Ebenso wie die Gotik erreichte die Renaissance Venedig mit erheblicher Verspätung. Als in Florenz bereits ohne jeden gotischen Anklang gebaut wurde, entstand in Venedig gerade die spätgotische Ca’ d’Oro. Erst Ende des 15. Jh. setzte sich die Renaissance, die damals ganz Europa begeisterte, auch in Venedig durch. Die Venezianer drückten auch diesem nach antiker Symmetrie strebenden Stil ihren lokalen Stempel auf, indem sie der klassischen Harmonie die Heiterkeit des Ornamentalen hinzufügten. Vor allem Pietro Lombardo (1435-1515), der 1498 zum ersten Architekten der Stadtrepublik ernannt wurde, verlieh der venezianischen Frührenaissance ihr unverwechselbares Gesicht. Seine Architettura lombardesca galt bei Zeitgenossen als edel wie der griechische Stil, erhaben wie der römische und glänzend wie der orientalische.
Ein herausragender Sakralbau, der nach Plänen von Pietro Lombardo errichtet wurde, ist Santa Maria dei Miracoli(→ S. 189). Diese klassisch proportionierte Kirche ist vollständig mit farbigem Marmor verkleidet, in Marmor ist auch die üppige Innenausstattung gearbeitet. Ein anderer Architekt, der die venezianische Frührenaissance ebenso prägte, war Mauro Coducci (1440-1504). Die Fassaden der Kirchen San Zaccaria(→ S. 167) und Santa Maria Formosa(→ S. 168), die er gestaltete, verlieren ihre Strenge durch die Verwendung halbkreisförmiger Abschlüsse und Rundungen.
Palladio und sein Erbe
1570 wurde der für seine grandiose Landhaus- und Villenarchitektur berühmte Andrea Palladio (1508-1580) zum offiziellen Architekten der Serenissima ernannt. Entgegen seiner Vorliebe für die antikisierende Palastarchitektur (→ „Villa Foscari-La Malcontenta“, S. 254), realisierte er in Venedig ausschließlich Sakralbauten. Er schuf die eindrucksvollen Kirchen San Giorgio Maggiore(→ S. 211) und Il Redentore(→ S. 212). Außerdem hinterließ er einen Entwurf für die Rialtobrücke, der auf einem Gemälde von Francesco Guardi zu sehen ist - leider hängt das Bild in einem Museum Lissabons. Palladios Vorschlag wurde damals abgelehnt, weil seine Bogenbrücke mit dem monumentalen Aufbau zu schwer war und praktische Nachteile hatte.
Der auch als Architekturtheoretiker bekannte Palladio veröffentlichte 1570 in Venedig seine Abhandlung „Quattro libri dell’architettura“, in der er sich vor allem mit dem architektonischen Erbe der Antike sowie dem römischen Architekturtheoretiker Vitruv auseinandersetzte. Dieses Lehrbuch löste in der Folgezeit eine als Palladianismus bezeichnete klassizistische Strömung in der europäischen Architektur aus, die in Venedig ihre ersten Vertreter hatte. Vincenzo Scamozzi (1552-1616) nahm die Lehre des Meisters sofort bereitwillig auf und machte sie zu einem verbindlichen Regelwerk seiner venezianischen Schaffensperiode. Er vollendete einige Großbauten (u. a. die Libreria Vecchia di San Marco) und schuf mehrere Palazzi am Canal Grande.
Beide Architekten setzten auch maßgebliche Akzente im Um- und Neubau des venezianischen Palazzo. Die Einführung von großen Doppelbogenfenstern und die aufwändigere Gestaltung der Eingangsbereiche sowie das Festhalten am üppigen Ornament waren u. a. typische Merkmale des Palazzo der Frührenaissance. Ein Vorzeigebau dieser Zeit ist der Palazzo Vendramin Calergi(→ S. 132) am Canal Grande. Auch die Portalgestaltung Venedigs entwickelte sich in der Frührenaissance meisterlich; beispielhaft dafür ist das prächtige Portal des Arsenale(→ S. 174) sowie einige Eingangsportale der Scuole Grandi.
Die Hochrenaissance, die sich Mitte des 16. Jh. durchsetzte, passte so gar nicht zum eleganten Stil der venezianischen Architektur. Für viele Kunsthistoriker vollzieht sich in dieser Bauperiode gar ein Traditionsbruch, denn die Hochrenaissance betonte das Monumentale. Die Leichtigkeit, das Schwerelose war dahin. Die Schaufassade an der Wasserseite genügte nicht mehr, die Neubauten sollten jetzt nach allen Seiten strahlen und Grandezza zeigen wie ihre Vorbilder in Florenz und Rom. Die wuchtigen Palastbauten des 16. Jh. überschritten erstmals die bis dahin einheitliche Höhe und wurden komplett aus massivem Stein gebaut, was wiederum eine stabilere Fundamentierung notwendig machte. Gebäude wie etwa die Biblioteca Nazionale Marciana(→ S. 115) stehen auf ungefähr einer Million Baumstämmen.
„Kirche mit den Ohren“: Santa Maria della Salute
Jacopo Sansovino (1486-1570) war der bedeutendste Architekt der venezianischen Hochrenaissance, dem es bei vielen seiner Prachtbauten gelang, die neue Monumentalität so abzumildern, dass sie sich in das architektonisch geschlossene Stadtbild fügten. Zu den mehr als zahlreichen unter Sansovino entstandenen Großbauten gehört z. B. der Palazzo Corner della Ca’ Grande(→ S. 123). Ein anderer Architekt der Zeit, Antonio da Ponte (1512-1597), machte seinem Namen alle Ehre, indem er die schönste Hochrenaissancebrücke Venedigs errichtete, nämlich die Rialtobrücke(→ S. 129).