Spaziergang
Länge ca. 7,5 km, Dauer 3 Std.
Ausgangspunkt des Spaziergangs ist der U-Bahnhof Mehringdamm. Nimmt man den Ausgang „Yorckstraße“, gelangt man bei einem kitschburgartigen Komplex ans Tageslicht, der zu Mitte des 19. Jh. als Kaserne errichtet wurde und heute das Finanzamt Kreuzberg beherbergt. Der Friedhof auf der anderen Straßenseite ist der Begräbnisplatz der Jerusalems- und Neuen Kirche(→ S. 97). Gen Süden (kehren Sie also dem Finanzamt den Rücken) führt der breite und verkehrsreiche Mehringdamm in Richtung des ehemaligen innerstädtischen Flughafens Tempelhof (→ Kasten, S. 243). Nach ein paar Metern liegt rechter Hand der populäre Imbiss Curry 36 (→ Essen & Trinken). Hinter der Belle-Alliance-Apotheke - in dem Haus lebte und praktizierte von 1917 bis 1935 der Hautarzt und Dichter Gottfried Benn - überquert man die Yorckstraße und hält dann auf die neogotische Backsteinkirche St. Bonifatius zu. Wenige Schritte hinter der Kirche zieren Atlanten das Portal zu Riehmers Hofgarten. Das Areal mit rund 300 Wohnungen in 20 Häusern entstand Ende des 19. Jh. für Offiziere und betuchte Kaufleute. Heute stehen hier 80 Wohnungen leer - aus Spekulationsgründen. Eine Luxussanierung des gesamten Areals soll folgen, die Mieter aber schlagen Alarm. Verlässt man das Areal an der Hagelberger Straße und hält sich links-rechts-links, gelangt man in die Bergmannstraße. Köfte oder Curry, Batikkleidchen oder Vintage-Pelzmantel? Die Bergmannstraße ist das bunte Zentrum des gleichnamigen Kiezes, mit Imbissen, Cafés, Trödlern und Boutiquen. Am schönsten ist die Straße im Sommer, wenn sich die Trottoirs in eine einzige große Terrasse verwandeln und Straßenmusiker ihre Runden drehen. Ohnehin sind hier wie fast überall in Kreuzberg die Tische immer bestens belegt - als gäbe es nur Feiertage.
Beliebteste Wohnadresse der Gegend ist der Chamissoplatz südlich der Bergmannstraße, ein grünes Karree mit Spielplatz, stuckverzierten Häusern, Kopfsteinpflaster und antiken Laternen. Dass der unter Denkmalschutz stehende Bilderbuchplatz (samstags kleiner Ökomarkt) in seinem heutigen Antlitz erscheint, ist „Instandbesetzern“ der 1980er zu verdanken, die sich vehement gegen den Abriss der damals heruntergekommenen Altbauten einsetzten. Über die Körte-, Grimm- und die Dieffenbachstraße gelangt man in die Graefestraße, wo ebenfalls nette Läden und Cafés zum Stöbern und auf eine Pause einladen. Die Straße endet am Landwehrkanal, einem 11 km langen Seitenarm der Spree, der Mitte des 19. Jh. gebaut wurde. Am Maybachufer rechter Hand findet dienstags und freitags ein bunter Türkenmarkt statt (→ Einkaufen, S. 61). Wir halten uns jedoch links, wo schöne Gründerzeitbauten die grünen Ufer des Kanals säumen. Sie gehören mit zum Begehrtesten, was Berlin an Wohnraum zu bieten hat. Wer allerdings zu nahe an der Admiralbrücke wohnte, den bissen bis vor Kurzem die Hunde. Die Brücke war plötzlich zu einem bevorzugten allabendlichen Sommertreff geworden. Zum fröhlichen Picheln spielten - teils verstärkerverstärkt - kleine Combos auf, während Leergutsammler wie Geier um die Menge kreisten. Es hagelte Proteste von Anwohnern - wie schnell wechselt man doch die Seiten, wenn die eigenen wilden Jahre vorbei sind. Reisebuchverlage wurden angeschrieben und aufgefordert, die Brücke als Szenetreff in ihren Führern zu streichen. Mittlerweile sorgt die Polizei ab 22 Uhr für die Einhaltung von Ruhe und Ordnung.
Über die Admiralbrücke geht es geradewegs auf den „Kotti“ zu, wie die Berliner den lauten, unschönen Verkehrsknotenpunkt samt Hochbahn am (längst nicht mehr vorhandenen) Kottbusser Tor nennen. Kein feines Eck, eher ein sozialer Brennpunkt mit armen Teufeln und zwielichtigen Gestalten, die sich in den Gängen des sog. Zentrums Kreuzberg herumtreiben - einem Fanal für die fehlgeleitete Städtebaupolitik der 1970er. Immerhin bietet der Klotz neben billigen Wohnungen auch Platz für nette Clubs. Pläne, den Komplex abzureißen, stoßen auf Widerstand. Denn die Mischung macht’s, und was würde auf die Vertreibung der sozial Schwachen folgen? Über das Zentrum Kreuzberg und über noch viel mehr Details aus der Geschichte Kreuzbergs informiert das nahe Kreuzberg-Museum in der Adalbertstraße 95 A (Mi-So 12-18 Uhr, Eintritt frei, www.kreuzbergmuseum.de). Die Adalbertstraße führt hinein nach SO 36, jenen Teil Kreuzbergs, der alle Kreuzberg-Klischees vereinigt: SO 36 ist chaotisch-bunt, teils ziemlich türkisch und ziemlich links. Besonders farbenfroh präsentiert sich die Oranienstraße. Jede Menge Szeneläden gibt es hier, alternative Buchhandlungen, orientalische Nussshops, einen rund um die Uhr geöffneten Blumenladen und Kneipen über Kneipen. Zwischen den mit Plakaten überklebten Hauseingängen und sgraffitibesprühten Wänden der „O-Straße“ liegt auch der Zugang zum originellen → Werkbundarchiv – Museum der Dinge. An der Ecke zum Heinrichplatz fällt linker Hand ein Gebäude (Hnr. 18) ins Auge, dessen apricotfarbene Fassade türkische Verb-Endungen zieren. Die Installation der in İstanbul und Berlin lebenden Künstlerin Ayşe Erkmen steht für einen Dialog der Kulturen.
Hinter dem Gebäude geht es links ab direkt auf den Mariannenplatz zu. Dominiert wird der Platz, eigentlich mehr Park als Platz, von der neoromanischen Thomaskirche und dem mächtigen Haus Bethanien. Der Backsteinbau mit zwei Türmchen überm Portal wurde Mitte des 19. Jh. als Diakonissen-Krankenhaus errichtet und beherbergt heute neben Ateliers, Ausstellungsräumen und sozialen Einrichtungen noch immer jene historische Apotheke, in der Theodor Fontane 1848/49 tätig war (nur selten geöffnet, aber stets durch eine Glastür einsehbar). Das ehemalige Schwesternwohnheim nördlich davon ging als Georg-von-Rauch-Haus (benannt nach einem von der Polizei erschossenen RAF-Sympathisanten) in die Berliner Hausbesetzer-Annalen ein, verewigt durch den Rauch-Haus-Song der Ton Steine Scherben: „Der Mariannenplatz war blau, so viel Bullen waren da ...“. Die Rauchhäusler provozierten aber nicht nur die Westberliner Polizei, sondern auch die DDR-Grenzposten mit Spiegel-Blendattacken und revolutionären Songs aus Megaboxen; die Mauer verlief direkt hinter dem Haus. Noch heute ist das Rauch-Haus ein alternatives Wohnprojekt, in dem aber nicht jeder willkommen ist: „Tourist fuck off! No photo, no problem!“ verkündet ein Plakat davor. Über die Muskauer Straße und die Wrangelstraße führt der Spaziergang hinein in den Wrangelkiez. Sollte gerade Freitag oder Samstag sein, bietet sich der Weg über die Markthalle Neun an (Zugang von der Pücklerstraße, weiter über Ausgang Eisenbahnstraße). Köstlichkeiten aus dem Umland und von anderswo werden dann angeboten, gute Tropfen von der Weinhandlung Suff und perfekt Geräuchertes von Big Stuff Smoked BBQ (unser Tipp!).
Zur bunten Kneipen- und Ladenmeile wird die Wrangelstraße, nachdem man die Hochbahn unterquert hat. Auch entlang der Falckensteinstraße (nach links einbiegen) und der Schlesischen Straße (nach rechts folgen) lässt es sich nett schlendern. An Letzterer fallen (auf Höhe der Cuvrystraße) linker Hand zwei riesige sog. „Murals“ ins Auge. Die sich über ganze Häuserwände erstreckenden Streetart-Werke gehen auf den Italiener BLU zurück (→ Kasten, S. 69). 200 m weiter überquert man den Landwehrkanal und kurz darauf den Flutgraben, die ehemalige Sektorengrenze - der alte Grenzwachturm ist noch erhalten. Am Flutgraben gibt es zwei originelle Freiluftlokale direkt am Wasser, und auch das nahe Badeschiff bietet sich für einen Drink am Ende des Spaziergangs an (→ Essen & Trinken/Draußen).