Zoran Drvenkar

Du bist zu schnell

Roman

Klett-Cotta Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte Ausgabe September 2005 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de © 2003 J. G. Cotta sehe Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlaggestaltung: Stephanie Weischer unter Verwendung eines Fotos von © photonica/Photolibrary.com Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Gesetzt aus der Joanna 10/12'

Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany • ISBN 3-423-20833-3

Val erwacht in einer geschlossenen Anstalt. Sie hat Dinge gesehen, die sie nicht hätte sehen dürfen. Eine Welt, verborgen in unserer. Die Welt der Schnellen. Doch die Ärzte glauben an Halluzinationen und stellen sie mit Medikamenten ruhig. Kaum ist Val entlassen, geht sie gemeinsam mit ihrer Freundin Jenni der Sache auf den Grund. Kurz darauf ist Jenni tot, auf dem Badezimmerspiegel steht, mit Blut geschrieben: »Wo bist du gewesen?!« Wer hat Jenni umgebracht? Die Schnellen, wie Val behauptet? Wesen, die töten, sobald Val ihre Welt betreten möchte? Oder gar Val selbst? Immer tiefer verstricken sich Val und ihre Freunde auf der Suche nach den Schnellen in ein Geflecht aus Realitätssplittern und Vals Visionen. Immer unheilvoller werden die Zeichen einer unerklärlichen Bedrohung... - »Eine Warnung: Wer die Tür in die Welt dieses Romans einmal aufgestoßen hat, wird sie erst wieder schließen, wenn er mit dem ungemein blutigen Horror-Trip bis ans Ende gekommen ist.« (Karl-Markus Gauss in der Süddeutschen Zeitung<)

Zoran Drvenkar wurde 1967 in Krizevci/Kroatien geboren und zog als Dreijähriger mit seinen Eltern nach Berlin, wo er auch heute wieder lebt. Seit 1989 arbeitet er als freier Schriftsteller. Für seine Romane, Gedichte, Theaterstücke und Kurzgeschichten wurde er mit zahlreichen Literaturstipendien und Preisen ausgezeichnet.

für

Michael Kurth, der weiß, wo die Türen im Schnee zu finden sind

MAREK

1

Val liegt auf dem Rücksitz. Es ist zwei Uhr morgens, und die Landschaft um uns herum schimmert in einem silbernen Licht. Wenn ich mich vorbeuge, sehe ich den Mond als angeschlagenen Kreis über den Strommasten hängen. Früher wunderte ich mich, daß er immer mitwanderte. Ich war zehn Jahre alt, saß auf dem Rücksitz und fühlte mich beobachtet. Da war dieses weiße Auge am Nachthimmel, mal zu einem Schlitz zusammengekniffen, mal wissend weit offen. An diesem Gefühl hat sich nichts verändert, nur wundere ich mich nicht mehr.

Val schläft, während ich mühsam versuche, wach zu bleiben. Die Lichter der entgegenkommenden Wagen blenden mich, seitdem ich von der Landstraße auf die Autobahn abgebogen bin. Manchmal hebe ich eine Hand und halte sie mir über die Augen, als würde ich in die Sonne schauen.

Ich wechsle die Musik. Der Mond verkriecht sich in den Rückspiegel und wird zu einem leuchtenden Punkt. Seit einer Stunde ist kein Wagen mehr hinter mir aufgetaucht. Diese Autobahn könnte zum Ende der Welt führen, und ich würde mich nicht beschweren.

Ich kurble das Fenster ein Stück herunter und werfe einen Blick in den Rückspiegel, um zu sehen, ob der Windzug Val stört. Sie trägt einen überweiten Pullover. Ich fand in der Eile nichts anderes. Es ist unangenehm, einen Körper zu bewegen, der nicht reagiert. Als könnte man alles mit ihm machen. Keine Schmerzen mehr.

Es sind noch knapp zwei Stunden bis Berlin. Ich hoffe, daß Val bis dahin nicht wach wird. Ich will nicht mit ihr reden, und ich will ihr auch nicht in die Augen sehen. Kaum habe ich das gedacht, spüre ich ihren Blick in meinem Nacken. Ruhig bleiben. Ohne mich umzudrehen, setze ich bei der nächsten Raststätte den Blinker und halte weit hinten bei der Ausfahrt, wo kein anderer Wagen parkt.

Val hat sich in eine Ecke des Rücksitzes gedrückt und die Beine angezogen. Ihr Blick ist panisch. In letzter Zeit braucht sie immer eine Weile, bevor sie mich erkennt. Das erste Mal bekam ich Herzrasen, als sie mich in der Nacht wachrüttelte. Sie war über mir wie eine Furie und schrie: »Was hast du hier verloren?Was tust du in meinem Bett, du Penner? Los, verschwinde!«

—    Ich bin’s, sage ich, Marek.

Val kneift die Augen zusammen. Sie will sich erinnern, sie versucht es und beginnt zu weinen.

Meine Eltern schenkten mir zu meinem achtzehnten Geburtstag einen Talisman. Das silberne Medaillon mit eingravierten Runen sollte mich vor Einsamkeit, Hunger und dem Bösen schützen. Vor allen Dingen aber sollte es mich zu der Frau führen, die für mich bestimmt war.

Ich habe das Val nie erzählt, sie muß aber die Bedeutung desTalismans erahnt haben. Oft hielt sie das Medaillon in der Hand, wenn ich aus der Dusche kam. Ihre Finger zogen die Gravur nach, als könnte sie die Runen lesen.

Nachdem wir uns ein Jahr kannten, verschwand der Talisman. Ich krempelte die Wohnung um, verschob die Möbel und lief den Weg zum Auto viermal ab. Als ich am selben Abend mit Val im Bett lag, sagte ich frustriert:

-    Ich hätte nie gedacht, daß ich meinen Talisman verliere.

-    So wichtig? fragte Val.

-    Meine Eltern brachten ihn mir von einer Irlandreise mit. Er soll mich vor dem Bösen beschützen.

-    Ich werde dich beschützen, sagte Val.

Ich beugte mich zu ihr und küßte sie. Noch war nichts geschehen.

-Vielleicht habe ich ihn ja irgendwo in deiner Wohnung vergessen, sagte ich, Könntest du mal schauen?

Val schüttelte den Kopf.

-    Nicht nötig, sagte sie.

Wir sahen uns an. Val verschob die Bettdecke, so daß ihr Bauch freilag.

-    Hier, leg mal deinen Kopf darauf.

Ich legte meinen Kopf auf ihren Bauch. Mir war mulmig zumute. Konnte sie schwanger sein?

-    Hörst du ihn? fragte Val.

-    Hör ich wen? fragte ich zurück.

Val lachte, ihr Bauch gluckste.

-    Deinen Talisman, sagte sie.

Ich richtete mich wieder auf und sah sie an. Für einen Moment war ich mir sicher, daß sie ihn verschluckt hatte. Sie hatte sich meinen verdammten Talisman genommen und ihn verschluckt! Dann lachte Val. Symbolik, dachte ich, es ist symbolisch gemeint. Sie hat einen Witz gemacht, das ist alles.

-    Ich bin dein neuer Talisman, sagte Val, Los, küß mich.

Ich küßte sie und spürte ihre Zähne an meiner Unterlippe.

Im Restaurant friert Val, obwohl ich ihr meinen Mantel um die Schultern gelegt habe und einige Leute nur im T-Shirt dasitzen. Wir sehen aus wie der Entführer und die Entführte. Mir ist Vals Zerbrechlichkeit zum ersten Mal peinlich. Wir essen schweigend und sehen kaum von unseren Tellern auf. Erst als Val an ihrem Kakao nippt, sagt sie:

—    Den haben sie mit Wasser gemacht.

—    Zeig mal.

Ich koste von ihrem Becher, verziehe das Gesicht.

—    Gut, daß ich keinen bestellt habe.

—    Kannst meinen haben, sagt sie.

—    Deins ist deins, sage ich.

—    Und meins ist meins, setzt sie das Spiel fort.

Ich möchte heulen, als ich das höre.

—    Und unsers, sage ich.

—    Ist unsers, sagt sie und nimmt mir den Becher wieder weg.

Es war diese eine Nacht, in der ich Herzrasen bekam, die unsere Beziehung beinahe beendet hätte. Man kann mich nicht aus dem Schlaf reißen, anschreien und fragen, wer zum Teufel ich bin. Mir macht das eine Heidenangst. Wenn man glaubt, einen Menschen auch nur ansatzweise zu kennen, dann kann solch ein Moment einen aus der Bahn werfen. Als Val losschrie, hob ich meine Arme zum Schutz. Ein Schlag traf mich an der Schulter, ein anderer ging an meinem Ohr vorbei. Es gelang mir, Val an den Handgelenken zu packen. Ihr Knie traf meinen Oberschenkel, sie hatte auf meine Hoden gezielt. Dann schrie sie plötzlich, hoch und schrill. Sie schrie, sie würde sich das nicht gefallen lassen. Nicht in ihrem Bett, nicht in ihrer Wohnung.

Mir fiel dazu nichts ein, wir waren bei mir.

Val sprang auf und rannte aus dem Schlafzimmer. Ich war so perplex, daß ich einfach sitzen blieb und ihr hinterhersah.

Ich hörte Geräusche aus der Küche, Schubladen wurden aufgezogen, Besteck klimperte. Ja, ich sah es direkt vor mir -jeden Moment würde sie hereinkommen, um mit einem Tranchiermesser auf mich einzustechen. Ohne lange zu überlegen, stand ich auf und ging zu meinen Sachen. Val und ich schliefen immer nackt, ihre Kleidung lag auf dem Stuhl über meiner. Ich warf sie hinunter und war innerhalb von Sekunden angezogen.

Val kam nicht aus der Küche.

Ich stand mit dem Rücken zum Fenster und wartete.

Val kam nicht.

Ich fand sie am Küchentisch. Sie hatte einen Becher vor sich stehen. Der Instantkaffee hatte sich in dem kalten Wasser nicht aufgelöst und schwamm in schwarzen Klumpen auf der Oberfläche.

-Wieso hast du dir meinen Pulli um den Arm gewickelt? fragte mich Val und gähnte.

Ich sah auf meinen Arm, schüttelte den Pullover ab und wischte über mein Gesicht, als wäre ich verwirrt.

-    Konntest du nicht schlafen? fragte sie.

-    Es geht. Und du?

—    Ich bin noch nicht müde. Ich wollte noch ein wenig lesen.

Sie schaute auf den Tisch, als ob da ein Buch liegen würde.

-    Und? fragte ich, Wie ist das Buch?

—    Unmöglich, antwortete sie und nahm einen Schluck aus ihrem Becher.

Ich sah die Kaffeekrümel auf ihrer Oberlippe, und ich sah die Kaffeekrümel auf ihren Zähnen, als sie mich fragte, ob wir nicht wieder ins Bett gehen wollten.

Ich wich einen Schritt zurück. Das letzte, was ich wollte, war, jetzt mit Val ins Bett zu gehen.

—    Ich ... ich brauch ein wenig Luft, ich werde Spazierengehen.

-    Jetzt?

-    Jetzt.

-    Mach das, sagte Val, ich lese noch eine Weile.

Und wieder sah sie auf die Tischplatte, und ich grinste dämlich und beeilte mich, aus der Wohnung zu kommen.

Zwei Stunden später war ich auf dem Rückweg und mir sicher, daß es ein Mißverständnis gewesen sein mußte. Vielleicht war ich es, der halluziniert hatte. Alles war möglich. Ich lachte, schüttelte den Kopf, konnte aber diese Kaffeekrümel nicht vergessen. Sie erschreckten mich am meisten. Mehr noch als das unsichtbare Buch.

Bei meiner Rückkehr in die Wohnung war Val am Küchen tisch eingeschlafen. Ich nahm sie auf den Arm und trug sie ins Bett.

Danach schloß ich mich im Bad ein und durchsuchte ihr Kosmetiktäschchen. Damals wußte ich nichts von ihrer Krankheit, ich war völlig ahnungslos.

Die Pillen waren in einer blauen Verpackung. Kein Beipackzettel, nur ein paar Pillen in Folie. Ich stand da, hielt sie in der Hand und versuchte, mir ihren Namen zu merken.

Am Morgen hatte ich ihn vergessen.

— Ich will nicht mehr hinten sitzen.

Val steigt vorne ein und kramt sofort in den CDs. Sie pickt Greg Keelor heraus, Gone, während ich von der Raststätte fahre, beide Hände fest am Lenkrad und übertrieben konzentriert. Vals Blicke streifen mich, ich spüre es und nehme die Augen nicht von der Straße. Ich kann noch nicht reden.

-    Möchtest du nicht wissen, was passiert ist? fragt Val.

-    Noch nicht, sage ich.

Wir schweigen, und als Val unruhig wird, frage ich:

-    Schmerzen?

Sie nickt.

—Vielleicht solltest du deine Pillen nehmen, schlage ich vor.

—    Ja, vielleicht.

Sie greift nach hinten, um die Schachtel aus ihrem Rucksack zu kramen. Sie drückt sich zwei Pillen in die Handfläche.

-    Eine reicht nicht?

-Wenn eine reichen würde, würde ich eine nehmen, antwortet Val und legt sich die Pillen hinten auf die Zunge. Ich beobachte sie dabei aus den Augenwinkeln, beobachte diesen kurzen Moment, der mir inzwischen so vertraut ist.

Nachdem ich Vals Medikament entdeckt hatte, war mir nicht klar, worauf ich da eigentlich gestoßen war. Also stellte ich sie zur Rede und hörte mir ihre Erklärung an: Migräne und schlimme Schmerzen während der Regel. Das reichte mir nicht. Ich lieh mir für einen Nachmittag die blaue Verpackung aus ihrem Kosmetiktäschchen.

Eine Apothekerin fand mich indiskret und lehnte jedwede Auskunft ab. Sie fragte mich, woher ich das Medikament hätte und ob ich denn wüßte, daß ich mich strafbar machte.

-Womit? fragte ich, und sie sah mich nur an, als würde ich bluffen.

In der vierten Apotheke kam ich einen Schritt weiter.

—    Neu, sagte der Apotheker, Kenn ich noch nicht.

—    Und was genau ist es?

Er drehte die Pillenverpackung in den Händen, als würde irgendwo eine Erklärung stehen, was genau das für Pillen waren.

-    Ein Anti-Epileptikum, sagte er und gab sie mir zurück, Noch nicht auf dem Markt, verstehen Sie?

Ich verstand, dennoch konnte ich damit nicht viel anfangen. Wie kam Val an ein Medikament, das es noch nicht zu kaufen gab?

Dann wechselte die Marke. Das alles geschah in einem Zeitraum von vier Monaten. Zu der einen blauen Pillenpak-kung kamen drei andere hinzu. Rot, orange, grün. Die gesamte Kollektion landete nicht in Vals Kosmetiktäschchen. Die alten Packungen verschwanden und wurden durch neue ersetzt. Ich blieb dran. Wenn ich einmal mißtrauisch bin, lege ich das nur schwer wieder ab.

Eines Abends durchsuchte ich Vals Wohnung, bevor sie von der Uni nach Hause kam. Ihr Vorrat war in einer Schublade unter Briefen und Photos versteckt. Ich fand sechzehn verschiedene Pillensorten, bei allen fehlte der Beipackzettel. Es waren einfach nur Pillen mit verschiedenen Namen in farbigen Folien. Der Großteil war nicht aufgebraucht.

Ich konnte Val nicht darauf ansprechen. Ich wußte, sie würde mich beschuldigen, ihr hinterherzuschnüffeln. Auf keinen Fall wollte ich ihr das Gefühl geben, mißtrauisch zu sein. Am liebsten wäre es mir gewesen, sie hätte das Problem von sich aus angesprochen. Wir verstanden uns gut, es gab keine Reibungen. Seit der einen Nacht schien es uns sogar besser zu gehen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich an sie herankommen sollte.

Also hielt ich den Mund und versuchte herauszufmden, was Val mit Hilfe der Pillen ausbalancieren wollte. Denn - so sah ich es - Val nahm diese Medikamente, um ein Gleichgewicht in sich zu schaffen. Die Frage war, was das Gleichgewicht gestört haben konnte.

Es muß meine romantische Ader gewesen sein, die mich so denken ließ. Das und der Wunsch, daß Val die richtige Frau für mich ist und von mir gerettet werden muß.

Zwei Tage später stahl ich aus dem Kosmetiktäschchen zwei Pillen und schluckte sie mit einem Glas Wasser. Am selben Tag verstand ich ein wenig, warum Val war, wie sie war, und stellte sie zur Rede.

Val zieht die Beine an und legt ihren Kopf in meinen Schoß. Nachdem ich meinen Sitz etwas zurückgeschoben habe, ist es auch für mich bequem. Sie hat nicht gefragt, wohin wir unterwegs sind; und ich denke nicht daran, es ihr zu erzählen. Wir bewegen uns geschickt aneinander vorbei.

In solchen Momenten der Ruhe wünsche ich mir einfach nur weiterzufahren. Ich will nicht, daß es hell wird, ich will nicht, daß die Autobahn endet oder Val erwacht. Ein Tank, der sich nicht leert, ein Mond, der nie verschwindet.

Ich streiche über Vals Kopf, spüre ihre tiefen Atemzüge durch den Stoff meiner Jeans. Noch vor einem Monat wäre ich an den Straßenrand gefahren, oder Val hätte meine Hose während der Fahrt aufgeknöpft.

Ich wische mir über die Augen und wechsle die CD. Eels, Souljacker — passender geht es nicht. Ich schaue kurz nach rechts, wo sich die fahlen Lichter einer Stadt aus der Dunkelheit schälen. Braunschweig zieht vorbei, die Eels singen That’s the last time I cry, und Berlin kommt viel zu schnell näher.

2

Es ist vier Uhr morgens, als ich auf einem markierten Behindertenparkplatz halte und den Motor laufen lasse. Berlin scheint ausgestorben zu sein. Weiter vorne warten drei Taxen an einer Haltesäule, kein Fußgänger ist zu sehen. Die Ampel an der Kreuzung steht auf Rot.

Val bewegt sich unruhig im Schlaf. Ihr Kopf liegt noch immer auf meinem Schoß, er ist warm und schwer. Als ich ihr über den Rücken streichle, spüre ich ihre Schulterblätter. Val muß in den letzten Tagen wenig gegessen haben, ich kann jede einzelne Rippe fühlen.

Ich sehe auf die Ampel und warte, daß sie umschaltet. Zehn Minuten vergehen, die Ampel bleibt auf Rot, ich warte weiter. Einige Meter entfernt hängt ein Straßenplan hinter einer beleuchteten Glasscheibe. Ich will nicht aussteigen und ihn mir ansehen. Ich will die Augen schließen, und wenn ich erwache, sind wir wieder bei Val in der Wohnung, und nichts hat sich verändert. Das Licht am Morgen, der Geruch von Schlaf.

Vorsichtig schiebe ich Val auf ihren Sitz zurück. Ich erwarte, daß sie erwacht, doch sie schläft weiter.

Draußen ist es weit unter null Grad, die Straße und der Bürgersteig haben diese trockene Härte, die es nur im Winter gibt. Es fehlt Schnee, mit Schnee läßt sich die Kälte ertragen. Ich ziehe die Schultern hoch und schiebe die Hände tief in die Hosentaschen. Das vorderste Taxi verläßt beinahe lautlos die Haltestelle und überquert die Kreuzung bei Rot.

Ich bleibe vor dem Stadtplan stehen. Das Papier ist an einem Ende feucht und gewellt. Eine Spinne muß sich vor Ewigkeiten hinters Glas geschlichen haben und hängt vertrocknet über der Clayallee. Ich stampfe ein paarmal auf der Stelle, um warm zu werden. Nach einigem Suchen finde ich die richtige Straße und kritzle mir den Weg mit klammen Fingern auf einen Zettel. Mein Gekritzel erinnert an die Zeichnung eines Kleinkindes, das dringend auf die Toilette muß. Ich laufe zum Wagen zurück und steige ein. Val schläft

noch immer. Ich lege den Gang ein und parke aus. Nachdem ich etwa zwei Minuten an der Ampel gewartet habe, fahre ich zögernd bei Rot über die Kreuzung. Ich könnte wetten, daß einer der Taxifahrer lacht. Ich weiß nicht, warum ich so feige bin. Ich weiß nicht, was mir nach heute nacht noch passieren könnte.

— Du hast was?

—    Ich habe deine Pillen ausprobiert.

—    Von meinen ... du hast... von meinen ... Du meinst meine Pillen?

-Aus deinem Kosmetiktäschchen, ja.

—    Spinnst du völlig?

—    Ich wollte wissen, wie sie wirken.

Sie sah mich an, als ob ich ein Vollidiot wäre.

—    Meine Pillen? Aus meinem ...

Sie rannte ins Bad, kam mit der Pillenpackung zurück.

—    Zwei! Du hast zwei genommen?

—    Das habe ich doch gesagt.

—    Du nimmst zwei von meinen Pillen? Spinnst du völlig?

—    Mach doch nicht so ein Ding daraus, ich wollte doch nur wissen, wie sie wirken. Ich wollte dich verstehen.

—    Scheiße, niemand hat gesagt, daß du mich verstehen sollst. Bist du mein Therapeut? Los, raus mit dir!

-Was?

—Verschwinde aus meiner Wohnung. Das klappt nicht mit uns, ich will dich nicht mehr sehen, los, geh endlich!

Sie wandte sich ab, stand mit dem Rücken zu mir, ihre Schultern hoben und senkten sich unter schweren Atemzügen.

-Val, hör mal, mach keinen Quatsch.

Ich legte meine Hände auf ihre Schultern, sie hörte auf zu atmen.

-    Hör mal, es tut mir leid.

-Wie konntest du nur?

-    Ich mach es auch nicht wieder.

-    Das sind meine Pillen, Marek, das sind nicht deine Pillen.

-    Ich weiß.

-    Zwei Stück, du spinnst völlig. Ich ...

Sie drehte sich um. Ihr Blick war kalt und voller Wut, als sie sagte:

-    Ich will dich erst mal nicht sehen. Ich muß über alles nachdenken. Verlaß bitte meine Wohnung.

Ich ging zur Tür und zog mir die Schuhe an.

-    Ich ruf dich an, ja?

-    Es tut mir leid

Sie hatte sich wieder abgewandt. Ich stand vor der Wöh-nungstür und wartete, sie drehte sich nicht um, also ging ich. Zehn Minuten später war ich wieder da, schloß die Tür auf und trat ein.

-    Es tut mir leid, Val, ich kann so nicht gehen, ich kann einfach nicht.

Keine Reaktion. Ich stand im Flur und hatte das Gefühl, daß Val gar nicht mehr in der Wohnung war.

-Hallo? Es...

Sie saß auf dem Boden vor dem Fernseher und schaute eine Sitcom. Auf ihrem Gesicht war ein nettes Lächeln, sie hatte Spaß an den Gags.

-    He? sagte ich.

Val sah mich an, und ihr Lächeln wurde breiter. Sie freute sich eindeutig, mich zu sehen. Ich ging in die Knie und schloß sie in die Arme.

-    Es tut mir leid, Val.

-    Mach das nie wieder, sagte sie in mein Ohr.

-    Nie wieder, sagte ich.

-    Geschworen?

-    Geschworen.

Sie strich mir über den Nacken, und ich war so erleichtert, daß ich für eine Weile nicht mehr versuchte, hinter ihr Geheimnis zu kommen.

Das Haus liegt in Zehlendorf zwischen einer Kirche und einem Koloß von einem Bungalow. Es hat zwei Stockwerke, grüne Fensterläden und ein ausgebautes Dachgeschoß. Aus dem ersten Stock blinkt einer dieser Weihnachtssterne, die der Alptraum eines jeden Epileptikers sind. Das bunte Licht reflektiert sich flackernd in den nahestehenden Bäumen.

Ich parke auf der gegenüberliegenden Straßenseite und höre auf das Ticken des abkühlenden Motors. Ich will nicht, daß Val wach wird und sieht, wohin ich sie gebracht habe. Dennoch zögere ich den Moment hinaus und lausche in die Stille. Schließlich gebe ich mir einen Ruck und steige aus, nehme meinen Mantel aus dem Kofferraum und überquere die Straße.

Das Gartentor ist nicht verschlossen, eine Lampe über der Tür geht an, als ich über die Steinplatten laufe und vom Bewegungsmelder erfaßt werde.

Das erste Mal zögere ich beim Klingeln, das zweite Mal klingle ich entschlossen und ein drittes Mal bringe ich einfach nicht über mich. Ich sage mir, entweder kommt jetzt jemand oder---Was auch immer.

Es dauert vielleicht eine Minute, bevor im Erdgeschoß ein Licht angeht. Als sich die Haustür öffnet, versuche ich zu lächeln.

-Ja, bitte?

Die Frau trägt einen Pullover über ihrem Schlafanzug, die Füße stecken in Wollsocken, ihr Haar ist durcheinander. Eine rote Falte zieht sich über ihre linke Wange. Sie muß Mitte vierzig sein. Es ist offensichtlich, daß ich sie geweckt habe.

—    Entschuldigen Sie, daß ich so spät hier auftauche. Ich bin Marek.

Die Frau sieht nervös an mir vorbei, dann fixiert sie mich wieder.

—    Und ich habe ein Problem, wegen dem---

—    Wer sind Sie? unterbricht sie mich.

—    Marek. Marek Wolters. Ich ... ich bin wegen Val hier,

sie---

—Wegen wem?

—Val, Valerie. Sie steckt in einer Krise, und ich dachte---

—    Ich kenne keine Valerie.

Sie hat mich jetzt zum dritten Mal unterbrochen, ihre Stirn gerunzelt und dabei immer ruhig gesprochen und kein einziges Mal geblinzelt. Ich spüre, wie mir der Schweiß ausbricht.

—    Sie ... sie sind doch Doris Sarstedt?

—    Das ist richtig.

—    Ich spreche von ihrer Tochter Valerie. Val, verstehen Sie?

Die Frau schüttelt den Kopf, dann sagt sie betont langsam:

—    Ich kann ihnen gerne meine zwei Kinder vorstellen, aber sie schlafen beide, deswegen müssen Sie mir einfach glauben, daß es unter ihnen keine einzige Val oder Valerie gibt. Sie haben an der falschenTür geklingelt.

Sie lächelt entschuldigend. Noch immer kein Blinzeln.

—    Doris Sarstedt? sage ich.

—    Doris Sarstedt, sagt sie.

Ich wende mich ab und gehe zum Wagen zurück. Val schläft noch immer. Ihre Stirn ist gegen das Fenster gedrückt, der Mund ein wenig geöffnet. Vorsichtig ziehe ich die Beifahrertür auf und hebe Val vom Sitz. Sie ist leicht, fast ohne Gewicht.

-He, Val?

Sie reagiert nicht, also trage ich sie auf den Armen zum Haus. Die Tür ist längst wieder geschlossen, das Licht im Erdgeschoß brennt aber noch. Ich trete mit dem Fuß auf den Klingelknopf. Alles oder nichts.

—    Ich habe Ihnen doch gesagt---

Die Frau bricht mitten im Satz ab. Sie hat die Tür aufge-rissen und für einen Moment sah ich, daß sie kurz davor war, mir eine zu verpassen. Eine Löwin, die ihre Höhle verteidigt. Vals Anblick hat sie zum Schweigen gebracht.

—    Wollen Sie noch immer behaupten, daß Sie sie nicht kennen? frage ich.

Ihre Augen wandern von Val zu mir, dann zu Val zurück. Die Frau öffnet den Mund, schließt ihn wieder. Sie sieht plötzlich traurig aus.

—    Tut mir leid, sagt sie leise, Vielleicht sollten Sie Ihre Freundin lieber in ein Krankenhaus bringen.

Bevor ich darauf reagieren kann, bewegt sich Val. Sie drückt ihren Kopf an meine Brust, das helle Licht über der Haustür stört sie. Dann blinzelt sie, sieht mich an und sagt:

-Hi.

—    Hi, antworte ich.

—Was machen wir...

Val verstummt, dreht den Kopf und schaut die Frau an. Ich bin bereit für alles. Ich bin bereit für Tränen und pompöse Geigenmusik; ich bin nicht darauf vorbereitet, daß Val sich die Hand vors Gesicht schlägt und sagt:

—    O mein Gott, ist das peinlich.

Zehn Minuten später halten wir auf dem Parkplatz eines McDonald’s. Ich bin am Kochen. Ich bin so sehr am Kochen, daß ich Hitze abstrahle.

—    Wie konntest du mich nur so verarschen? frage ich sie, Wie konntest du mich nur so gnadenlos verarschen? Ich bin...

Ich schaue auf die Kilometeranzeige.

—    ... fast dreihundert Kilometer gefahren, damit du mich verarschst, sehe ich das falsch?Tickst du noch ganz richtig?

Val sitzt gegen die Beifahrertür gepreßt und kaut an einem Fingernagel. Ich will ihr auf die Hand schlagen. Ich will, daß sie sich auf mich konzentriert und aufhört, aus dem Fenster zu sehen.

—Wer ist sie? frage ich.

—    Eine Bekannte.

—    Eine Bekannte von wem?

—    Eine Bekannte meines Onkels. Er hatte mal eine Affäre mit ihr, ich kenne sie nur vom Photo.

—    Und hast dir ihren Namen gemerkt?

—    Und hab mir ihren Namen gemerkt, ja und?

Ich muß mich verhört haben.

—Was hast du eben gesagt?

—    Ja und habe ich gesagt. Was regst du dich so auf? Sollte das eine Überraschung werden oder was? Denkst du, du kannst mich abschleppen und nach Berlin verfrachten, als wäre ich Mastvieh? Warte, wenn das Greenpeace erfahrt.

Sie lacht nicht, ich lache nicht, niemand lacht über diesen Schwachsinn.

—    Val, sage ich und versuche mich zu beruhigen, Val,

bitte, du hast mir erzählt, sie wäre deine Mutter. Ich ... ich wußte nicht weiter und dachte, deine Mutter könnte dir vielleicht---

—    Scheiß auf meine Mutter, unterbricht mich Val und wendet sich mir endlich zu, Es tut mir leid, okay? Ich habe Mist gebaut, ich habe Mist gebaut, und ich habe Mist gebaut. Ich entschuldige mich, ja? Sei jetzt bitte wieder lieb, es tut mir leid, hörst du?

Ihre Hand legt sich auf mein Knie.

—    Laß uns nach Hause fahren.

Sie sagt es mit einem Lächeln und rutscht näher, küßt meinen Hals, schmiegt sich an mich, küßt meinen Mund.

—    Laß uns zu mir fahren, dann massiere ich dich und wir... Was ist, was guckst du so?

Ich glaube es nicht. Ich sehe sie an und glaube es nicht.

-Val, sage ich betont langsam, Bei dir zu Hause liegt eine verdammte Leiche im Badezimmer, hast du das vergessen?

—    Oh...

Ihre Hand verschwindet von meinem Knie.

—    Oh ist alles, was dir dazu einfallt? hake ich nach.

Val starrt erneut aus dem Fenster und kaut am nächsten Fingernagel.

—    Du hättest mich nicht anlügen sollen, sage ich leise und habe keine Ahnung, was ich als Nächstes tun soll. Es ist früher Morgen in Berlin, und die vergangene Nacht kommt mir vor wie ein gefährliches Tier, das immer näher schleicht. Ich dachte, wir könnten sie hinter uns lassen. Ich weiß jetzt, daß ich einen Fehler gemacht habe. Ich habe absolut falsch reagiert. Ich hätte einfach allein verschwinden sollen. Bestimmte Fehler macht man im Leben nur einmal, dachte ich immer. Ich habe dazugelernt. Man macht sie andauernd, und sich im nachhinein darüber aufzuregen, ist absolut kindisch.

Ich wollte Val überraschen. Wir waren zwar am späten Abend verabredet, da ich aber in der Nähe ihrer Wohnung einen Termin hatte, wollte ich kurz vorbeischauen. Val hatte Besuch von einer alten Freundin aus Oldenburg, und ich war neugierig, jemanden aus ihrer Vergangenheit kennenzulernen. Ich besorgte uns belegte Bagels und Brownies.

Die Tüte in der einen Hand, schloß ich mit der anderen die Wohnungstür auf und wurde von der Kette gebremst.

-Was tust du denn hier?

Vals Gesicht war imTürspalt aufgetaucht. Sie wirkte nicht erschrocken, sie wirkte gehetzt.

—    Ich ... ich war in der Gegend. Ich dachte, ich schau mal vorbei, bevor ihr ins Kino geht, stammelte ich. Es brachte mich durcheinander, daß sie die Kette vorgelegt hatte. Ich fühlte mich, als hätte ich versucht, in ihre Wohnung zu schleichen.

—Theater, sagte sie.

-Was?

—Wir gehen ins Theater.

-Oh.

Pause. Da standen wir. Ich mit meiner Papiertüte, sie mit ihren gehetzten Augen. Es war der richtige Moment, um sie zu fragen, weshalb sie die Kette vorgelegt hatte. Bevor ich etwas sagen konnte, drückte Val die Tür zu. Ich wartete. Nach einer Weile klimperte die Kette, und dieTür öffnete sich.

Val hängte sich an mich, ihr ganzes Gewicht lastete für Sekunden an meinem Hals. Ich war mir sicher, daß sie zu viele von ihren Pillen genommen hatte. Sie löste sich von mir und ging durch den Flur in ihre Wohnung. Ich folgte verwirrt und sagte:

-    Ich habe Bagels mitgebracht, ich dachte, ihr habt vielleicht noch nicht...

Über einem der Stühle hing ein Mantel. Auf dem Tisch lagen Zeitschriften, eine Zigarettenschachtel und ein Aschenbecher. Wir waren alleine im Wohnzimmer. Val lehnte sich gegen den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust.

-    Stör ich?

Sie hob die Schultern und wich meinem Blick aus. Ihr Haar war durcheinander, das Kinn zitterte. Sie wirkte wie jemand, der den Zug verpaßt hatte, nachdem er den Bus verpaßt hatte, nachdem ihm das Auto unter dem Hintern weggestohlen worden war.

-Was ist hier los, Val? fragte ich.

Keine Reaktion. Ich folgte ihrem Blick. Val sah die Badezimmertür an und machte keinen Versuch, mich aufzuhalten. Die Tür war nur angelehnt. Ich drückte sie auf, starrte einen langen Moment in die Dunkelheit, ohne etwas zu erkennen. Ich hasse es, einen dunklen Raum zu betreten. Zögernd legte ich den Lichtschalter um.

Die Frau war in die Nische zwischen Toilette und Badewanne gepreßt. Sie wirkte klein und kompakt. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, es war zwischen den Knien vergraben. Ich sah nur ihre Hände, die schützend über dem Kopf lagen. An der einen Hand fehlten zwei Finger. Ihr nackter Körper war blutverschmiert und das blonde Haar schimmerte an einigen Stellen feucht. Mehrere Blutfaden vereinigten sich unter der Toilette zu einer dunklen Pfütze.

—    Ist... ist sie tot? fragte Val leise hinter mir.

Ich löschte das Licht wieder und zog die Tür zu.

Val hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Nur ihre Arme waren nicht mehr vor der Brust verschränkt. Sie hatte sie um sich gelegt, als würde sie frieren.

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Tür und rutschte an ihr herunter, bis ich in der Hocke war. Wir sahen uns an, Val wich meinem Blick aus, und ich sagte:

—Val, was ist passiert?

VAL

1

Es begann mit einer Mischung aus Streß, wenig Schlaf und einer Menge Dope. Miguel brachte das Dope in Platten gepreßt aus Tunesien mit. Er überquerte die Grenze mit einer LP-Kollektion im Gepäck und wies sich als DJ aus. Bei der Ausreise waren anstatt Vinyl feine Platten aus Dope in den Hüllen. Das Zeug war so weich, daß wir es zu kleinen Tieren kneteten und diese über Tisch und Sofa laufen ließen. Wir buken Kekse, wir rösteten es in Butter und Kakao und gossen Milch darüber - das magische Getränk der Azteken. Dazu rauchten wir einen Joint nach dem anderen und hofften, ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen. Wir dachten uns, wer sich drei Wochen lang jeden Tag alle zwei Stunden einen dreht, der muß rekordverdächtig sein.

Bernie stieg am fünften Tag aus. Er verschwand im Morgengrauen und ließ seine Klamotten und den Wagen zurück. Einen himmelblauen Datsun mit einem roten Stern auf der Motorhaube. Wir hörten nie wieder was von Bernie. Mich haute es zwei Tage später um. Zwischen Rumhängen, Musik und trägem Sex warf ich immer wieder Aufputschmittel ein, da ich keine Minute versäumen wollte. Darum ging es doch — nichts zu versäumen, auf keinen Fall, keine Sekunde. Schlaf war was für Tote.

Jenni und Mirko waren dabei, Asta und Gerd, Didi natürlich auch. Und dann noch Fabienne, die aus Frankreich kam und kein Wort Deutsch verstand. Wir hingen bei Julian herum. Seine Eltern tourten für einen Monat durch die Karibik, während wir ihre Bar leerten und ihnen alles wegfraßen, was sie in der Kühltruhe hatten.

Ich war neunzehn, die Schule lag seit einem Jahr hinter mir, und das Studium interessierte mich kein Stück. Ich fühlte mich lebendig wie nie zuvor und war froh, kein Mann zu sein. Der Gedanke, daß mich die Bundeswehr einsackte oder ich irgendeinen Zivildienst absolvieren mußte -das wäre mein Ende gewesen. Ich war frei und wollte niemandem etwas von meiner Freiheit schenken. Zwar lebte ich offiziell noch zu Hause, doch dort interessierte es niemanden, wo ich mich herumtrieb. Mit meinen Eltern lief es noch nie gut, und ich sah keinen Grund, diesen Zustand nach fast zwanzig Jahren zu verändern. Für sie war wichtig, daß ich mich regelmäßig meldete. Während für mich nur zählte, der Polizei nicht in die Finger zu geraten und zweimal in der Woche in Astas CD-Laden zu jobben, um ein wenig Geld reinzuholen. Damit hielt ich mich über Wasser. Ich wollte das ein paar Jahre lang durchziehen, und dann würde schon was Neues passieren. Es passiert ja immer was Neues.

Der achte Tag warf mich aus der Bahn.

Wir hatten beschlossen, nach Hamburg zu fahren und nahmen Bernies Wagen. Asta saß am Steuer, ich lungerte mit Mirko, Jenni und Gerd hinten herum, während Didi vorne saß und Fabienne auf dem Schoß hatte. Die Musik dröhnte, der Wind fetzte durch den Wagen. Es war Sommer, die Welt drehte sich von allein, und immer wieder griffen uns Mirko und Gerd an die Brüste, und wir wußten nie, welche Hand wem gehörte. Luscious Jackson hämmerte durch das Auto, Fabienne sang falsch mit, und Asta hupte, sobald er überholt wurde, weswegen wir alle paar Minuten in schrilles Lachen ausbrachen.

In Hamburg verlor ich sie.

Wir waren höchstens eine halbe Stunde in der Stadt, als ich auf die Idee kam, Pommes zu kaufen. »Wir warten hier«, sagte Mirko und zeigte auf eine Bushaltestelle. Als ich mit vier Portionen Pommes den Imbiß verließ, war die Truppe verschwunden. Es war völlig absurd. Ich wußte, daß ich nicht gerade fit war, ich hatte in den letzten Tagen vielleicht fünf Stunden geschlafen, dennoch war es absurd, meine Clique mitten in Hamburg zu verlieren.

Zum Glück hatte ich beim Aussteigen instinktiv meinen Rucksack mitgenommen. Die anderen fanden das bestimmt nicht witzig. In dem Rucksack befand sich unser gesamter Reiseproviant - zwei feingefaltete Platten Dope.

Ich lief einfach drauflos, hielt immer wieder an, um mir einen zu drehen, glaubte mehrere Male, den himmelblauen Datsun zu sehen, rauchte im Gehen, aß die Pommes, fluchte vor mich hin, drehte und rauchte und drehte, bis ich irgendwann in der Innenstadt stand und an einer Kirche hochsah. Die Pommes waren alle, das Innere meines Mundes pelzig. Die Kirchturmuhr zeigte halb neun. Ich wischte mir über die Augen. Die Zeit blieb dieselbe. Ich war doch ernsthaft sieben Stunden durch Hamburg gerannt und hatte eine Million Joints geraucht und meine Leute dennoch nicht gefunden.

Jetzt erst kam ich auf die Idee, Jenni auf ihrem Handy anzurufen.

Die Telefonzelle stand an einer Kreuzung und hatte kein Plexiglas in derTür. Ich mußte mir ein Ohr zuhalten, um das Klingelzeichen über dem Verkehrslärm zu hören. Es klappte nicht. Irgendwie wählte ich Jennis Nummer andauernd falsch oder bekam keine Verbindung. Also rief ich bei Julian zu Hause an und erzählte ihm, daß ich in Hamburg festhing und die anderen nicht finden konnte, und ob er Jennis Han-dynummer hätte. Julian antwortete, die anderen wären längst zurück.

-Was?

-    Sind zurück, verstehst du?

-Was?

Von Hamburg nach Oldenburg sind es vielleicht zwei Stunden. Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, daß mich meine guten Freunde vergessen hatten. Mensch, war ich wütend. Asta kam ans Telefon und konnte vor Lachen kaum reden.

—Was machst du in Hamburg? brachte er schließlich hervor.

-    HOL MICH HIER RAUS! schrie ich ihn an.

Asta reichte den Hörer an Fabienne weiter, die verstand natürlich kein Wort, quasselte irgend etwas Französisches vor sich hin und fing an zu heulen, weil ich sie ankeifte, sie sollte Asta wieder ans Telefon holen. Da mußte ich heulen und legte auf und drehte mir noch einen, um mich zu beruhigen. Ein Mann wollte in die Telefonzelle. Er stand für eine Weile einfach nur vor der Tür, während ich den Griff festhielt und meinen Joint wegpaffte. Der Mann hätte durch das fehlende Glas steigen können, aber auf die Idee kam er nicht. Nach ein paar Minuten zog er ab, und ich rief ein zweites Mal bei Julian durch. Es war besetzt.

Ich versuchte es die nächste Stunde an die hundert Mal. Nichts. Später erfuhr ich, daß Fabienne den Hörer vor lauter Panik nicht aufgelegt hatte.

Ich begann durch Hamburg zu irren, kaufte an einem Kiosk Tabak und Blättchen und nahm Kurs auf die U-Bahn. Ich wollte zum Hauptbahnhof und den ersten Zug nach Oldenburg nehmen. Wenn ich Glück hatte, würden mich Asta oder Jenni abholen.

Ich fuhr mit der Rolltreppe nach unten, die Lichter um mich herum waren grell, und es stank nach Bier und Urin. Unter einer Plakatwand saß ein Mann auf dem Boden. Er spielte Gitarre und sang dazu russische Lieder. Vor seinen Füßen lagen in einem Hut ein paar Münzen und eine graue

Taubenfeder. Ich wollte ihm einen Joint reinwerfen, nur um sein überraschtes Gesicht zu sehen, dann dachte ich aber, das ist doch Verschwendung und zündete ihn mir lieber selber an.

So stand ich neben dem Fahrscheinautomaten und sah den Bahnsteig hinunter. Da warteten vielleicht zwanzig Leute. Der Hund eines Mädchens riß an seiner Leine, weil er sich einen Hund auf dem gegenüberliegenden Gleis schnappen wollte. Ich rauchte den Joint auf, schnippte ihn weg und schloß für einen Moment die Augen. Ich war müde, richtig müde und wollte nur noch nach Hause und mich ausschla-fen.

Irgendwann da muß es passiert sein.

Erst hörte ich die Gitarrenmusik hinter mir, als würde jemand die Töne strecken. Die Melodie wurde langsamer und langsamer, bis sie meine Ohren wie zähe Flüssigkeit füllte. Ich öffnete die Augen und sah die U-Bahn einfahren, als würde sie auf Zeitlupe laufen. Auch auf dem Bahnsteig passierte es. Die Leute bewegten sich merkwürdig träge. Dann stand die U-Bahn still, die Türen glitten auf, und Leute stiegen aus. Es war, als würde man sie alle langsam aus einer Tube quetschen. Als wären sie zerbrechlich und über hundert Jahre alt und müßten vorsichtige Schritte machen, weil sonst ihre Knochen brachen.

Mir wurde schwindlig von dieser Langsamkeit. Ich lehnte mich gegen den Fahrscheinautomaten und spürte kalten Schweiß unter den Achseln. Das war der Moment, in dem ich sie sah. Zwischen all den träge vor sich hinschleichenden Leuten bewegten sich Männer und Frauen ganz normal. Sie stiegen aus, stiegen ein, verschwanden in der Menge, setzten sich auf die freien Plätze in der U-Bahn und ignorierten die Zeitlupe. Sie gehörten dazu und dann doch nicht.

Ich lachte los. Es ging nicht anders, es war so witzig.

Ein Mann sah zu mir rüber. Er war einer von den Schnellen. Er legte den Kopf schräg und sah mich an. Ich hielt mir hastig die Hand vor den Mund und hörte auf zu lachen. Der Mann nickte mir zu und stieg in die U-Bahn. Mehr weiß ich nicht.

Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, lag ich auf dem Boden, und der Musiker fummelte an meinem Rucksack herum.

—    He! rief ich.

Der Typ sprang zurück, schnappte sich Gitarre und Hut und verschwand über den Bahnsteig. Zwei Wachleute fragten mich, ob ich Hilfe bräuchte. Ich schüttelte den Kopf und kam auf die Beine. Mir war heiß, und als ich stand, spürte ich das Blut in meinen Schläfen pochen. Ich brauchte dringend frische Luft.

Oben erwartete mich eine andere Stadt. Für Sekunden stand ich fassungslos da. Alles wirkte so frisch, als hätte ein Sommerregen den Dreck von den Fassaden weggewaschen und den Häusern einen neuen Anstrich verpaßt. Nicht nur das hatte sich verändert — auch die Langsamkeit war verschwunden. Alles lief im üblichen Tempo. Aus offenen Fenstern drang Musik, Lachen war zu hören, das Leben pulsierte. Es lag ein Glanz auf den Straßen und Bürgersteigen, den ich noch nie gesehen hatte.

Ich hätte vor Freude beinahe getanzt.

Die Leute sahen mich an und lächelten. Ich begriff, woher das Wort wohlwollend kam. Niemand hetzte, niemand war laut, es war angenehm unter all diesen Fremden einfach nur ich zu sein.

In einem Park kam mir eine Frau mit einem Kind auf dem Arm entgegen.

—    Ich weiß, daß es spät ist, sagte sie, Aber wenn wir nicht früh genug rausgehen, schlägt er mich.

—Wer? fragte ich.

-    Halt mal.

Die Frau drückte mir das Kind in die Arme. Es war noch ein Baby. Es schlief und atmete wie eine Katze. Ich spürte das Schnurren durch die Decke hindurch.

-    Das ist ein süßes Baby, sagte ich, doch die Frau war verschwunden.

Ich schaute um die Ecke. Nichts.

Erst kam Panik in mir auf, dann dachte ich, daß das alles zu einem Plan gehörte. Ich weiß nicht, woher ich den Gedanken hatte, aber ich begriff es ohne großes Nachdenken. So sollte es sein.

Mit dem Baby auf dem Arm setzte ich mich auf eine Parkbank und drehte mir einen Joint. Das Baby wurde wach und sah mich an. Ich hob es hoch, damit es aufrecht sitzen konnte, und blies ihm Rauch ins Gesicht.

Das Baby kniff die Augen zusammen und gab kein Geräusch von sich.

Vielleicht ist es stumm, dachte ich.

So saßen Wir vielleicht eine Stunde einfach nur auf der Parkbank und sahen uns an. Ich begriff: Das Baby war weise, alle Babys waren weise. Und ich begriff auch, wenn ich mich darauf einließ, dann war in Wahrheit ich das Baby und nicht andersherum. Ich hatte mich selbst gefunden und liebte mich so sehr und war unglaublich glücklich. Dann beschloß ich, daß es an der Zeit war, Essen für das Baby zu besorgen.

-    Du sollst mir ja nicht verhungern, sagte ich und küßte seine Stirn.

Die Pizzeria war ein Lieferservice mit einem Verkaufsfenster zur Straße. Ich sah auf die Karte an der Hauswand und überlegte, was so ein Baby wohl essen könnte, ohne gleich daran zu ersticken.

—    Kann ich helfen?

Ich schrak zurück. Das Gesicht des Mädchens war voller Akne-Narben, der Mund groß und voll, die Augen brannten grün. Ich bekam einen trockenen Mund. Sie war das schönste Mädchen, das ich bisher gesehen hatte.

—Wow! sagte ich bewundernd.

Das Mädchen lächelte und wiederholte:

—    Kann ich helfen?

—    Das Baby braucht etwas zu essen, sagte ich entschuldigend.

—Welches Baby? fragte sie.

Ich sah auf meine Hände. Das Baby war weg. Ich hatte es doch tatsächlich auf der Parkbank vergessen. Ich versuchte mich zu erinnern, wo das gewesen war und wie das Baby ausgesehen hatte. Es fiel mir nicht ein.

—    Nicht weinen, sagte das Mädchen und reichte mir eine Serviette.

Wir sahen uns an. Das Mädchen zwinkerte mir zu und wandte sich ab. Ich wußte, ich hatte zu gehen. Da war dieses Gefühl, einem Drehbuch gehorchen zu müssen. Irgendein Film aus den 7Oern wurde gerade gedreht. Meine Rolle war, herauszufinden, was meine Rolle war.

Wie ich schließlich in das Restaurant kam, weiß ich nicht mehr. Ich versuchte, den Leuten an den Tischen zu erklären, daß sie ihr Besteck auch als Spiegel benutzen könnten.

—    Damit seht ihr dann alles, sagte ich und hielt mir einen Löffel vor das Auge. Die Welt war verkehrt herum. Ein Kellner kam und packte mich am Arm. Ich hielt ihm eine Gabel entgegen. Ein zweiter Kellner packte mich, sie diskutierten. Schnitt. In der nächsten Einstellung saß ich an einem der Tische und trank Rotwein. Das Gesicht des Mannes kannte ich aus einer Fernsehserie. Er spielte immer diese dummen

Rollen - Männer, die außen hart und innen butterweich waren. Er sagte zu mir:

—    Das geht nicht bei allen Löffeln.

Und ich antwortete:

—    Ich kann Zeitlupe sehen.

Er lachte, und ich lachte, und dann saßen wir in einem Taxi. Die Bilder folgten rasend schnell hintereinander. Schnitt. Schnitt. Schnitt. Ich kann mich nicht an die genaue Reihenfolge erinnern. Ich weiß nur, wie sich das Haar des Taxifahrers angefühlt hat. Er muß Inder gewesen sein. Sein Haar war geölt und glitt mir durch die Finger, so daß ich es nicht richtig packen konnte. Schnitt. Dann der Asphalt. Der Asphalt fühlte sich hart an, viel härter als er aussah. Er erinnerte an den Rücken einer Kröte, die auf Flußsteinen hockt und jeden Moment ins Wasser springen kann. Schnitt. Irgendwo schrie ein Baby. Jemand hupte dreimal, aber niemand lachte. Schnitt. Eine Decke wurde um meine Schultern gelegt. Und zum Schluß lag ich auf einem Bett, und mein Mund war fusselig vom Reden. Eine kalte Schicht Speichel bedeckte meine Zunge, und ich konnte sie nicht runterschlucken. Schnitt. Ich schlief und schlief und schlief. Schnitt.

Als ich wieder wach wurde, war ich Insassin einer geschlossenen Anstalt am Stadtrand von Hamburg.

2

Außer meinen Eltern bekam ich keinen Besuch. Erst dachte ich, meine Clique hätte mich vergessen. Dann erzählte mir einer der Pfleger, daß niemand sonst zu mir durfte. Als ich meine Eltern darauf ansprach, sagten sie beinahe gleichzeitig: »Es ist zu deinem Besten«, und mir fehlte die Kraft zu argumentieren.

Mein Kopf war in diesen Wochen träge. Die Medikamente dämpften meine Reaktionen. Sie waren unsichtbare Schnüre, die jeden Gedanken und jede Geste umschlangen. Morgens und abends und nachts.

Tagsüber kamen andere Patienten zu mir. Sie hatten keine Namen. Sie waren verschiedene Gesichter mit den gleichen treibenden Gedanken dahinter. Sie hatten so viel zu erzählen, daß ich vom Zuhören berauscht wurde. Sie durchschauten die Naturgesetze, sie durchschauten den Tod und begriffen die Zusammenhänge der Elementarteilchen. Einige wußten von der Langsamkeit, sie sprachen von Spiegeln, die überall zu finden waren; einige glaubten, sie würden schlafen und nie mehr erwachen. »Alles ist nur ein Traum«, flüsterten sie und drückten mir Zettel in die Hand. Auf den Zetteln stand Schlaf jetzt oder Schau dich um. Ich gab ihnen die Zettel zurück. Sie schoben sie sich verstohlen in die Taschen ihrer Morgenmäntel und Jogginghosen und gingen weg - immer an den Wänden entlang, nie mitten durch den Flur.

Nach drei Wochen durfte ich in die offene Abteilung wechseln. »Es geht Ihnen besser«, wurde mir gesagt, »die Medikamente haben angeschlagen.« Ich war erleichtert, aus der Geschlossenen herauszukommen.

In diesen Tagen rauchte ich eine Zigarette nach der anderen und hatte keine Ahnung, warum ich in die Offene wechseln durfte. Ich fühlte mich nicht besser. Ich fühlte mich verloren und ohne Anhaltspunkt. Der Anhaltspunkt kam, als ich begriff, was mir passiert war. Ich hatte die Chance gehabt, die Welt zu sehen, wie sie wirklich war, und jetzt war die Chance verschwunden. Die Welt war nur noch glatt und starr. Farben und Gerüche fehlten. Von einem Tag auf den anderen fühlte ich mich alt und müde.

Dr. Lorrent wurde meine Ärztin und versprach, das unsichere Gefühl würde sich mit der Zeit legen. Ich müßte mehr Vertrauen zu mir selbst haben und die Finger von Drogen lassen. Als ich ihr erzählte, was in der U-Bahnstation passiert war, holte sie einen Kollegen. Sie wußten es nicht, aber ich beobachtete in einem Teelöffel, wie sie zu zweit im Türrahmen standen und sich besprachen. Ich hatte dazugelernt. Es war nicht schwer, mehr zu sehen als die anderen, das konnten sie mir mit keinem Medikament nehmen. Ich hörte, daß sie ihrem Kollegen von meinem U-Bahn-Abenteuer erzählte. Er nickte, schaute zu mir und unsere Blicke trafen sich im Löffel.

Von da an wußte ich, er war einer von den Schnellen, die taten, als wären sie langsam.

Nach der Geschlossenen sah ich Dr. Lorrent einmal am Tag in der Therapiestunde. Sie sprach mich mehrmals auf die U-Bahn-Szene an, und ich winkte ab und sagte, das wäre doch alles nur Unsinn gewesen.

— Ich muß so breit gewesen sein, das können Sie sich nicht vorstellen. Ich sah sogar, wie ein Pferd aus der Wand trat und den Bahnsteig vollkackte. Können Sie sich das vorstellen?

Ich lachte zu meinem Blödsinn. Dr. Lorrent lächelte dünn, als würde es sie überhaupt nicht interessieren, aber ich wußte, daß sie scharf auf die U-Bahn-Szene war. Sie fragte kein zweites Mal nach dem Baby oder dem Restaurant, sie wollte nichts über Spiegelungen wissen und warum ich versucht hatte, mich am Haar des Taxifahrers festzuhalten. Aber nach der U-Bahn-Szene fragte sie insgesamt achtmal. Ein Taubstummer hätte kapiert, daß da etwas dahintersteckte.

Ich war nicht taubstumm, ich war voller Neuroleptika und rauchte am Tag drei Schachteln. Es wurde Zeit, daß ich hier herauskam.

Meine Eltern versuchten, mich nach der Entlassung zu isolieren. Sie dachten daran, für eine Weile aufs Land zu ziehen -als ob Oldenburg nicht genug Land gewesen wäre. Ich wehrte mich dagegen. Ich würde in vier Monaten zwanzig, ich hatte meinen eigenen Weg zu gehen.

Mirko holte mich mit seinem Kombi ab und quartierte mich vorübergehend bei sich ein. Am Wochenende gab meine Clique eine Party für mich, und ich fühlte mich mit einem Schlag nicht mehr alt und verbraucht. Die Energie floß in mich zurück. Ich erzählte meinen Leuten alles bis ins letzte Detail. Es überraschte mich, daß sie nicht überrascht waren. Zumindest nicht richtig. Sie nickten, als hätten sie das schon öfter gehört, und lachten an den richtigen Stellen, aber gewundert haben sie sich keine Sekunde.

—    Jeder hat seinen Trip, sagte Didi, Du hast deinen, ich hab meinen.

—    Ich hab meinen, hob Jenni hervor.

-    Und ich habe deine Handynummer vergessen, sagte ich.

-    Ich schreib sie dir auf, sagte Jenni und schrieb sie mir auf. So einfach ging das.

Natürlich setzte ich meine Tabletten sofort ab. Ich tauschte sie bei Julian gegen ein paar Gramm Dope ein und war mir sicher, den besseren Deal gemacht zu haben.

Es dauerte fünf Tage, dann saß ich wieder mittendrin.

Wir hatten Videofilme gesehen und Wodka-Lemon getrunken, wir hatten Musik gehört, und irgendwann gingen Jenni und Asta. Mirko beschloß, Popcorn zu machen. Ich hörte ihn in der Küche rumoren, während Fiona Apple davon sang, daß ich nicht so überempfindlich sein sollte. Ich lag auf dem Boden, hatte die Beine auf das Sofa gelegt und spürte, wie der Baß durch meinen Körper wanderte. Aus einem Blumentopf stieg kerzengerade der Rauch eines Räucherstäbchens auf. Ich sah ihn verkehrtherum und war fasziniert von seiner Ruhe. Dabei schlief ich ein. Als ich wieder wach wurde, lag ich noch immer auf dem Boden. Das Räucherstäbchen war nur noch Asche, die Musik und die Lichter waren aus. Ich stand auf, um mir ein Glas Wasser zu holen. Im nächsten Moment stand ich nicht in der Küche, sondern vor dem Haus auf der Straße und fühlte mich frei. Ich kannte das Gefühl. Ich befand mich wieder in diesem 70er-Jahre-Film und mußte herausfinden, was genau meine Rolle war. Alles war möglich, nichts gefährlich. Und weil das so war, begann ich meine Freunde abzuklappern. Ich durchquerte die Stadt, klingelte an Mietshäusern Sturm und schwor meinen Freunden über die Gegensprechanlagen ewige Liebe. Bevor sie runterkommen konnten, rannte ich weg und versteckte mich hinter Autos und in Hauseingängen.

Mirko fand mich vor dem Supermarkt. Ich saß auf dem Bordstein und wartete. Ich war durstig und wollte mir etwas zu trinken kaufen, doch der Supermarkt war noch geschlossen.

-    Natürlich hat er zu, sagte Mirko, Es ist sechs Uhr früh.

-Wie hast du mich gefunden? wollte ich wissen.

-    Sieh dir mal deine Füße an.

Ich schaute runter. Ich war barfuß, und der Bürgersteig um meine Füße herum glänzte rot. Ich hob den linken Fuß an und lachte los. Ich war in irgend etwas Rotes getreten. Es sah von weit oben bestimmt komisch aus - ich mußte in der Stadt eine rote Spur hinterlassen haben.

—    Sherlock Holmes, sagte ich zu Mirko.

—    Das muß genäht werden, sagte er und half mir beim Aufstehen. Ich hielt mich an seinem Arm fest und wollte ihm gerade erzählen, daß ich ihn lieben würde wie niemanden zuvor, als auf der anderen Straßenseite eine Frau im Jogginganzug aus einem Haus trat. Ihr Haar wurde von einem Stirnband zusammengehalten, und über den Ohren lagen rosa Kopfhörer. An ihrer Seite stand ein großer Hund. Er schaute zu uns und gähnte.

Erst dachte ich, die Frau würde sich strecken, dabei lief sie schon. Ganz langsam. Ich sah zu Mirko, der den Kopf schräg gelegt hatte. Seine Lippen bewegten sich, und was »Komm« heißen sollte, klang wie ein träges Wehklagen. Im selben Moment setzte sich der Hund in Bewegung und machte sich auf den Weg zu uns. Er wollte über die Straße, während sein Frauchen in Zeitlupe den Bürgersteig hin-unterlief. Ich hörte ein monotones Dröhnen. Ein Laster fuhr im Rückwärtsgang aus der Ausfahrt des Supermarktes. All das geschah mit einer wunderschönen Choreographie, so daß ich zum ersten Mal in meinem Leben die Kraft verstand, die das Universum zusammenhält. Ich rührte mich nicht, ich ließ es geschehen, denn es gab keinen Zufall, alles verlief nach einem Plan, der nur darauf wartete, von mir verstanden zu werden.

Der Hund erreichte die Straßenmitte und bemerkte erst da den Lastwagen. Er drehte den Kopf, drehte seinen Körper zur Seite und versuchte auszuweichen. Der linke Hinterreifen erwischte ihn. Ich sah, wie der Hund unter den Wagen gezogen wurde. Ein langgezogenes Heulen kam aus seinem

Maul, Knochen brachen, eine Pfote scharrte über den Bordstein. Es war eine Kakophonie, die mit ihren langsamen Klängen etwas Beruhigendes hatte.

Keine Spur von Hektik, eine befriedigende Gleichmäßigkeit. Der Laster kam zitternd zum Stehen, die Joggerin unterbrach ihren Lauf. Sie drehte sich um, die rosa Kopfhörer rutschten ihr vom Kopf und baumelten über ihrer Brust. Sie bewegte sich zwischen den parkenden Autos. Ihr Mund war ein O, ihr Schrei klang wie von einer silbernen Flöte. Es dauerte und dauerte, und ich sah nur zu. Neben mir blinzelte Mirko nervös. Es erinnerte an den Flügelschlag eines Schmetterlings.

Ich wußte, ich hatte genug gesehen und setzte mich in Bewegung, schneller als alle anderen. Nichts konnte mich aufhalten. Ich glitt unter den Laster und umarmte den Hund. Noch lebte er, seine Hinterbeine zuckten, sein Atem schlug mir heiß ins Gesicht. Ich beobachtete seine Augen, wie sie mich beobachteten. Der Hund begriff, was hier eben geschehen war. Und er wußte, es war gut so. Aus seinem Blick las ich, daß er mehr begriff, als ich je begreifen würde. Dann wurden seine Augen starr und überzogen sich mit einem milchigen Film. Es war vorbei.

- Gut, sagte ich in sein Ohr hinein und streichelte ihm den Kopf, Das war gut so.

Da begannen sie, mich unter dem Laster hervorzuziehen. Etwas riß. Etwas wurde gekappt. Die Langsamkeit war aufgehoben, die Zeit schnappte wie ein Gummiband zurück. Aber es war geschehen, die Welt hatte sich mir geöffnet. Ich schloß zufrieden die Augen und genoß den lebendigen Rhythmus, der mich umgab.

Ich öffnete meine Augen erst wieder, als jemand leise »Fenster« sagte. Ich saß auf einem Stuhl mit Blick nach draußen. Es war anders als in Hamburg. Diese Anstalt befand sich an einem See, und meine Eltern sagten am gleichen Tag in einem Abstand von zehn Minuten, sie wüßten nicht, was sie falsch gemacht hätten. Dabei konnten sie mich nicht anse-hen, dabei konnte ich sie nicht ansehen.

3

Die Ärzte sprachen viel mit mir, und keiner sagte ein Wort von Schizophrenie. Niemand behauptete, ich wäre depressiv. Sie redeten mit vielen Fremdwörtern von einem chemikalischen Ungleichgewicht in meinem Nervensystem und nannten es schließlich beim Namen.

Mein neuer Arzt zeigte sich zuversichtlich.

- Es ist eine psychotische Episode, sagte er, Das ist überhaupt kein Problem. Mit ein paar Medikamenten kriegen wir das auf die Reihe. Also machen Sie sich keine Sorgen. Sie sind jung, Sie sind stark und Sie müssen die Medikamente ja auch nicht ewig nehmen. Wir reduzieren die Dosierung über die Jahre hinweg, bis sich das Gleichgewicht eingepen-delt hat. Sagen wir drei Jahre? Na, das klingt doch gar nicht so schlimm, oder? Eines Tages ist alles wieder in Ordnung. Sie müssen nur auf Ihren Lebensstil achten und sich von Drogen fernhalten. Bis dahin...

Sie behielten mich zwei Monate in der Geschlossenen. Nicht, weil sie dachten, daß ich da hingehöre, sondern um mich zu beobachten. Das war zumindest meine Theorie. Später erfuhr ich, daß es der Wunsch meines Vaters gewesen war. Er zahlte, damit sie mich eingesperrt hielten. Es war seine besondere Art, Sorge auszudrücken. Ich erfuhr es vom

Leiter der Anstalt an dem Tag, an dem er mich verabschiedete:

—    Ihr Vater hat das Richtige getan, seien Sie ihm dankbar.

Meine Dankbarkeit sah so aus, daß ich kein Wort mehr

mit ihm sprach. Ich blockte jeden seiner Versöhnungsversuche ab und wandte mich an meine Mutter. Es war das erste Mal, daß ich zu ihr ging und um Hilfe bat. Meine Mutter reagierte unerwartet. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund und verschwand auf der Toilette. Kurz darauf hörte ich sie würgen, dann rief sie nach meinem Vater. Er kam, und die beiden sprachen hinter der verschlossenen Badezimmertür miteinander. Mein Vater verließ das Bad und sagte:

—    Mutter geht es nicht so gut.

Ich sah ihn nur an.

—    Es ist besser, wenn du für eine Weile woanders wohnst.

Ich sah ihn nur an. In mir war so viel Haß auf ihn, daß mir

nichts anderes einfiel, als ihn anzusehen. Vielleicht würde er in Flammen aufgehen oder einfach explodieren, wenn ich ihn lange genug anstarrte. Es kam schlimmer, er sprach weiter.

—    Das... das ist Mutters Entscheidung, stammelte er, Sie kommt mit all diesen... du weißt schon, was ich meine, nicht klar. Valerie, bitte, versteh sie. Wenn sich dein Leben ein wenig beruhigt hat und du denkst, du könntest dich wieder normal verhalten, wird sie sich bestimmt freuen, dich wiederzusehen.

In diesem Moment verstand ich den Blick des Hundes. Ich wußte, wie es war, im Sterben das Leben zu begreifen, und begriff, daß nicht ich die Kranke war. Das hier war krank. Mein altes Leben. Mein altes Ich. Meine Eltern.

—    Ich bin nicht verrückt, sagte ich.

Mein Vater hob entschuldigend die Schultern. Seine Au-gen waren aus spiegelndem Glas. Er war ein Aal, sein Blut und seine Gedanken waren kalt. Ich hatte noch nie jemanden so sehr gehaßt wie ihn und meine Mutter.

Ich verließ mein Elternhaus und zog diesmal bei Jenni ein. Ich schlief viel und mied das Tageslicht. Wenn jemand für mich anrief, tat ich, als wäre ich im Tiefschlaf. Die Medikamente erledigten den Rest. Ich nahm sie zwar immer zur gleichen Zeit, dennoch geriet mein Rhythmus durcheinander, weil ich unregelmäßig schlief. Ich mochte die Nacht, schlich durch Jennis Wohnung und fraß ihr den Kühlschrank leer, während sie im Bett lag und keine Ahnung hatte, was ich tat. Auch das mochte ich. Daß niemand Bescheid wußte. Ich nahm im ersten Monat vierzehn Kilo zu und wusch mich nur noch selten. Es war Asta, der mich da schließlich herausholte.

- Wir machen eine Spritztour, sagte er und verfrachtete mich in seinen Wagen. Ohne es zu begründen, ließ er nach einigen Minuten die hinteren Fenster heruntergleiten. Ich konnte ihn verstehen, auch mir war mein Geruch unangenehm.

Wir fuhren ans Meer.

Asta konnte sich das erlauben, kurzentschlossen eine Spritztour zu machen. Ihm gehörte der gutgehende CD-Laden in der Einkaufspassage. Er verdiente als einziger aus der Clique genug Geld, um das zu tun, was ihm in den Sinn kam. Asta war für uns ein Wunder. Er hatte seineTräume verwirklicht, ohne sich zum Idioten zu machen. Während wir anderen herumhingen oder uns mit irgendwelchen Jobs über Wasser hielten, konnte Asta beschließen, sich um eine Freundin zu kümmern, und das war’s.

Er hatte uns ein Doppelzimmer in einem Fitneßhotel gebucht. Vom ersten Tag an begann er mich aufzupäppeln und sorgte dafür, daß ich vernünftig aß. Er saß neben mir in der Sauna und zwang mich am Morgen, mit ihm den Sonnenaufgang zu erleben. Sogar wenn es regnete, stolperten wir über den Strand und lachten, weil es nichts Dämlicheres gab, als sich an einem bewölkten Regentag den Sonnenaufgang anzusehen.

—    Setz deine Sonnenbrille auf, riet ich Asta.

—    Ist deine Nase eingecremt? fragte er und hielt den Regenschirm so, daß ich naß wurde.

-Warum tust du das alles? wollte ich nach der ersten Woche wissen. Es war Mitte Mai, Asta hatte das Doppelzimmer bis zum Ende des Monats gebucht.

—    Bist du meine Val, oder bist du es nicht?

—    Nein, jetzt mal ehrlich, Asta, warum?

Er räusperte sich und schaute aufs Meer hinaus. Wir hatten es uns in einer windgeschützten Düne bequem gemacht. Im Rucksack lagen Brote, Kuchen und eine Thermoskanne mit Eistee.

-Wir haben dich hängen lassen, sagte Asta nach einer langen Pause, Das war nicht fair. Hätten wir dich nicht hängen lassen, wäre das nie passiert.

Ich glaubte das nicht. Ich war mir sicher, daß die Psychose schon lange auf mich gewartet hatte. Nur waren die Umstände bisher nicht so passend gewesen - wenig Schlaf, viel Drogen. Ich bin an meine Grenzen gestoßen, und mein Kopf hatte reagiert. So sah ich das.

—    Ich mag dich, sprach Asta weiter, Und ich will nicht sehen, wie du den Bach runtergehst oder für immer in irgendeiner Klapse landest und dort die Wände mit Scheiße vollschmierst, verstehst du?

Ich verstand, obwohl ich die Geschichte seines Bruders an jenem Tag noch nicht kannte. Jeder hat seine eigenen Motive, die ihn dazu bringen, zu anderen Menschen gut zu sein. Ich erfuhr von Astas Motiv zwei Monate später von Jenni.

Sein Bruder war vor einigen Jahren so bekifft gewesen, daß er sich nachts auf den Flughafen schlich, um mit einem Flieger abzuheben. Er klammerte sich an das Fahrgestell und stieg mit dem Flugzeug auf. Irgendwann verließ ihn die Kraft, oder das Fahrgestell wurde eingeklappt. Man sagte, er wäre tot gewesen, lange bevor er auf den Boden traf. Aber das sagt man ja immer.

Hätte ich am Meer schon von der Geschichte gewußt, ich glaube, ich hätte nicht so positiv auf Astas Mitleid reagiert.

Am Ende des Urlaubs sprachen wir fast ausschließlich über meine Psychose. Ich versuchte Asta zu erklären, daß ich mich ab und zu nach diesem Zustand der Langsamkeit und ganz besonders nach dieser fremden Welt sehnte.

—    Du scheinst an deiner Psychose zu hängen, sagte er, Ist es das?

-    Nicht richtig, antwortete ich, Es ist eher so, daß ich dieses Gefühl mag, die Welt richtig zu sehen. Weißt du, ich rieche und spüre alles anders. Es beginnt ganz harmlos, und dann ist da plötzlich die Langsamkeit. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ich beobachte sie, ich bin kein Teil von ihr, ich bin schneller und kann mich dabei normal bewegen. Irgendwann ist es dann soweit, und die Welt öffnet sich mir.

—Wow.

—Ja, wow.

Ich konnte ihn nicht ansehen, während ich das erzählte. Ich sah zwischen meine Beine, wo ich mit den Händen Furchen durch den Sand gezogen hatte. Wenn ich so direkt darüber sprach, kam ich mir vor wie ein kleines Kind, das von einem Traum erzählt.

-    Erinnerst du dich an den Film >Matrix<? fragte ich, Die Menschen lebten in einer Illusionswelt, waren aber in Wirklichkeit Batterien?

-    Ich erinnere mich, das Leben wurde ihnen vorgegau-kelt.

-    Richtig. Aber bei mir ist das nicht so. Es ist eine ähnliche Ebene, nur daß die Welt die Welt bleibt. Sie ist dieselbe, aber auch nicht. Sie wird reicher, sie wird einfach reicher. Und es ist...

-    Ich fand die Worte nicht.

-    Es ist was? fragte Asta.

-    ... faszinierend, sagte ich leise.

-    Gefährlich, sagte er.

-    Ich kann schon auf mich aufpassen.

-    Val, sagte Asta und nahm mein Gesicht zwischen seine Hände, so daß ich ihn ansehen mußte, Wenn jemand nicht auf sich aufpassen kann, dann bist du das. Das letzte Mal haben sie dich unter einem Lastwagen hervorziehen müssen, wo du dich an einen toten Hund geklammert hast, dem die Eingeweide heraushingen. Deine Fußsohlen waren aufgeschnitten, weil du durch einen Scherbenhaufen gelaufen bist, und du hast es nicht mal gemerkt. Zweimal haben sie dich bisher in die Geschlossene gesteckt, was glaubst du, was sie beim dritten Mal machen werden?

Ich schwieg, Asta sprach weiter.

—Auf deine Eltern kannst du nicht setzen, die wären froh, wenn sie dich für ein paar Jahre ganz wegschließen könnten. Deine Freunde leben auf einem anderen Planeten und vergessen dich, sobald du aus ihrem Blickfeld verschwindest. Hast du ein einziges Mal in den Spiegel gesehen, seitdem du bei Jenni wohnst? Du gehst den Bach runter. Also erzähl nicht so einen Scheiß, daß du auf dich aufpassen kannst, okay?

-    Okay, sagte ich leise und wich seinem Blick aus.

Asta ließ meinen Kopf nicht los.

-    Das nächste Mal, sobald du auch nur den Hauch deiner Psychose kommen spürst, meldest du dich bei mir, hast du verstanden? Noch einmal gehst du mir nicht in die Klapse. Keine Drogen mehr, hörst du, bleib weg von Dope und Pillen und dem ganzen Scheiß, hast du mich gehört? Ruf mich an, versprich mir das.

-    Ich versprech es dir.

—Was versprichst du mir?

-    Ich verspreche, ich melde mich, sobald es wieder losgeht.

Asta küßte mich auf die Stirn. Am nächsten Tag fuhren wir nach Hause, und er setzte mich bei Jenni ab. Sechs Wochen später rief ich ihn an.

4

Die sechs Wochen vergingen schnell. Ich ließ mich auf keiner Party sehen und kam nicht in die Nähe von Drogen. Tagsüber hockte ich vor dem Fernseher oder hörte Musik, nachts starrte ich die Zimmerdecke an und schlief traumlos. Ich aß normal und duschte jeden Tag, traf niemanden und stellte mir vor, das würde jetzt mein Leben lang so weitergehen. Das Komische war, daß ich mich damit zufrieden fühlte. Bei mir anzukommen, das war mir wichtig. Asta sollte nicht denken, ich hätte nichts von ihm gelernt.

Es gab aber auch andere Gründe, mich von Leuten fernzuhalten. Durch die Medikamente wurde jedes Nachdenken anstrengend. Beim Lesen schlief ich ein und konnte den dämlichsten Talkshows nur mühsam folgen. Dann war ich phasenweise schrecklich unruhig und konnte nicht stillsitzen. Trotz all der Zufriedenheit schwebte im Hintergrund der Hunger nach der Psychose. Wären die Folgen nicht so lästig, hätte ich ohne Probleme in diesem Zustand leben können. Also fragte ich mich, was wäre, wenn ich die Folgen in den Griff bekäme? Was wäre, wenn es mir gelingen würde, den Zustand aufzurufen, wann immer ich wollte, um ihn genau nach Wunsch wieder abzuschalten?

Disziplin, sagte ich mir, das ist nur eine Frage der Disziplin. Du mußt richtig bei dir sein, du mußt es im Griff haben, dann kann nichts schiefgehen.

Nach fünf Wochen fühlte ich mich stark genug.

Ich ließ das Medikament weg und spürte keine Veränderung. Erst nach dem fünften Abend geschah etwas. Ich legte mich mit freiem Kopf ins Bett und stand am Morgen mühelos auf. Ich hatte es im Griff. Nach dem Frühstück drückte ich die restlichen Pillen aus der Verpackung und spülte sie in der Toilette herunter. Zeremoniell verbrannte ich das Rezept für das nächste Medikament im Aschenbecher. Ich glaubte zu wissen, was ich tat. Ich war durchweg konzentriert, der beklemmende Druck in meinem Kopf hatte sich aufgelöst. Nach langer Zeit hatte ich endlich wieder Kontrolle über mein Denken und wartete und fragte mich, was ich tun würde, wenn dieses Mal gar nichts geschah? Was, wenn ich geheilt war?

Was dann?

Zwei Tage vergingen. Ich begann wachsam zu werden. Ich begann, vor Nervosität wieder Kette zu rauchen, und deckte ein Tuch über den Fernseher. Keine Ablenkung, keine Musik, nichts. Zum Glück ließ mich Jenni in Ruhe, das Telefon in meinem Zimmer war ausgesteckt, niemand drang zu mir durch. Ich drehte mich um meine eigene Achse, lebte auf meinem eigenen Planeten. Keine Bücher, keine fremden Gedanken, nichts. Alle Tore in mir waren weit aufgestoßen, die Psychose konnte kommen, ich war bereit. Und dann kam sie, und ich hatte gar nichts im Griff.

—    ... Asta ...

—    Hallo?

-Asta, ich ...

-Val?

—    ... bin’s ...

-Val, was ist---

—... kannst du mal ganz ganz schnell kommen ... ja?

Asta tauchte eine Viertelstunde später in der Wohnung auf. Ich hörte ihn mit Jenni im Flur sprechen, dann klopfte es an meiner Zimmertür.

—Val, ich bin’s, Asta, mach auf.

Ich öffnete die Tür. Hinter Asta stand Jenni, ihre Augen waren geweitet, der Mund zuckte nervös.

—    Ich will nicht wieder in die Anstalt, sagte ich leise.

—    Du kommst da nicht rein, sagte Asta.

—    Ich will da nicht wieder rein.

—    Ist ja gut, beruhigte mich Asta, Du kommst da nicht rein. Was ist passiert?

Ich erzählte ihm von den Pillen, die jetzt irgendwo in der Kanalisation schwammen, und daß ich versucht hatte, die Psychose in den Griff zu bekommen.

-    Aber es hat nicht geklappt, Asta, es hat einfach nicht geklappt.

Als ich am Morgen das Fenster geöffnet hatte, erwischte es mich. Die Gerüche des Sommers, eine Stimme, das Hupen eines Autos, und plötzlich hatte alles eine tiefe Bedeutung. Die Welt fiel über mich her, und ich bekam Panik.

—    Ich wollte wieder raus, aber es ging nicht, Asta, es ging einfach nicht.

-    Gut, beruhige dich. Erst mal ziehen wir dich an, ja?

Ich sah an mir herab, ich war nackt. Ich sah mich im Zimmer um - Essensreste auf dem Boden, Papierkugeln um Kerzen herum, meine gesamte Kleidung lag in einer Ecke. Auf dem Fensterbrett lagen in einer ordentlichen Reihe poliert und glänzend Tee- und Eßlöffel. Wann hatte ich das alles aufgebaut?

-Was hast du hier nur getrieben? fragte Asta.

Ich wußte es nicht, ich begann zu heulen und wiederholte wieder und wieder, daß er mich bitte nicht in die Anstalt schicken sollte.

—    Bitte, Asta, bitte, paß auf mich auf, bitte ...

Er zog mich mit Jennis Hilfe an, öffnete das Fenster und löschte die Kerzen. Dann fragte er, ob ich mir sicher wäre, daß alle Medikamente weg sind. Ich nickte und sah ihn und Jenni an. Ihre Augen tänzelten verwirrt, sie trauten mir nicht, sie hatten die Farbe der Angst.

-    Bitte, sagte ich, Habt doch keine Angst.

-Wie wäre es mit einem Beruhigungsmittel? fragte Jenni, Oder ein einfaches Aspirin? Was meint ihr, so ein Aspirin könnte Wunder wirken, es---

-Jenni? unterbrach sie Asta.

-Ja?

—    Halt einfach mal den Mund und mach uns einen Tee. Mach uns einen von deinen Kräutertees, hörst du?

Jenni verschwand in die Küche, und Asta fragte, wie ich mich fühlen würde. Ich zuckte mit den Schultern. Ich mochte die Falten um seinen Mund. Und als er sagte, alles wird gut werden, lächelte ich ihn an und sagte:

-    Du bist ein guter Mensch.

-    Du bist auch ein guter Mensch, Val, obwohl du viel Mist baust.

Da fmg ich wieder an zu heulen. Er hatte recht. Dabei hatte ich mich noch nie als guter Mensch gefühlt. Ich begriff, ich war gut. Und wie ich das dachte, glühten meine Hände rot auf. Das war schön. Ich war einfach gut. Ja.

Ein Brummen erklang, etwas streifte meine Wange, ich sah auf.

Oh...

Es war soweit. Asta hatte etwas gesagt, sein Atem war über mein Gesicht gestrichen, die Langsamkeit hatte eingesetzt. Es war geschehen. Astas Lippen bewegten sich schwer, und als seine Frage verklungen war, hing ihr ein Echo nach, das in meinen Ohren kitzelte.

Endlich.

Ich spürte Tränen auf den Wangen. Ich wollte Asta sagen, daß es so weit war und die Zeit wieder vor sich hin schlich. Dann sagte ich es und spürte die Silben über meine Lippen schießen. Asta schaute überrascht. Ich hätte es mir denken können. Ich war zu schnell für ihn. Er konnte mich nicht verstehen. Mein Satz war ein hoher Laut, ein geraffter Ton. Ich lächelte, dann schüttelte ich den Kopf, und Asta packte mich an den Schultern. In Zeitlupe krochen die Worte aus seinem Mund.

-    S i eh a tte in enAn fa 1 l!

Jeder Buchstabe hinterließ eine Kondensspur in der Luft. Ich sah sie und hätte nur meine Hand auszustrecken brauchen, um sie zu berühren.

-O hmeinGo tt!

Jenni und Asta waren Zeitlupe pur. Ich hätte mich problemlos aus Astas Griff befreien, Jenni den Rock runterziehen und mich wieder auf den Boden legen können, auf den mich Asta jetzt gedrückt hielt. So schnell war ich. Niemand hätte es gemerkt oder irgend etwas dagegen tun können. Aber ich wollte keinen Ärger. Asta fand, daß ich ein guter Mensch war, ich wollte ihn nicht enttäuschen. Ich hörte, wie aufgeregt er war. Da war ein rhythmisches Trommeln in seinen Fingerspitzen, sein Herz raste. Also lag ich ganz still und wartete, daß die beiden sich beruhigten. Ruhig. Aber es ging nicht, es ging einfach nicht. Mein Kopf sagte das eine, mein Körper aber wollte dieses schnelle Leben sehen und riechen und fühlen und ein Teil davon sein, bevor es wieder vorbei war.

-S che iße, i chkanns ienicht h a l t e n!

Jenni kam Asta zur Hilfe, doch es war ein Witz, niemand konnte mich halten. Ich schlug Astas Arme beiseite und wollte eben aufspringen, als ich sah, daß wir nicht allein waren. Eine Frau stand im Türrahmen. Ich starrte sie an und wußte sofort, daß sie eine von den Schnellen war.

Endlich.

Die Zeit wurde um zehn Einheiten heruntergedreht. Ich hörte ein rauschendes Geräusch—Asta hatte eingeatmet; ich hörte ein weiches Hämmern — Jennis Wimpern trafen aufeinander und trennten sich mit einem Knistern. Dann beugte sich die Frau über mich.

—    Das ist das dritte Mal, sagte sie.

—    Es ... es tut mir... leid, stotterte ich.

—    Lüg nicht, sagte die Frau, Nichts tut dir leid.

Sie breitete die Arme aus, umfaßte mit dieser Geste das ganze Zimmer.

-    Das hier darf nie wieder passieren, hörst du? Jedes Mal, wenn du die Tür öffnest, wird es dich kosten.

Sie sah zu Asta und Jenni, sah mich wieder an.

—    Du verstehst?

Obwohl ich nicht verstand, nickte ich.

Die Frau wandte sich ab.

In dieser kurzen Zeit hatten sich Jenni und Asta vielleicht um zwei Sekunden voranbewegt. Jenni war nicht näher gekommen, und Asta sah mich an, ohne mich richtig zu sehen.

Ich schaute der Frau hinterher, wie sie die Wohnung verließ. »Das hier darf nie wieder passieren.« Jetzt erst kamen ihre Worte bei mir an, und ich fühlte, wie sich die Angst in mir ausbreitete. »Jedes Mal, wenn du dieTür öffnest, wird es dich kosten.« Das war eine Drohung gewesen. Ich schloß die Augen, mir war übel. Ich spürte, wie sich die Langsamkeit zurückzog und das Besondere den Raum um mich herum erfüllte. Es war so prächtig. Aber ich wollte das nicht sehen. Mir war schlecht vor Angst. Solch ein Gefühl hatte ich noch nie erlebt. Ich hielt die Augen geschlossen und spürte die Kraft um mich herum und wünschte mir, es wäre wieder vorbei. Die ganze Zeit hatte ich darauf gehofft, und jetzt wünschte ich mir ein Ende. Es war lächerlich. Ich hatte Angst, wenn ich auch nur einen Blick auf diese neue Realität warf, würde sie auf mich zuschießen und mich füllen, bis ich explodierte. So ein Gefühl war das.

Ich öffnete die Augen erst wieder, als jemand über meine Stirn strich. Es fühlte sich normal an. Jenni hielt meinen Kopf, und ich schmeckte Blut im Mund. Jenni sagte immer wieder ein Wort. Ich sah sie an, Tränen der Erleichterung liefen mir aus den Augen und meine Zunge schmerzte. Ich las von Jennis Lippen, was sie sagte. Dann hörte ich das Wort, konnte es aber nicht begreifen. Erst später, als ich im Bett lag und von einem Dämmerzustand in den nächsten trieb, verstand ich, was Jenni gesagt hatte. Es war mein Name gewesen. Eine Silbe nur.

Ein Freund von Asta arbeitete im Krankenhaus und kam mit einigen Beruhigungsmitteln vorbei. Nachdem sie mich ins Bett getragen hatten, gaben sie mir zu den Pillen noch ein Schlafmittel. Ich muß pausenlos geredet haben. Mein Kopf war voller Gedanken, eine Theorie jagte die nächste. Ich hatte zu allem eine Meinung. Ich begriff Dinge, die ich schon immer hinterfragt hatte, und wußte nichts mehr davon, als ich am nächsten Morgen erwachte. Meine Zunge war geschwollen und wund, ich hatte sie in der Panik beinahe durchbissen und konnte froh sein, daß sie nicht genäht werden mußte.

Asta verbrachte die Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer und blieb zwei Tage. Ohne seine und Jennis Hilfe wäre ich wahrscheinlich für länger als ein Jahr in einer Geschlossenen oder in irgendeinem Psychozentrum gelandet.

Asta wollte keine Dankbarkeit. Er war wütend und sagte, ich müßte mit diesem Scheiß aufhören, sonst könne er für nichts mehr garantieren. Ich versprach es ihm, ich schwor es ihm. Als ich von der Frau erzählte, legte er den Kopf schräg.

—    Sie war wirklich da, sagte ich.

—    Gut.

-Was heißt gut?

—    Was soll ich sagen? Ich meine... gut, sie war da. Ich habe sie nicht gesehen, Jenni hat sie nicht gesehen, für dich war sie da, mehr kann ich dir nicht geben.

Er reichte mir einen Becher Tee, ich lehnte ab.

—    Sie hat mir gedroht, Asta. Sie hat mir verboten, noch einmal die Tür zu öffnen.

-Welche Tür?

—    Die zur Psychose. Sie hat es eineTür genannt. DieTür zur Welt der Schnellen, verstehst du?

Er drehte den Becher in seinen Händen und nahm einen Schluck.

—Verstehst du? wiederholte ich.

—    Dann nimm es als Warnung, sagte er, Wenn du schon nicht auf mich hörst, dann hör auf diese Frau.

Asta sah auf seine Uhr. Ich begriff, daß er mir kein Wort glaubte. Ich hatte ihn enttäuscht. Er stellte den Becher weg und stand auf.

—    Ich muß in den Laden. Überleg dir gut, ob du noch hierbleiben willst. So sehr ich auch unsere Clique mag, werde ich das Gefühl nicht los, daß sie die falsche Gesellschaft für dich ist. Hast du schon mal darüber nachgedacht, dir eine eigene Wohnung zu suchen? Jenni hat genug um die Ohren. Ich schieß dir das Geld vor, mh, was meinst du? Mensch, Val, mach einen Neuanfang, such dir neue Freunde, so blöde das auch klingen mag.

Ich schüttelte den Kopf.

—    Ich kann hier nicht weg, sagte ich, Ich kann nicht alleine wohnen.

—    Denk einfach darüber nach, sagte Asta und küßte mich zum Abschied auf die Stirn.

Ich fand ein Zimmer in einer großen WG direkt am Marktplatz. Ich glaube, Jenni war erleichtert, daß ich bei ihr auszog. Wir sahen uns zwar fast jeden zweiten Tag, dennoch erkannte ich an ihren Blicken, daß sie sich noch gut daran erinnern konnte, wie ich ausflippte. Um sie nicht zu verlieren, erzählte ich ihr alles, was ich Asta erzählt hatte. Es kostete mich Überwindung, darüber zu sprechen. Es war ein wenig, als würde ich ein gut gehütetes Geheimnis preisgeben. Jenni fand es ganz schön abgedreht, sagte aber auch, daß sie mir glauben würde, weil sich niemand »solch einen detaillierten Scheiß« einfach so ausdenken konnte. Ich war erleichtert und spürte, wie ich mich in ihrer Gegenwart entspannte.

—    Und wenn die Frau wiederkommt, um dir zu drohen, sagte Jenni, Dann schick sie einfach zu mir.

Ich mußte lachen. Jenni wog nicht mehr als fünfzig Kilo und hätte nicht einmal eine Taube erschrecken können.

—    Ich schick sie zu dir, versprach ich ihr.

Die WG gefiel mir. Man ließ mich in Frieden, ohne daß ich das Gefühl hatte zu vereinsamen. Ich weiß nicht, was Jenni und Asta der Clique erzählt hatten. Auf jeden Fall wurde ich für eine Weile in Ruhe gelassen. Von meinen Eltern kam eine monatliche Überweisung, auch Asta legte ein paar Scheine dazu, und wann immer ich Jenni traf, lud sie mich zum Essen ein. Das Leben ging weiter. Ich hielt mich an die Medikamente und kam mit beiden Füßen auf den Boden. Es war möglich, normal zu sein. Ich las, sah Fernsehen, ging spazieren. Zwar saß ich mit gebundenen Händen auf der Reservebank, dennoch war mir klar, daß das eines Tages vorbei sein würde. Ich war nicht ungeduldig. Ich war nur sehr gespannt, was noch kommen würde.

Nach einem Vierteljahr beschloß ich, in mein altes Leben zurückzukehren.

Asta fand es eine gute Idee, solange ich es ruhig anging. Er freute sich, als ich die Einladung zu Julians Silvesterparty annahm und versprach mir den ersten Tanz.

Es wurde ein großes Wiedersehen.

Ich hatte das komische Gefühl, von einer langen Reise zurückzukehren. Die Tage nach der Party saß ich grinsend in meiner WG und war hin und weg von der Tatsache, daß mich niemand vergessen hatte. Nur meine Familie meldete sich kein einziges Mal. Wenn ich gekonnt hätte, dann hätte ich ihre monatliche Überweisung bei der Bank gesperrt. Aber ich brauchte das Geld.

Der Silvesterparty folgte Jennis Geburtstag, ihrem Geburtstag ein Essen bei Mirko. Fast jedes Wochenende war etwas los, und ich begann wieder regelmäßig auszugehen. Dabei trank ich keinen Alkohol, rauchte nur ab und zu einen kleinen Joint und hielt Abstand zu harten Drogen. Als Didi dann ein Stipendium bekam und für ein Jahr nach London mußte, übernahm ich seine Wohnung. Es war ein Traum im Traum.

Ich verließ die WG und zog in meine erste, eigene Wohnung. Die gute Phase nahm kein Ende — über eine Freundin von Asta fand ich einen Job in einem Kindergarten und nahm mir vor, doch noch einmal zu studieren. Mich interessierten Philosophie und Literaturwissenschaften. Also bewarb ich mich an verschiedenen Unis in ganz Deutschland, denn in Oldenburg wollte ich nicht bleiben. Ich hatte das Gefühl, das Leben erwartete mich da draußen, und es lag nur an mir, ob ich ihm entgegentrat. Es ging mir prächtig. Je mehr ich mich an die Medikamente gewöhnte, um so besser ging es mir. Die Pillen waren ein Dämpfer, der mich am Morgen etwas benebelt aufwachen ließ, den Kopf voller Watte und der Mund schrecklich trocken. Doch auch das besserte sich mit der Zeit.

Alle zwei Wochen ging ich zu einem Arzt, der sich über meine Entwicklung freute. Er reduzierte die Dosierung Schritt für Schritt, wodurch die Nebenerscheinungen fast ganz verschwanden. Bald hatte ich das Gefühl, völlig normal zu sein. Und dann kam Max.

Max war Lisas Vater. Ich sah ihn nur am Morgen, wenn er Lisa in den Kindergarten brachte, am Nachmittag wurde sie von einer Haushälterin abgeholt. Max war zweiundvierzig und trug graue Anzüge. Ich sah ihn nie ohne Krawatte oder messerscharfe Bügelfalten. Seine Tochter war eines von den Mädchen, die beim Abschied taten, als würden sie ihren Vater nicht mehr Wiedersehen. Sie klammerte sich an sein Bein und jammerte. Max warf mir dann einen ratlosen Blick zu und verdrehte die Augen. Sobald er gegangen war, wurde Lisa normal und spielte mit den anderen Kindern, als hätte es ihren Vater nie gegeben.

Ich wünschte, ich hätte etwas von dieser kindlichen Ignoranz gehabt.

Beim Elterntreffen lernte ich seine Frau kennen. Sie war jünger als er, vielleicht Anfang dreißig, und sah toll aus. Eine von diesen Frauen, von denen ich mir immer vorstellte, daß sie in der Welt von Modezeitschriften lebten. Als sie mir die Hand reichte, sagte sie, sie hätte viel über mich gehört. Erst dachte ich, Max hätte von mir erzählt; als ich dann aber begriff, daß sie von Lisa sprach, wurde mir mit einem Mal bewußt, daß ich mich verliebt hatte. Es war ein simples Mißverständnis, das mir Klarheit verschaffte.

Ich dachte unentwegt an diesen Mann.

Zu Weihnachten brachte mir Lisa ein Geschenk in den Kindergarten. Es war ein Roman von Louise Erdrich, und als ich mich bedanken wollte, sagte sie:

-    Mußt du Papa Danke sagen.

-    Das ist von deinem Papa?

-    Der hat’s eingepackt, sagte sie und ging spielen

Am nächsten Morgen bedankte ich mich. Max sagte, das wäre doch nicht der Rede wert, und ich sollte das Buch unbedingt lesen, es würde ihn interessieren, was ich davon hielt.

Wir waren auf Kurs.

Ich beendete das Buch innerhalb von vier Tagen. Max war überrascht, wahrscheinlich hatte er mir nicht zugetraut, in der Woche über zwei Seiten >Brigitte< hinauszukommen.

-Und?

-Was und? sagte ich und wich einen Schritt zurück. Max stand in dem engen Flur des Kindergartens so nahe vor mir, daß ich seine Wärme spüren konnte.

-    Das Buch, wie hat es dir gefallen?

Ich errötete wie ein Teenie, zuckte mit den Schultern, sah Max auf den Mund.

-    Es ... es war großartig, antwortete ich, Und so poetisch, daß ich ...

Mein Blick wanderte hoch zu seinen Augen, aber er sah an mir vorbei, weil Lisa angerannt kam, um sich an seinem Bein festzuhalten.

-    Geh nicht weg, sagte sie.

-    Ich muß arbeiten.

-    Mußt du nicht!

-    Muß er doch, sagte ich.

-    Das ist mein Papa, zischte mich Lisa an.

Nicht mehr lange, hätte ich beinahe geantwortet.

Am Dienstagabend klingelte es an der Tür, ich öffnete, und da stand Max. Grauer Anzug und Bügelfalten. Er stand einfach nur da und lächelte.

— Kann ich reinkommen?

Während ich panisch überlegte, ob bei mir aufgeräumt war, trat ich zur Seite. Max kam rein, ich schloß die Tür und er stürzte sich auf mich. Anders kann ich es nicht beschreiben. Wie in einem Horrorfilm. Völlig ausgehungert. Der Vampir, der jahrelang kein Blut getrunken hatte. Es war gruselig und erotisch zugleich. Und es war das erste Mal, daß ich mit einem älteren Mann zusammen war.

Max machte mit mir, was er wollte. Er gab mir das Gefühl, ein unerfahrenes, kleines Mädchen zu sein. Ich hatte Romantik und zärtliche Berührungen erwartet; ich wäre nie darauf gekommen, daß dieser Typ nichts als Sex im Kopf hatte.

Seine Romantik bestand aus derben Ausdrücken, die er mir ins Ohr zischte; und seine zärtlichen Berührungen sahen so aus, daß er mir nach seinem Orgasmus den Kopf tätschelte und mich bat, ihm etwas Kaltes zu trinken zu holen.

Damals fand ich das alles aufregend und dachte: Ja, mehr. Ich nahm mir in meiner Verliebtheit vor, ihn zu verändern. Ein neuer Mann entstünde; ein Mann, der seinen grauen Anzug in die Ecke pfeffern und endlich Nähe zulassen würde. Die Kraft der Liebe. Ich wußte, ich konnte das schaffen.

Von diesem Tag an klingelte Max jeden Abend an meiner Tür. Er blieb eine halbe Stunde, tobte sich aus und verschwand wieder. Wir schafften es kein einziges Mal bis zum Bett. Wir machten es im Flur, wir machten es in der Küche, wir trieben es im Bad und einmal auf dem Sofa, während ich verzweifelt versuchte, die Jalousien herunterzulassen. Jeder Versuch, das Ritual mit einer vernünftigen Verabredung zu unterbrechen, endete mit diesem überheblichen Lächeln und einem Kopfschütteln.

Ich begann, mich auf seine abendlichen Besuche einzustellen. Ab sieben durfte keiner mehr bei mir sein. Ich warf Freunde raus und erfand Ausreden. Jenni war die einzige, die von Max wußte. Asta durfte auf keinen Fall davon erfahren, es wäre mir peinlich gewesen. Er war für mich wie ein großer Bruder, und einem großen Bruder kann man nur schwer erklären, wie aufregend man es findet, herablassend behandelt zu werden.

Jenni verstand es sofort und wollte dabeisein.

-    Du willst was?

-    Ich könnte mich in deinem Kleiderschrank verstecken.

Du läßt die Tür einen Spalt auf, dann kann ich sehen---

-Auf keinen Fall!

—Wieso nicht?

-Wegen ... wegen der Romantik.

-    Val, was für Romantik? Der Typ fickt dich und zieht weiter.

-    Blödsinn.

-    Nur einmal? Bitte?! bettelte Jenni.

-Vergiß es.

Mit der Zeit erfuhr ich mehr von Max. Daß es mit seiner Frau schon lange nicht mehr gut lief, daß, wenn Lisa nicht wäre, sie sich schon längst getrennt hätten, und daß er jemanden wie mich dringend brauchte. In meiner Naivität bemerkte ich die Parallelen zu billigen Liebesromanen nicht und dachte, wir hätten etwas Besonderes angefangen.

Nach einem Monat lebte ich für die Abende. Nach dem dritten Monat hatte ich Max so weit. Er blieb länger, wir duschten nach dem Sex zusammen und bestellten eine Pizza. Nach einer Flasche Wein und geflüsterten Versprechungen ließ er mich wieder allein. Ich war so glücklich. Ich war am Ziel. Ich hatte diesen Mann geknackt. Er würde jetzt daheim mit seiner Frau reden. Ich hatte ein Bild vor Augen -Max stand an einer Weggabelung, und ich war sein neues Ziel.

Die Besuche wurden weniger.

Max erklärte mir, seine Frau wäre ihm auf der Spur, deswegen müßte er sich in acht nehmen. Außerdem würde ihm gerade die Arbeit über den Kopf wachsen, und Lisa befände sich in einem unglaublich schwierigen Stadium.

Eine Woche Leerlauf folgte. Ich wartete und wartete. Im Kindergarten wich Max meinem Blick aus, und ich fand keinen Moment, in dem ich mit ihm allein hätte sprechen können.

In der folgenden Woche war es dasselbe Spiel.

Am Donnerstagmorgen kaufte ich einen schwarzen Schal. Nachdem Max seine Tochter abgeliefert hatte und gegangen war, rief ich den zwei Erzieherinnen zu, Max hätte seinen Schal vergessen.

Ich erwischte ihn, als er eben ausparken wollte. Ich klopfte gegen das Fahrerfenster, Max ließ es heruntersurren und sah mich für einen Moment an, als wüßte er nicht, wer ich bin.

-Val, sagte ich.

—    Ich weiß, sagte er und blieb im Wagen sitzen.

—    Du warst gestern nicht da, sagte ich süßlich und wollte in Wirklichkeit schreien: Du warst seit über zehn Tagen nicht da, du verdammtes Schwein, wo bist du nur gewesen?!

—    Ich kann nicht mehr kommen, sagte Max, Es tut mir leid.

-Was?!

- Sarah hat einen Verdacht. Ich kann meine Ehe nicht riskieren. Es tut mir leid. Du solltest auch mal an Lisa denken.

Wir hatten Blickkontakt, während die Scheibe des Fahrerfensters hochglitt. Ich sah Max hinterher, als er wegfuhr, ließ den Schal auf die Straße fallen und ging in den Kindergarten zurück.

Ich wußte, daß er log, ich mußte nur noch herausfinden, warum er es tat.

Max’ Worte schafften mich. Ich war es nicht gewohnt, daß man mich so behandelte und brauchte eine Erklärung. Ich glaubte an Fairneß und daß sich alles auf eine bestimmte Art und Weise erklären ließ.

Ich wußte, wo er arbeitete. Es war eine Anwaltskanzlei, die sich in einem verglasten Neubaukomplex befand. Ich wußte auch, wann er mit der Arbeit fertig war, denn er brauchte von seinem Büro aus eine knappe Viertelstunde zu mir. Ich kannte alle Details, nur der Beweis fehlte mir.

Mirko wehrte sich und behauptete, ich wäre völlig bekloppt, wie ich denn auf so eine Idee kommen würde. Ich spann eine Geschichte zusammen, die so wirr war, daß Mirko irgendwann einlenkte und mir sein Moped lieh.

-Aber wenn sie dich erwischen, sagte er, Dann erzählst du ihnen, du hast das Ding geklaut, hast du verstanden?

Ich versprach es ihm und fuhr auf einem verlassenen Parkplatz ein paar Proberunden. Ich glaubte nicht daran, daß mich die Polizei erwischen würde.

Kurz vor sechs postierte ich mich mit Moped, Helm und Sonnenbrille gegenüber der Anwaltskanzlei. Es war kalt, und ich hörte keine Sekunde lang auf zu zittern.

Am ersten Tag geschah nichts Aufregendes. Max verließ die Kanzlei, ich folgte. Er parkte vor einem Restaurant, ich wartete ein paar Autos entfernt, sah Max hineingehen, sah Max nach einer Stunde mit einem Mann herauskommen. Geschäftsessen oder so. Sie verabschiedeten sich mit Händedruck, und ich folgte Max nach Hause. Das war es. Meine Armbanduhr zeigte acht, ich wartete bis neun und fuhr zu meiner Wohnung. Ich war so aufgedreht von meinem Abenteuer, daß ich Jenni sofort anrief. Sie kam vorbei, und wir quatschten und schauten ein Video und stopften uns mit Tiramisu voll. Jenni ließ sich von meinem Plan anstecken und wollte helfen, ich winkte ab, denn das war meine Sache. Gegen elf rief Mirko wütend an, um zu fragen, wo sein Moped bleiben würde. Ich hatte ihn völlig vergessen und brach in hysterisches Kichern aus. Ich war wieder sechzehn, ich war voller Hormone und träumte von verschwitzten Jungs, die noch nie Sex gehabt hatten.

—    Dein Moped ist okay, sagte ich, Aber ich brauche es morgen abend wieder.

Mirko verfluchte mich und legte auf. Es war gut, Freunde zu haben, die keine Fragen stellten und beinahe alles mit sich machen ließen.

Ich rief ihn zurück.

—    Ich paß darauf auf, versprach ich ihm.

-Val, ich bring dich um, wenn ich die Karre morgen nicht habe.

—    Es ist wichtig.

—Wie wichtig?

—    Lebenswichtig.

Er schwieg.

—    Bis morgen dann, sagte er, Und fahr vorsichtig, hörst du?

Nachdem Jenni gegangen war, lag ich aufgekratzt im Bett und fand keine Minute Schlaf. Erst gegen halb sechs dämmerte ich weg, zehn nach sieben klingelte der Wecker.

Ein neuer Tag.

Ich rannte beinahe in den Kindergarten.

Max brachte Lisa pünktlich wie immer, und ich lächelte ihn an, während er meinem Blick auswich.

Wait and see.

Die Stunden im Kindergarten rauschten an mir vorbei. Eben hatte ich mich damit abgefunden, daß der Tag lang werden würde, da war es schon fünf, und die Kinder wurden abgeholt. Es war großartig, die Zeit floß an mir herab.

Zu Hause duschte ich, zog mich warm an und stieg auf das Moped.

Max verließ die Anwaltskanzlei um halb sieben. Er fuhr durch Oldenburg und dann Richtung Süden. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich sah mich schon über Landstraßen preschen und verloren gehen, weil Mirkos Moped höchstens 50 fuhr. Aber so weit kam es nicht. In Osternburg fuhr Max am Zentrum vorbei und hielt in einer Seitenstraße. Er strich sich das Haar glatt und betrat ein Mietshaus. Dreißig Minuten später kam er wieder heraus, stieg in sein Auto und fuhr weg.

Ich folgte ihm nicht. Ich saß wie betäubt auf dem Moped, Hände in den Jackentaschen und die Augen konzentriert auf das Mietshaus gerichtet. Nach fünf Minuten ging ich rüber. Acht Klingelschilder, sieben mit Namen. Ich begann ganz unten und arbeitete mich hoch. Nummer 1 war nicht zu Hause, bei Nummer 2 fragte eine Männerstimme, wer da wäre. Bei Nummer 3 stellte eine Frauenstimme dieselbe Frage. Nummer 4 war nicht zu Hause, Nummer 5 auch nicht. Bei Nummer 6 kam erst Schweigen, dann nach einem kurzen Zögern ein leises:

-Max?

Ich ging zum Moped zurück und fuhr nach Oldenburg.

Ich hatte, was ich wollte.

Und dann wollte ich mehr.