nicht mehr Autofahren zu dürfen, wenn Sie Insulin spritzen?
Was fällt Ihnen schwer? Welche Erfahrungen haben Sie bisher gemacht, beispielsweise beim Abnehmen?
Wie möchten Sie Ihr Leben in Zukunft gestalten?
Solche und ähnliche Überlegungen fließen mit ein, damit Sie und Ihre Ärzte die richtige Entscheidung treffen können.
Ihre Wünsche zählen
Machen Sie sich dazu Notizen und scheuen Sie sich nicht, diese bei Ihrem nächsten Termin anzusprechen. Je mehr Sie bei Ihrem Arzt und Ihren Diabetesteam äußern, was Ihnen wichtig ist und was Sie sich wünschen, umso mehr kann das auch Berücksichtigung finden. So werden Sie am Ende auch voll hinter der Therapie stehen können.
Bei der Entscheidung für ein Therapieziel können für Sie verschiedene Faktoren eine Rolle spielen.
Lebensalter. Je höher das Lebensalter ist, desto weniger relevant sind Folgeerkrankungen und Lebenszeitverkürzung durch den Diabetes. Folgeerkrankungen entwickeln sich durch erhöhte Blutzuckerwerte erst nach vielen Jahren, eine Verkürzung der Lebenszeit erst nach vielen Jahrzehnten. Wenn Sie etwas älter sind, sind Folgeerkrankungen für Sie vielleicht nicht so wichtig, da Sie in den Anfangsstadien sowieso keine bis sehr geringe Einschränkungen haben. Hier ist es viel wichtiger, dass keine Beschwerden, wie ständiger Durst, auftreten. Die Blutzuckerwerte können daher etwas höher sein als bei jüngeren Menschen.
Begleiterkrankungen. Menschen mit Diabetes Typ 2 können, insbesondere im höheren Lebensalter, andere Erkrankungen wie zum Beispiel einen Bluthochdruck oder Herzerkrankungen haben. Bei schwerwiegenden Erkrankungen wie einem Krebsleiden kann die Lebenserwartung kurz sein. In diesem Fall ist das Erreichen einer guten Lebensqualität das oberste Ziel. Liegt bei Ihnen ein Bluthochdruck vor, ist es viel wichtiger, diesen zunächst gut zu behandeln (siehe „Eine häufige Kombination: Diabetes und Bluthochdruck“, S. 46).
Anzahl und Auswahl der Medikamente. Hier entscheiden Sie mit. Es gibt eine Vielzahl an Diabetesmedikamenten, als Tablette und als Spritze (siehe Kapitel „Wenn Medikamente nötig sind“, S. 121). Ist das Spritzen von Insulin für Sie ein Problem? Haben Sie ein bestimmtes Medikament ausprobiert und sind damit Nebenwirkungen aufgetreten? Dann sprechen Sie es an. Ihr Diabetesteam wird eine Lösung für Sie finden.
Risiko von Unterzuckerungen. Je mehr Diabetesmedikamente Sie einnehmen, desto größer ist das Risiko für Unterzuckerungen. Vor allem dann, wenn Sie Insulin spritzen. Das gilt es zu verhindern. Deswegen sollten Sie unbedingt an einer Diabetesschulung teilnehmen.
Belastung durch eine Diabetestherapie. Je mehr Diabetesmedikamente zur Erreichung Ihrer Blutzuckerziele notwendig sind, desto aufwendiger wird die Therapie. Sie müssen mehr Einschränkungen im Vergleich zu Ihrem vorherigen Leben in Kauf nehmen. Sie müssen sich fragen: „Bin ich bereit dazu?“
Nachdem Sie Ihre Therapieziele mit Ihrem Diabetesteam festgelegt haben, sind die notwendigen Stellschrauben an der Reihe. Dafür müssen Sie wissen, um welche Werte es konkret bei Ihnen geht. Das können zum Beispiel sein:
HbA1c-Wert. Ob Ihre Therapie gut läuft, sieht man insbesondere an Ihrem Langzeitzuckerwert (HbA1c), der alle drei bis sechs Monate in der Praxis gemessen wird. Der HbA1c-Wert kann bei Diabetespatienten je nach Alter und Therapieziel zwischen 6,5 und 8,5 % liegen (siehe Kapitel „Sicher zum Blutzuckerziel“, S. 42). Je mehr Therapieziele Sie anstreben, desto niedriger wird das HbA1c-Ziel sein.
Unterzuckerungen. Je niedriger das HbA1c-Ziel liegt, desto größer ist das Risiko für Unterzuckerungen. Nutzen und Schaden müssen abgewogen werden. Profitieren Sie von sehr niedrigen Blutzuckerwerten oder überwiegt ein möglicher Schaden? (siehe „Wie tief sollen die Blutzuckerwerte sinken?“, S. 43).
Bluthochdruck. Diabetes Typ 2 und Bluthochdruck treten häufig im Doppelpack auf. Das liegt daran, dass beide Erkrankungen meist im höheren Alter vorkommen. Ein erhöhter Blutzucker führt aber nicht automatisch zu einem erhöhten Blutdruck. Das gilt anders herum genauso. Stark erhöhte Blutdruckwerte verursachen aber viel schneller Schäden an den Gefäßen als es erhöhte Blutzuckerwerte tun. Daher muss zuerst der Blutdruck besser eingestellt werden.
Körpergewicht. Ein paar Kilos zu viel müssen für Ihre Gesundheit nicht nachteilig sein. Im Gegenteil: Einige Kilos mehr können Ihnen helfen, schwerwiegende Erkrankungen besser zu überstehen. Haben Sie aber deutlich zu viel auf den Rippen oder besser gesagt am Bauch, leidet vielleicht Ihre Lebensqualität (siehe „Gewicht in Balance“, S. 88).
Ihre Diabetestherapie wird in bestimmten Stufen ablaufen. Etwa alle drei bis sechs Monate überprüft Ihr Diabetesteam gemeinsam mit Ihnen, ob die Maßnahmen ausreichen, um Ihre Ziele und Zielwerte zu erreichen. Ist das nicht der Fall, wird die nächste Therapiestufe in den Blick genommen:
An einer Diabetesschulung teilnehmen und Ihren Lebensstil so weit umstellen, dass trotzdem noch eine gute Lebensqualität möglich ist. In einer Diabetesschulung können Sie erarbeiten, wie Sie durch kleine Änderungen beim Essen und Trinken bessere Blutzuckerwerte bekommen und ob es möglich ist, mehr Bewegung in ihr Leben einzubauen. Erreichen Sie damit Ihr persönliches Blutzuckerziel, dann braucht es (vorerst) keine Medikamente.
Haben Sie für sich alles mögliche getan, Ihre Blutzuckerwerte ohne Medikamente zu senken, Ihre Zuckerwerte sind aber immer noch zu hoch, brauchen Sie eine Tablette. In der Regel beginnt man eine medikamentöse Therapie mit Metformin (siehe Kapitel „Metformin: Das Mittel der ersten Wahl, S. 125). Falls etwas dagegenspricht, gibt es Alternativen.
Eine zweite Tablette oder eine Spritze mit einem Glutid (Inkretin-Hormon). Falls eine Tablette nicht (mehr) ausreicht, bekommen Sie eine zweite Tablette oder ein GLP1-Analogon.
Reichen Tabletten und Glutide alleinig nicht mehr aus, benötigen Sie eine Insulintherapie. Sie nehmen erneut an einem Schulungsprogramm teil und lernen alle Tricks im Umgang mit Insulin.
Um den Blutzucker zu senken, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Ihr Diabetesteam wird Ihnen zuerst empfehlen, Ihre Blutzuckerwerte ohne Medikamente zu senken. Eine erfolgreiche Diabetestherapie besteht immer aus nicht-medikamentösen Maßnahmen, d. h. der Blutzucker wird durch Ernährung (Baustein 2) und Bewegung (Baustein 3) gesenkt. Reicht dies nicht aus, stehen eine Vielzahl von Tabletten oder Spritzen zur Verfügung, welche Ihnen helfen, Ihr individuelles Ziel zu erreichen (Baustein 4).
Schulung nutzen
Sie sollten an einer Diabetesschulung teilnehmen und erfahren, wie Sie Ihren Blutzucker durch Ernährung, Bewegung und Medikamente beeinflussen können. Dabei erlernen Sie auch eine Form der Zuckerselbstkontrolle. Hier werden Sie von Profis geschult.
Wichtig ist auch, dass Sie mit Ihrem Diabetesteam im Austausch bleiben. Sagen Sie klar und deutlich, was Sie möchten und stört und bei welchen Maßnahmen Sie Schwierigkeiten haben. Wenn Sie unglücklich sind, können Sie Ihre Ziele nicht erreichen. Außerdem schafft Schweigen nur Frust auf beiden Seiten. Es bringt nichts, wenn Sie in der Sprechstunde einer bestimmten Therapie zustimmen, sich insgeheim aber denken „Wie soll ich das nur umsetzen?“. Sie sollten Ihre Bedenken äußern, damit eine gemeinsame Lösung gefunden werden kann.