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Horst Schecker, Thomas Wilhelm, Martin Hopf und Reinders Duit (Hrsg.)Schülervorstellungen und Physikunterrichthttps://doi.org/10.1007/978-3-662-57270-2_3

3. Strategien für den Umgang mit Schülervorstellungen

Thomas Wilhelm1   und Horst Schecker2  
(1)
Institut für Didaktik der Physik, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Max-von-Laue-Str. 1, 60438 Frankfurt am Main, Deutschland
(2)
FB 1 Physik/Elektrotechnik, Institut für Didaktik der Physik, Universität Bremen, Postfach 330440, 28334 Bremen, Deutschland
 
 
Thomas Wilhelm (Korrespondenzautor)
 
Horst Schecker
3.1 Grundsätzliches
3.2 Konfliktstrategien für diskontinuierliche Lernwege
3.2.1 Kognitive Konflikte
3.2.2 Mögliche Probleme des Vorgehens
3.3 Aufbaustrategien für einen kontinuierlichen Lernweg
3.3.1 Die Idee des Aufbaus
3.3.2 Beispiele für Aufbaustrategien
3.4 Thematisieren von Schülervorstellungen
Literatur

3.1 Grundsätzliches

Zielsetzungen

Als Lehrkraft mag man den Wunsch haben, dass alle Schülerinnen und Schüler die physikalische Sichtweise verstehen und übernehmen und danach nur noch physikalisch denken. Das würde bedeuten, die physikalisch nicht korrekten Schülervorstellungen werden im Denken der Schülerinnen und Schüler eliminiert bzw. gegen die physikalisch korrekten Vorstellungen ausgetauscht. Dies ist aber – so zeigt die psychologische und fachdidaktische Forschung – nicht realistisch (Abschn.​ 2.​4.​1). Die mitgebrachten Vorstellungen sind auch nach einem guten Physikunterricht zumindest unterschwellig noch immer vorhanden und oftmals sogar aktiv; sie können jedenfalls praktisch nicht vergessen werden.

Ein Eliminieren wäre auch nicht sinnvoll, da die Alltagsvorstellungen auch eine soziale Bedeutung in der Kommunikation haben. In alltäglichen Gesprächen bedient sich selbst ein Physiker der Alltagssprache mit den darin vorhandenen Vorstellungen. Er muss also wissen, was physikalische Begriffe im Alltag bedeuten. Nur so versteht er, wenn ein Mitmensch „keine Kraft mehr zum Arbeiten hat“, meint, beim geöffneten Fenster „kommt die Kälte herein“ (Abschn.​ 7.​3), sich über einen hohen ‚Stromverbrauch‘ beschwert (Abschn.​ 6.​2.​3) oder feststellt, „ein Spiegel zeigt ein gutes Bild der Straße“ (Abschn.​ 5.​2.​4).

Letztlich kann das Ziel des Physikunterrichts nur darin liegen, dass die Schülerinnen und Schüler auch die physikalischen Sichtweisen kennen und verstehen. Dabei ist es sehr wichtig, dass es zu einem bewussten Nebeneinander eines physikalischen Konzepts und der Alltagsvorstellung kommt. Die Lernenden sollen zwischen den verschiedenen Konzepten unterscheiden können und die jeweiligen Stärken und Schwächen kennen, sodass sie beurteilen können, welche Erklärung wann sinnvoll ist. In vielen Alltagssituationen können die Schülervorstellungen nämlich als Grundlage zum Handeln genutzt werden (z. B. den Standby-Betrieb bei einem alten Fernseher ausschalten, um ‚Strom‘, d. h. elektrische Energie, zu sparen), während sie in anderen Situationen kein erfolgreiches Handeln ermöglichen (z. B. eine Cola-Dose in Alupapier einwickeln, um sie kühl zu halten; Abschn.​ 7.​3). Die Fähigkeit, physikalische Vorstellungen und Schülervorstellungen bewusst voneinander abgrenzen zu können, erfordert eine Veränderung bzw. Weiterentwicklung der Schülervorstellungen. Dies wird in der Fachdidaktik als „Konzeptwechsel“ (Conceptual Change) bezeichnet. Konzeptwechsel ist nicht als Konzeptaustausch zu verstehen, sondern als Konzeptentwicklung und Konzeptbewusstsein. Diese Zusammenhänge werden in Abschn.​ 2.​4 ausführlich dargelegt.

Als Lehrkraft möchte man nun genau wissen, wie man unterrichten soll, damit es zu diesem Konzeptwechsel kommt. Liest man die Schülervorstellungen, die in den Kap.​ 4 bis 13 dieses Buches beschrieben werden, dann kann man daraus eine Vielzahl kleiner konkreter Maßnahmen ableiten. Beispielsweise sollte man bestimmte Formulierungen, Erklärungen, Experimente und Anwendungen nicht benutzen, da sie physikalisch falsche Vorstellungen fördern. Ebenso lässt sich ableiten, was besonders intensiv besprochen werden sollte und auf welche schwierigen Aspekte eines Themas man besonders eingehen muss. Hierbei handelt es sich um lokale Veränderungen.

In der Physikdidaktik wurden auch ganze Unterrichtskonzeptionen zu einzelnen Themen entwickelt, die aufgrund der bekannten Schülervorstellungen ein Thema anders als bis dahin üblich elementarisieren und es in einer anderen Sachstruktur behandeln. Die Themenkapitel geben Literaturhinweise auf solche Curricula. Es würde jedoch den Rahmen dieses Buches sprengen, würde man bei jedem Thema ausführlich inhaltlich auf diese speziellen Unterrichtsvorschläge eingehen. Curricula, die auf Erkenntnissen über Schülervorstellungen aufbauen, beruhen auf themenübergreifenden fachdidaktischen und lernpsychologischen Erkenntnissen, mit denen sich Modelle des Umgangs mit Schülervorstellungen begründen lassen. In diesem Kapitel werden allgemeine Modelle des Umgangs mit Schülervorstellungen vorgestellt.

Verschiedene Lernwege

Das Lernen eines umfassenden physikalischen Konzepts, wie z. B. „Teilchen“ oder „Energie“, geschieht nicht auf einmal, sondern über mehrere Zwischenzustände. Man spricht von Lernwegen. Jeder Lernweg von Schülervorstellungen hin zu wissenschaftlichen Vorstellungen wird im Sinne des Entwicklungsaspekts (Abschn.​ 2.​4.​1) deshalb hier als Konzeptwechsel bezeichnet. Manchmal verstehen wir einen Zusammenhang schlagartig, uns geht ein Licht auf und wir sehen plötzlich etwas ganz anders. Ein Beispiel ist folgende Aussage eines Schülers: „Aha! Kälte und Wärme sind also gar keine unterschiedlichen Dinge – Kälte ist einfach fehlende Wärme!“ (Abschn.​ 7.​3). Manchmal lernt man dagegen in kleinen Schritten Neues dazu, etwa auf dem langen Weg der gegenseitigen Abgrenzung von Kraft, Impuls und kinetischer Energie (Abschn.​ 4.​3). Man spricht hier von verschiedenen Lernwegen und unterscheidet zwischen kontinuierlichen und diskontinuierlichen Lernwegen.

Diese Grundidee ist nicht neu. Schon der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896–1980) unterschied zwei Arten der kognitiven Anpassung des Menschen an die Umwelt (Abschn.​ 2.​3). Assimilation bedeutet demzufolge das Zuordnen einer Wahrnehmung zu einem vorhandenen Wahrnehmungsschema (z. B. einer Vorstellung). Bei einer Assimilation wird die Wahrnehmung im Rahmen der vorhandenen Vorstellungen interpretiert und als prinzipiell bekannt eingestuft; das Wahrnehmungsschema hat sich nur leicht verändert, im Wesentlichen durch weitere Erfahrungsbeispiele verbreitert. Akkommodation bedeutet dagegen die Anpassung der inneren Gedankenwelt durch Modifizierung des bestehenden Wahrnehmungsschemas oder durch Schaffung eines neuen Wahrnehmungsschemas. Fachdidaktisch gesehen führt Akkommodation zu veränderten oder neuen Vorstellungen.

Grundlegende Modelle für den Unterricht

Wie man mit Schülervorstellungen im Unterricht umgeht, d. h., welche Strategie man verfolgt, hängt stark davon ab, welchen Lernweg von Schülervorstellungen hin zu wissenschaftlichen Vorstellungen man anstrebt und für möglich hält. Das wiederum hängt stark davon ab, welche Theorie der Begriffsentwicklung man im Blick hat (Abschn.​ 2.​4).

Es gibt zwei grundlegend verschiedene Modelle des Umgangs mit Schülervorstellungen.1 Möchte man ein schlagartiges Umdenken, einen diskontinuierlichen Lernweg entsprechend der Akkommodation bewirken, versucht man bei den Schülerinnen und Schülern einen kognitiven Konflikt zu erzeugen und diesen dann durch einen Konzeptwechsel aufzulösen. Dazu sollen die Schülerinnen und Schüler z. B. in Experimenten eine Diskrepanz zwischen ihren Vorhersagen aufgrund ihrer Schülervorstellungen und dem tatsächlichen Ergebnis erkennen. Dieser Lernweg erinnert an Revolutionen in der Wissenschaftsgeschichte, bei denen es auch zu einem schnellen Umdenken, einem sogenannten Paradigmenwechsel kam.2 Möchte man dagegen die physikalischen Konzepte allmählich entwickeln, versucht man an bestehende, ausbaufähige Schülervorstellungen anzuknüpfen, diese neu abzugrenzen und von da aus Schritt für Schritt zu den gewünschten Vorstellungen zu führen. Dies wäre ein kontinuierlicher, bruchloser Lernweg, der an Phasen der Evolution in der Wissenschaftsgeschichte erinnert.

Hinsichtlich der Parallelen zur Begriffsentwicklung in der Wissenschaft Physik kann man sich auf den Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn beziehen.3 Nach Kuhn gibt es in der Wissenschaft sehr stabile, normale Phasen des Wissenschaftsbetriebs (Evolution) und revolutionäre Phasen, die durch wissenschaftsinterne Krisen ausgelöst werden. In revolutionären Phasen werden veraltete Paradigmen durch neue Sichtweisen abgelöst, sodass der wissenschaftliche Fortschritt diskontinuierlich als Paradigmenwechsel verläuft. Diese Paradigmenwechsel haben auch nichtrationale und sozio-psychologische Beweggründe.

Beiden Ideen von Lernwegen liegt eine gemäßigt konstruktivistische Auffassung vom Lernen zugrunde, d. h. die Vorstellung, dass Lernen und allgemein menschliche Erkenntnis nur auf der Basis des vorhandenen Vorwissens möglich ist. Lernen ist dabei ein aktiver Prozess der Schülerinnen und Schüler, die ihr Wissen selbst konstruieren müssen, d. h., es selbst entweder aufbauen oder umbauen müssen. Unter dem Begriff „Konzeptwechsel“ („Conceptual Change“, Abschn.​ 2.​4) wurde anfangs nur der radikale Wechsel der Sichtweise verstanden, also nur der diskontinuierliche Weg. Für den kontinuierlichen Lernweg erfand man deshalb den Begriff conceptual growth (Konzeptentwicklung). Heute sehen wir beide Lernwege als einen Konzeptwechsel an.

Welche Lernwege man für einen Unterrichtsgang plant, hängt auch von weiteren Zielsetzungen ab. Möchte man wissenschaftstheoretische Aspekte im Physikunterricht ansprechen und exemplarisch bewusst machen (Kap.​ 13) oder metakognitive Betrachtungen anstellen, d. h., den Weg des eigenen Wissenserwerbs explizit mit den Schülerinnen und Schülern thematisieren, eignen sich kognitive Konflikte. Hält man das kognitiv für die Schülerinnen und Schüler für zu anspruchsvoll, wählt man eher einen kontinuierlichen Weg, vorausgesetzt es finden sich genügend Anknüpfungspunkte an entwicklungsfähige vorhandene Schülervorstellungen.

3.2 Konfliktstrategien für diskontinuierliche Lernwege

3.2.1 Kognitive Konflikte

Nach Vosniadou (1994) entwickelt sich schon in früher Kindheit eine kleine Zahl stabiler Strukturen im Denken (Abschn.​ 2.​4.​2). Schülervorstellungen sind nach dieser Sicht sinnstiftend miteinander vernetzt, so wie auch eine physikalische Theorie durch ein Netz von Begriffen, Regeln und Vorstellungen beschrieben werden kann. Deshalb sind beim Lernen oft nicht nur eine Vorstellung, sondern ein ganzes Netz und eine ganze Sichtweise zu ändern, was viel schwieriger ist, als eine einzelne, isolierte Vorstellung zu verändern. Folglich sind Schülervorstellungen nach dieser Theorie außerordentlich stabil und dauerhaft. Man darf deshalb im Unterricht nicht an einzelnen Wissenselementen ansetzen, sondern muss bei den grundlegenden Annahmen beginnen. Dieser Begriffswechsel ist schwierig, langwierig und am besten durch radikales Umdenken zu erreichen.

Um diesen Wechsel in der Vorstellung der Schülerinnen und Schüler zu erreichen, setzt man auf kognitive Konflikte und beginnt ein Thema mit Aspekten, die konträr zu den Schülervorstellungen stehen. Im Unterrichtsverlauf werden z. B. Schülervorstellungen und physikalische Vorstellungen oder verschiedene Schülervorstellungen gegeneinandergestellt oder es werden Voraussagen der Schülerinnen und Schüler zu einem Experiment mit dem tatsächlichen Ausgang konfrontiert. Das Ziel ist in jedem Falle, bei den Schülerinnen und Schülern eine Unzufriedenheit mit vorhandenem Wissen zu erzeugen sowie den Wunsch nach einem korrekten Konzept zu wecken. Damit dieser Konzeptwechsel gelingt, müssen nach Posner und Strike4 die vier Bedingungen erfüllt sein, die in Abschn.​ 2.​4.​1 beschrieben sind: Unzufriedenheit mit dem bisherigen Konzept, beginnendes Verstehen des neuen Konzepts, das einleuchtend und vielversprechend erscheinen muss.

Vorhersagen bei Experimenten

Vorhersagen der Schülerinnen und Schüler spielen bei dieser Strategie eine wichtige Rolle; Lernende sollen bei einem Experiment eine deutliche Diskrepanz zwischen ihren Vorhersagen aufgrund ihrer Vorstellungen und dem tatsächlich eingetretenen Ergebnis bzw. Ablauf sehen. Die Konfrontation mit einem anders verlaufenden Experiment soll bei den Schülerinnen und Schülern den Wunsch nach einem korrekten Konzept wecken, indem sie erkennen, dass ihre Vorstellungen im Beispiel keine korrekte Vorhersage ermöglichen. Die Lehrkraft versucht dann, diesen Konflikt aufzulösen.

Dafür muss vor der Durchführung des Experiments klar herausgearbeitet werden, was die Schülerinnen und Schüler denken; sie müssen zu klaren Vorhersagen aufgefordert werden. Damit sie nach dem Experiment ihre Vorhersagen nicht verdrängen oder abstreiten können, ist es sinnvoll, diese schriftlich festzuhalten. Durch die Vorhersagen bzw. Vermutungen können sich die Lernenden ihrer eigenen Ideen und Vorstellungen bewusst werden, auch indem sie alternative Deutungen ihrer Mitschüler hören. Bei dem anschließenden Ablauf eines Experiments werden die Schülerinnen und Schüler ihre Aufmerksamkeit besonders auf die Dinge richten, die unterschiedlich vorhergesagt wurden. Dabei ist zu bedenken, dass Schülerinnen und Schüler einen kognitiven Konflikt auch als solchen persönlich wahrnehmen müssen. Das rein sachliche Vorliegen von Diskrepanzen zwischen Vorhersage und Ausgang des Experiments reicht nicht aus. Ein Lernender muss diese Diskrepanz auch als bedeutsam und lösungsbedürftig empfinden, um sich damit kognitiv auseinanderzusetzen. Die Chance dafür ist umso größer, je klarer die Erwartungen herausgestellt und begründet werden. Nur dann wird ein abweichendes Ergebnis „überraschend“, „merkwürdig“, „irgendwie komisch“ und damit erklärungsbedürftig.

Diskrepanzen zwischen Vorhersagen und Abläufen sollen ein Nachdenken anregen. Dazu ist es nötig, dass die Lehrperson vor dem Experiment nicht sagt, ob eine Vorhersage richtig oder falsch ist, auch nicht indirekt durch Bemerkungen wie „Bist du dir da sicher?“ oder „Denk doch noch mal genau darüber nach!“ Die Vorhersagen bzw. Vermutungen sollten vor dem Ablauf des Experiments weder bewertet noch hinterfragt werden, sondern von der Lehrkraft sollten nur verschiedene Vorhersagen gesammelt, vergleichend nebeneinandergestellt und die Unterschiede zwischen verschiedenen Vorhersagen aufgezeigt werden. Dazu muss die Lehrperson eine Atmosphäre schaffen, in der sich die Schülerinnen und Schüler trauen, das zu sagen, was sie denken – ohne Angst haben zu müssen, ausgelacht zu werden. Die Vorhersagen dürfen deshalb auch nicht benotet werden. Nur wenn die Schülerinnen und Schüler eine Lernsituation wahrnehmen, die klar von einer Leistungssituation getrennt ist, werden sie ihre tatsächlichen Überlegungen auch äußern.

Im Folgenden werden einige ausgewählte Experimente vorgestellt, bei denen zu erwarten ist, dass Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer Vorstellungen falsche Vorhersagen machen und so ein kognitiver Konflikt auftritt.

Beispiele aus der Optik

Da Schülerinnen und Schüler in der Regel denken, ein Spiegel vertausche rechts und links (Abschn.​ 5.​2.​4), werden sie gefragt, wie das Spiegelbild eines asymmetrischen Buchstabens – z. B. ein F – aussieht, wenn man ihn aus Pappe parallel zum Spiegel vor den Spiegel hält. Viele Schülerinnen und Schüler sagen vorher, im Spiegel sei ein spiegelverkehrtes F zu sehen. Das Spiegelbild-F zeigt hier aber nach der gleichen Richtung wie das reale F, allerdings ist die Rückseite zu sehen, die man in einer anderen Farbe gestalten sollte (Abb. 3.1).
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Abb. 3.1

Ein F aus Pappe vor einem Spiegel zur Erzeugung eines kognitiven Konflikts.

Erzeugt man mithilfe eines Bildbearbeitungsprogramms ein scheinbares Foto mit einem Gegenstand vor dem Spiegel, das den Erwartungen durch die Schülervorstellung entspricht (Abb. 3.2), löst auch dieses bei einigen – nicht bei allen – einen kognitiven Konflikt aus: Sie wissen, dass es so nicht sein kann.
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Abb. 3.2

Fotomontage eines Autos vor einem Spiegel zur Erzeugung eines kognitiven Konflikts.

Viele Schülerinnen und Schüler meinen, bei einer Abbildung mit einer Linse wandere das Bild vom Gegenstand als Ganzes durch die Linse zum Schirm (Abschn.​ 5.​2.​4). So werden manche vorhersagen, dass das Bild nur noch halb zu sehen ist, wenn man die Linse halb abdeckt. Tatsächlich sieht man im Experiment ein komplettes Bild des Gegenstands; es wird nur lichtschwächer.

Beispiele aus der Elektrizitätslehre

Sehr verbreitet ist die Schülervorstellung vom ‚Stromverbrauch‘, nach der der Strom in der Batterie gespeichert ist, zur Lampe fließt und dort zumindest teilweise verbraucht wird (Abschn.​ 6.​2.​3). Bei einer Reihenschaltung von Lampen wird deshalb beim Experiment falsch vorhergesagt, dass vor jeder Lampe die Stromstärke größer ist als nach der Lampe. Hat man vor und hinter einer Lampe einen Widerstand, wird von einigen Schülern unzutreffend vermutet, dass sich nur die Änderung des Widerstands vor dem Lämpchen auf dessen Helligkeit auswirkt.

Falsche qualitative Vorhersagen der Stromstärken kann man auch erhalten, wenn man in einer Parallelschaltung von zwei Widerständen einen Widerstand verändert (Abb. 3.3). Viele Schülerinnen und Schüler gehen davon aus, dass sich die Gesamtstromstärke nicht ändert. Hintergrund ist die Vorstellung, dass eine Quelle je nach ihrer ‚Stärke‘ immer eine konstante Stromstärke liefert, unabhängig von den jeweils angeschlossenen Widerständen.
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Abb. 3.3

Bei einer Änderung des Widerstands R 1 machen Lernende falsche Vorhersagen der Stromstärken I ges und I 2.

Computergestützte Veranschaulichung für Vorhersagen

Für Vergleiche zwischen Vorhersage und Versuchsausgang eignen sich, wie die bisherigen Beispiele zeigen, qualitative und halb-quantitative Versuche sehr gut. Bei Freihandversuchen fragt man einfach nach dem erwarteten Effekt bzw. Ablauf: Was passiert? Was wird zu sehen sein?

Aber auch quantitative Vorhersagen und Verläufe einer Messgröße können Ausgangspunkte für Konzeptwechsel sein. Beispiele sind Vorhersagen der Form eines Graphen, der Vorzeichen bzw. der Richtungen einer Größe oder auch der Größenordnung einer Größe. Bei Realexperimenten ist eine Messwerterfassung mit dem PC hilfreich, damit nach Abschluss der Vorhersagen schnell ein Ergebnis präsentiert werden kann. Müssen Messwerte erst „per Hand“ erhoben und ausgewertet werden, um einen Graphen zu erhalten, vergeht zu viel Zeit zwischen Vorhersage und Präsentation des Ergebnisses.

Weitere Möglichkeiten für Vorhersagen ergeben sich, wenn physikalische Größen bei Messungen am Computer unmittelbar ikonisch dargestellt werden, etwa mit Flächen oder Pfeilen.5 Bei der Nutzung ikonischer Repräsentationen kann über die Form eines Graphen hinaus für jede Phase des Ablaufs nach der Form und Lage der Repräsentation jeder einzelnen Größe und eventuell ihrer Änderung gefragt werden. Beispielsweise kann man Richtung, Länge und Änderungsverhalten des Geschwindigkeitspfeils, des Beschleunigungspfeils oder verschiedener Kraftpfeile vorhersagen lassen, z. B. „Wie sieht der Beschleunigungspfeil bei einem Fadenpendel aus, das gerade seinen tiefsten Punkt durchläuft?“ Schülerinnen und Schüler neigen dazu, einen Pfeil in oder gegen die Richtung der Momentangeschwindigkeit vorherzusagen, weil sie Beschleunigung nicht mit einer reinen Richtungsänderung in Verbindung bringen (Abschn.​ 4.​2). Tatsächlich jedoch zeigt der Beschleunigungspfeil in diesem Augenblick zum Aufhängepunkt des Pendels. Vorher und nachher zeigt er schräg zur Bewegungsrichtung, da er einen Tangential- und einen Radialanteil hat.

Von Vorteil beim Einsatz des Computers ist, dass die Lehrkraft die Prognosen der Lernenden nicht beurteilen muss. Die Schülerinnen und Schüler sehen es selbst am Computer, wenn der Ablauf nicht ihren Vorhersagen entspricht. Da sie quasi von einer dritten Instanz von ihrem „Fehler“ erfahren, wird das Schüler-Lehrer-Verhältnis dadurch nicht belastet.

Beispiele für Computereinsatz bei Versuchsvorhersagen

Viele Schülerinnen und Schüler bringen die Beschleunigung nur mit einer Änderung des Tempos (= Geschwindigkeitsbetrags) in Verbindung. Für sie bedeutet eine positive Beschleunigung ein Schnellerwerden und eine negative Beschleunigung ein Langsamerwerden, was physikalisch falsch ist. Weil Schülerinnen und Schüler Geschwindigkeitsänderung als eine Differenz in einem Zeitintervall sehen und das für sie der wesentliche Aspekt der Beschleunigung ist, kann sich die Beschleunigung eines Körpers ihrer Meinung nach auch nur auf ein Zeitintervall beziehen. Demnach sei es nicht möglich, einem Zeitpunkt eine Beschleunigung zuzuordnen (Abschn.​ 4.​2), was insbesondere bei den Umkehrpunkten zu falschen Vorhersagen führt. Für kognitive Konflikte eignen sich deshalb insbesondere Bewegungen mit Richtungsumkehr. Denkbar ist hier der höchste Punkt beim senkrechten Wurf nach oben, der tiefste Punkt beim Trampolinspringen6 oder die Umkehrpunkte bei einer Schwingung. Messbar ist das mit einem computerbasierten Messwerterfassungssystem mithilfe von Sensoren (Ultraschallsensor, Messlaufrad, Lasersensor, Beschleunigungssensor) oder mit einem Videoanalyseprogramm, d. h. einem Programm zur Analyse von Bewegungsvideos. Die Messwerte können mit Pfeilen oder in einem Diagramm dargestellt werden.

Abb. 3.4 zeigt ein Serienbild eines fallenden Flummis aus einem Videoanalyseprogramm. Man sieht, dass die Beschleunigung (blau) bis auf den Bodenkontakt (Teilbild 4) konstant ist. Die Abwärtsfallbewegung (Teilbild 1 bis 3) ist noch einfach vorherzusagen. Schwerer fällt es Schülerinnen und Schülern, bei der Aufwärtsbewegung (Teilbild 5 und 6) die Beschleunigung gegen die Bewegungsrichtung vorherzusagen. Einen besonders starken kognitiven Konflikt durch einen erwartungswidrigen Ausgang kann die Vorhersage für den oberen Umkehrpunkt auslösen (Teilbild 7), bei dem die Geschwindigkeit (grün) null ist. Gemäß einer typischen Schülervorstellung kann für diesen Zeitpunkt keine Beschleunigung angegeben werden oder die Beschleunigung müsste hier wie die Geschwindigkeit null sein.
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Abb. 3.4

Geschwindigkeit (grün) und Beschleunigung (blau) bei einem fallenden und wieder hochspringenden Flummi.

Auch zur Form eines Orts-, Geschwindigkeits- oder Beschleunigungsgraphen kann eine Vorhersage erfragt werden, was vor allem bei Bewegungen mit veränderlichen Kräften interessant ist. Abb. 3.5 zeigt ein Orts-, Geschwindigkeits- und Beschleunigungsdiagramm eines schwingenden Federpendels (gemessen mit einem Messlaufrad). Auch hier gibt es Zeitpunkte (0,84 s; 1,65 s), an denen die Geschwindigkeit (grün) null ist, aber nicht die Beschleunigung (blau). Besonders lohnend kann es sein, die Vorzeichen der Beschleunigung vorhersagen zu lassen. Einfach ist dies bei den Phasen 1 und 2, bei denen zunächst ein Schnellerwerden zu einer positiven Beschleunigung gehört und ein Langsamerwerden zu einer negativen Beschleunigung. In der Phase 3 wird der Pendelkörper aber wieder (in negative Richtung) schneller, obwohl eine negative Beschleunigung vorliegt, während in Phase 4 beim Langsamerwerden (noch in negative Richtung) eine positive Beschleunigung auftritt.
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Abb. 3.5

Messung von Ort (rot), Geschwindigkeit (grün) und Beschleunigung (blau) bei einem schwingenden Federpendel zur Erzeugung kognitiver Konflikte.

Ablauf beim Experimentieren mit Vorhersagen

Bei der unterrichtlichen Behandlung eines Experiments mit Vorhersagen kann man sich an folgenden Schritten orientieren:
  1. 1.

    Die Lehrkraft zeigt die Versuchsanordnung und beschreibt, was beim Versuch gemacht wird.

     
  2. 2.

    Die Schülerinnen und Schüler machen (eventuell schriftlich auf einem vorbereiteten Antwortbogen) Vorhersagen zum Ausgang oder bezogen auf einzelne charakteristische Versuchsphasen. Eine kurze Partnerarbeitsphase kann sinnvoll sein, um Diskussionen zwischen den Lernenden anzuregen.

     
  3. 3.

    Die Lehrkraft sammelt die Vorhersagen und stellt sie vergleichend nebeneinander. Sie bittet gegebenenfalls um Begründungen, wertet diese aber ebenso wenig wie die Prognosen selbst.

     
  4. 4.

    Die Lehrkraft führt das Experiment durch (mit oder ohne Computerunterstützung).

     
  5. 5.

    Die Schülerinnen und Schüler vergleichen das Ergebnis mit ihren Vorhersagen. Beim Computereinsatz kann das oftmals bereits parallel zur Versuchsdurchführung erfolgen.

     
  6. 6.

    Einzelne Schülerinnen oder Schüler beschreiben den Versuchsverlauf und den Unterschied zu ihrer Vorhersage.

     
  7. 7.

    Im Klassengespräch wird eine Erklärung für den Versuchsverlauf und die unzutreffenden Vorhersagen gesucht. Dabei werden auch unterschiedliche Erklärungen gefunden und gegeneinander abgewogen.

     

Diese Schritte werden gegebenenfalls mehrfach durchlaufen, wobei unterschiedliche Vorhersagen gefordert werden, z. B. zu verschiedenen Phasen des Ablaufs. Bei einem Computereinsatz können beim gleichen Ablauf auch Vorhersagen zu verschiedenen Repräsentationen der gleichen Größe eingefordert werden, z. B. zur Darstellung durch ikonische Repräsentationen und durch Graphen.

3.2.2 Mögliche Probleme des Vorgehens

Das beschriebene Vorgehen hat zwei potenzielle Probleme. Zum einen besteht bei der Aufforderung zu Vorhersagen, bei denen man erwartet, dass Schülervorstellungen zu falschen Prognosen führen, die Gefahr, dass Lernende dazu verleitet werden, vorhandene Vorstellungen zu aktivieren, die sonst vielleicht gar nicht im Unterricht zum Tragen gekommen wären. Die Lehrkraft muss abwägen, ob die Schülervorstellungen so stark und so verbreitet in der Lerngruppe vorhanden sind, dass sie ohnehin beim Nachdenken über die experimentelle Fragestellung aktiviert werden, auch ohne sie explizit zu äußern. Bei den oben genannten Beispielen liegt dies nach Ergebnissen der physikdidaktischen Forschung nahe. Zum anderen können falsche Vorhersagen in Erinnerung bleiben, obwohl im Unterricht die korrekte Lösung erarbeitet wurde. Hier ist es z. B. wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler – unterstützt durch entsprechende Tafelanschriebe – in ihren Hefteinträgen Vermutungen vor einem Experiment stets deutlich als solche kennzeichnen und vom tatsächlichen Ergebnis abgrenzen.

Fraglich ist bei diesem Vorgehen zudem immer, ob die Schülerinnen und Schüler auch wirklich den Unterschied zwischen dem Ausgang des Experiments und ihren Vorhersagen erkennen oder ob sie ihre Vorstellungen in das Experiment „hineinsehen“. Aus der Literatur sind Fälle bekannt, in denen Schülerinnen und Schüler behaupten, bei einem Experiment das beobachtet zu haben, was sie erwarteten, obwohl dies gar nicht der Fall war.7 Dies kann z. B. auftreten, wenn Schülerinnen und Schüler erwarten, ein eingespannter Widerstandsdraht beginne auf der Seite zuerst zu glühen, „wo der Strom zuerst ankommt“, oder in der Mitte, „wo die Ströme von den Polen aufeinanderprallen“ (statt überall gleichzeitig)8. Deshalb ist die genaue Darstellung des Versuchsablaufs entscheidend und das Ergebnis sollte möglichst eindeutig sein. Hierfür sind Messwerte oder ikonische Darstellungen physikalischer Größen geeigneter als die direkte Beobachtung eines Experiments.

Wenn die Schülerinnen und Schüler sehen, dass der Versuchsausgang ihren Vorstellungen widerspricht, lösen sie die Diskrepanz oftmals durch Ad-hoc-Annahmen auf. Das bedeutet, sie finden eine Erklärung, warum in diesem speziellen Fall ihre Vorhersage falsch war, obwohl ihre Vorstellung richtig ist. Somit sehen sie keinen Widerspruch zu ihren Vorstellungen. Selbst bei Erkennen einer Diskrepanz ändern Schülerinnen und Schüler deshalb noch nicht zwangsläufig ihre Sichtweise.9 Dieses Verhalten, von den vorhandenen Ansichten und Bewertungen nicht vorschnell abzuweichen, ist im Alltag häufig angemessen (und auch in der Forschung rational). Deshalb reicht es nicht, nur einen Ablauf zu betrachten, sondern es müssen mehrere, durchaus unterschiedliche Abläufe betrachtet und analysiert werden, die das gleiche physikalische Konzept verdeutlichen und bei denen immer wieder die Schülervorstellungen infrage gestellt werden. Entscheidet man sich für ein solches Vorgehen, ist zu bedenken, dass die Verunsicherung der Schülerinnen und Schüler, die anschließende Diskussion der Schülervorstellungen sowie deren Kontrastierung mit der physikalischen Vorstellung viel Unterrichtszeit in Anspruch nehmen. Das empfiehlt sich dann, wenn Schülervorstellungen aus der Forschung und Unterrichtspraxis gut bekannt sind und sie zentrale physikalische Konzepte betreffen.

Problematisch ist es hingegen, wenn Lernende in Bereichen, in denen sie kaum Vorstellungen haben, aufgefordert werden, ihre Vorstellungen ausführlich explizit zu formulieren und damit erst einmal eine neue Theorie konstruieren. Während sie vorher nur eine Präferenz für die Einordnung des Phänomens haben, werden so explizit formulierbare Fehlvorstellungen erzeugt. Wiesner stellte das z. B. im Optikunterricht fest. Wenn die Schülerinnen und Schüler ihre Vorstellungen im Verlauf der Diskussion erst einmal zu einer gewissen Reife gebracht haben, ist eine Widerlegung der unerwünschten bzw. die Akzeptanz der physikalischen Vorstellungen schon aus Zeitgründen erheblich erschwert.10 Daraus folgt, dass die Methode des Hervorlockens von Schülervorstellungen am Anfang einer Unterrichtseinheit nicht in allen Gebieten der Schulphysik sinnvoll ist.11

Es gibt nicht zu allen Schülervorstellungen geeignete Experimente, mit denen man kognitive Konflikte erzeugen kann. Die Experimente müssen ja so beschaffen sein, dass die Schülerinnen und Schüler wahrscheinlich falsche Vorhersagen machen, aber danach gut erkennen, dass das Experiment anders abläuft. In einigen Gebieten kann man auf Gedankenexperimente oder auf Simulationen zurückgreifen, etwa zur Elektronenlokalisation beim Doppelspaltexperiment (Abschn.​ 10.​3).

Zusätzlich zu den erwähnten Problemen gibt es die emotional begründete Schwierigkeit, dass sich viele Schülerinnen und Schüler nur ungern auf kognitive Konflikte einlassen. Dreyfus berichtet aus einem solchen Unterricht, dass leistungsstarke, erfolgreiche Schülerinnen und Schüler enthusiastisch auf kognitive Konflikte reagierten und ihnen der verblüffende Effekt der Methode und die Konfrontation mit neuen Problemen gefiel. Leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler, die den Konflikt nicht auflösen konnten, entwickelten dagegen negative Selbstbilder, negative Einstellungen zur Schule und zu schulischen Aufgaben und einen hohen Grad an Angst.12

3.3 Aufbaustrategien für einen kontinuierlichen Lernweg

3.3.1 Die Idee des Aufbaus

Begründung der Aufbaustrategie

Viele Studien zeigen, dass Schülervorstellungen nicht durchgängig konsistent und nicht so stabil sind, wie man das von einer vernetzten Theorie erwarten würde. Sie sind stattdessen vielfältig, widersprüchlich und kontextabhängig (Abschn.​ 2.​4.​2). Ein Lernender verfügt oft über mehrere unterschiedliche Vorstellungen gleichzeitig. Mandl spricht hier von Wissenskompartmentalisation (Mandl, Gruber & Renkl, 1993a,b) und Hartmann (2004) von Erklärungsvielfalt. In schriftlichen und mündlichen Äußerungen zeigen sich Widersprüche, Sprünge und Wechsel in der Argumentation. Wird die Problemstellung geringfügig geändert, ergeben sich deutliche Änderungen in der Art der geäußerten Schülervorstellungen. DiSessa (1993) meint entsprechend, Schülerinnen und Schüler hätten viele diskrete, fragmentierte Wissenselemente sowie einfache Schlussregeln, die er „p-prims“ („phenomenological primitives“) nennt, und diese würden je nach Situation unterschiedlich stark aktiviert (Abschn.​ 2.​4.​3). Diese Vorstellungen sind bei Novizen also nicht in eine theorieähnliche Struktur eingebettet, sondern weitgehend isolierte Elemente. Sie werden abhängig von den speziellen Situationen und konkreten Formulierungen einer Aufgabenstellung mit unterschiedlicher Priorität aktiviert. Lernen heißt demnach, das richtige p-prim zu aktivieren und es dann richtig anzuwenden.

Werden in der Lernsituation von den Lernenden für die Konstruktion der physikalischen Begriffe ungeeignete Wissenselemente aktiviert, treten Lernschwierigkeiten auf. Die Fachdidaktik muss daher geeignete Lernaufgaben und Experimente bereitstellen, in denen anknüpfungsfähiges Vorwissen aktiviert wird. Lerneffektive Lehrgänge müssen so konstruiert werden, dass das Auftreten von Lernschwierigkeiten durch das Aktivieren ungeeigneter Vorstellungen möglichst vermieden wird, aber gleichzeitig für die Begriffsentwicklung geeignete Vorstellungen aktiviert werden. Die Designvorschrift für den Unterricht muss damit lauten: Finde die Schlüsselreize, die aus diesem Pool die für die begriffliche Entwicklung besonders geeigneten, anknüpfungsfähigen p-prims aktivieren.13

Ein solcher Unterricht bedarf einer durchdachten Führung durch die Lehrkraft. Eine überwiegend auf eigenständigem Entdecken von Zusammenhängen durch die Schülerinnen und Schüler ausgerichtete Unterrichtsgestaltung („inquiry-based“) hat sich weder fächerübergreifend14 noch in den Naturwissenschaften15 als besonders effektiv erwiesen. In einer offenen Lernumgebung mit Schwerpunkt auf selbstentdeckendem Lernen sind insbesondere leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler oftmals kognitiv überfordert. Physikalische Grundideen sollten deshalb vorwiegend angeleitet durch direkte Lehrer-Instruktion eingeführt werden. Anwendungen sollten dagegen problemorientiert, offen und schülerzentriert durchgeführt werden. Hier haben die Lernenden mit dem zuvor durch die Lehrkraft vermittelten Vorwissen eine Chance, die physikalischen Sachverhalte eigenständig zu durchdenken und zu sinnvollen Ergebnissen zu kommen.

Die didaktische Aufgabe besteht demnach darin, ein Lernangebot sowie Experimente zu entwickeln, mit denen durch geeignete Schlüsselreize anknüpfungsfähige vorunterrichtliche Vorstellungen aktiviert werden. Man sucht nach Angeboten, die geeignete Rahmenvorstellungen aktivieren und mit deren Hilfe neue Begriffe oder Zusammenhänge entwickelt werden.

Varianten von Aufbaustrategien

Man kann drei Varianten von Aufbaustrategien unterscheiden, die in der Praxis aber ineinander übergehen: Umgehen, Anknüpfen und Umdeuten. Bei der ersten Variante des Umgehens versucht man den Unterricht inhaltlich so aufzubauen, dass bekannte, fachlich falsche Schülervorstellungen gar nicht erst aktiviert werden; sie sollen vielmehr bewusst umgangen werden. Am Beginn einer neuen Unterrichtsthematik wird dabei nicht auf die vorhandenen Vorstellungen eingegangen, sondern zügig das physikalische Konzept vorgestellt – auch auf die Gefahr hin, dass die Schülervorstellungen unverändert bestehen bleiben und die physikalische Darstellung zunächst einen isolierten Wissensbereich bildet. Um ein unbewusstes und unverbundenes Nebeneinander von physikalischer Sicht und Alltagssicht zu verhindern, muss im Nachhinein, wenn eine gewisse Sicherheit in der Anwendung der physikalischen Konzepte erreicht ist, ein Vergleich stattfinden. Ein Beispiel ist die holistische Vorstellung, bei einer Linse löse sich ein Bild vom Gegenstand ab (Abschn.​ 5.​2.​4) und wandere als Ganzes durch die Linse; diese Vorstellung wird beim Sender-Strahlungs-Empfänger-Konzept bewusst umgangen (Abschn. 3.3.2). Dieses Vorgehen bietet sich insbesondere in Themenbereichen an, in denen wenige Vorstellungen vorhanden sind, wie in der Wärmelehre (Abschn.​ 7.​3).

Die zweite Variante besteht im Anknüpfen an ausbaufähige Vorstellungen zu bestimmten Begriffen, um diese zu physikalisch korrekten Vorstellungen weiterzuentwickeln. Ausgangspunkt sind Erfahrungen, deren Alltagsverständnis möglichst wenig mit der physikalischen Sicht kollidiert. Diese Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler werden weiterentwickelt und geändert, ohne den Schülerinnen und Schülern zu schnell physikalisches Wissen überzustülpen und zu schnell Fachtermini zu verwenden. Die Schwierigkeit dabei ist, Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler zu finden, die dafür geeignet sind. Ein Beispiel ist die Vorstellung, die Geschwindigkeit eines Körpers werde durch die einwirkende Kraft bestimmt (Abschn. 3.3.2).

Eine dritte Variante ist die des Umdeutens. Hierbei sagt man den Schülerinnen und Schülern bewusst nicht, dass ihre Vorstellungen aus der Sicht der Physik falsch sind, sondern betont, dass sie im Prinzip etwas Richtiges denken, aber die Physik dafür andere Begriffe benutzt. Ein Vorteil dieses Umdeutens liegt sicherlich auf der emotionalen Ebene, da dies ermutigend statt entmutigend wirkt.

Beispielsweise denken Schülerinnen und Schüler in der Elektrizitätslehre häufig, dass in der Batterie „Strom gespeichert“ ist und im Lämpchen „Strom verbraucht“ wird. Der Lehrer bemüht sich nun um eine Umdeutung, indem er betont, dass in der Batterie „chemische Energie gespeichert“ ist, die in „elektrische Energie umgewandelt“ wird. In dem Lämpchen wird die elektrische Energie in Licht und Wärme umgewandelt, also quasi „verbraucht“. In der Mechanik kann gesagt werden, dass das, was Schülerinnen und Schüler mit „Geschwindigkeit“ bezeichnen, in der Physik mit „Schnelligkeit“ oder „Tempo“ oder „Geschwindigkeitsbetrag“ bezeichnet wird, während der physikalische Begriff „Geschwindigkeit“ eine Richtung bzw. ein Vorzeichen hat. Man kann auch vermitteln, dass die „Kraft in Richtung der Bewegung“ in der Physik „Impuls“ heißt. Bei der Behandlung des dritten Newton’schen Gesetzes glauben Schülerinnen und Schüler bei Stößen unterschiedlich schwerer Körper, dass der schwerere eine größere Kraft auf den leichteren ausübt als umgekehrt. Hier wird den Schülerinnen und Schülern mitgeteilt, dass hinter ihrer Auffassung eine richtige Erkenntnis steht: Die beobachtbaren Wirkungen, nämlich die Beschleunigungen, sind betragsmäßig unterschiedlich, die Beträge der Kräfte allerdings nicht.

Nutzung von Analogien

Gerne werden bei Aufbaustrategien Analogien benutzt. Dahinter steht die Idee, dass den Schülerinnen und Schülern ein Analogbereich (d. h. ein Bereich, von dem ausgegangen wird) vertraut ist und sie dort fachlich korrekte Vorstellungen haben. Sie werden dann ermuntert, diese Erkenntnisse auf einen anderen Bereich zu übertragen. Beispielsweise werden beim Elektronengasmodell16 das elektrische Potenzial mit dem Luftdruck und die Spannung mit Druckdifferenzen verglichen. In Experimenten (Abb. 3.6) kann man feststellen, dass Luft immer von Bereichen hohen Drucks zu Bereichen niedrigeren Drucks strömt. Damit wird an korrekte Vorstellungen angeknüpft und eine Vorstellung von Potenzial und Spannung aufgebaut.
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Abb. 3.6

Experiment im Rahmen einer Aufbaustrategie mit einer Analogie: Luft strömt von einem Bereich höheren Drucks im Luftballon zu einem Bereich niedrigeren Drucks17.

Nicht hilfreich ist eine Analogie, wenn die Schülerinnen und Schüler im Analogbereich schon unwissenschaftliche Vorstellungen haben, z. B. zum Wasserdruck und der Wasserströmung in ebenen geschlossenen Wasserkreisläufen18. Außerdem nützt eine Analogie nichts, wenn die Schülerinnen und Schüler sie nicht akzeptieren, da sie sich eher an Äußerlichkeiten der Analogie (Oberflächenstruktur) als an physikalischen Gesetzmäßigkeiten (Tiefenstruktur) orientieren. Zudem stimmen die beiden zu vergleichenden Bereiche nie vollständig überein.

Eine spezielle Aufbaustrategie stellt die Verwendung von Analogien in einer Art Überbrückungsstrategie dar.19 Ausgangspunkt ist eine von den Lernenden physikalisch richtig gesehenen Situation, genannt Ankersituation. Darauf bezogen wird versucht, eine Analogie zu einer noch falsch verstandenen Situation, genannt Zielsituation, herzustellen, indem man eine weitere Situation, die Überbrückungssituation, zwischenschaltet. Ein Beispiel: Bei der Zielsituation „Ein Buch liegt auf dem Tisch“ sehen die Schülerinnen und Schüler nicht die Kraft des Tisches auf das Buch. Hingegen erkennen sie in der Ankersituation „Ein Buch liegt auf einer Feder“ eine Kraft der Feder nach oben auf das Buch, lehnen eine Analogie zwischen den beiden Situationen anfangs jedoch ab. In ihrer Vorstellung kann ein ‚passiver‘ Tisch, „der einfach nur so dasteht“, keine ‚aktive‘ Kraft auf das Buch ausüben. Er verhindere lediglich das Herunterfallen des Buches. Als Überbrückungssituation kann ein auf einer recht biegsamen Tischplatte liegendes schweres Buch verwendet werden oder ein kleines Modell eines Tisches mit biegsamer Tischplatte, z. B. aus Federstahl. Hier sehen die Schülerinnen und Schüler sowohl eine Analogie zur Anker- als auch zur Zielsituation und dann hoffentlich auch zwischen diesen beiden. Ein zweites Beispiel: Bei der Haftreibung zwischen einer Unterlage und einem Klotz (Zielsituation) lehnen es Schülerinnen und Schüler auf Grundlage des gleichen Aktiv-Passiv-Schemas (Abschn.​ 4.​3) ab, dass die Unterlage eine gerichtete Kraft auf den Klotz ausübt. Sie sehen die Reibung nur als ungerichteten Widerstand gegen die Bewegung an. Bei der Ankersituation „Ziehen an einer Feder“ wird dagegen eine rücktreibende Kraft erkannt. Als Brücke kann die Bewegung einer Bürste auf einer anderen sein, bei der die Haare bzw. Borsten der als Unterlage dienenden Bürste die Bewegung der anderen hemmen und auf diese eine gerichtete Kraft ausüben. Allerdings gibt es nur wenige ausgearbeitete Beispiele, bei denen man zu einer Zielsituation auch noch eine passende Anker- und Überbrückungssituation findet.

3.3.2 Beispiele für Aufbaustrategien

Einige bekannte Unterrichtskonzepte, die sich in Wirkungsstudien als erfolgreich zeigten, haben Aufbaustrategien eingesetzt. In Kenntnis der Schülervorstellungen werden darin bestimmte Elemente der physikalischen Sachstruktur anders als bis dahin üblich eingeführt und erklärt.

Optik

Eine Aufbaustrategie zur Strahlenoptik legten Herdt und Wiesner vor.20 Ihr zentrales Element besteht darin, stets den Weg des Lichtes vom Gegenstand durch das optische System zum Auge zu ermitteln und so eine Sender-Strahlungs-Empfänger-Vorstellung aufzubauen („Frankfurter Optik-Konzept“). Am Anfang ist es dabei sehr wichtig, den Schülerinnen und Schülern den Sehvorgang und dazu die Streuung an Oberflächen deutlich zu machen. Bei Linsen werden auch im Experiment Lichtkegel betrachtet, die ein Gegenstandspunkt aussendet und die durch die Linse auf Bildpunkte zusammengeführt werden (Punkt-zu-Punkt-Abbildung bzw. Leuchtfleck-zu-Bildfleck-Schema). Das Sender-Strahlungs-Empfänger-Schema wird so stark betont, weil man aus der Schülervorstellungsforschung weiß, dass Schülerinnen und Schüler zu Licht eher statische Vorstellungen haben: „Licht erfüllt den Raum wie ein Lichtmeer“, „Das Vorhandensein von Licht macht Gegenstände sichtbar“ (Abschn.​ 5.​2.​1). Ohne eine physikalisch angemessene Grundvorstellung von den Lichtwegen bleiben Strahlengangskonstruktionen für Schülerinnen und Schüler formale Übungen ohne Vorstellungsgehalt.

Bei der Linse denken viele Schülerinnen und Schüler, das Bild löse sich vom Gegenstand ab und wandere als Ganzes durch die Linse. Die Unterrichtskonzeption berücksichtigt diese holistische Vorstellung mit der Punkt-zu-Punkt-Abbildung implizit, ohne sie jedoch im Unterricht explizit zu konfrontieren.

Newton’sche Dynamik

Ein Schlüsselreiz im Rahmen der Aufbaustrategie für die Newton’sche Dynamik ist der senkrechte Stoß: Eine schwere Stahl- oder Billard-Kugel kommt im Experiment von links angerollt und erhält einen kurzen Stoß senkrecht zur Bewegungsrichtung (Abb. 3.7). Schülerinnen und Schüler erwarten, dass die Geschwindigkeit nach dem Stoß in Richtung der wirkenden Kraft orientiert ist (Vorstellung: „Die Kraft bestimmt die Bewegung“). Sie vermuten sogar, dass das Tempo der Kugel proportional zur Krafteinwirkung ist. Tatsächlich rollt die Kugel aber schräg weiter (Abb. 3.7). Den Schülerinnen und Schülern wird nun aufgezeigt, dass die Anfangsgeschwindigkeit erhalten bleibt, aber in Stoßrichtung tatsächlich eine Zusatzgeschwindigkeit dazukommt, deren Tempo proportional zur Kraft ist.21 Damit kommt man den Schülerinnen und Schülern entgegen: Die Schülervorstellung, dass die (End-)Geschwindigkeit in Richtung und Betrag durch die Kraft bestimmt ist, wird so in den Zusammenhang zwischen Kraft und Zusatzgeschwindigkeit umgedeutet. Außerdem wird vermittelt, dass Kraft eine Einwirkung ist, die die Geschwindigkeit ändert.
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Abb. 3.7

Ergebnis des senkrechten Stoßes auf eine rollende Stahlkugel (dargestellt im Videoanalyseprogramm measure dynamics) zum Aufbau einer korrekten Vorstellung vom Begriff „Kraft“.

Druck

Schülerinnen und Schüler sehen Druck als gerichtete Einwirkung auf einen Körper an. Diese Vorstellung entspricht einer Kraft: Es wird auf etwas gedrückt. In der Physik ist der Druck aber eine ungerichtete Zustandsgröße. So beschreiben Schülerinnen und Schüler Druckphänomene nicht über Druckzustände, sondern über Bewegungen. Eine mögliche Aufbaustrategie besteht darin, Druck als das Gepresstsein eines Gases oder einer Flüssigkeit einzuführen, dann lange damit qualitativ zu argumentieren und erst sehr spät die Definitionsgleichung $p = F/A$ einzuführen.22 Im Vordergrund stehen damit Experimente, bei denen Druckdifferenzen auftreten (Abb. 3.8).
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Abb. 3.8

Die Luft in der mit der Hand verschlossenen und zusammengedrückten PET-Flasche ist gepresst, was erst beim Entfernen der Hand deutlich wird, weil dann die gepresste Luft den Luftballon aufbläst.

Vermieden werden Experimente, bei denen Schülerinnen und Schüler auf Bewegungen achten, wie die Spritzkugel oder das Kraft-Druck-Gerät. Es wird also an Erfahrungen mit Zusammenpressen und Gepresstsein angeknüpft und Erfahrungen mit Drücken in eine bestimmte Richtung werden möglichst nicht aktualisiert.

3.4 Thematisieren von Schülervorstellungen

Die Frage nach dem Zeitpunkt

Bei den verschiedenen Modellen des Umgangs mit Schülervorstellungen im Physikunterricht spielt die Frage eine Rolle, ob und in welcher Phase des Unterrichts man Schülervorstellungen thematisieren soll. Wenn Lernen nur auf der Basis von und in Wechselwirkung mit dem vorhandenen Wissen und den vorhandenen Vorstellungen möglich ist, dann müssen die wichtigsten Schülervorstellungen im Unterricht irgendwann thematisiert und den physikalischen Vorstellungen gegenübergestellt werden. Sonst besteht die Gefahr, dass neue Informationen so selektiert und transformiert werden, dass sie in die vorhandene kognitive Struktur eingepasst werden bzw. diese erweitern, ohne sie im Kern zu verändern.23 In welcher Unterrichtsphase die Thematisierung von Schülervorstellungen geschieht, hängt davon ab, welchen Lernweg man plant.

Wer die Schülervorstellungen für kognitive Konflikte nutzen will, muss sie am Anfang eines Lehrgangs bewusst machen, um sie dann infrage zu stellen (Abb. 3.9). Nach einem erfolgreichen Unterricht kann man dann den Schülerinnen und Schülern nochmals ihre ursprünglichen Vorstellungen, ihren Konzeptwechsel und ihren Lernfortschritt aufzeigen, wenn die aufgedeckten Vorstellungen schriftlich festgehalten wurden. Wie in Abschn. 3.3.2 dargelegt, ist es allerdings kontraproduktiv, wenn Schülerinnen und Schüler in Gebieten, in denen sie kaum Vorstellungen haben, dazu aufgefordert werden, Vorstellungen zu formulieren und damit solche erst zu schaffen, die man anschließend mit den physikalischen Vorstellungen konfrontieren muss.
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Abb. 3.9

Übersicht über den Unterrichtsablauf bei einer Strategie, die Schülervorstellungen und physikalische Vorstellungen kontrastiert24.

Bei einer Aufbaustrategie beginnt man nicht mit dem Thematisieren der Vorstellungen. Ein Ziel kann aber sein, im Unterricht ein solches Lernklima zu schaffen, dass Schülervorstellungen während der Behandlung des Lehrstoffs von selbst hervorkommen. Damit hat man als Lehrkraft die Schülervorstellungen genau an der Stelle im Unterricht, an der man sie wirklich thematisieren sollte, und auch nur solche, die potenziell stabil sind und dann Lernschwierigkeiten bewirken. Die Herausforderung besteht darin, ein Unterrichtsklima zu schaffen, in dem sich die Schüler trauen, ihre Vorstellungen zu äußern. Dabei müssen die Lernenden ihre Vorstellungen nicht selbstständig perfekt ausformulieren, sondern die Lehrkraft kann auf entsprechende Schüleräußerungen reagieren, indem sie diese zurückspiegelt: „Habe ich dich richtig verstanden, dass du meinst, Metall sei immer kälter als Holz?“ oder „Viele Schüler denken, dass die Straße keine Kraft auf das Auto ausüben kann, siehst du das auch so?“. Das bedeutet, dass die Lehrkraft die Schülervorstellung, die sie zu erkennen glaubt, formuliert und den Lernenden fragt, ob er dies so gemeint hat. Voraussetzung ist, dass die Lehrkraft typische Schülervorstellungen kennt und auf deren Auftreten in Schüleräußerungen achtet.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, erst das physikalische Konzept ohne eine Thematisierung von Schülervorstellungen vorzustellen und dieses danach mit den Schülervorstellungen zu vergleichen (Abb. 3.10). Durch diesen nachträglichen Vergleich kann einer eventuell entstandenen Kompartmentalisierung von korrektem und inkorrektem Wissen entgegengewirkt werden und ein Clusterbegriff wie „Kraft“ in verschiedene physikalische Begriffe (Kraft, Impuls, Energie etc.) differenziert werden.
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Abb. 3.10

Übersicht über den Unterrichtsablauf bei einer Aufbaustrategie25.

Voraussetzungen für das Gespräch mit den Lernenden

Zur Thematisierung der Schülervorstellungen ist das Gespräch zwischen Lernenden und Lehrenden nötig. Im Dialog, in dem die Schülervorstellungen ernst genommen und diskutiert werden, können sich die Lernenden ihrer eigenen Ideen und Vorstellungen wie auch derer ihrer Mitschüler bewusst werden. Aufgabe der Lehrkraft ist es, ein vertrautes Lehr-Lern-Klima zu schaffen, in dem die Schülerinnen und Schüler frei über ihre Vorstellungen diskutieren können.26

Das eigenständige Denken der Lernenden und damit ihre Beobachtungen, Ideen und Fragen dürfen nicht durch Nichtbeachten, sinnveränderndes Umformulieren oder Warten auf die richtige Antwort unterdrückt werden. Die Lehrkraft braucht Geduld, Verständnis und Interesse für die Ansätze der Schülerinnen und Schüler, die zu eigenem Denken ermutigt werden sollen. „Falsche“ Schülerantworten dürfen weder ignoriert noch als Ausrutscher oder Versehen abgetan werden. Auch der alleinige Hinweis, eine Aussage oder Vorhersage sei falsch, genügt hier nicht. Ebenso wenig genügt es, die physikalische Darstellung eines Sachverhalts nochmals auf gleiche Weise zu wiederholen, ohne auf das tieferliegende Verständnisproblem der Lernenden einzugehen.

Da Schülervorstellungen weit verbreitet sind und als Alltagsvorstellungen bei Menschen verschiedenen Alters zu finden sind, dürfen Physikexperten ihnen nicht mit Entsetzen – „Wie kann man nur auf eine solche Idee kommen?“ – begegnen27, sondern es ist mit Verständnis zu reagieren. Da sie einen willkommenen Gesprächsanlass geben, darf sich eine Lehrkraft sogar freuen, wenn Schülerinnen und Schüler diese äußern. Auch in der Wissenschaft Physik haben Begriffe eine Ideengeschichte – mit Vorläufern, die an manche Schülervorstellung erinnern – und erkannte Irrwege wurden zum Ausgangspunkt für neue fachliche Erkenntnisse. Deshalb wird für einen Unterricht plädiert, in dem Fehler als Lerngelegenheit ihr eigenes Recht haben, in dem Schülerinnen und Schüler Fehler als entwicklungsfördernde Ereignisse erleben und der eine „Kultur des Fehlermachens und der Fehlerauswertung“ pflegt.28

Fazit

Abschließend kann festgestellt werden, dass die meisten in der Literatur vorgeschlagenen Unterrichtsstrategien in etwa dem folgenden Muster folgen:
  1. 1.

    Die Schülerinnen und Schüler machen eigene Erfahrungen mit den Phänomenen, indem sie selbst aktiv experimentieren oder indem sie ein Phänomen gezeigt bekommen bzw. einen Versuchsausgang vorhersagen sollen.

     
  2. 2.

    Im Zusammenhang damit werden entweder bewusst die Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler aktiviert, weil man einen kognitiven Konflikt dazu anstrebt, oder die Schülervorstellungen werden bewusst umgangen, da man eine Aufbaustrategie verfolgen will.

     
  3. 3.

    Die Lehrkraft bringt die wissenschaftliche Sicht ein, die Schülerinnen und Schüler nicht selbst entdecken können. Ihr Nutzen wird im Unterricht diskutiert.

     
  4. 4.

    Es werden Anwendungen der neuen Sichtweise auf neue Beispiele behandelt, um die neue Sichtweise zu festigen.

     
  5. 5.

    Am Ende gibt es einen kritischen Rückblick auf den durchlaufenen Lernprozess. Dabei werden die Vorstellungen am Anfang, die bekannten Schülervorstellungen entsprechen, und die Vorstellungen am Ende der Lerneinheit, die den physikalischen Vorstellungen entsprechen, miteinander verglichen.

     

Eine generelle Konfrontationsstrategie auf Basis kognitiver Konflikte ist wegen der damit zusammenhängenden Probleme – Zeitbedarf, Gefahr der Verursachung von neuen Schülerfehlvorstellungen – nicht zu empfehlen. Aufbaustrategien scheinen nach der aktuellen Forschungslage erfolgreicher zu sein. Hat man jedoch mit geeigneten Experimenten im Rahmen einer Aufbaustrategie ein neues Wissen aufgebaut, können zur Überprüfung und Vertiefung in begrenztem Umfang kognitive Konflikte bei weiteren Experimenten durchaus sinnvoll eingesetzt werden.