Das moderne Bahnhofsgebäude der Stazione Santa Lucia, 1936-43 errichtet und 1950 vollendet, ist ein idealer Ausgangspunkt für die Besichtigung dieses Stadtteils. Bereits 1841, als mit dem Bau der Festlandsverbindung Ponte della Libertà begonnen wurde, entstand hier der erste Bahnhof Venedigs, für den zwei Klosteranlagen weichen mussten. Lediglich die Chiesa Santa Maria degli Scalzi mit ihrer Barockfassade aus Carraramarmor blieb erhalten. Neu hingegen ist der futuristischePonte della Costituzione (Brücke der Verfassung) über den Canal Grande, die das Bahnhofsufer mit dem Piazzale Roma verbindet und die Barfüßerbrücke (Ponte Scalzi) von 1934 entlastet. Über zehn Jahre zogen sich Planung und Bau hin, verschlangen über 10 Millionen Euro und erhitzten zwischendurch die Gemüter. Mittlerweile hat die umstrittene Brücke ihre Alltagstauglichkeit bewiesen, auch wenn Rollkoffer nicht über den eleganten Brückenbogen gezogen werden können! Der spanische Architekt Santiago Calatrava hat übrigens auch die Kronprinzenbrücke in Berlin entworfen.
Übernachten
3
Ai Mori d'Oriente
7
Locanda del Ghetto
13
Rossi
15
Ca' San Marcuola
19
Una Hotel
24
Bernardi Semenzato
25
Mignon
28
Ca' Riccio
35
Malibran
Essen & Trinken
1
Osteria Al Bacco
2
Anice Stellato
9
Gam Gam
17
Osteria Vini da Gigio
20
Bàcaro/Osteria Alla Vedova
23
Pizzeria La Perla
30
Un Mondo di Vino
31
Trattoria Tre Spiedi
32
Osteria Da Alberto
33
Ristorante Fiaschetteria Toscana
34
Osteria Al Ponte
36
Osteria Al Milion
Bars & Clubs
10
Al Paradiso Perduto
14
Cantina Vecia Carbonera
16
Casinò Municipale
21
Irish Pub
27
Internetcafé
Einkaufen
4
Kunstgalerien
5
Momylia
6
Stamperia del Ghetto
8
Casa Mattiazzi
11
Marchi
12
Pastificio Giacomo Rizzo
18
Billa
22
Il Forcolaio matto
26
Tà Kalá
29
Libreria Miracoli
Chiesa und Scuola Vecchia della Misericordia
In entgegengesetzter Richtung beginnt die Lista di Spagna, eine typische Bahnhofsstraße mit einer beträchtlichen Ansammlung von Hotels und bunten Souvenirläden. Das einzig Interessante an dieser hektischen Meile ist wohl, dass es sich um einen zugeschütteten Kanal (Rio Terrà) handelt. Am Ponte delle Guglie erhebt sich der Palazzo Labia (17. Jh.), in dem die staatliche Rundfunk- und Fernsehanstalt RAI residiert. Nach abgeschlossener Restaurierung wird hier der Tiepolo-Saal zugänglich sein. Über die prunksüchtige AdelsfamilieLabia, die den Palazzo errichten ließ, erzählt die städtische Anekdotenchronik Folgendes: Immer wenn der Hausherr ein Festmahl veranstaltete, warf er das goldene Geschirr und Besteck nach dem Bankett in den Kanal und rief dazu: „Ob ich es habe oder nicht, ich bin ein Labia“ (auf Italienisch reimt sich das auch noch). Natürlich hatte er ein Netz im Wasser spannen lassen!
Am Westufer des breiten Canale di Cannaregio gelangt man zur sehenswerten Chiesa San Giobbe, einem Renaissancebau aus dem 15. Jh. mit einem Majolikagewölbe von Luca della Robbia (Chorus-Kirche, nur vormittags geöffnet, 10-13 Uhr). Kurz vorher erreicht man das ehemalige Industriegebiet Saffa, das 1981 in eine Wohnsiedlung für sozial schwache Venezianer umgestaltet worden ist. Die kleinen Dachterrassen sind architektonische Reminiszenzen an die Altane der venezianischen Palazzi, ebenso wie die Schornsteine.
Gleich hinter dem Ponte delle Guglie lässt man den Touristenstrom geradeaus ziehen und biegt in die Fondamenta Pescaria ein. Ein paar Schritte weiter steht man vor einem unscheinbaren Durchgang, der in das ehemalige jüdische Ghetto Vecchio und zum Campo Ghetto Nuovo führt (s. u.). Diese beiden venezianischen Judenviertel bilden noch heute eine eigene Welt in der Stadt. Synagogen verbergen sich hinter schlichten Häuserfassaden, und hohe stacheldrahtbewehrte Mauern mit Gedenktafeln erinnern an den Holocaust. Davidsterne, stilisierte Chanukkaleuchter und hebräische Schriftzüge künden von jüdischer Vergangenheit und Gegenwart. Die tristen, mehrstöckigen Reihenhäuser lassen die beengten Wohnverhältnisse im ersten jüdischen Ghetto Europas erahnen. Ein Besuch des jüdischen Museums und eine Führung durch die Synagogen ist unbedingt empfehlenswert (s. u.).
Weiter nördlich erstreckt sich zwischen drei breiten Kanälen und dem Lagunenufer ein ausgedehntes Wohngebiet, das noch weitgehend im Rhythmus der Bedürfnisse seiner Anwohner pulsiert. Hier herrscht normaler Alltag mit Geschäften für den täglichen Bedarf und Nachbarschaftsbars am belebten Kanalufer Fondamenta degli Ormesini. Ein Bummel durch dieses angenehm ruhige Viertel sollte auch den Besuch der Chiesa San Alvise (14. Jh.) einschließen, in der es ein Gemälde von Giovanni Battista Tiepolo zu bewundern gibt (Chorus-Kirche). Anschließend gelangt man über die Fondamenta Madonna dell’Orto zur Klosterkirche Madonna dell’Orto(s. u.), vorbei am etwas deplatziert wirkenden Luxushotel Palazzo dei Dogi.
Vom idyllischen Kirchenplatz führt eine Kanalbrücke zum dreieckigen Campo dei Mori (Platz der Mauren). Eigentlich kein besonders erwähnenswerter Platz, würden dort nicht drei Statuen in den Häuserfassaden stecken, die levantinische Kaufleute mit Turbanen darstellen. Hier befand sich einst der Fondaco degli Arabi, derHandelshof der Araber. Das Berühren der abgewetzten Bronzenase eines dieser Mauren soll übrigens Glück bringen. Gleich um die Ecke steht die Casa di Tintoretto, wo der Maler 1594 starb. Neben dem Hauseingang steckt eine vierte Maurenstatue mit einem ausladenden Turban in der Wand.
Jetzt lohnt sich der Kanaluferweg zum Campo dell’Abbazia, wo man auf das Gebäudeensemble der Scuola della Misericordiastößt. Dieser abseits gelegene Brunnenplatz mit der verwitterten Kirchenfassade und den Backsteinarkaden des angrenzenden Bruderschaftshauses der Barmherzigkeit, der Scuola Vecchia della Misericordia, versprüht eine ganz besondere Atmosphäre. Bei dem riesigen Profanbau jenseits der Holzbrücke handelt es sich um die Scuola Nuova della Misericordia (16. Jh.), die nach Plänen von Sansovino errichtet wurde und im späten 20. Jh. jahrelang als Sporthalle herhalten musste; z. Z. wird sie restauriert und ab 2014/15 öffentlich zugänglich sein.
Am Ende der Fondamenta di San Felice betritt man einen völlig anderen Teil des kontrastreichen Cannaregio-Viertels: nämlich die Strada Nova, eine moderne Geschäftsstraße, in der auch die kulinarischen Genüsse nicht zu kurz kommen. Mehrere Seitengassen führen ans Ufer des Canal Grande, eine davon zur Ca’ d’Oro(→ S. 131),der Top-Attraktion des Viertels.
Am quirligen Campo dei Santi Apostoli mit dem prächtigen Glockenturm beginnt ein Labyrinth aus verwinkelten Gassen und kleinen Plätzen, das sich jeder Wegbeschreibung entzieht. In diesem engen, dicht bevölkerten Gebiet jenseits des Rio dei Apostoli läuft Cannaregio zur absoluten Höchstform auf und zeigt sich von seiner quicklebendigen Seite. Hier stößt man auch auf mittelalterliche Spuren, etwa den Corte del Milion, wo das Haus Marco Polos gestanden haben soll.
Venedigs Judenviertel - das erste Ghetto Europas
Wie andere religiöse und ethnische Gemeinschaften (→ „Das griechische Venedig“, S. 170) hatte auch die jüdische Bevölkerung ein eigenes Viertel gebildet, das sich zunächst auf der Insel Giudecca befand. Wirtschaftliche Bedeutung erlangten die venezianischen Juden - denen der Seehandel damals verboten war - erstmals im 14. Jh., als sie als Geldverleiher in Erscheinung traten. Auf Geheiß der Stadtregierung gründeten sie die „Banken der Armen“ und etablierten sich in der Rolle von Kreditgebern für Arme - ein Geschäftszweig, den die Kirche den Christen seinerzeit strengstens verboten hatte. Als die Serenissima dann selbst in finanzielle Nöte geriet (durch den Seekrieg gegen den Erzfeind Genua und die Expansion aufs Festland), bediente sie sich bei den jüdischen Bankiers, allerdings in Form von Zwangsdarlehen, deren Zinsbedingungen die Regierung einseitig festlegte. Obwohl Venedig eine vergleichsweise tolerante und weltoffene Stadt war, litten die Juden sehr wohl unter sozialer und auch wirtschaftlicher Diskriminierung. Sie besaßen nicht die vollen Bürgerrechte, mussten hohe Steuerabgaben leisten und durften keinen Grundbesitz erwerben - lediglich als Geldverleiher, Kleinhändler und Handwerker waren sie willkommen. Immerhin genossen sie Glaubensfreiheit, aber das schützte sie keinesfalls vor religiös motivierten Anfeindungen.
Anfang des 16. Jh. eskalierte die Situation. Die schweren Zeiten, die die Liga von Cambrai (→ „Geschichte“, S. 31) für die Venezianer brachte, führten zu emotionalen Entladungen gegen die Juden, die als Sündenböcke herhalten mussten, da sie den Festlandskrieg durch ihre Darlehen mitfinanziert hatten. Nach anfänglichen Beschimpfungen kam es zu Übergriffen gegen die jüdische Bevölkerung. Deren Beschwerde beim Rat der Zehn hätte bald zur Ausweisung aller Juden aus Venedig geführt. Am 29. März 1516 fasste der Senat jedoch den Beschluss, sie in ein isoliertes Wohngebiet zu sperren. Ausnahmslos alle Juden (seinerzeit lebten insgesamt ca. 700 Juden in Venedig) mussten nach Cannaregio in das Gebiet der Kirchengemeinde San Girolamo umziehen.
Zuvor befand sich dort die sogenannte Neue Gießerei, auf Italienisch Il Ghetto Nuovo, nach der das abgeriegelte Wohngebiet - das erste seiner Art in Europa - benannt wurde. Der Begriff „Ghetto“ bürgerte sich später als Bezeichnung für alle Judenviertel ein. Laut Verordnung hatten die venezianischen Juden nachts Ausgangssperre - die drei Zugänge zum Ghetto Nuovo wurden stets kontrolliert, und zwar von Christen, deren Wachdienst die Juden zu bezahlen hatten. Dennoch gingen die Bankiers, Krämer und Handwerker weiterhin ihren Geschäften als Kreditgeber, Pfandleiher, Schneider, Kesselflicker etc. nach. Trotz der Isolation und der nach wie vor hohen Steuerlast prosperierte die Ghetto-Gemeinschaft und hatte sogar einen Zuzug von ausländischen Juden zu verzeichnen. Wegen Platzmangels wurden zunächst Wohnhäuser mit bis zu acht Stockwerken errichtet, dann erlaubte die Regierung die Ausdehnung auf zwei angrenzende Wohngebiete. So entstanden nach dem alten Ghetto Nuovo 1541 das Ghetto Vecchio und 1633 das Ghetto Nuovissimo. Zu den drei Synagogen kamen zwei weitere mit angeschlossenen Talmud-Schulen. Mitte des 17. Jh. erreichte die jüdische Bevölkerung mit einem Anteil von 5000 Einwohnern (ca. 3 % der Gesamtbevölkerung) ihren Höchststand. Die Serenissima, die in die kostspieligen Türkenkriege verstrickt war, hielt sich weiterhin am jüdischen Kapital schadlos. 800.000 Golddukaten sollen jüdische Kreditbanken gegen Ende des 17. Jh. für die Kriegskasse lockergemacht haben. Bis ins 18. Jh. hinein war das Leben im Ghetto trotz behördlicher Schikanen und gelegentlicher Geldforderungen von relativen wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Freiheiten geprägt. Die jüdische Gemeinde brachte bedeutende Talmudgelehrte wie den Rabbiner Leone da Modena (1571-1648) hervor. Der jüdische Friedhof, der Cimitero ebraico, befindet sich übrigens auf dem Lido di Venezia und ist zu besichtigen.
Erst Napoleon ließ das Ghetto 1797 öffnen, doch die nachfolgenden reaktionären österreichischen Habsburger beendeten den kurzen Traum von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Woraufhin sich die Juden aktiv an der Risorgimento-Bewegung beteiligten und 1866 im neu vereinigten Königreich Italien die völlige rechtliche Gleichstellung erhielten. Im Dezember 1943 fielen deutsche Nazis und italienische Faschisten ins venezianische Ghetto ein. Eine Gedenktafel am Campo di Ghetto Nuovo erinnert an die Deportation und Ermordung von fast 200 Juden. Heute leben wieder ca. 500 Juden in Venedig, die meisten von ihnen in den ehemaligen Ghettos, wo sich auch das Museo Ebraico befindet.
Lediglich ein Torbogen aus weißem Marmor erinnert noch daran. Besonders lebhaft geht es auf dem Campo Santa Maria Nova zu, in dessen Umgebung sich die erfolgreiche Krimiautorin Donna Leon niedergelassen hat. Man kann sich gut vorstellen, dass ihre Milieustudien vor Ort unmittelbar in ihre Venedig-Bestseller-Krimis einfließen. Wie von selbst findet man in diesem Gassengewirr die beiden so unterschiedlichen RenaissancekirchenSanta Maria dei Miracoli und San Giovanni Crisostomo (s. u.).
Zu einer kompletten Stadtteilbesichtigung gehört der Abstecher zur JesuitenkircheSanta Maria dei Gesuiti(s. u.). Im 16. und 17. Jh. war in Folge der Spannungen zwischen der Amtskirche und dem venezianischen Staat der Jesuitenorden, der dem Papst unmittelbar unterstellt war, aus Venedig verbannt worden (die Verbannung wurde erst 1715 wieder aufgehoben). Die anschließende Uferpromenade Fondamenta Nuove ist ein idealer Ausgangspunkt für Ausflüge zu den nördlichen Laguneninseln (→ S. 220). Wer dafür keine Zeit hat, kann sich am Anblick der nahen Friedhofsinsel San Michele erfreuen.