I ch kuschelte mich enger an den warmen Körper und ignorierte das leise Wispern. Wahrscheinlich lief irgendwo im Haus das Radio – oder jemand plärrte im Flur vor meinem Zimmer herum.
Es war der 25. Dezember – ich hatte nicht vor, die Ruhe und Geborgenheit um mich von irgendetwas oder -jemandem stören zu lassen. Ich seufzte und drückte mich enger gegen die nackte Brust unter mir. Finger strichen unter der Decke über meinen Rücken, eine zweite Hand lag auf meinem Oberarm und vollführte mit dem Daumen kreisrunde Bewegungen auf meiner Haut.
Etwas stupste gegen meine Nase. Ich fuhr mir ins Gesicht und murrte leise. Wieder stieß etwas gegen mich.
Verschlafen blinzelte ich und starrte direkt in Albrechts Augen. Ruckartig fuhr ich hoch, wurde aber im gleichen Moment wieder nach unten gezogen. Max bettete mich auf seine Brust zurück.
„Was zum Henker …?“, nuschelte ich und sah von ihm zu Albrecht. „Was machst du hier?“
Albrecht grinste. „Euch wecken!“
Ich ließ meine Stirn auf Max’ Schulter fallen und murrte laut. Tickte er noch ganz richtig? „Spinnst du, oder was? Was willst du hier … in meinem Zimmer! Bin ich jemals zu dir rein, als Karin bei dir war?“
„Nein!“ Er grinste noch breiter. „Sie hätte dir die Augen ausgekratzt.“
Ich starrte zu ihm, dann blickte ich zu Max hoch. „Und dich stört das nicht?“
Er zuckte mit den Schultern. „Was hätte ich denn tun sollen? Er kam einfach rein …“
Ich blickte anklagend zu Albrecht zurück.
„Beruhig dich, Häschen .“ Er schmunzelte. Dass er mich mit dem Kosenamen ansprach, den mir Max gegeben hatte, war ein Witz. „Ich habe höflich gefragt, ob ich reindarf.“
Ich sog die Luft laut ein. „Du weißt, dass ich nackt bin, oder?“
„Sicher!“ Albrecht lachte und stützte sich mit dem Kopf neben Max auf das Bett. Vermutlich hockte er am Boden. Wie lange war er denn schon hier? „Aber nachdem ich euch schon die halbe Nacht zuhören musste, ist das auch schon egal. Außerdem weiß ich, wie du nackt aussiehst.“ Er zwinkerte.
„Was willst du?“, zischte ich, weil mich das Ganze nervte. Die halbe Nacht zuhören! Als hätten wir hier eine Liveshow veranstaltet.
Irmi schoss mir durch den Kopf. Wenn Irmi heute Nacht um unser Haus geschlichen war oder zumindest mit dem Fernglas Ausschau gehalten hatte, hatten wir ihr tatsächlich eine Liveshow geboten. Dann hatte sie nämlich meinen nackten Arsch an der Scheibe gesehen, wie Max mich …
Mir stieg Hitze ins Gesicht. Das könnte ich weder Mama noch Papa erklären.
„Traudi und Sepp sind unten“, meinte Albrecht schließlich und überflog meine Wangen. Wahrscheinlich war ich knallrot.
Ich murrte. „Und?“
„Sie machen auf Friede, Freude, Eierkuchen!“
„Ist mir egal!“ Ich rollte mich herum, hockte mich auf und raffte die Decke um mich. Max’ linkes Bein war damit im Freien. Aber vermutlich war ihm das egal. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Vor Albrecht auf Max zu liegen, war etwas völlig Fremdes für mich. Ich hatte mich nie offen mit einem Mann gezeigt. Auch wenn mein Bruderherz nicht schwulenfeindlich war, so war es seltsam, ihn bei einer wirklich intimen Situation neben mir zu haben.
„Sie haben Geschenke mit – Traudi fragt seit einer halben Stunde nach dir. Sie will sich auch nicht abschütteln lassen. Ich musste sie regelrecht aufhalten, zu dir hochzukommen.“ Albrecht erhob sich und zog ein wenig an der Decke. „Deshalb müsst ihr jetzt aufstehen und mitkommen.“
Ich blickte zu Max, mir wurde schon wieder schlecht. Traudi wollte in mein Zimmer? „Nein, ich … ich will nicht. Sag ihr einfach, ich bin krank!“
Albrecht schnaubte. „Klar, krank! Die ist doch nicht blöd!“
„Und? Ich … ich komme ganz bestimmt nicht.“
Albrecht seufzte. „Ich denke, sie möchte sich wirklich entschuldigen – sie und Sepp.“
Ich zuckte mit den Schultern und legte mich wieder hin. „Mir ist übel – ich kotz’ gleich.“ Ich schaute von Max zu Albrecht. „Schickt sie weg, bitte! Ich … Kann ich denn nicht wenigstens ein paar Tage meine Ruhe haben?“ Ich linste zur Wanduhr. Halb 10 – bum. Ich hatte seit meiner Schulzeit nicht mehr so lange geschlafen.
„Meinetwegen schon, nur …“ Albrecht seufzte. „Es wird nicht besser, wenn du es aufschiebst – und du kennst Traudi, sie gibt nicht auf, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.“
Ich zuckte abermals mit den Schultern. „Ich will aber nicht!“
Max schnaubte, warf die Decke zur Seite und stieg aus dem Bett. Nackt, wie Gott ihn geschaffen hatte, schob er Albrecht zur Seite und latschte zur Balkontür. „Ich habe ohnehin Hunger.“
Albrecht starrte ihn mindestens genauso sprachlos an wie ich. „Meine Güte, Max!“ Er fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „Ich bin ja nicht schüchtern, aber kannst du dir nicht wenigstens eine Unterhose anziehen?“
„Was? Ich …“ Max stemmte die Hände in die Hüften und brummte. „Ihr seid alle verklemmt – eure ganze Familie!“ Er drehte sich um und wühlte in seinem Koffer herum. Als er Pants gefunden hatte, schlüpfte er gelassen hinein. „Besser?“
Mann, war er sexy – und er gehörte mir! Ich hatte einmal in meinem Leben den Jackpot geknackt. Das Schicksal mochte sich schon wieder vor Lachen krümmen, aber zumindest bei Max hatte ich es ausgetrickst.
„Nein! Das Bild bekomme ich nie wieder aus dem Kopf!“ Albrecht musterte ihn von oben bis unten. „Du bist ein Witz, weißt du das? Jetzt ist mir auch klar, warum Magdalena an dir lecken wollte! Meine Güte! Selbst ich will an dir lecken!“
Max öffnete überrascht den Mund. „Echt jetzt?“
Albrecht musterte ihn erneut. „Wir gehen nie zusammen ins Freibad! Weißt du, wie viele Stunden ich mich abrackere, um so auszusehen?“ Er zeigte auf sich. Ich wusste, er hatte einen Waschbrettbauch und detailliert geformte Muskeln – aber gegen Max verblasste er. Wie musste ich da neben ihm erst wirken? Wie ein Pubertierender, der zwar leichte Bauchmuskeln hatte, aber doch viel zu schlank war?
Max schüttelte anklagend den Kopf.
Albrecht murrte laut. „Zieht euch an und kommt nach unten.“ Er blickte zu mir. „Die Nummer von heute Nacht kannst du selbst erklären.“ Er grinste, dann zwinkerte er mir zu und verschwand.
„Die Nummer von heute Nacht?“ Ich schaute zu Max.
„Na ja, wir waren nicht gerade leise.“ Er zuckte nichts ahnend mit den Schultern.
Ich schlüpfte aus dem Bett und trat nackt zu ihm. Er schloss mich sofort in die Arme, als ich mich gegen ihn drückte. „Aber es war verdammt geil, oder?“
„Auf jeden Fall …“ Seine Finger wanderten zu meinem Hintern. „Du bist geil!“
Ich grinste und stellte mich auf die Zehenspitzen. Hastig küsste ich ihn, bevor ich einen Schritt zurückmachte und meine Hände gegen seine Brust drückte. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du hier bist …“
Er schmunzelte. „Ich bin froh, dass du dich auf mich eingelassen hast. Hättest du mir nicht ständig so offen deine Gefühle und … dein ganzes Leben gezeigt, wäre ich nie darauf eingestiegen.“ Er küsste mich sanft. Seine Finger strichen um meinen Hintern. „Alles in Ordnung da unten?“
Ich nickte. „Denke schon …“
„Gut.“ Wieder küsste er mich. Sein Mund wanderte zu meinem Ohr. „Ich möchte das nämlich so schnell wie möglich wiederholen!“ Sein Atem strich mir warm um die Haut, seine Lippen berührten die Ohrmuschel. Eine Gänsehaut zog sich über meinen ganzen Körper. Mein Schwanz wurde hart. „Aber jetzt werden wir uns waschen und anziehen. Ich habe nämlich Hunger.“
Schlagartig wurde ich wieder nüchtern. „Ich will nicht nach unten – mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke.“
„Dir wird noch schlechter, wenn du es vor dir herschiebst.“ Max drückte mir einen Kuss auf die Stirn und ließ mich stehen. Abermals wühlte er in seinem Koffer herum.
„Du kannst deine Sachen gerne in meinen Schrank geben …“ Ich zeigte auf den Kleiderkasten.
„Danke, ja …“ Er beäugte mich kurz. „Ich bin versucht, dich unter die Dusche mitzunehmen, aber ich befürchte, das würde zu lange dauern. Diese Traudi kommt sonst noch ins Bad.“
Ich murrte nur. Natürlich wäre ich gerne mit ihm unter die Dusche gegangen, aber unter gegebenen Umständen bekäme ich bestimmt keinen mehr hoch. Traudi würde nämlich tatsächlich ins Bad latschen. Sie kannte da kein Pardon. Andererseits hatte ich meinen nackten Arsch womöglich schon Irmi präsentiert …
Ich sammelte meine Sachen zusammen, während Max im Badezimmer verschwand. Als er hinausging, schlüpfte Hermes durch die Tür.
Wo war er heute Nacht gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern, dass er im Zimmer war, als wir … Hatte Max ihn zuvor ausgesperrt?
Ich wusste es nicht, aber Hermes schien es nicht gestört zu haben. Er leckte mir nämlich kurz die Hand und sprang dann in das Bett.
„Du fühlst dich hier bereits zu Hause, hm?“ Ich streichelte ihn, während ich zu den Anzügen am Boden linste. Himmel, wenn Mama darauf bestand, dass wir uns während der Feiertage erneut schick machten, benötigte ich den nächsten Anzug. Der am Fußboden war nämlich völlig zerknittert.
Ich ging zur Balkontür und inspizierte sie. Gab es eigentlich einen Abdruck am Glas? Na ja, wenn man genau hinsah und wusste, was es war …
Hastig griff ich nach Max’ und meinen Anzug und hängte sie so gut wie möglich auf einen Kleiderbügel. Max hatte in der Eile wohl einen Knopf am Hemdärmel ausgerissen. Ich hielt mir das Kleidungsstück an die Nase und roch daran. Mann, sein Duftwässerchen war die pure Sünde. Oder Versuchung – was nicht besser war.
„Schnüffelst du an meinen Kleidern?“
Ich fuhr herum. Max stand in einer dunklen Jeans und einem engen Shirt in der Tür. Er grinste. „Das Bad ist frei – mach!“ Seine Augen glitten über meinen nackten Körper. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, mich anzuziehen. Vielleicht sollte ich mir zumindest auf den Weg ins Bad etwas überwerfen.
„Kommst … du mit?“
Er nickte, seine Augen verschlangen mich förmlich, aber seine Antwort lautete: „Nein, ich will nämlich noch frühstücken, bevor mir deine Mutter oder Großmutter das Mittagessen hineinstopfen.“
„Schade“, murmelte ich, drehte mich um und bückte mich, um die Socken aufzuheben. Ich wusste, dass er mir auf den Hintern starrte. Als ich mich aufrichtete, war er auch schon hinter mir.
„Hör auf zu spielen!“, brummte er in einem tiefen Bariton. Seine Finger glitten um meine Mitte. „Sonst trage ich dich nackt nach unten!“
Ich seufzte und griff nach meinem Bademantel. „Spielverderber!“ Dann latschte ich ins Bad.
Natürlich trödelte ich auch da herum. Es war mir egal, dass Traudi und Sepp warteten, meinetwegen konnten sie festwachsen, ich würde mich ihretwegen nicht beeilen.
Als wir endlich nach unten kamen, hörte ich Lachen aus dem Wohnzimmer. Mama und Traudi hatten sich anscheinend wieder vertragen, Sepp auch mit Papa. Wie es schien, saßen alle zusammen im Wohnzimmer.
Ich zog Max in die Küche. „Wir frühstücken hier“, erklärte ich ihm und machte mich am Kühlschrank zu schaffen.
Es dauerte keine Minute, da erschien auch schon Albrecht. „Auch noch aus dem Bett gekommen?“ Er stellte zwei Kaffeetassen, die er aus dem Wohnzimmer mitgebracht hatte, unter den Automaten und schaltete ihn ein. „Kommst du hinüber – oder muss ich Traudi und Sepp zu dir schicken?“
„Ich komme sicher nicht.“ Ich nahm zwei Tassen aus dem Schrank und stellte sie neben die Maschine. Dann holte ich eilig weiteres Frühstück aus dem Kühlschrank. Ich würde nicht bei ihnen ankriechen, als hätte ich etwas falsch gemacht – sicher nicht.
„Gut, ich schicke sie herüber.“ Albrecht schnaubte laut. „Tante Frieda ist übrigens mit Horst, Magdalena und den Mädchen spazieren. Sie war etwas verärgert, weil wir sie nicht geweckt haben gestern, aber als Mama ihr erklärte, dass Marianne und Heinrich gefahren sind, wirkte sie irgendwie erleichtert, alles verschlafen zu haben.“
„Habt ihr es ihr gesagt?“ Ich blickte zu ihm.
„Magdalena. Du kennst sie – mit der Tür sofort ins Haus.“
„Und?“ Ich schluckte.
„Und …“Albrecht seufzte und drückte auf den Kaffeeautomaten. „Zitat, Tante Frieda: Hat er sich endlich getraut, die Wahrheit zu sagen?“
Mir fiel die Kinnlade nach unten. „Sie weiß es? Sie wusste es bereits?“
Albrecht zuckte mit den Schultern. „Scheint so … Sie meinte, du hättest einen tollen Männergeschmack.“ Er grinste zu Max. „Na, wer würde dich nicht heiraten!“
„Wow …“ Ich wischte mit den Fingern über die Anrichte. „Das habe ich nicht erwartet …“
„Wir auch nicht.“ Albrecht zuckte erneut mit den Schultern. „Irgendwie waren wir alle darauf eingestellt, dass sie wie Heinrich und Marianne abfährt, aber … Horst meinte, nach dem Spaziergang betrinkt entweder er sich, oder wir geben Tante Frieda noch eine Flasche Eierlikör.“
Ich schmunzelte. „Nimm den Harakiri. Ist sicherer …“
„Ja …“ Er griff nach mir. „Gib Traudi und Sepp eine Chance, und lass es sie zumindest erklären.“
„Ich versuche es …“ Ich seufzte laut, dann drehte ich mich wieder dem Kühlschrank zu und räumte noch etwas Käse und Wurst heraus.
Albrecht nickte und ging mit den beiden Kaffeetassen zurück ins Wohnzimmer. Ich rechnete jeden Augenblick mit Traudi und Sepp, aber ich irrte mich. Anscheinend setzten auch sie auf Zeit, denn sie kamen erst, als Max und ich bereits fast mit dem Frühstück fertig waren.
„Sebastian“, murmelte Traudi und trat in die Küche. Sie lächelte hilflos und blickte zu Sepp, der sich nur stumm auf einen Stuhl am Tisch setzte.
„Morgen“, murrte ich leise, Max nickte zur Begrüßung.
Traudi starrte zwischen uns hin und her, dann setzte sie sich auf die Eckbank auf der anderen Seite. „Du … schau …“ Sie schob mir ein Paket über den Tisch. „Dein Weihnachtsgeschenk vom Sepp und mir.“
Ich starrte darauf, nahm es aber nicht an. Als Traudi es trotzdem nicht zurückzog, sondern stattdessen näher schob, griff ich danach und legte es neben mir auf die Bank. Unsicher rutschte ich ein Stück weiter zu Max.
„Willst du nicht hineinschauen?“ Sie schluckte unruhig.
„Nein, vielleicht später.“
Wieder blickte sie zu Sepp, als würde sie ihn stumm auffordern, etwas zu sagen. Doch der presste nur die Lippen aufeinander und schaute zwischen mir und Max hin und her. Er wirkte weiß im Gesicht.
„Wollten Sie uns irgendetwas sagen?“, eröffnete Max schließlich das Gespräch, weil wir nur schweigend nebeneinander hockten. Ich fragte mich, wo Mama und Paps blieben. Sonst mischten sie sich doch auch immer ein.
„Ja …“ Traudi schluckte schon wieder. „Die Mitzi sagt …“, sie linste zu Sepp, „du willst nicht mehr unser Patenkind sein …“
Ich biss die Zähne aufeinander. Super, jetzt durfte ich Mamas Vorwürfe ausbaden. Ich griff nach dem Cappuccino und trank ihn wütend aus.
Max beobachtete mich, als ich nichts antwortete, murrte er laut. Er legte einen Arm hinter mir auf die Bank und lehnte sich gelassen zurück. „Die Frage ist wohl eher, ob Sie noch immer Sebastians Pateneltern sein wollen?“
„Sicher wollen wir das!“, polterte Sepp, als hätte Max ihm irgendeine Frechheit unterstellt. Wütend stützte er sich mit den Unterarmen am Tisch auf.
„Ja?“ Max ließ sich nicht beeindrucken, während ich am liebsten unter den Tisch gekrochen wäre. Nervös ließ ich mich zurückfallen und lehnte mich in die Umarmung. „Das sah gestern nämlich nicht so aus.“ Max griff nach seiner Tasse und nahm einen Schluck, bevor er sie seelenruhig wieder absetzte. „Gestern wirkte es eher so, als wären sie schwulenfeindlich und würden sich für Sebastian schämen.“
Traudi riss den Mund auf, Sepp fixierte Max. Ein stummes Augenduell entstand, was Max für sich entschied.
„Gestern war gestern. Da haben wir noch nicht gewusst, dass …“ Sepp sah zu mir. „Du hättest aber auch früher etwas sagen können. Schließlich bist du wie unser jüngstes Kind.“
„Was hätte das für einen Unterschied gemacht?“, fragte ich.
„Na ja, dann hätten wir es gewusst, dann …“
„So ein Blödsinn!“, unterbrach ich ihn und stieß den Atem laut aus. „Es hätte nichts geändert, ihr hättet gleich gedacht … Dann hättet ihr mir all die Dinge von gestern eben schon viel früher gegen den Kopf geknallt.“
„Aber du bist …“ Traudis Stimme brach, sie begann zu weinen. „Du bist doch wie mein Bub für mich …“
Ich spürte, wie mir ebenfalls die Tränen kamen. Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Seit gestern bin ich das wohl nicht mehr …“ Ich presste die Kiefer aufeinander.
„Geh …“ Sie wischte sich über die Wangen. „Das war eine Kurzschlussreaktion. Wir haben das doch gar nicht so gemeint …“
Max seufzte. Er zog seinen Arm zurück und lehnte sich auf den Tisch. „Dann sollten Sie es auch nicht sagen. Das ist nämlich verletzend.“
Sepp musterte ihn wieder, dann schüttelte er den Kopf. „Weißt du, ich habe dir ja viel zugetraut, aber ausgerechnet der Stillste von den Lindner-Kindern ist …“
„Schwul?“ Ich blickte Sepp herausfordernd an. „Wenn du mich noch einmal beleidigen willst, dann kannst du gleich wieder gehen. Ich will das gar nicht hören.“
Sepp brummte laut, Max lehnte sich triumphierend in der Bank zurück und legte seine Finger um meinen Nacken. Ich brauchte nicht zu ihm zu sehen, ich wusste auch so, dass er breit grinste.
Mir wurde im Gegensatz dazu heiß. Ich hatte nicht das Selbstvertrauen wie er, auch wenn ich gerade über alle Stränge geschlagen hatte. Mit Sepp in diesem Ton zu reden, hatte ich nie gewagt.
„Das ist sein Einfluss“, knurrte Sepp und zeigte zu Max. Er betrachtete mich finster. „So redest du normalerweise nicht mit mir … oder anderen.“
„Ja, und das ist auch gut so.“ Papa kam in die Küche. „Der Max passt so, wie er ist – und ich bin froh, dass er der Freund vom Sebastian ist. Bei all den Depperten in der Gemeinde braucht er nämlich einen Mann wie ihn.“ Papa schaute von Sepp zu Max, dann zu mir. Er schüttelte den Kopf. „Du bist ja schlimmer wie der Albrecht.“
Ich zog eine Braue hoch. Wie? Was? Ich verstand nicht. Fragend blickte ich zu Max, doch der zuckte nur mit den Schultern.
„Sepp, Traudi!“ Papa legte beiden eine Hand auf die Schulter. „Ihr wolltet euch entschuldigen, dann macht das. Ich musste das gestern auch. Wenn ihr also noch immer die Paten sein wollt und den Sebastian gernhabt, dann müsst ihr da durch und um Verzeihung bitten.“
Ich blickte mit offenem Mund zu Paps. Ich wusste nicht, ob ich zu weinen beginnen oder einfach aufspringen sollte, um ihn zu umarmen.
„Ja, nur …“ Sepp fuhr sich über den Mund. Es fiel ihm sichtlich schwer, über seinen Schatten zu springen. „Dann … entschuldige ich mich halt.“ Er blickte von Max zu mir. „Ich habe gestern meinen Mund zu weit aufgemacht, es tut mir leid.“
„Mir auch!“, rief Traudi.
Max stieß den Atem leise aus, dann nickte er. „Okay, ich nehme die Entschuldigung an. Ich bitte Sie aber zukünftig ein wenig nachzudenken, bevor Sie sprechen.“ Er massierte meinen Nacken kräftiger, Sepps Augen flogen sofort zu den Fingern. „Sie verletzen Sebastian nämlich. Mir persönlich ist das egal, ich wehre mich anders.“ Er lächelte sein zynisches Anwaltslächeln. „Aber Ihr Patenkind ist wirklich empfindlich. Wenn Sie ihn nicht verlieren wollen, müssen Sie die Umstände akzeptieren.“
Traudi fasste nach meiner Schulter. „Geh, Sebastian, von mir aus kann das ganze Dorf sich den Mund zerreißen, du bist mein Bub!“ Sie heulte schon wieder.
Ich nickte nur und konnte die Tränen nicht länger unterdrücken. Zum Glück läutete jemand an der Haustür, was uns alle etwas ablenkte.
„Ich geh’ schon!“, rief Albrecht im Vorraum.
Sekunden später hörte ich Irmi aufgeregt schnattern.
„Die hat mir noch gefehlt!“ Sepp wischte sich mehrmals über das Gesicht. Er wirkte regelrecht nervös. „Ich geh’ ins Wohnzimmer.“
„Du bleibst!“ Papa drückte ihn auf den Stuhl zurück.
„Damit habe ich nix zu tun!“, murrte Sepp.
„Du bleibst“, wiederholte Papa.
Ich hatte keine Ahnung, um was es ging, aber die Nervosität von Sepp war greifbar. Wenn ich ehrlich war, wollte auch ich nicht auf Irmi treffen, schon gar nicht, wenn Max neben mir hockte und mir den Nacken massierte. Ihn irritierte das natürlich nicht.
„Stören wir?“ Irmi trippelte in die Küche. Herbert, ihr Mann, folgte ihr. Beide standen in voller Trachtenmontur vor uns. Irmi hatten einen Korb dabei, aus der eine Flasche Wein lugte. Vermutlich ein Gastgeschenk.
Albrecht erschien neben ihnen. Er blickte von Max zu mir und grinste breit.
„Na, wenn du mich so fragst, Irmi!“, maulte Papa und drückte Sepps Schulter, weil dieser unruhig auf seinem Platz herumrutschte. „Was führt dich denn ausgerechnet am 25. Dezember – an einem Feiertag – zu uns?“
Irmi starrte zu mir, dann zu Max. Sie wurde hochrot im Gesicht, unruhig wischte sie eine Strähne aus ihrem Gesicht, die sich aus der Steckfrisur gelöst hatte. „Wir wollten nur vorbeischauen … und ruhige Weihnachten wünschen.“ Sie griff nach der Flasche Wein und reichte sie Papa. „Ihr könnt es brauchen.“
Ich stieß den Atem aus und lehnte mich in Max’ Arm. Frustriert wischte ich die Tränen weg und verschränkte die Arme vor der Brust. Keine Ahnung, warum sie so nervös war, die Worte waren jedenfalls eindeutig gewesen.
„Glaubst du?“ Papa stellte die Flasche auf den Tisch. „Wollt ihr euch setzen?“ Er zeigte zu uns.
Irmi schüttelte sofort den Kopf, wieder wurde sie rot im Gesicht. „Nein! Doch nicht …“ Sie biss sich auf die Zunge und zog ihre Nase hoch. „Nein, ihr habt Besuch. Außerdem bin ich müde – ich habe heute Nacht kaum geschlafen.“
„Na, das glaube ich sofort“, maulte Sepp und wischte sich über das Gesicht. Papa quetschte ihm wieder die Schulter, Sepp wurde wenige Zentimeter kleiner auf seinem Stuhl.
„Zu jedem setzen wir uns auch nicht“, brummte Herbert neben ihr und fixierte Max.
Ich war versucht laut aufzuschreien. Von wegen, all meine Probleme waren verschwunden, es ging erst richtig los. Ich linste zu Albrecht, der sich gelassen in die Tür lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. Fast war es, als wüsste er etwas und wartete nur mehr auf den theatralischen Abgang von Irmi und Herbert.
„Das ist übrigens der Max!“ Papa riss mich aus den Gedanken. „Der Freund vom Sebastian. Für euch der Herr von Birkheim.“
Mir fiel die Kinnlade bis zum Boden. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht, dass er Max als meinen Freund vorstellte. Selbst Max war überrascht, er fing sich nur schneller als ich.
Er stieg auch gleich auf Papas Spiel ein. „Maximilian von Birkheim.“ Er schob mich weg, erhob sich und streckte die Hand über den Tisch aus. Weder Irmi noch ihr Mann reagierten, stattdessen wichen sie einen Schritt zurück, als könnten sie sich eine Krankheit von Max holen.
„Ja, das wissen wir schon“, giftete Irmi zu Papa. „Von deinem Sohn und dem … Herrn Birkheim.“
Max zog den Arm zurück, lächelte aber weiterhin – dieses Mal das zynische Anwaltslächeln. „Wir werden uns sicher noch kennenlernen.“ Er machte eine vielversprechende Pause. „Sie sind doch die Familie Ulmsteiner, nicht wahr?“
„Mein Mann ist der Bürgermeister“, konterte Irmi, als hätte er danach gefragt.
„Ja, genau … Ihr Vieh weidet auf unserem Grundstück. Ihr Pachtvertrag läuft aus.“ Max grinste breit, lehnte sich auf der Bank zurück und legte den Arm wieder um mich.
Irmi entgleisten die Gesichtszüge. Ich war mir nicht sicher, warum – entweder ob des Pachtvertrags oder weil Max mich vor ihren Augen ohne Hemmungen anfasste.
„Wir haben einen Vertrag mit der Kanzlei …“, begann Herbert.
„Ja, mit der Kanzlei Birkheim und Partner, ich weiß. Ich verwalte zukünftig alle Liegenschaften in der Gegend. Sie werden mich also noch … kennenlernen .“ Max griff nach der Cappuccinotasse und nahm einen Schluck – völlig ruhig und unbeeindruckt. Als hätte er nicht gerade eine indirekte Drohung ausgesprochen.
Selbst Traudi hatte das mitbekommen, sie starrte ihn nämlich mit offenem Mund an.
Sepp wischte sich über das Gesicht. „So ein Hundling!“, flüsterte er und schnaubte laut, grinste aber vor Schadenfreude Irmi gegenüber.
„So?“ Irmi blickte zu ihrem Mann. Sie wirkte blass um die Nase.
„Ich denke, wir haben nach den Feiertagen einen Termin“, sprach Max weiter. „Wir werden sehen, ob wir die Verträge neu aufsetzen müssen.“ Er lächelte gekünstelt.
„Sie sind der neue Verwalter?“ Herbert ging langsam ein Licht auf.
„Warum sollten wir die neu aufsetzen müssen?“, fragte dafür Irmi ahnungslos, als wäre ihr plötzlich eingefallen, dass sie noch immer die Frau des Bürgermeisters war und damit das letzte Wort hatte.
„Na ja, das kommt immer auf die Umstände an, wie höflich die Leute zum Beispiel sind …“ Max ließ mich los und griff nach einer Semmel. Konzentriert schnitt er sie auf.
Irmi zischte, sie lief noch roter an, dieses Mal vor Wut und nicht vor Nervosität. Gereizt fuhr sie zu Papa herum. „Und du sagst dazu nichts?“
„Wozu?“ Papa stellte sich bewusst dumm. Ich kannte ihn viel zu gut.
„Schämt ihr euch nicht?“ Sie blickte von Max zu mir.
Was wollte sie? Solle ich ihr tatsächlich die Frage beantworten, ob ich mich schämte, schwul zu sein?
„Das kommt davon, wenn man in fremde Fenster schaut!“, meinte Papa schadenfroh. „Nicht wahr, Irmi?“ Sein Lächeln wurde breiter, einzelne Falten legten sich um seine Augen.
Sie riss den Mund auf und schnappte nach Luft, dann drehte sie sich ruckartig um und marschierte aus der Küche. Herbert nickte nur und lief hinter ihr her.
„Ich lass’ euch raus“, rief Albrecht und lachte laut.
Papa wartete, bis die Tür ins Schloss fiel, dann ließ er Sepp endlich los.
Albrecht kam wieder zur Tür herein. Er setzte sich neben Traudi und schaute zwischen mir und Max hin und her – grinsend!
„Was ist?“, fragte ich, weil ich keine Ahnung hatte, was los war. Anscheinend wussten alle im Raum, um was es ging, nur Max und ich waren nicht eingeweiht.
„Jetzt fragt er auch noch so unschuldig!“ Sepp wischte sich schon wieder über das Gesicht. Er wirkte völlig fertig.
„Sei froh, dass du volljährig bist“, brummte Papa und ging um den Tisch herum. „Sonst hättest du jetzt die erste Watschn 21 in deinem Leben bekommen.“ Er hockte sich neben Max. „Und du gleich eine dazu.“
Max legte die Semmel auf den Teller und blickte Papa ernst an. „Wie bitte?“
„Frag nicht so blöd!“ Papa hielt sich die Hände vor das Gesicht, Albrecht begann zu lachen.
„Findest du das witzig?“ Max fuhr zu Albrecht herum.
„Ja, schon!“ Er lachte wieder.
Max sog den Atem tief ein, bevor er ihn laut ausstieß. „Du bist der erste Schwiegervater in spe, der mir eine Ohrfeige androht!“ Er blickte Papa herausfordernd an. Ich wurde zehn Zentimeter kleiner. Was war jetzt wieder los? Ging alles von vorne los? Wenn Papa Max ohrfeigte, schlug dieser nicht nur zurück, sondern verklagte ihn auch noch.
Paps nahm die Hände vom Gesicht, dann schaute er von Max zu mir. „Weißt du, wenn der Albrecht das getan hätte, dann hätte ich das ja fast erwartet, aber du? Du warst so ein lieber, braver Bub – bis …“
„Bis was?“, zischte ich anklagend. Wenn er mir noch einmal vorwarf, schwul zu sein, dann flippte ich aus.
„Vor der Balkontür?“, lachte Albrecht los. „Ihr wisst, dass die aus Glas ist!“
Ich runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht …“
„Du verstehst nicht, genau …“ Papa schüttelte den Kopf, dann stützte er beide Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor. „Die Irmi hat Albträume wegen euch! Die hat heute Nacht völlig verstört die Traudi angerufen …“ Er schaute von Max zu mir. „Die kennt jetzt deinen nackten Hintern!“
Ich öffnete den Mund, dann stieg mir Hitze in die Wangen. „Scheiße!“ Irmi hatte Max und mich beim Sex gesehen. Jetzt, wo meine Annahme von heute Nacht sich als Tatsache entpuppte, war das gar nicht mehr so witzig.
„Scheiße! Ja, genau!“ Papa schüttelte den Kopf. „Wenigstens du hättest gescheiter sein können!“ Er stieß Max gegen die Schulter. „Er ist 26 – du über 40! Was hast du dir gedacht?“
Max sog die Luft abermals laut ein, dann grinste er unerwartet. „Hätte ich gewusst, dass wir tatsächlich Zuseher haben, hätte ich die Tür geöffnet und es am Balkon getrieben – damit die Frau Bürgermeister die Vorstellung auch akustisch untermauert gehabt hätte.“
„Du bist keiner Ausrede verlegen, ha?“ Sepp schüttelte den Kopf, um seine Mundwinkel zuckte es aber.
„Akustisch untermauert! Akustisch untermauert hatte ich es!“ Albrecht griff nach einem Blatt Schinken. „Ich schlafe Tür an Tür mit euch!“
Max begann zu lachen und aß ruhig weiter. „Was habt ihr erwartet? Ihr habt mich in sein Bett gesteckt!“
„Genau, jetzt sind wir schuld!“ Albrecht lachte auf. „Ich bekomme das Bild nicht aus dem Kopf – die Irmi vor dem Balkon – und ihr an der Tür …
„Die hat einen Schock fürs Leben!“, warf Paps ein.
Ich schluckte und hielt mir die Hand vor den Mund, dann begann ich zu lachen.
Max und Albrecht fielen mit ein.
„Das war das beste Weihnachtsgeschenk, was ihr der Irmi machen konntet!“, rief Paps und lachte lauthals mit.
1 Dialekt für „Bitte“, im Sinne von „Bitte wie?“
2 landwirtschaftliche Bezeichnung für Tiere
3 schiach = Dialekt für hässlich; Ratz = Dialekt für Ratte
4 Schimpfwort für dummes, zänkisches Weib
5 verrückt
6 Kartoffelgulasch
7 Pilzgulasch
8 Dialekt für Ratten
9 jagen
10 Dialekt für Sonnenhügel
11 Hefeteig
12 Ohrenkrebs
13 ein bisschen
14 Verniedlichung von Schnaps
15 Sonnenhangwiese
16 egal
17 Schimpfwort für ein dummes, zänkisches Weib
18 Menschen mit Universitätsabschluss, Personen, die studieren
19 Verniedlichungsform von Paket
20 hässlich; hier eher: böse
21 Ohrfeige