Kapitel 22
IN DIESEM KAPITEL
In Beratung und Coaching geht es darum, einen Begleitkontext anzubieten, der nachhaltige Veränderung ermöglicht (siehe Abbildung 22.1). Veränderung kann in Form von gedanklichen oder emotionalen Prozessen erfolgen oder auf der konkreten Handlungsebene (proaktiv).
Lehrercoaching hat sich in den letzten Jahren zu einer Instanz etabliert, die zunehmend angenommen wird. Oftmals finden die Lehrkräfte nach einem längeren Leidensdruck den Weg in die Prozessbegleitung; es gibt jedoch auch bereits Berufseinsteiger, die sich beim Erleben erster Krisen bald um Unterstützung kümmern.
Abbildung 22.1: Neue Wege gehen (Quelle: DOC RABE Media - stock.adobe.com
)
Anders als in einer psychotherapeutischen Begleitung erfolgt keine Krankheitsdiagnose, die als Stigmatisierung erlebt werden könnte. In Beratung und Coaching stehen die Ressourcen der Person noch in gesundem Maße zur Verfügung, müssen allerdings oft genauso in Erinnerung gerufen und aktiviert werden, um unterstützend wirksam werden zu können.
In der systemischen Beratung und im systemischen Coaching wird die Lehrkraft als Teil ihrer jeweiligen Systeme (Organisation Schule, Kollegium, Klassenebene samt Elternschaft, persönliches/privates Beziehungs- und Familiensystem, inneres System aus Überzeugungen, biografischen Prägungen und Mustern) betrachtet und konkrete Wechselwirkungen in unterschiedlichen Kontexten werden reflektiert. In Kapitel 4 beschreibe ich den systemischen Ansatz und seine Haltung ausführlich. Die Basisinterventionen Reframing (Umdeuten), Hypothesen bilden (wertschätzende Annahmen über mögliche Ursachen und Zusammenhänge) sowie die systemischen Frageformen sind hier wesentlich. (Siehe dazu Kapitel 13 und Kapitel 17.)
Durch die Lösungs- und Ressourcenorientierung zeigen sich bereits nach wenigen Sitzungen nachhaltige Erkenntnisse und Veränderungen. Damit überprüfbar wird, ob die gewünschte Veränderung eintritt beziehungsweise umgesetzt ist, erfolgt zu Beginn eine Bestandsaufnahme sowie die Zielfindung.
»Was müsste anders werden, dass es besser wird?« Mit solch einer Frage lassen sich erste Lösungseinblicke provozieren und Ressourcen aufspüren. Wer Veränderung möchte, muss etwas anders machen, das steckt implizit im Begriff der Veränderung. Dieses »Andersmachen« erfolgt auf den Ebenen Denken, Fühlen und Handeln.
Eine genaue Zielformulierung ist richtungsweisend für den Veränderungsprozess. Ein sinnstiftendes Ziel löst Motivation und dadurch Handlungsanreize aus. Das Ziel legitimiert den Auftrag der gemeinsamen Arbeit in Beratung und Coaching. Dabei können sich Ziele qualitativ sehr stark unterscheiden.
»Ich möchte nicht mehr so schnell aus der Haut fahren, wenn mich Schüler X provoziert.« Die erste Frage, die ich im Coaching stellen würde, wäre: »Was möchten Sie stattdessen?« Das zuerst formulierte Ziel behält das unerwünschte Verhalten im Blick. Es ist ein sogenanntes Vermeidungsziel (Fokus: Was möchte ich nicht mehr?). Außerdem steht das eigene Verhalten in engem Zusammenhang zu Schüler X.
Solche Zielbausteine können bereits stimmige Veränderungen einleiten. Allerdings können sie noch zu wenig greifbar bleiben. Mit diesem einen formulierten Ziel aus dem Beispiel wird sich die Veränderung vermutlich nicht vollständig einstellen. Es ist noch zu klären, wie die Person sich bisher provozieren ließ. Die Eigenschaften »gelassen und ruhig« gilt es genauer zu klären, damit das erwünschte Handlungsziel wirksam werden kann.
In Kapitel 2 Managementkompetenzen für Lehrkräfte finden Sie die SMART-Methode für die Arbeit mit Ergebniszielen. Diese Art von Zielen ist etabliert und für spezifische Ziele gut geeignet. Wer sein Zeitmanagement verbessern möchte, kann sich anhand der fünf Merkmale (SMART steht für spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert) gut zum gewünschten Ziel aufmachen.
Ziele, die sich aus den Themenfeldern von Stressmanagement, Burn-out und beruflichen Sinnkrisen ergeben, sind deutlich komplexer.
Um Ziele mit der SMART-Methode erfolgreich (wirksam) zu erreichen, sind bestimmte Voraussetzungen notwendig, die vorab geklärt sein müssen:
- Das Ziel bezieht sich auf eine einfach strukturierte, ergebnisorientierte Aufgabe.
- Die Person ist intrinsisch motiviert, fühlt sich dem Ziel verpflichtet und sieht einen Sinn im Ziel.
- Es liegen keine bewussten und unbewussten Zielkonflikte vor.
In diesem Kapitel geht es um eine weitere Art von Zielen, den Prozesszielen. Sie sind als Handlungsziele ideal für die erfolgreiche Entwicklung. Gewünschte (Zwischen-)Ergebnisse stellen sich häufig als Nebeneffekt im Prozess ein.
Prozess- und Handlungsziele können zunächst frei von einem konkreten Ergebnis festgelegt werden. Dadurch werden Erfolge möglich, die ergebnisunabhängig sind.
Damit Ziele die gewünschte Wirksamkeit entfalten können, müssen sie in ihrer Formulierung drei wesentliche Aspekte beinhalten (Storch, 2020):
Diesen Anforderungen entspricht der Zieltyp »Motto-Ziele«.
In der Zielpsychologie erfährt das Zusammenspiel aus Zielen, Motivation und Verhalten zunehmende Aufmerksamkeit. Welches Ziel schafft es, nachhaltige Motivation zu aktivieren? Wird nachhaltige Motivation als intrinsisch verstanden, so müssen hierfür die beiden Systeme »Verstand« und »Unbewusstes« synchronisiert werden. Beide Systeme verarbeiten und bewerten Informationen auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Tempo. Das Unbewusste arbeitet mehr als vier Mal so schnell wie der Verstand. Der Verstand ist die Instanz des analytischen Denkens und das Unbewusste ist die Instanz der ganzheitlichen Intuition (Storch, 2020).
Der Verstand kommuniziert über Sprache, während die Intuition über Gefühle und Körperempfindungen (somatische Marker) wahrnehmbar wird. Die Währung des Verstandes ist »richtig/falsch«, die der Intuition »mag ich / mag ich nicht«. Je nach vorherrschender Bewertung beider Systeme wird eine motivationale Annäherung aktiviert (Appetenz) oder aber eine Vermeidungs- oder Ablehnungsreaktion (Aversion).
Das Zusammenspiel aus Verstand und Unbewusstem ist wesentlich für Selbstregulation und Selbstkontrolle.
Selbstkontrolle wird dadurch ermöglicht, dass der Verstand die Führung übernimmt und bestimmte unerwünschte Handlungsimpulse bewusst unterdrückt. Das ist mit einem hohen Energieaufwand verbunden, denn die Selbstkontrolle hält die inneren Widerstände im Zaum, die für gewöhnlich gleichzeitig aktiviert werden, sobald eine kognitive Entscheidung umgesetzt wird, für die vorherrschende emotionale Regungen unterdrückt oder ignoriert werden müssen. Anhaltende Selbstkontrolle ist mental erschöpfend und nur bedingt möglich, wenn eine Person zusätzlichen Stressoren ausgesetzt ist oder andere kognitive Aufgaben und Prozesse den Energiespeicher anzapfen und dadurch Ressourcen verbrauchen. Selbstkontrolle ist daher keine Fähigkeit, die über einen langen Zeitraum oder in komplexen Situationen verfügbar ist beziehungsweise bleibt.
Im Gegensatz zur Selbstkontrolle stellt die Selbstregulation eine zweite Form der Selbststeuerung dar, die mit weniger Anstrengung verbunden ist. Selbstregulation erfolgt über die Synchronisierung von Verstand und Unbewusstem auf ein Ziel hin. Durch diese Kooperation der Instanzen werden positive Gedanken und Gefühle erzeugt und eine nachhaltige (intrinsische) Motivation wird dabei aktiviert.
Wie schaffen es nun »Motto-Ziele«, dass gesetzte Absichten erfolgreich umgesetzt werden können? Anders als bei Ergebniszielen (spezifische Ziele) stehen bewusste oder unbewusste Zielkonflikte weniger im Weg der Zielerreichung. Motto-Ziele arbeiten auf den drei Ebenen
Durch die Kombination und bewusste Integration der drei Ebenen werden Ziele nicht nur kognitiv (vom bewussten Verstand) erfasst, sondern sie erreichen auch das Unbewusste als zusätzliche Instanz.
Die Formulierung von Motto-Zielen vollzieht sich in drei Schritten (siehe Abbildung 22.2 in Anlehnung an Storch, 2020). Zuerst wird vom Unbewussten ein Bild gewählt, das zum Thema oder bewussten Ziel »passt«. Achtung: Das Unbewusste übernimmt die Entscheidung, was passt. Das Bild kann nur genutzt werden, wenn es ein gutes Gefühl (eine positive emotionale Wirkung) auslöst! Das ausgewählte Bild wird anschließend durch eingängige Worte ergänzt. Die assoziierten Worte sowie das mentale Bild (als Metapher) sind das Material für das Motto-Ziel. Zuletzt wird das eigentliche Motto-Ziel formuliert. Hierfür werden das gewählte Bild und die gewählten Worte in Sätzen zusammengefasst und sorgfältig individuell angepasst.
Abbildung 22.2: Der Bauplan von Motto-Zielen
Motto-Ziele aktivieren unmittelbar zielwirksames Verhalten. Dies lässt sich damit erklären, dass sie sehr stark auf die Haltung der Person einwirken (im Unterschied zu kognitiven Ergebniszielen). Die neue Haltung ermöglicht eine neue Einstellung und führt zu veränderten und verändernden Handlungen.
Im Verlauf der Sitzung klärten wir zunächst, wer denn im »Problembesitz« ist. Für wen ist das Problem ein Problem und für wen nicht? Durch diese Fragestellung schärfte sich der Blick, dass andere Mitschüler genervt reagieren und es nicht nur ein Problem der Lehrkraft ist. Im weiteren Verlauf fragte ich nach dem konkret beobachtbaren Verhalten: Was tut X, dass Sie ihn als störend wahrnehmen? Auf der beschreibenden Ebene sammelten wir konkret beobachtbares Verhalten des Schülers. Das diente im Gespräch mit ihm auch als Material. Dazu komme ich noch. Die dritte Frage meinerseits rückte den Sinn des Verhaltens in den Fokus: Was könnte der Mehrwert für den Schüler sein? Angenommen, sein Verhalten ergibt einen Sinn (auch in einem anderen Kontext), welcher wäre das?
In diesem Schritt sammelte die Lehrkraft Hypothesen (wertschätzende Vorannahmen), weshalb der Schüler sich so verhält. Die erste Hypothese lautete: »Indem er die Lehrkraft auf das Verhalten anderer hinweist, möchte er ihr zeigen, dass er aufmerksam wahrnimmt, was andere in der Klasse tun, und ihr das unterstützend mitteilen. Er möchte mit ihr im Kontakt sein.« Die zweite Hypothese lautete: »Indem der Schüler die Lehrkraft auf das Verhalten anderer hinweist, kommt er seinem eigenen Gerechtigkeitsanspruch nach. Vermutlich fühlt er sich ungerecht behandelt.«
Ich fragte die Lehrkraft, ob sie sich einen Kontext vorstellen könne, in dem das gezeigte Verhalten Sinn ergibt. Die Lehrkraft wusste, dass der Schüler in einem Heim untergebracht ist. Das unterstützte die Hypothese mit dem Fokus »Ungerechtigkeit«.
Die Lehrkraft konnte nun entspannt ins geplante Gespräch gehen, weil sie dem Schüler konkret beobachtbares Verhalten spiegeln konnte. Dabei nahm sie die Trennung von Verhalten und Person vor und präsentierte dem Schüler die entwickelten Hypothesen. Etwas so: »Ich interessiere mich für dich und ich habe mich gefragt, was dich dazu bringt, dich so zu verhalten. Interessiert dich, welche Vermutungen ich habe?« (Übrigens: JEDER Schüler sagt an dieser Stelle Ja!) »Ich könnte mir vorstellen, dass du mir helfend zur Seite stehst, weil du vielleicht den Eindruck hast, ich bräuchte Unterstützung. Oder aber du fühlst dich ungerecht behandelt und möchtest mir das auf diese Weise mitteilen. Wie hört sich das an?« Jetzt hat der Schüler das Angebot, Hypothesen zu bestätigen oder zu korrigieren. Wenn Sie nämlich komplett daneben liegen, wird er das mitteilen.
An dieser Stelle erfolgt dann auch die Abbiegung in die Lösungsabteilung. Die Aufgabe der Lehrkraft ist es, dem Schüler zu vermitteln, dass sie nach bestem Wissen agiert (und dennoch wird sie nicht immer alles sehen und demnach gerecht beurteilen). Der Schüler soll lernen, seinen Impuls reinzurufen, zu unterdrücken.
Im Idealfall ist er bereit für die Verhaltensänderung und dazu auch in der Lage (Selbststeuerung und Impulskontrolle). Da es sich um ein etabliertes Muster handelt, braucht er eventuell eine Starthilfe, auch wenn er in der zehnten Klasse ist. Die Lehrkraft ist bereit, ihm in der Stunde eine bestimmte Anzahl an lautem Dazwischenrufen zu spiegeln und ab dem x. Mal erfolgt eine unangenehme Konsequenz (die mit ihm besprochen wird).
Der Schüler wird in diesem Gespräch eine positive Beziehungserfahrung machen und die Lehrkraft erhöht damit seine Bereitschaft zur Veränderung. Erwünschtes Verhalten wird besprochen und bestärkt. Unerwünschtes Verhalten wird künftig ohne Unterbrechung des Unterrichts wahrgenommen und rückgemeldet. Am Ende hatte die Lehrkraft den Eindruck, die Führung wieder bei sich zu haben. So können im Coaching Lösungen gedanklich erprobt und dann konkret umgesetzt werden.
Coaching dient Ihnen. Es geht sowohl um einen Befindlichkeits-Check (Was beschäftigt Sie aktuell?) und die klare Auftragsklärung (Was ist das Ziel? Wobei kann Ihr Coach behilflich sein?).
Manche Lehrkräfte wollen in einer Sitzung an einem isolierten Fall oder Thema arbeiten und andere wollen eine Prozessbegleitung über mehrere Schulwochen. Der Ablauf ist immer individuell auf Sie und Ihr Bedürfnis zugeschnitten. Die Abstände legen Sie in Absprache mit Ihrem Coach fest. Manchmal suchen die Lehrkräfte bewusst jemanden, der regional weiter weg ist. Es kann auch sein, dass eine Online-Begleitung einfacher zu organisieren ist.