Vorwort
Wer eine Kontaktanzeige schreibt, überlegt sich jedes Wort sehr genau. Nicht nur, weil jeder Buchstabe Geld kostet, sondern vor allem, weil jedes Wort den Schreiber in ein besonders vorteilhaftes Licht rücken soll. Bemerkenswert ist deshalb der Abschluss dieses kurzen Textes in der Rubrik »Kennenlernen« im Zeit-Magazin: »Ich mag Brahms, Kandinsky, Loriot und besitze eine Bahncard.«
Warum erwähnt der promovierte Naturwissenschaftler (53/ 1,83/Nichtraucher) seine Bahncard, um beim anderen Geschlecht aufzutrumpfen? Ob er damit eine Chance hat gegen den »alten Segler« in der Anzeige direkt darüber, der eine weibliche Begleitung für abenteuerliche Törns sucht? Oder gegen den »vermögenden Adligen«, der »in gehobener Position tätig« ist und sich bestimmt lieber im polierten Sportwagen als im Zugabteil von A nach B bewegt?
Die Frage, ob Bahnfahren sexy macht, werden wohl viele zunächst verneinen. Sie denken an schwitzende Menschen in überfüllten Großraumwagen, an streng riechende Brösel-Picknicks im Abteil, an »Schatz, ich komme später, Oberleitungsschaden«-Handyanrufe. Doch vergleichen Sie mal Passagiere nach sechs Stunden Flug und nach sechs Stunden Bahnfahrt: Letztere sehen gewöhnlich erheblich weniger zerknautscht aus, haben keine trockenen Augen oder Knieschmerzen. Sogar Wissenschaftler fanden bereits heraus, dass Zugfahren gut für die Gesundheit ist (siehe hier). So gesund wie Segeln allerdings wohl nicht, gegen diesen Kandidaten kann unser Beispiel-Single also noch nicht punkten.
Probieren wir deshalb eine andere Lesart der Anzeige: Wer Brahms, Kandinsky und seine Bahncard im gleichen Satz erwähnt, spielt darauf an, dass eine Zugreise eine höchst kultivierte Angelegenheit ist. Auch die Deutsche Bahn wünscht sich diese Assoziation bei den Kunden, sie tauft ihre Züge »Johann Sebastian Bach«, »Michelangelo« oder »Albrecht Dürer«. Wer viel aus dem Fenster schaut, lernt tatsächlich jede Menge über das Land, durch das er gerade reist, über die Geographie und die landschaftlichen Unterschiede, viel mehr als ein Flugpassagier oder ein Autofahrer. Erwischt man jedoch einen Waggon voller sangesfreudiger Fußballfans (meist keine Bach-Kantaten) oder pubertierender Schüler auf Klassenfahrt, ist das Gefühl, ein besonders exklusives Beförderungsmittel zu nutzen, gewöhnlich schnell dahin. Also, in einem solchen Fall: ebenfalls Vorteile für den Sportflitzer des vermögenden Adligen und das Segelboot.Vielleicht will der einsame Mann nur sagen, dass er mobil und auch für eine Fernbeziehung zu haben ist.
Aber vielleicht muss man seinen Text auch noch ganz anders lesen. Im Kern steht dort nämlich: »Ich mag Loriot und besitze eine Bahncard.« Lieber Naturwissenschaftler, 53, damit überzeugen Sie uns. Wir würden Sie gerne kennenlernen und könnten uns sogar eine gemeinsame Zugfahrt vorstellen. Denn Loriot und Bahncard, das passt zusammen wie Schirmmütze und Schaffnerkopf: Wer viel mit dem Zug fährt, hat häufig das Gefühl, mitten in einem Sketch des Meisterkomikers gelandet zu sein. Zum Beispiel, wenn ein Lokführer durchsagt, dass sich die Fahrt wegen eines Fasans in der Bremszuleitung auf unbestimmte Zeit verzögert (Kapitel 13). Wenn ein Schaffner sich auf Englisch mit »Sorry for traveling with Deutsche Bahn« (Kapitel 7) verabschiedet. Wenn per Durchsage »Sex und Getränke« statt »Snacks und Getränke« angeboten werden und eine schlagfertige Schaffnerin mit dem Vorschlag reagiert, dafür doch in die erste Klasse zu wechseln. (Kapitel 1). Auch die lieben Mitreisenden können für viel Situationskomik sorgen, ihnen haben wir ein eigenes Kapitel und eine Typologie gewidmet (Kapitel 3).
Doch bei allen Problemen, über die sich Bahnfahrer immer wieder beklagen, bei allen Dingen, die im hochkomplexen deutschen Schienenverkehr oft nicht nach Plan laufen, möchten wir an dieser Stelle einmal betonen: Wir fahren gern mit der Bahn. In keinem anderen Verkehrsmittel kann man so bequem ein Buch lesen oder die Landschaft genießen (Kapitel 9). Und die skurrilen Situationen, die gibt es gratis dazu. Also, vergessen Sie den Sportwagen, vergessen Sie das Segelboot: Packen Sie die Bahncard ein, buchen Sie eine Strecke durch halb Deutschland und setzen Sie sich in ein Abteil voller fremder Menschen. Dort überlegen Sie sich, welcher der Mitreisenden am ehesten als Figur für einen Loriot-Sketch taugen würde. Kurz vor dem Aussteigen schenken Sie ihm dieses Buch – bis dahin wünschen wir Ihnen viel Spaß beim Lesen!
Antje Blinda und Stephan Orth