Kapitel 8

Schwachstellen: Wer für Narzissten interessant ist

IN DIESEM KAPITEL

  • Wiederholung des Kindheitstraumas
  • Selbstwertgefühl in einer Beziehung suchen
  • Jemanden finden, der die eigene Unsicherheit eindämmt
  • Das Veränderungspotenzial in anderen Menschen sehen

Narzissten werben gerne für sich selbst. Sie glauben tatsächlich an ihr einzigartiges, attraktives Selbst. Dabei schaffen sie es stets, einen ausgezeichneten ersten Eindruck zu hinterlassen: In Gesellschaft anderer Menschen sind sie überwiegend extrovertiert, unterhaltsam und charmant. Sie sind die idealen Partner für ein erstes Rendezvous.

Doch so wunderbar eine kurzfristige Beziehung mit einem Narzissten auch beginnt, mit der Zeit bröckelt das narzisstische Erscheinungsbild. In Studien hat sich gezeigt, dass Narzissten eher zur Untreue neigen. Sie üben häufig Macht und Kontrolle über ihre Partner aus, überschreiten Grenzen und sind kühl und distanziert. Wenn ihre Partner es wagen, die Beziehung zu beenden, verbreiten Narzissten üble Gerüchte oder veröffentlichen bösartige Beiträge in den sozialen Medien.

Trotz all der negativen Aspekte, die Beziehungen mit Narzissten kennzeichnen, finden sich genug Menschen, die sich darauf einlassen. Es stellt sich also die Frage: Wer sind diese Menschen, und warum sagen sie nicht Nein? In diesem Kapitel werden die verschiedenen Typen narzisstischer Opfer und einige der Gründe untersucht, warum sie für den Charme von Narzissten anfällig sind.

Erwachsene Kinder von Narzissten sind leichte Beute

Kinder von Narzissten weisen oft bestimmte Persönlichkeitsmerkmale auf, die sie anfälliger für narzisstischen Missbrauch machen. Mehr darüber können Sie in Kapitel 6 nachlesen. Die Ähnlichkeiten der Beziehungserfahrung mit ihren Kindheitserfahrungen vermitteln ihnen eine gewisse Vertrautheit.

Menschen neigen dazu, emotionale Muster, die in der Kindheit entstanden sind, unbewusst mit ihren erwachsenen Partnern zu wiederholen. Sie glauben fälschlicherweise, dass sie in dieser neuen Beziehung endlich die Liebe und Fürsorge bekommen können, die sie als Kind nicht erhalten haben.

Endlich genug sein

Wenn Sie in einer narzisstischen Familie aufgewachsen sind, haben Sie vermutlich tief sitzende Schamgefühle. Sie glauben vielleicht, dass Sie kein Glück verdienen, weil Sie ein mangelhafter oder geschädigter Mensch sind. Generell sind Sie der Meinung, dass Sie schwierige Herausforderungen nie bewältigen und einfach kein wahres Glück finden können. Das ist die Lektion, die Sie als Kind eines Narzissten gelernt haben.

Wenn Sie einen Narzissten kennenlernen, schätzen Sie sich glücklich, einen so charismatischen und (oberflächlich gesehen) fürsorglichen Partner zu finden. Sie sind begeistert von den anfänglichen Flirtversuchen und Schmeicheleien. Wenn an die Stelle dieser positiven Eigenschaften Anspruchsdenken, Eitelkeit und mangelndes Einfühlungsvermögen treten, kehrt das Gefühl zurück, nicht gut genug zu sein.

Im weiteren Verlauf der Beziehung führen Ihre Gefühle der Unzulänglichkeit dazu, dass Sie den narzisstischen Missbrauch durch einen erwachsenen Partner akzeptieren. Die folgende Geschichte zeigt diese Schwachstelle auf.

Christian wuchs bei zwei narzisstischen Elternteilen auf. In Familienfehden war er meist der Sündenbock. Er hatte das Gefühl, dass er es seinen Eltern nie recht machen konnte und ihrer Liebe letztlich nicht würdig war.

Heute geht er, obwohl er intelligent und relativ attraktiv ist, keine Risiken ein, erzielt keine guten Leistungen und hält sich für unfähig, Glück oder Erfolg zu finden. Als er Erika kennenlernt, verschwinden all seine Gefühle der Unzulänglichkeit. Sie interessiert sich für ihn und er kann sein Glück nicht fassen. Sie bezaubert ihn mit ihrem auffallend guten Aussehen, ihrer aufgeschlossenen Persönlichkeit, ihrer Aufmerksamkeit und ihrem strahlenden Lächeln.

Christian glaubt, dass er endlich glücklich sein wird. Die beiden werden schnell intim. Abgesehen von ein paar betrunkenen One-Night-Stands mit Frauen, die er online kennengelernt hat, ist Erika Christians erste wirklich intime Beziehung. Sie schreibt ihm häufig Kurznachrichten, die mit Herz-Emojis gespickt sind. Sie macht deutlich, dass sie so viel wie möglich in seiner Nähe sein möchte.

Erika spürt Christians Verletzlichkeit und seine Bereitschaft, alles zu tun, was sie will. Sie mag seine Hingabe und seine Bereitschaft, auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Schon in der Anfangsphase der Beziehung besteht Erika darauf, Zeit mit ihren alten Freunden zu verbringen. Sie sagt Christian, dass sie ein Recht auf ihre Privatsphäre hat, und reagiert gereizt, wenn er Fragen zu ihren Aktivitäten stellt. Christian fühlt sich unsicher und fordert sie nie wirklich heraus.

Im weiteren Verlauf der Beziehung bemerkt Christian, dass Erika sich langsam verändert. Ihre Begeisterung für ihre Beziehung scheint zu verblassen. Sie wirkt abwesend und distanziert. Christian versucht, sich mehr Mühe zu geben, ihr mehr Liebe und Aufmerksamkeit zu schenken. Als er herausfindet, dass sie ihn betrogen hat, ist er am Boden zerstört. Er fällt auf seine Kindheitserfahrungen zurück und redet sich ein, dass Erika eigentlich zu gut für ihn war und dass er sie nicht verdient hat. Christian fällt in seine stille Welt der Unwürdigkeit zurück.

Kinder von Narzissten glauben oft, dass sie es nicht verdienen, glücklich zu sein und fair behandelt zu werden. Sie sind ein ideales Opfer für narzisstische Partner, die sie nach Belieben verführen und verstoßen können.

Wiederkehrende Kindheitsthemen

Erwachsene Kinder von Narzissten können sich in einer Beziehung mit einem narzisstischen Partner zunächst recht wohlfühlen. Sie sind es gewohnt, enttäuscht, zurückgewiesen und missbraucht zu werden. Dabei fühlen sie sich zu Hause. Daher haben sie geringe Erwartungen an eine gute Beziehung. Sie können den narzisstischen Missbrauch als einen vertrauten Teil jeder Beziehung akzeptieren.

Ein weiterer Grund dafür, dass erwachsene Kinder von Narzissten in einer narzisstischen Beziehung bleiben, kann der Gedanke sein, dass sie das ursprüngliche Kindheitstrauma vielleicht beheben oder heilen können. Sie glauben unbewusst, dass sie frühe Familienkonflikte lösen können, indem sie eine erfolgreiche Partnerschaft mit jemandem eingehen, der sie an einen oder beide Elternteile erinnert.

Leider funktioniert diese Strategie fast nie, und diese Erwachsenen enden in unglücklichen, unbefriedigenden und missbräuchlichen Partnerschaften, die ihre in der Kindheit erlittenen Wunden nicht heilen können, sondern noch verschlimmern.

Wenn Erwachsene gegen ein geringes Selbstwertgefühl kämpfen

Erwachsene, die Misserfolge, wirtschaftliche Not, Diskriminierung oder Traumata erleiden oder in einer Beziehung ins Abseits gedrängt werden, können ein geringes Selbstwertgefühl entwickeln und dadurch anfällig für die verführerischen Machenschaften von Narzissten werden.

Erwachsene mit geringem Selbstwertgefühl fühlen sich zu narzisstischen Partnern hingezogen, weil sie glauben, so ihre vermeintlichen Defizite kompensieren zu können. Mehr über die Beziehung zwischen Selbstwertgefühl und Narzissmus können Sie in Kapitel 10 nachlesen.

Häufige Ursachen für ein geringes Selbstwertgefühl

Ein geringes Selbstwertgefühl ist nicht unbedingt nur auf frühe Erfahrungen mit Narzissten zurückzuführen. Die Ursachen dafür können in vielen verschiedenen Lebensbereichen zu finden sein. In der Regel hat ein geringes Selbstwertgefühl seine Wurzeln in der Kindheit. Zu den häufigen Ursachen, die in der Kindheit auftreten, aber nichts mit narzisstischen Eltern zu tun haben, gehören folgende:

  • Nicht genug Liebe, Aufmerksamkeit oder Ermutigung: Kinder aus einem solchen Umfeld erinnern sich vielleicht nicht an einen spezifischen Missbrauch, aber sie fühlen sich dauerhaft ausgelaugt und entmutigt.
  • Versagen im schulischen Umfeld: Dieser Misserfolg kann auf einen Mangel an elterlicher Ermutigung, Probleme mit der Aufmerksamkeit, kulturelle oder sprachliche Unterschiede oder Lernschwächen zurückzuführen sein. Die betroffenen Kinder fühlen sich minderwertig und unsicher, wenn sie den Erwartungen in der Klasse nicht gerecht werden.
  • Mobbing in der Schule: Mobbing kann durch körperliche Merkmale des Kindes, Diskriminierung, auffällige Behinderungen oder einfach dadurch ausgelöst werden, dass es sich nicht in Gruppierungen einpasst. Mobbing führt oft zu anhaltenden seelischen Verletzungen.
  • Aufwachsen mit drogenabhängigen Eltern: Dieses Szenario kann dazu führen, dass das Kind entmutigt ist und seine Bedürfnisse ignoriert werden.
  • Konflikte zwischen Familienmitgliedern: In solchen Fällen kann ein unberechenbares Umfeld entstehen, in dem sich ein Kind ängstlich und unzulänglich fühlt.
  • Aufwachsen in einem Viertel, in dem Kriminalität und Verbrechen an der Tagesordnung sind: Diese Kinder sehen möglicherweise keinen Ausweg aus ihren derzeitigen Verhältnissen und glauben, dass sie zu einer »kaputten« Existenz verdammt wären.
  • Traumatische Erfahrungen: Dazu zählen physische Gewalt, psychischer Missbrauch, Vernachlässigung oder tragische Ereignisse wie Waffengewalt, Unfälle oder Naturkatastrophen.
  • Soziale Medien, die Bilder von unrealistischen Glücks- oder Schönheitsstandards vermitteln: Diese Bilder scheinen das Selbstwertgefühl von Mädchen stärker zu beeinträchtigen als das von Jungen.
  • Mobbing in den sozialen Medien: Manchmal werden Kinder oder Jugendliche zur Zielscheibe einer Flut von erniedrigenden, negativen Beiträgen. Die Auswirkungen solcher Angriffe sind oft verheerend für das Selbstwertgefühl eines Teenagers oder Kindes.
  • Wirtschaftliche Instabilität: Kinder, die aus einem prekären Umfeld kommen, sind möglicherweise von Ernährungs- oder Wohnungsunsicherheit betroffen und bekommen nicht genug elterliche Unterstützung. Sie fühlen sich in der Schule als Außenseiter, weil sie weder angemessene Schulausrüstung noch akzeptable Kleidung vorweisen können.

Wie Minderwertigkeitsgefühle uns verletzlicher machen

Aufgrund eines geringen Selbstwertgefühls glaubt man, dass man es nicht verdient hat zu bekommen, was man braucht. Damit wird man zu einem dankbaren Ziel für einen Narzissten. Es ist fast so, als ob die Narzissten diese Schwachpunkte riechen könnten. So wie erwachsene Kinder von Narzissten, haben auch Menschen mit geringem Selbstwertgefühl, das nicht durch narzisstischen Missbrauch verursacht wurde, unzureichende Schutzmechanismen gegen eine mögliche Verstrickung mit einem Narzissten.

Die anfängliche Attraktivität, Aufmerksamkeit und Verführungskunst eines Narzissten sind zunächst ein wunderbares Gegenmittel zu den anhaltenden Gefühlen von Unzulänglichkeit und Mangelhaftigkeit. Wenn der Ansturm des narzisstischen Missbrauchs beginnt, glauben Menschen mit geringem Selbstwertgefühl, dass sie dieses Verhalten verdient hätten. Wenn dieses Muster auf Sie zutrifft, ist es wichtig, dass Sie Ihre Schutzmechanismen verstärken. Dazu sollten Sie sich auf alle Fälle zunächst der Warnzeichen stärker bewusst werden.

Warnzeichen zu ignorieren ist keine Lösung

Eine Person mit geringem Selbstwertgefühl kann blind für die Warnzeichen sein, die auf mögliche narzisstische Züge eines Mitmenschen hinweisen. Und warum? Menschen mit geringem Selbstwertgefühl sind oftmals zu gutgläubig für die Anziehungskraft von Narzissten, weil sie von dem ersten Ansturm der Verführungsphase so überrascht und erfreut sind. Zu diesen frühen Stadien gehören übermäßige Schmeicheleien, Aufmerksamkeit und Idealisierung. Menschen, die sich minderwertig fühlen, ignorieren möglicherweise die Warnzeichen, um die ersehnte positive Beziehung aufrechterhalten zu können. Die folgenden Warnsignale werden vor allem von Menschen ignoriert, die sich minderwertig fühlen:

  • In der Verführungsphase möchte der Narzisst jeden Augenblick mit Ihnen zusammen sein. Dadurch fühlen Sie sich als etwas Besonders und begehrenswert.
  • Narzissten versuchen, Sie von sich abhängig zu machen, indem sie Ihnen bei Aufgaben wie der Kinderbetreuung oder beim Einkaufen helfen. Sie können kaum glauben, dass jemand bereit ist, mit anzupacken und sich tatsächlich die Mühe macht, etwas Nettes für Sie zu tun.
  • Narzissten schmeicheln Ihnen womöglich, indem sie Ihnen sagen, wie viel besser Sie sind als ihr früherer Partner. Sie finden das besonders rührend, weil Sie als besserer Partner angesehen werden wollen.
  • Narzissten erzählen Ihnen wahrscheinlich eine Geschichte aus ihrer Vergangenheit, in der sie ein Hindernis überwunden haben, um Sympathie zu wecken und Sie für sich zu gewinnen. Das vermittelt den Eindruck von Nähe, weil der potenzielle Partner seine Verletzlichkeit zum Ausdruck zu bringen scheint.

Diese Warnzeichen werden leicht ignoriert, weil sich eine Person mit geringem Selbstwertgefühl wünscht, gebraucht zu werden. Dieses Gefühl vermittelt den Betroffenen den Eindruck, dass sie doch nützliche menschliche Wesen sind. Weitere Informationen über Warnzeichen finden Sie in Kapitel 5.

Andere verletzliche Personen

Auch andere Situationen können dazu führen, dass sich Erwachsene machtlos oder hilflos fühlen. Das macht sie attraktiv für einen Narzissten, der sich in einer Beziehung überlegen fühlen will. Narzissten können sich als Ritter in glänzender Rüstung präsentieren, die bereit sind, die Nichtsahnenden zu retten.

Leid nach einer Trennung oder einem Verlust

Menschen, die kürzlich eine geliebte Person durch Scheidung, Tod oder ein anderes Ereignis verloren haben, sind besonders empfänglich für die Manipulationen eines Narzissten. Der Narzisst kann nach einer unauffälligen, aber gründlichen Befragung genau die Eigenschaften simulieren, die in der früheren Beziehung gefehlt haben.

Manche Menschen verlieren ihre Partner zum Beispiel durch Drogenmissbrauch. Der Narzisst distanziert sich dann deutlich von allem, was mit Alkohol und Drogen zu tun hat. Oft ist aber auch wesentlich subtilere Manipulation im Spiel, wie das folgende Beispiel zeigt:

Nach 14 Jahren Ehe war Alexander bereit, sich endlich von seiner Frau zu trennen. Er hatte eine lange Liste von Kritikpunkten, darunter ihr unverantwortliches Konsumverhalten, ihre mangelnde Fürsorge für die Kinder, ihr fehlender Ehrgeiz und ihre notorische Unpünktlichkeit. Alexander führte im Grunde den Haushalt, während seine Ehefrau endlos durch die sozialen Medien scrollte.

Seine Entscheidung fiel schließlich, als sie wieder einmal eine Stelle kündigte, weil ihr die Arbeit einfach zu eintönig war. Alexander beschloss, einen Anwalt zu konsultieren, um sich ein Bild davon zu machen, was bei einer Scheidung auf ihn zukommen würde. Er war angenehm überrascht, wie einfach es war, sich zu trennen und scheiden zu lassen. Seine Ehefrau schien kein Interesse an den Kindern zu haben, die inzwischen Teenager waren, und er behielt das alleinige Sorgerecht.

Etwa ein Jahr später lernt Alexander Viktoria kennen, eine verführerisch attraktive, kürzlich geschiedene Frau. Sie scheint seine Wertvorstellungen zu teilen, und Alexander fühlt sich bei ihr wohl. Bei den ersten Verabredungen sprechen sie beide über ihr früheres Leben und darüber, was in ihren ersten Ehen schiefgelaufen ist.

Je länger sie sich unterhalten, desto mehr glaubt Alexander, dass er eine unerwartet passende Partnerin gefunden haben könnte. Viktoria behauptet, sie habe eine großartige Karriere und gehe sorgsam mit ihrem Geld um. Sie sagt, sie wolle sich beruflich weiterentwickeln, verbringe kaum Zeit in den sozialen Medien und komme immer zu früh zu Terminen.

Obwohl sie keine eigenen Kinder hat, erzählt sie Alexander, dass sie Kinder liebt, vor allem Teenager, und es kaum erwarten kann, seine Kinder zu treffen. Außerdem ist Viktoria eine sehr gute und erfahrene Liebhaberin und überschüttet Alexander mit Zuneigung.

Ich brauche die Geschichte nicht zu Ende zu erzählen. Viktoria ist eine Narzisstin und sammelt Informationen darüber, was Alexander in einer Beziehung will. Anschließend präsentiert sie sich als die perfekte Partnerin für ihn. Raffiniert. Eine typische narzisstische Manipulation.

Mangelnde soziale Unterstützung

Einsame Menschen sind ebenfalls ein leichtes Ziel für Narzissten. Sie sind durch räumliche Distanz oder andere Umstände von anderen isoliert, sodass Narzissten ohne allzu große Mühe das Loch der Einsamkeit mit ihrer großen Persönlichkeit und ihrem Bedürfnis nach ständiger Aufmerksamkeit und Bewunderung füllen können. Das folgende Beispiel zeigt den Weg von Jasper, einem frischgebackenen Hochschulabsolventen, der wegen einer neuen Stelle in eine andere Stadt zieht.

Jasper ist Software-Ingenieur und erhält ein fabelhaftes Stellenangebot im Ausland. Trotz seines großen sozialen Umfelds und seiner eng verbundenen Familie möchte er die Erfahrung machen, auf sich allein gestellt zu sein und seine gewohnte Umgebung zu verlassen.

Obwohl ihm sein neuer Job gefällt und er häufig über Kurznachrichten und Videotelefonate mit seinen Freunden und seiner Familie Kontakt hat, fühlt er sich im Alltag in der Fremde extrem einsam. Eines Tages sitzt Benjamin, ein Arbeitskollege, beim Mittagessen mit Jasper zusammen. Jasper ist froh, jemanden zu haben, mit dem er sich unterhalten kann, und erzählt Benjamin, dass er neu in der Stadt ist und sich einsam fühlt.

Benjamin verspricht Jasper enthusiastisch, dass er ihn in die besten Bars und Restaurants mitnehmen kann. Die beiden verabreden sich für den Feierabend. Die folgenden Wochen vergehen wie im Flug mit vielen Flaschen Wein, gutem Essen und dem Besuch aller Sehenswürdigkeiten. Im Hintergrund schwelt eine offensichtliche sexuelle Anziehungskraft.

Im Laufe ihrer Beziehung wird Benjamin immer besitzergreifender und beansprucht mehr und mehr von Jaspers Zeit. Außerdem beginnt er ständig mit seinen eigenen Leistungen zu prahlen und damit, wie viel besser er ist als Jaspers alte Freunde. Er ist eifersüchtig und versucht, Jasper davon abzuhalten, mit seinen Freunden und seiner Familie zu kommunizieren.

Bald findet sich Jasper ausschließlich in Benjamins Gesellschaft wieder. Das ist nicht das, was er sich bei seinem Umzug gewünscht hatte. Er war auf der Suche nach Unabhängigkeit, und jetzt ist er in eine Exklusivbeziehung verwickelt. Jasper beginnt, die Beziehung abzukühlen und bemüht sich, andere Menschen kennenzulernen. Benjamin wird wütend und greift Jasper verbal an. Er wirft ihm vor, ihn auszunutzen und wie Dreck zu behandeln.

Am Arbeitsplatz weigert sich Benjamin, mit Jasper zu sprechen. Jasper hat das Gefühl, dass andere Kollegen ihn meiden. Eines Tages ruft ihn sein Chef in sein Büro. Er erzählt Jasper, dass es viele Gerüchte darüber gibt, dass Jasper schnell aufbrausend sei und nicht gut ins Team passe. Jasper ist erstaunt über diese Rückmeldung.

Jasper ist überhaupt nicht reizbar und arbeitet immer gerne mit anderen zusammen. Dann wird ihm klar, dass Benjamin dieses Gerücht wahrscheinlich aus Rache in die Welt gesetzt hat. Jasper fühlt sich noch verwirrter und isolierter als sonst. Vielleicht sollte er wieder nach Hause ziehen.

Jasper hat gerade eine narzisstische Eroberung erlebt, voller Spaß, Schmeicheleien und Love Bombing. Als das nicht das erhoffte Ergebnis brachte, rächte sich Benjamin, der Narzisst, indem er auf der Arbeit falsche Gerüchte verbreitete. Jasper war verletzlich, weil er sozial isoliert und einsam war. Zum Glück wird er sich von dieser kurzen Episode sicher schnell erholen, denn er bekommt von seiner Familie Liebe und Unterstützung.

Auch gesunde Menschen sind nicht immun

Jeder kann sich zunächst von einem Narzissten angezogen fühlen. Narzissten präsentieren sich verführerisch, reden interessant, schmeicheln und sind sehr unterhaltsam. Sie erzählen fesselnde Geschichten, verfügen über Witz und Schlagfertigkeit und machen einen unkomplizierten, zugänglichen Eindruck. Sie ziehen positive Aufmerksamkeit auf sich, indem sie ihre vielfältigen Fähigkeiten an allen Mitmenschen ausprobieren.

Narzissten neigen dazu, übermäßig selbstbewusst zu sein und wissen, wie sie Menschen für sich gewinnen können. Sie sehnen sich nach Bewunderung und ihre anfänglichen, sozial geschickten Auftritte ziehen ein großes Publikum an. Jeder kann ihrem Charme erliegen.

Personen mit narzisstischen Zügen können interessante, einnehmende Menschen sein, mit denen man gerne zusammen ist. Es ist für sie durchaus möglich, Freundschaften mit normalen, gesunden Menschen zu schließen, die wissen, wie man vernünftige Grenzen setzt. Menschen mit narzisstischen Zügen verfügen oft über Tatkraft, gute soziale Fähigkeiten und ein bewundernswertes Selbstvertrauen. Mehr über erfolgreiche Narzissten finden Sie in Kapitel 14.

Wie Verständnis und Einfühlungsvermögen das Gegenteil bewirken können

Menschen, die verstehen und nachempfinden können, was andere fühlen, nennt man empathisch, also einfühlsam. Narzissten gehören zu den Menschen, denen es an Empathie beziehungsweise Einfühlungsvermögen fehlt. Sie verstehen die Gefühle anderer nicht oder interessieren sich nicht dafür.

Menschen mit einem hohen Maß an Einfühlungsvermögen sind oft das Ziel narzisstischer Verführung. Narzissten wollen, dass Menschen mit hohem Einfühlungsvermögen sich um sie kümmern und sie verstehen. Sie wollen ständig Liebe und Aufmerksamkeit, auch wenn sie sich danebenbenehmen. Ein einfühlsamer Mensch ist äußerst fürsorglich und wird alles tun, um anderen zu helfen. Er ist vielleicht auch in der Lage, den Schmerz zu verstehen, der dem Narzissmus oft zugrunde liegt. Ein Narzisst nutzt diese Eigenschaft aus und findet Wege, um eine einfühlsame Reaktion zu erzeugen.

Wenn Fürsorge ganz natürlich ist

Manche Menschen sind von Natur aus fürsorglich. Sie werden zur Bezugsperson, wenn andere Probleme haben. Fürsorger sind gute, verständnisvolle und mitfühlende Zuhörer. Sie bieten den Kranken Hühnersuppe, den Verletzten Trost und den Verlassenen Liebe. Fürsorger sind in der Regel unbeirrbare Optimisten, die glauben, dass in allen Menschen etwas Gutes steckt.

Wenn Fürsorger auf Narzissten treffen, hoffen sie, dem Narzissten zu helfen, ein besserer Mensch zu werden. Sie stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück, um zu ergründen, wie sie das Leben des Mitmenschen verbessern können. Ein Narzisst nutzt diese unerschütterliche Hoffnung aus, um die ständige Bestätigung und Aufmerksamkeit zu bekommen, nach der er sich sehnt.

Wenn Narzissten Fürsorger in die Falle locken, sind sie so geschickt, genug Wertschätzung anzubieten, um die auf sie gerichtete Fürsorge und Bewunderung aufrechtzuerhalten. Im Grunde jedoch betrachten Narzissten Fürsorger als Spielfiguren, die leicht zu überlisten und zu benutzen sind und skrupellos ausgemustert werden, wenn sie an Attraktivität verlieren.

Die Herausforderung eines Renovierungsobjekts

Viele Menschen kaufen renovierungsbedürftige Häuser oder Autos in dem Glauben, dass sie ein Schnäppchen machen, dann etwas Zeit, Mühe und Geld investieren und finanziell davon profitieren können. Sie finden zum Beispiel einen hübschen Bungalow in einem angesagten Viertel, der über die Jahre vernachlässigt wurde. Sie denken, dass ein neuer Anstrich, ein neues Dach und etwas liebevolle Pflege alles sind, was das Haus braucht, um auf den aktuellen Marktwert gebracht zu werden. Dabei übersehen sie jedoch den Schimmel und die Fäulnis, die das Haus befallen haben und sein Fundament bedrohen.

Ähnlich ist es bei Narzissten: Stellen Sie sich vor, Sie lernen jemanden kennen – eine lustige, intelligente und einnehmende Person. Ein paar Verabredungen später entdecken Sie eine Reihe zerbrochener Beziehungen (die anderen sind schuld), einen Mangel an Freunden (man hat sich auseinandergelebt), einen wechselhaften beruflichen Werdegang (man hat noch nicht die richtige Nische gefunden) und einige beunruhigende Persönlichkeitsmuster. Dennoch sehen Sie ein vielversprechendes Potenzial. Diese Person ist es vielleicht wert, »auf Vordermann« gebracht zu werden. Sie könnten ein stabiler Einflussfaktor im Leben dieser Person sein. Sie könnten sie Ihren Freunden vorstellen, bei beruflichen Veränderungen helfen und ihre kleinen Persönlichkeitsfehler mit Liebe, Freundlichkeit und ein wenig positivem Feedback verbessern.

Wenn Sie mit Ihrer Umgestaltung beginnen, werden Narzissten die Aufmerksamkeit sicherlich begrüßen. Sobald sie jedoch merken, dass Sie versuchen, sie zu etwas zu bewegen, das ihnen gegen den Strich geht, wehren sie sich gegen Ihre Hilfsversuche. Sie arbeiten möglicherweise hart daran, Beziehungen zu glätten, führen tiefgreifende Gespräche über berufliche Zukunftspläne und weisen sanft auf Persönlichkeitsmerkmale hin, die hinderlich sein könnten, Erfolg und Glück zu finden. Ihr »Renovierungsobjekt« aber beginnt, seine tiefgreifenden Persönlichkeitsschwächen wie Grandiosität, Anspruchsdenken und mangelndes Einfühlungsvermögen zu zeigen. Leider ändern sich die meisten Menschen mit narzisstischen Zügen nur selten. Wie Schimmel und Fäulnis in einem verfallenen Haus, sitzt der Narzissmus tief im Fundament eines Menschen.