Prostitution in Venedig (13.-18. Jh.)
Das älteste erhaltene Dokument in Venedigs umfangreichen Stadtarchiven, das die Existenz der Prostitution in der Lagunenstadt belegt, stammt von 1228. In diesem Schriftstück werden zwei Brüder, zwei reiche Kaufleute, aufgefordert, einem gewissen Angelo Bernardo den Mietvertrag für eines ihrer Wohnhäuser zu kündigen, weil dieser dort zusammen mit seiner Geliebten und einigen anderen Frauen ein kleines Bordell (Postribolo) betreibt. Mit Strenge und Unnachgiebigkeit trachtete Venedigs allgegenwärtiger Behördenapparat seinerzeit danach, die Ausbreitung der Prostitution einzudämmen.
Doch schon Anfang des 14. Jh. änderte sich die Grundeinstellung zur öffentlichen Ausübung der Prostitution. Zunächst einmal tolerierten die zuständigen Behörden die Präsenz von Dirnen in den Osterien und Tavernen des Rialtoviertels, wo sie ungestört auf Freierfang gehen durften. Praktisch, dass diese berüchtigten Gaststätten und Wirtshäuser im turbulenten Markt- und Handelszentrum der Stadt zumeist auch Zimmer vermieteten. Beabsichtigtes Ziel war es, der Prostitution einen geeigneten und überschaubaren städtischen Raum zuzugestehen und sie vom übrigen Stadtgebiet fernzuhalten. Außerdem glaubte man seinerzeit, dass eine kontrollierte Prostitution dazu beitragen könnte, anderen schlimmen Übeln wie Vergewaltigung, Sodomie und Homosexualität Einhalt zu gebieten.
1360 öffnete das erste offizielle Bordell Venedigs seine Türen, und das Rialtoviertel, wo sich das sogenannte Castelletto befand, entwickelte sich endgültig zum Rotlichtviertel. Halb privat und halb öffentlich geführt stand das Freudenhaus unter der Aufsicht der Capi di Sestiere, die regelmäßig und pünktlich einen Teil der Monatseinnahmen kassierten, um die Hausmeister zu bezahlen und die Miete an die Besitzer der Wohnblocks abzuführen, bei denen es sich um die ortsansässigen Adelsfamilien Venier und Morosini handelte. Schwierigste Aufgabe für die Capi war es, zu verhindern, dass die herumschlendernden Prostituierten ihren streng reglementierten Aufenthaltsbereich zwischen dem Campo delle Beccarie und dem Campo San Cassiano verließen. Genau ein Jahrhundert lang erfüllte das Castelletto a Rialto seinen Zweck, bis es 1460 durch ein größeres Bordell in der Calle delle Beccarie ersetzt wurde. Die Konzession für das neue Castelletto erhielt ein Stadtadliger namens Priamo Malipiero, der auch für die Einhaltung der erweiterten Vorschriften und umfangreichen Reglementierungen verantwortlich war. Beispielsweise galt es, die eingeführte Sperrstunde zu überwachen, die Kuppler vom Freudenhaus fern zu halten und das nach wie vor begrenzte Aufenthaltsgebiet der Prostituierten zu kontrollieren.
Gegen Ende des 15. Jh. erreichte Venedig seinen wirtschaftlichen Höhepunkt und hatte sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu einer schillernden Metropole der Neuzeit entwickelt. Kein Wunder, dass in dieser Zeit auch die engen und strengen Grenzen des Rotlichtmilieus gesprengt wurden. Unaufhaltsam breitete sich Prostitution in der ganzen Stadt aus. Per Dekret zum Sperrbezirk erklärt wurde lediglich die nähere Umgebung der repräsentativen Piazza San Marco. Immigranten aus aller Welt strömten nach Venedig und durchmischten die Stadtbevölkerung heftig. Bunt und exotisch war auch das wachsende Heer der Prostituierten, die sich in Venedig niederließen. Sie boten ihre Dienste in Osterien, Tavernen, Herbergen, Bädern und Privatwohnungen an. Alles schien perfekt venezianisch organisiert zu sein, wenn da nicht die parasitären Zuhälter gewesen wären, denen die Frauen nahezu schutzlos ausgeliefert waren, seitdem sie das schützende Castelletto verlassen hatten. Erst als der Frauenhandel, die Gewalt gegen Frauen, Ausbeutung und Erpressung unerträgliche Ausmaße annahmen, reagierte eines der höchsten Organe der Stadt, der Consiglio dei Dieci 1492 mit einem Gesetz, dass alle Prostituierten für frei erklärte (Libere tutte le Meretrici) und alle Zuhälter (Ruffiani) aus der Stadt verbannte.
Doch ein neuer Feind der käuflichen Liebe war bereits im Anflug - die Syphilis (il mal franzoso), die sich bald auch in Venedig ausbreitete. 1522 eröffnete im Sestiere Dorsoduro das karitative Ospedale degli Incurabili für Syphiliskranke. Bereits damals war eine medizinische Behandlung möglich, aber in diesen Genuss kamen nur wenige Erkrankte, während die meisten qualvoll starben. Dass die Prostituierten in der Hochzeit der Epidemie öffentlich beschimpft und zu Sündenböcken gemacht wurden dürfte wohl niemanden wundern.
Das revolutionäre Zeitalter der Renaissance prägte im 16. Jh. auch das soziale und kulturelle Leben in Venedig. Die Künste und das Menschenbild verfeinerten sich, das Bildungsniveau und das Standesbewusstsein stiegen. Eine Zeit in der die Kurtisane (Cortigiana), die Prostituierte mit Stil, die Bühne betrat. Längst war das Angebot an käuflicher Liebe so ausdifferenziert wie die venezianische Gesellschaft selber, jeder konnte die passende Dame seines Begehrens finden, ob als Meretrice, Puttana, Compagnessa oder anders bezeichnet. Doch über allen schwebte die Kurtisane, der Inbegriff der kultivierten Hure mit dem besonderen Merkmal der gesellschaftlichen Anerkennung. Nur in Venedig - hieß es damals sogar in Paris - genoss die Kurtisane die gleichen Freiheiten wie die Künstler.
Ausdruck des gehobenen Niveaus der venezianischen Prostitution waren neben einer aufwendigen Garderobe und eines extravaganten Lebensstils auch die phantasievollen Praktiken des Kundenfangs. Beispielsweise ist überliefert, dass die Elite der Zunft sich spezielle Gondeln mit Alkoven (Bettnischen) anfertigen ließ um damit auf dem Canale della Misericordia Ausschau nach Freiern zu halten. Andere Damen bevorzugten es als trauernde Witwen verkleidet ihre Freier in den Kirchen der Stadt zu suchen. Zur Schattenseite der Realität gehörten jedoch Armut und Elend unter den Prostituierten; vorbildlich waren hingegen Frauenhäuser in denen ausgestiegene Dirnen aufgenommen und resozialisiert wurden, während in den Waisenhäusern der Stadt gefährdete Mädchen vor dem Einstieg in die Prostitution geschützt wurden. Ausgerechnet im 17. Jh., der Zeit barocker Prachtentfaltung, zügelloser Feste und überschwänglicher Salonkultur, begann die Moralgesetzgebung wieder zu greifen und der Glanz der venezianischen Kurtisane zu verblassen. Sie verlor ihre gesellschaftliche Akzeptanz und Verbote schränkten ihre Bewegungsfreiheit und ihr luxuriöses Auftreten erheblich ein - zur Freude der venezianischen Adelsfrauen und vornehmen Damen.
Im 18. Jh. herrschte eine seltsam ausgelassene Atmosphäre in Venedig. Das unvermeidliche Ende der Adelsrepublik versetzte die Stadt und ihre Bewohner paradoxerweise in einen karnevalesken Rauschzustand, wobei die allgegenwärtige Prostitution ein enormes Ausmaß und eine nie geahnte Selbstverständlichkeit erreichte. Es war die Zeit Giacomo Casanovas und die sprichwörtliche Sittenlosigkeit Venedigs erregte die Gemüter in ganz Europa. Selbst der viel gereiste Goethe muss große Augen bekommen haben, wie es seine erotisch stark aufgeladenen Venezianischen Epigramme verraten.