Venedigs müder Untergrund
Einsturzgefahr am Canal Grande
Die weit verbreitete Annahme, die Lagunenstadt sei vollständig auf Holzpfählen gebaut und unter den Häusern fließe Wasser, ist falsch. In Wahrheit steht Venedig zum größten Teil auf dem ton- und kieshaltigen Sandboden von über hundert kleinen Inselchen. Dazwischen jedoch, an den schlammigen Ufern der zahlreichen Wasserwege, die das verzweigte Kanalnetz der Stadt bilden, sorgen unzählige Holzpfähle für Halt. Erst seit einigen Jahrzehnten, seitdem die Kanäle der Stadt wieder systematisch gereinigt und die Unterbauten der Häuser, Kirchen, Uferwege und Brücken sichtbar werden, hat man auch eine exakte Vorstellung von der ursprünglichen Fundamentierungstechnik der Venezianer: Zunächst wurde der Baugrund trockengelegt und an den Ufern mit ca. 3 m langen und mindestens 15 cm dicken Baumstämmen verstärkt. Für diese kanalseitige Befestigung benötigte man je nach Größe des Baus und der Bodenbeschaffenheit Zehntausende von Baumstämmen (in der Regel Eichen), die senkrecht in den Boden gerammt wurden. Auf diesem dichten Wald aus Pfählen, der auch bei Ebbe vollständig unter Wasser liegen musste, befestigte man eine dicke Schicht aus Lärchenplanken. Dann folgte ein gemauertes Ziegelsteinfundament auf dem ein mindestens 30 cm hoher Sockel aus massivem Kalkstein ruht. Dieses Basamento, das bis knapp über den höchsten Wasserstand (durchschnittlicher Flutpegel) reicht, war als wasserdichte Horizontalsperre gedacht und sollte das Mauerwerk sowie die Fassaden der Häuser vor aufsteigender Feuchtigkeit schützen.
Jahrhundertelang standen die Bauwerke an den Kanälen fest und solide, denn ihre kompakten Holzfundamente wurden im salzhaltigen Lagunenwasser eisenhart. Doch seitdem sich die Gezeiten in der Lagune verändert haben, das Hochwasser immer höher steigt und das Niedrigwasser immer tiefer fällt, sind die Holzfundamente vermehrt der Luft ausgesetzt und beginnen zu faulen. Hinzu kommt der erhöhte Sauerstoffgehalt des Wassers, den die Schiffsmotoren verursachen. Etliche Fundamente der Prachtbauten am Canal Grande sind bereits erheblich geschwächt und müssen dringend saniert werden. Zum Teil versucht man, sie mit notdürftigen Zementeinspritzungen zu stabilisieren. Und dort, wo die abgesackten Basamenti bereits ständig durchnässt sind und zerbröckeln, da hilft nur eine vorsichtige hydraulische Anhebung der Gebäude in Verbindung mit einem neuen Fundament.
Diese und andere erfolgreiche Instandsetzungsarbeiten können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Venedigs Untergrund müde geworden ist und umfassendere Sanierungsmaßnahmen verlangt. Das nötige Know-how dazu wäre sogar vorhanden, das Geld hingegen wird immer knapper. Hinzu kommt, dass den Venedig-Touristen keine jahrelange Großbaustelle zugemutet werden kann, weshalb weiterhin portionsweise saniert wird. Vielleicht so lange, bis der erste Palazzo kopfüber in den Canal Grande stürzt, wie es bei der mittlerweile vollständig restaurierten Ca’ Foscari beinahe der Fall gewesen wäre?