Die gotische Baukunst, die sich von Frankreich aus in ganz Europa ausbreitete, erfasste Venedig erst Mitte des 14. Jh. Nun veränderten die Venezianer das Äußere ihrer Markuskirche, indem sie den bis dahin dunklen Innenraum durch gotische Fensteröffnungen etwas aufhellten und die Fassade mit typisch gotischem Zierrat und Skulpturenschmuck versahen. Auch der Dogenpalast wurde nach dem Geschmack der Gotik umgestaltet und bekam eine Vorbildfunktion für die städtische Profanarchitektur. Spitzbögen lösten die schlichten Rundbögen ab, und die gesamte Fassade des Palazzo Ducale büßte von den Arkaden des Untergeschosses bis hinauf zu den Zinnen einen Großteil ihrer Massivität ein. Doch reine Gotik war das nicht, was die Venezianer ihrem Stadtbild im 14. und 15. Jh. angedeihen ließen, sondern venezianische Gotik, die, wie schon die romanische Stilepoche, stark von der Ornamentik, der Farbigkeit und der Dekorationskunst des oströmischen Kulturraumes geprägt war. Der berühmteste Palazzo der venezianischen Spätgotik, die Ca’ d’Oro (→ S. 131), macht heute noch auf beeindruckende Weise deutlich, wie harmonisch die Profanarchitektur des 14. und 15. Jh. gotische und orientalische Formen und Motive miteinander vereinigte. In dieser Zeit, die von einer umfangreichen Bautätigkeit gekennzeichnet war, wurde der ursprünglich zweigeschossige venezianische Palazzo um ein Geschoss erhöht. Am Canal Grande, dem Prachtkanal Venedigs, gibt es noch zahlreiche beispielhafte Uferpalazzi im venezianisch-gotischen Stil zu bewundern. Die beiden Kirchen des dominikanischen und des franziskanischen Bettelordens, Santi Giovanni e Paolo (→ S. 170) und Santa Maria Gloriosa dei Frari (→ S. 155), sind die repräsentativsten venezianischen Kirchenbauten der Spätgotik.