Stadtgeschichte
Markusplatz - hier thront Venedigs höchstes
Herrschaftssymbol, der geflügelte Markuslöwe
In der Chronik Venedigs wird der 25. März 421 als Gründungsdatum angegeben. Dieses relativ willkürliche Datum wurde erst im 15. Jh. festgelegt, als Venedig sich auf dem Höhepunkt seiner Macht befand. Vor allem eine Erwägung mag dabei die wesentliche Rolle gespielt haben: Venedig während des Untergangs des Weströmischen Reiches (offizielles Ende 476) entstehen zu lassen, bedeutete auch, es als Erbin Roms darzustellen - als Phönix aus der Asche.
Doch mit dem schillernden Rom der ausgehenden Antike hatten die damaligen Lagunensiedlungen nicht das Geringste gemein. Richtig ist jedoch, dass die Wirren der großen Völkerwanderung, die zur Eroberung Roms führten, auch die Region Venetien berührten. Westgoten, Hunnen, Ostgoten und Langobarden eroberten nacheinander die wichtigsten Küstenstädte der oberen Adria (Aquileia, Altinum, Spina, Adria, Padua etc.) und lösten damit eine Flüchtlingswelle auf die bis dahin nur von Fischern und Salzbauern bewohnten Laguneninseln aus. Cassiodor (490-583), ein Gelehrter, der in Diensten des Ostgotenkönigs Theoderich des Großen stand, beschrieb die Lebenssituation der ersten Lagunenbewohner folgendermaßen: „Sie scheinen zur See und auf dem Lande gleichermaßen heimisch zu sein. Ihre Siedlungen liegen verstreut und sind durch Wälle aus Weidengeflecht vor den Fluten des Meeres geschützt.“ Aus den Aufzeichnungen Cassiodors geht außerdem hervor, dass die Lagunenbewohner bereits seetüchtige Schiffe besaßen und mit dem gegenüberliegenden Istrien Handel trieben, wobei ihnen das in der Lagune gewonnene Salz als wichtigstes Tauschmittel diente.
Die Markusreliquien - staatstragende Beutestücke
Anfang des 9. Jh., als das Stadtbild Venedigs langsam Konturen annahm und der Seehandel zu florieren begann, da hieß der Stadtheilige noch Sankt Theodor, ein in der Hierarchie des Himmels eher drittklassiger, byzantinischer Heiliger. Als aufstrebende Stadt brauchte Venedig unbedingt einen prominenteren Schutzpatron samt Reliquien; denn der Besitz solcher mystischen Kostbarkeiten erhöhte im Mittelalter das Ansehen einer Stadt erheblich. Kein Wunder, dass mit dem damaligen Reliquienkult auch der Reliquienhandel boomte. Die Venezianer erkoren keinen Geringeren als den Evangelisten Markus zu ihrem neuen Stadtheiligen, dessen Gebeine sie sich im Jahr 828 aus Alexandria beschafften. Wie die Überführung der sterblichen Überreste letztlich vonstatten ging, wird von zahlreichen, sich teilweise widersprechenden Legenden vernebelt. Angeblich waren es venezianische Kaufleute, die im Auftrag des Dogen Giustiniano Partecipazio nach Alexandria segelten, um den Mönchen des Klosters, das die Gebeine barg, ein Kaufangebot zu machen. Stattdessen raubten sie die unbewachten Reliquien einfach aus dem Sarkophag und verstauten diese in einem Korb und bedeckten sie mit Schweinespeck, um unbehelligt an den Zöllnern vorbeizukommen, denen als Muslimen Schweinefleisch ja bekanntlich ein Gräuel war.
In der Heimat war die Freude über die gelungene Aktion groß. Eilig begann man mit dem Bau einer prächtigen Kirche für den heiligen Markus, und zwar unmittelbar neben dem Amtssitz des Dogen. Die beabsichtigte Nähe der beiden Repräsentationsbauten sollte offensichtlich ein Verschmelzen von weltlicher und religiöser Macht darstellen. - Denn wären die Venezianer daran interessiert gewesen, die Stellung der Kirche hervorzuheben, hätten die kostbaren Reliquien nach San Pietro di Castello gebracht werden müssen, der Bischofskirche der Stadt. Doch die Dogenstadt machte sich den Markuskult auf ganz weltliche Art dienstbar und schmückte sich selbst mit dem Bild des geflügelten Löwen, dem Symbol des Evangelisten Markus. Dem Papst wurde damit schon sehr früh und unmissverständlich bekundet: Primo siamo Veneziani, poi Cristiani, in erster Linie sind wir Venezianer und dann auch Christen.
Als die grausam wütenden Langobarden 568 in Oberitalien einfielen, erlebte die Lagune einen weiteren Zustrom von Flüchtlingen, und es kam zur verstärkten Besiedlung der ersten namentlich bekannten Inseln Grado, Malamocco, Murano, Burano und Torcello, während die Rialto-Inseln - wo später Venedig entstehen sollte - noch unbewohnt waren. Zu dieser Zeit regierte im nahen Ravenna ein Exarch (Statthalter) des Byzantinischen Reiches, der das Lagunengebiet zum Protektorat erklärte und vor Langobardenangriffen schützte. Das ganze 7. Jh. hindurch unterstanden die Laguneninseln dem Oströmischen Reich und begannen, sich langsam zu einem Seehandelszentrum zu entwickeln. 697 ernannte der Exarch von Ravenna einen Dux zum Machthaber über die Lagunensiedlungen. Dieser Paoluccio Anafesto ging als erster Doge in die Geschichte Venedigs ein.
Das 8. Jh. war im Wesentlichen von pro- und antibyzantinischen Auseinandersetzungen geprägt, an denen sich die Lagunensiedlungen gegenseitig aufzureiben schienen. Eine Zeit, in der Byzanz seine Vormachtstellung nur mit militärischer Gewalt aufrechterhalten konnte.