La Laguna veneta - Die Lagune von Venedig
L’Isola delle Vignole
Wer lange genug durch Venedig gestreift ist und dieses einzigartige Stadtgefüge aus allen möglichen Perspektiven erlebt hat, wird seine Aufmerksamkeit garantiert irgendwann auf die Umgebung der Stadt richten - auf die Lagune von Venedig, die Laguna veneta. Diese amphibische Landschaft, halb aus Wasser, halb aus Land bestehend, bildet seit jeher Venedigs natürlichen Lebensraum.
Die Venezianer, die wie alle Städter in regelmäßigen Abständen ihren Stadtkoller kriegen, frequentieren die Inseln der Lagune wie ein Naherholungsgebiet, das ihnen einen bequemen Tapetenwechsel ermöglicht. Wenn ihnen die Sommerhitze zu Kopf steigt oder die Wochenendtouristen auf die Nerven gehen, dann sind sie plötzlich reif für die Insel und flüchten einen Tag lang. Die meisten zieht es zweifellos an die Sandstrände des Lido di Venezia, wo die gepflegten Strandbäder mit ihren endlosen Sonnenschirm- und Liegestuhlreihen ein paar erholsame Stunden versprechen und schnurgerade Uferwege zur ausgiebigen Radtour einladen. Andere werden einen Ausflug zur friedlichen Fischerinsel Burano vorziehen und bei der Gelegenheit das halb verlassene Torcello besuchen, wo sich eine der ältesten und eindrucksvollsten Kirchen außerhalb des Stadtgebiets von Venedig befindet. Wer noch mehr Einsamkeit sucht, den zieht es auf die unbekannteren Laguneninseln, etwa nach Le Vignole oder Sant’Erasmo zum Picknick bzw. in einen Gasthof zum deftigen Mittagessen. Glücklicherweise entfaltet die Lagune von Venedig diese ihre Reize auch für Touristen, und wer sich auf eine Lagunenerkundung einlässt, wird von der Vielfalt der Möglichkeiten überrascht sein. In den folgenden Kapiteln werden diejenigen Inseln näher beschrieben, die leicht auf eigene Faust mit dem Vaporetto zu erreichen sind.
Grob vereinfacht gleicht die bodenseegroße Laguna veneta einem flachen, größtenteils brackigen Binnenmeer, das mit zahlreichen kleinen und großen Isole gespickt ist, und an dessen landseitigen Rändern sich eine Sumpf- und Wiesenlandschaft ausbreitet, die von mäandrierenden Wasserarmen und Kanälen durchbrochen wird. Drei Porti (Durchlässe) in den vorgelagerten Lidi (Sandbänken) sorgen dafür, dass frisches Meerwasser in die Lagune strömt. Das weitgehend seichte Lagunengewässer mit seinen ständig sich verändernden Untiefen ist nur dort schiffbar, wo ausreichend tiefe Kanäle und Wasserstraßen angelegt worden sind. Zum Teil handelt es sich dabei um ehemalige Flussläufe, die regelmäßig von Schlick und Sand befreit werden müssen. Massive, mit Lampen bestückte Palafitti (Navigationspfähle) markieren die Fahrrinnen, durch die alle wichtigen Laguneninseln miteinander verbunden sind. Unterschieden wird zwischen der nördlichen und der südlichen Lagune (nördlich bzw. südlich von Venedig), wobei die touristisch interessanteren Inseln in der nördlichen Hälfte liegen. Vom Sonnendeck der z. T. doppelstöckigen Vaporetti, die ab dem Anleger Fondamenta Nuove (Cannaregio) durch die nördliche Lagune kreuzen, kann man sich bequem ein Bild von der Beschaffenheit der amphibischen Lagunenlandschaft machen, ein kleines Fernglas ist dabei sehr nützlich.
Einst war die Lagune eine lebendige Naturlandschaft, die sich in der natürlichen Kampfzone von Festland und Meer frei entwickeln konnte. Doch seitdem sich der Mensch die Laguna veneta als Lebensraum ausgesucht hat, haben seine Eingriffe das Erscheinungsbild der Lagune in vielerlei Hinsicht verändert (→ S. 40). Die Inseln spielten im alten Venedig von Anfang an eine bedeutende Rolle, denn sie gaben den Venezianern die Möglichkeit, alles aus der Stadt zu verbannen, was sie hätte gefährden bzw. ihren Glanz hätte verdunkeln können. So verbrachte man die Kranken und Irren schon früh auf eigens für sie reservierte Inseln. Außerdem gab es Quarantänestationen, auf denen Besatzung und Waren der aus Epidemiegebieten zurückgekehrten Handelsschiffe für eine bestimmte Zeit isoliert wurden. Die Inselnamen Lazzaretto Vecchio und Lazzaretto Nuovo deuten noch heute auf diese Funktionen hin. Auch die Toten bekamen mit San Michele eine eigene Insel, die immer noch als Friedhofsinsel fungiert. Sogar ein Ossarium (Ort für die wieder ausgegrabenen Gebeine) hatte sich die Serenissima bereits im 16. Jh. auf der kleinen Insel Sant’Ariano eingerichtet. Und um die Brandgefahr, die von den Brennöfen der Glasbläser ausging, abzuwehren, erließ die Stadtregierung eine entsprechende Verfügung und wies der Zunft eine eigene Laguneninsel zu - die Glasbläserinsel Murano, auf der dieses Kunsthandwerk immer noch Konjunktur hat. Des Weiteren erfüllten die an den Lagunenöffnungen zum Meer gelegenen Inseln, insbesondere am Porto di Lido, eine wichtige Verteidigungsfunktion. Zu militärischen Bollwerken ausgebaut, boten sie Schutz und verhinderten das Eindringen feindlicher Schiffe in die Lagune. Die verwitterten Ruinen der ehemaligen Befestigungsanlagen und Munitionslager sind heute nur mehr unscheinbare Zeugen der militärischen Stärke und jahrhundertelangen Unverwundbarkeit Venedigs. Friedlich hingegen ging es auf denjenigen Laguneninseln zu, die von Klostergemeinschaften bewohnt waren. Mit dem für die Mönche charakteristischen Talent zur Gestaltung idyllischer Refugien bildeten die einst zahlreichen Klosterinseln Oasen der Kontemplation inmitten der Lagune. Auf San Francesco del Deserto und San Lazzaro degli Armeni leben die Klosterbrüder nach wie vor in selbst gewählter Abgeschiedenheit - und man darf sie besuchen.
Doch in erster Linie dienten und dienen die Laguneninseln den Venezianern als landwirtschaftliche Nutzflächen. Bereits in früher Zeit ist von Salzbauern die Rede, die hier Saline (Salzgärten) anlegten und die damals kostbare Handelsware erzeugten. Die Salzgewinnung wurde irgendwann eingestellt, unentbehrlich für die Versorgung Venedigs sind hingegen die Obst- und Gemüseinseln geblieben, deren schmackhafte Produkte heute noch einen Großteil des Lebensmittelangebots auf dem städtischen Rialtomarkt ausmachen. Begehrt sind v. a. die violetten Artischocken (castraure) von Sant’Erasmo, der größten venezianischen Landwirtschaftsinsel. Von Bedeutung sind auch Fischfang und Fischzucht innerhalb der Lagune geblieben, v. a. die Reusenfischerei und die Muschelzucht, obwohl die Verschmutzung mit Industrieabwässern stellenweise alarmierende Ausmaße erreicht hat. Angesichts der großen Fischkutterverbände von Pellestrina, die mit ihren Schaufeln am Bug riesige Muschelberge ernten, ist es beruhigend zu wissen, dass jeder Fang die Lebensmittelkontrolle passieren muss, bevor er in den Handel kommt. Aber was ist mit den vielen Privatfischern, die überall in der Lagune auf Jagd gehen? Zweifellos ist es ein pittoresker Anblick, wenn man in den Randgebieten der Lagune eine der traditionellen Pfahlhütten (Casoni) der Lagunenfischer erblickt bzw. Krabben- und Aalfischer in ihren Booten sieht, doch mit der Gewissheit der schleichenden Lagunenvergiftung im Hinterkopf verlieren solche Bilder die Aura einer harmlosen Idylle fast vollständig.
Bis zum Ende des 18. Jh., als die autonome Republik Venedig noch existierte, gab die Lagune ein geordnetes Gesamtbild ab. Die meisten Inseln waren bevölkert, die Murazzi (Hochwasserdeiche) auf dem Lido di Venezia und auf Pellestrina erfüllten ihren Zweck, und das ökologische Gleichgewicht der Lagune war weitgehend ausbalanciert. Erst zur Zeit der französischen und österreichischen Besatzung, als die Verteidigungsanlagen auf den Inseln massiv ausgebaut wurden und die Lagunenbauern und -fischer in Scharen abwanderten, zeichnete sich eine Wende ab. Nach und nach verlassen, aufgegeben und vergessen, verwilderten viele Eilande oder wurden von den Strömungen und der Flut weggeschwemmt. Mehr und mehr eroberte die Natur die vernachlässigten Lagunengebiete zurück. Eine Tendenz, die bis heute anhält und v. a. die Naturschützer erfreut, die schon lange die Forderung stellen, die Lagune großflächig zum Naturschutzgebiet zu erklären, damit sich die Fauna und Flora dieses Ökosystems ungestört entwickeln kann. Wie ein Teil der Lagune zukünftig aussehen könnte, veranschaulichen die beiden Naturoasen im äußersten Süden des Lido di Venezia und von Pellestrina, die Oasi degli Alberoni und die Oasi Ca’ Roman, zwei Dünenlandschaften mit seltener Ufervegetation und einigen Vogelkolonien. Bemerkenswert ist auch die vermehrte Ausbreitung der lagunentypischen Salzwiesen (Barene) im nördlichen Teil der Lagune, die wie Gras- und Schilfteppiche auf der Wasseroberfläche zu schwimmen scheinen und in den Herbstmonaten dunkelrot leuchten. Außerdem beobachten Naturschützer aufmerksam das Entstehen einer neuen Laguneninsel vor Sant’Erasmo, deren junge Existenz jedoch durch den Bau der Hochwasserschutzanlage MOSE am Porto di Lido gefährdet ist. Wer an naturkundlichen Themen und dem Naturschutz innerhalb der Lagune interessiert ist, kann übrigens mit Umweltschützern Ausflüge und Exkursionen in der Lagune unternehmen; seit über 25 Jahren setzen sich die Ökopädagogen und Naturführer der Cooperativa Limosa/​SlowVenice für einen umweltverträglichen und nachhaltigen Tourismus in Venedigs Umgebung ein (→ S. 238).
Außenposten: Leuchtturm
am Porto di Malamocco
Aber in welcher touristischen Hochburg des Mittelmeerraumes genießt der Naturschutz schon uneingeschränkten Vorrang? So zeichnet sich auch in der Laguna veneta eher eine andere, gegenläufige Entwicklung ab, die die neuerliche, zweckmäßige Erschließung der brachliegenden Laguneninseln unterstützt. Im Rahmen der Förderung zeitgemäßer Nutzungsprojekte sind bereits etliche Inseln wieder zum Leben erweckt worden (→ S. 251) - zum Beispiel als exklusive Hotelinsel oder internationale Bildungsstätte.