Spaziergang 2: Durch San Polo und Santa Croce
Alle Wege führen zum Ponte di Rialto (→ S. 129), denn diese wichtige Brücke über den Canal Grande stellt seit eh und je den zentralen Verkehrsknotenpunkt Venedigs dar. Angesichts des unablässigen Menschengedränges fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass die frühere Holzbrücke 1444 unter der Last der Menge einstürzte. Ende des 16. Jh. dann solide aus Stein errichtet, gewährt

die Rialtobrücke den direkten Zugang zum unmittelbar angrenzenden
Rialtomarkt, wo die Tour durch San Polo und Santa Croce beginnen sollte.
Übernachten
2Al Ponte Mocenigo
3San Cassiano
17Albergo Guerrato
21Oltre Il Giardino
24Alex
25Falier
29Casa Peron
Essen & Trinken
1Osteria La Zucca
5Osteria Antico Giardinetto
6Pizzeria Ae Oche
8Al Nono Risorto
9Trattoria Poste Vecie
12Osteria Do Spade
13Ristorante Da Fiore
14Bàcaro/Cantina Do Mori
19Bàcaro/Osteria Antico Dolo
22Trattoria Alla Madonna
23Pasticceria Rizzardini
26Café Cico
31Trattoria Da Ignazio
33Gelateria Millevoglie da Tarcisie
38Vizio Virtù
Bars & Clubs
18Muro Bancogiro Al Pesador Naranzaria
20Rialtomarkt
35Café Noir
Einkaufen
4La Margherita
7Grafiche Ellemme
10Barbini Sergio
11Cappelli & Mantelli
15I Mascari
16Casa del Parmigiano
20Rialtomarkt
27Colorcasa
28Legatoria Polliero
30Bruno Amadi
32Karisma
34Franco Furlanetto
36Bottega Golosa
37Il Baule Blu
Die Fabbriche Vecchie e Nuove begrenzen den Rialtomarkt am Kanalufer
Kein Zweifel, dieser Rialtomarkt ist mit Abstand das Lebendigste, was Venedig zu bieten hat. Ein regelrechter Budenzauber, der die Sinne unmittelbar anspricht. Wer ausgelassene Marktatmosphäre mag, kommt hier garantiert auf seine Kosten. Im hektischen Gewirr der Marktstände und Ladengassen mit ihrer verlockenden Warenvielfalt und ihren Appetit machenden Düften fällt es schwer, die geschichtsträchtigen Baudenkmäler des Rialtoviertels nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Da ist zunächst die älteste Kirche Venedigs zu nennen, die Chiesa San Giacomo di Rialto, deren Grundstein angeblich 421, im offiziellen Gründungsjahr Venedigs, gelegt worden sein soll. Sicher ist allerdings lediglich, dass der Baukörper so, wie er sich heute präsentiert, aus dem 11. Jh. stammt. Bei der gotischen Säulenvorhalle handelt es sich um eine spätere Hinzufügung. Kunstgeschichtlich ist San Giacometto, wie die Kirche im Volksmund genannt wird, eher unbedeutend, aber eine Giebelinschrift drückt ihre wahre Bestimmung aus: „Dass in der Umgebung dieser Kirche das Gesetz des Kaufmanns recht sei, das Gewicht richtig und die Verträge ehrenhaft“ - ein Gotteshaus, ganz den Händlern und dem Geschäftsleben gewidmet. Dazu passt natürlich auch, dass bereits im 12. Jh. die Geldwechsler ihre Tische in der Säulenvorhalle von San Giacometto aufstellten und dass hier im Rialtoviertel die ersten Kredit- und Girobanken („Banco Giro“) eröffneten, die mit Schuldverschreibungen und Wechseln handelten. So mancher Händler mag sich in das Kircheninnere zurückgezogen haben, um für einen erfolgreichen Geschäftsabschluss zu beten.
Am Campo San Giacomo di Rialto, dem Arkadenplatz vor der Kirche, befindet sich eine kleine Treppe mit der Figur des Gobbo di Rialto (Buckliger von Rialto), und daneben steht ein Säulenstumpf namens Pietra del Bando. An dieser Stelle wurden früher die Handelsgesetze und Steuerverordnungen verkündet. Und gegen das bescheidene Entgelt von einer Gazzetta konnten sich die Bürger hier die aktuellen Nachrichten vorlesen lassen. „Gazzetta“, der Name vieler italienischer Zeitungen, geht auf diesen bezahlten Nachrichtendienst zurück. Der „Bucklige von Rialto“ war außerdem der Endpunkt eines Spießrutenlaufs: Räuber und andere Missetäter wurden nämlich oftmals dazu verurteilt, nackt vom Markusplatz zum Rialto zu laufen, und zwar unter Gertenschlägen. Der Gobbo war das erlösende Ziel dieses Folterlaufs.
Gleich hinter San Giacomo di Rialto, am Kanalknick, erhebt sich der Palazzo dei Camerlenghi, ein Renaissancebau (frühes 16. Jh.), in dessen Vorgängerbau bereits das oberste venezianische Finanzamt residierte. Im Erdgeschoss dieser gnadenlosen Behörde befanden sich Zellen für säumige Steuerzahler. Ein Stück weiter am Kanalufer, neben Erberia (Obst- und Gemüsemarkt) und Pescheria (Fischmarkthalle), erstrecken sich die alten Verwaltungsgebäude des Rialtoviertels, die Fabbriche Vecchie e Nuove, in denen die Handelsaufsicht und das Handelsgericht untergebracht waren.
Über das Ölufer Riva dell’Olio - mit Blick auf die gegenüberliegende Ca’ d’Oro (→ S. 131) - gelangt man schlagartig in ruhigere Gefilde. Hier, im Bereich des Campo San Cassiano und des Ponte delle Tette (Busenbrücke), befand sich einst ein verrufenes Rotlichtviertel, in dem die ansässigen Prostituierten barbusig an Fenstern und Balustraden werben durften (→ „Prostitution in Venedig“, S. 152).
Über den beschaulichen Campo Mater Domini mit seinen pittoresk verwitterten Häuserfassaden führt der Weg zur Ca’ Pesaro mit seinen beiden Museen (→ S. 131) und zur Kirche San Stae (s. u.) am Canal Grande. Nach der Besichtigung des sehenswerten Palazzo Mocenigo (s. u.) bietet sich ein Abstecher zum Fondaco dei Turchi (→ S. 132) an. Weiter geht es über den Rio del Megio zum oval angelegten Kirchenplatz von San Giacomo dell’Orio (s. u.). Die freistehende Kirche beherrscht die Platzmitte mit ihren harmonisch geschwungenen Apsiswölbungen. Platanenschatten und ein paar Bänke laden zum Verweilen ein.
Jetzt führt ein Zickzackweg mit Verirrungsgefahr durch ein eher reizarmes Wohngebiet vorbei an der Scuola Grande di San Giovanni Evangelista (s. u.) zur monumentalen Frari-Kirche (→ S. 155), wo es ein frühes Meisterwerk von Tizian zu bewundern gibt. Im Rücken der Frari-Kirche befindet sich mit der Chiesa und der Scuola Grande di San Rocco ein weiteres, unbedingt sehenswertes Gebäudepaar (→ S. 156). Neben dem riesigen Bruderschaftshaus, das ein Tintoretto-Museum beherbergt, fällt die Chiesa San Rocco, in der weitere Gemälde des jungen Tintoretto hängen, geradezu bescheiden aus.
Der anschließende kleine Campo San Tomà wird ganz von der weißen, fensterlosen Fassade der Chiesa San Tomà beherrscht. Von hier aus sind es nur wenige Schritte zum Geburtshaus des Komödiendichters Carlo Goldoni, in dem heute eine theaterwissenschaftliche Bibliothek mit angeschlossenem Museum (s. u.) untergebracht ist. Hier befindet man sich übrigens im ehemaligen Viertel der Saoneri (Seifensieder), im 16. Jh. ein lukrativer Produktionszweig, um den Venedig stark beneidet wurde.
Hinter dem Rio di San Polo öffnet sich der volkstümliche Campo San Polo. Während der Ziegelsteinbau der Chiesa San Polo (s. u.) dem Platz mit seiner Apsis fast die kalte Schulter zeigt, erfreuen einige Häuserfassaden das Auge, darunter der gotische Palazzo Soranzo (Nr. 2169-2171), in dem Giacomo Casanova ein und aus ging. Heute ist der Campo San Polo, auf dem früher sogar Stierkämpfe stattfanden, ein wichtiger Veranstaltungsort während der Karnevalszeit und des internationalen Filmfestivals. Von hier führt ein kurzer Abstecher zur angeblich schmalsten Gasse Venedigs, der 65 cm breiten Calle Stretta.
Riva del Vin, das „Weinufer“ am Canal Grande, wo man von einer fotoreifen Ansicht der Rialtobrücke empfangen wird, erreicht man über die beiden Plätze Campo San Aponal und Campo San Silvestro. Und zum Abschluss des Spaziergangs unbedingt einen Blick in die unscheinbare Kirche San Giovanni Elemosinario werfen (s. u.).
Prostitution in Venedig (13.-18. Jh.)
Das älteste erhaltene Dokument in Venedigs umfangreichen Stadtarchiven, das die Existenz der Prostitution in der Lagunenstadt belegt, stammt von 1228. In diesem Schriftstück werden zwei Brüder, zwei reiche Kaufleute, aufgefordert, einem gewissen Angelo Bernardo den Mietvertrag für eines ihrer Wohnhäuser zu kündigen, weil dieser dort zusammen mit seiner Geliebten und einigen anderen Frauen ein kleines Bordell (Postribolo) betreibt. Mit Strenge und Unnachgiebigkeit trachtete Venedigs allgegenwärtiger Behördenapparat seinerzeit danach, die Ausbreitung der Prostitution einzudämmen.
Doch schon Anfang des 14. Jh. änderte sich die Grundeinstellung zur öffentlichen Ausübung der Prostitution. Zunächst einmal tolerierten die zuständigen Behörden die Präsenz von Dirnen in den Osterien und Tavernen des Rialtoviertels, wo sie ungestört auf Freierfang gehen durften. Praktisch, dass diese berüchtigten Gaststätten und Wirtshäuser im turbulenten Markt- und Handelszentrum der Stadt zumeist auch Zimmer vermieteten. Beabsichtigtes Ziel war es, der Prostitution einen geeigneten und überschaubaren städtischen Raum zuzugestehen und sie vom übrigen Stadtgebiet fernzuhalten. Außerdem glaubte man seinerzeit, dass eine kontrollierte Prostitution dazu beitragen könnte, anderen schlimmen Übeln wie Vergewaltigung, Sodomie und Homosexualität Einhalt zu gebieten.
1360 öffnete das erste offizielle Bordell Venedigs seine Türen, und das Rialtoviertel, wo sich das sogenannte Castelletto befand, entwickelte sich endgültig zum Rotlichtviertel. Halb privat und halb öffentlich geführt stand das Freudenhaus unter der Aufsicht der Capi di Sestiere, die regelmäßig und pünktlich einen Teil der Monatseinnahmen kassierten, um die Hausmeister zu bezahlen und die Miete an die Besitzer der Wohnblocks abzuführen, bei denen es sich um die ortsansässigen Adelsfamilien Venier und Morosini handelte. Schwierigste Aufgabe für die Capi war es, zu verhindern, dass die herumschlendernden Prostituierten ihren streng reglementierten Aufenthaltsbereich zwischen dem Campo delle Beccarie und dem Campo San Cassiano verließen.
Genau ein Jahrhundert lang erfüllte das Castelletto a Rialto seinen Zweck, bis es 1460 durch ein größeres Bordell in der Calle delle Beccarie ersetzt wurde. Die Konzession für das neue Castelletto erhielt ein Stadtadliger namens Priamo Malipiero, der auch für die Einhaltung der erweiterten Vorschriften und umfangreichen Reglementierungen verantwortlich war. Beispielsweise galt es, die eingeführte Sperrstunde zu überwachen, die Kuppler vom Freudenhaus fern zu halten und das nach wie vor begrenzte Aufenthaltsgebiet der Prostituierten zu kontrollieren.
Gegen Ende des 15. Jh. erreichte Venedig seinen wirtschaftlichen Höhepunkt und hatte sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu einer schillernden Metropole der Neuzeit entwickelt. Kein Wunder, dass in dieser Zeit auch die engen und strengen Grenzen des Rotlichtmilieus gesprengt wurden. Unaufhaltsam breitete sich Prostitution in der ganzen Stadt aus. Per Dekret zum Sperrbezirk erklärt wurde lediglich die nähere Umgebung der repräsentativen Piazza San Marco.
Immigranten aus aller Welt strömten nach Venedig und durchmischten die Stadtbevölkerung heftig. Bunt und exotisch war auch das wachsende Heer der Prostituierten, die sich in Venedig niederließen. Sie boten ihre Dienste in Osterien, Tavernen, Herbergen, Bädern und Privatwohnungen an. Alles schien perfekt venezianisch organisiert zu sein, wenn da nicht die parasitären Zuhälter gewesen wären, denen die Frauen nahezu schutzlos ausgeliefert waren, seitdem sie das schützende Castelletto verlassen hatten. Erst als der Frauenhandel, die Gewalt gegen Frauen, Ausbeutung und Erpressung unerträgliche Ausmaße annahmen, reagierte eines der höchsten Organe der Stadt, der Consiglio dei Dieci 1492 mit einem Gesetz, dass alle Prostituierten für frei erklärte (Libere tutte le Meretrici) und alle Zuhälter (Ruffiani) aus der Stadt verbannte.
Doch ein neuer Feind der käuflichen Liebe war bereits im Anflug - die Syphilis (il mal franzoso), die sich bald auch in Venedig ausbreitete. 1522 eröffnete im Sestiere Dorsoduro das karitative Ospedale degli Incurabili für Syphiliskranke. Bereits damals war eine medizinische Behandlung möglich, aber in diesen Genuss kamen nur wenige Erkrankte, während die meisten qualvoll starben. Dass die Prostituierten in der Hochzeit der Epidemie öffentlich beschimpft und zu Sündenböcken gemacht wurden dürfte wohl niemanden wundern.
Das revolutionäre Zeitalter der Renaissance prägte im 16. Jh. auch das soziale und kulturelle Leben in Venedig. Die Künste und das Menschenbild verfeinerten sich, das Bildungsniveau und das Standesbewusstsein stiegen. Eine Zeit in der die Kurtisane (Cortigiana), die Prostituierte mit Stil, die Bühne betrat. Längst war das Angebot an käuflicher Liebe so ausdifferenziert wie die venezianische Gesellschaft selber, jeder konnte die passende Dame seines Begehrens finden, ob als Meretrice, Puttana, Compagnessa oder anders bezeichnet. Doch über allen schwebte die Kurtisane, der Inbegriff der kultivierten Hure mit dem besonderen Merkmal der gesellschaftlichen Anerkennung. Nur in Venedig - hieß es damals sogar in Paris - genoss die Kurtisane die gleichen Freiheiten wie die Künstler.
Ausdruck des gehobenen Niveaus der venezianischen Prostitution waren neben einer aufwendigen Garderobe und eines extravaganten Lebensstils auch die phantasievollen Praktiken des Kundenfangs. Beispielsweise ist überliefert, dass die Elite der Zunft sich spezielle Gondeln mit Alkoven (Bettnischen) anfertigen ließ um damit auf dem Canale della Misericordia Ausschau nach Freiern zu halten. Andere Damen bevorzugten es als trauernde Witwen verkleidet ihre Freier in den Kirchen der Stadt zu suchen. Zur Schattenseite der Realität gehörten jedoch Armut und Elend unter den Prostituierten; vorbildlich waren hingegen Frauenhäuser in denen ausgestiegene Dirnen aufgenommen und resozialisiert wurden, während in den Waisenhäusern der Stadt gefährdete Mädchen vor dem Einstieg in die Prostitution geschützt wurden. Ausgerechnet im 17. Jh., der Zeit barocker Prachtentfaltung, zügelloser Feste und überschwänglicher Salonkultur, begann die Moralgesetzgebung wieder zu greifen und der Glanz der venezianischen Kurtisane zu verblassen. Sie verlor ihre gesellschaftliche Akzeptanz und Verbote schränkten ihre Bewegungsfreiheit und ihr luxuriöses Auftreten erheblich ein - zur Freude der venezianischen Adelsfrauen und vornehmen Damen.
Im 18. Jh. herrschte eine seltsam ausgelassene Atmosphäre in Venedig. Das unvermeidliche Ende der Adelsrepublik versetzte die Stadt und ihre Bewohner paradoxerweise in einen karnevalesken Rauschzustand, wobei die allgegenwärtige Prostitution ein enormes Ausmaß und eine nie geahnte Selbstverständlichkeit erreichte. Es war die Zeit Giacomo Casanovas und die sprichwörtliche Sittenlosigkeit Venedigs erregte die Gemüter in ganz Europa. Selbst der viel gereiste Goethe muss große Augen bekommen haben, wie es seine erotisch stark aufgeladenen Venezianischen Epigramme verraten.